[50] In allen europäischen Kultursprachen ist das Wort, soweit die Gemeinsprache in Frage kommt, zu einer Bezeichnung geworden, die eigentlich genau nur den Gegensatz zur Monarchie ausdrückt. Horcht man schärfer auf den Sinn, so hat aber das universal-sprachliche Wort Republik doch wieder einen völlig verschiedenen Inhalt, je nachdem ein Franzose vorübergehend von seiner bestehenden, von seiner vergangenen oder etwa einmal wieder von seiner künftigen Republik spricht, oder je nachdem ein Deutscher von den Zielen der alten Achtundvierziger oder von den Zielen der gegenwärtigen Sozialdemokratie redet. Oder wenn ein Konservativer das gleiche Wort gebraucht. Zu besondern Parteibezeichnungen wurden die entsprechenden Worte (Republikaner) in England und Amerika. Viel feiner ist der Unterschied, den Bismarck macht, wenn er im Eingangssatze seiner »Gedanken und Erinnerungen« erzählt, er habe die Schule verlassen...[50] »wenn nicht als Republikaner, doch mit der Überzeugung, daß die Republik die vernünftigste Staatsform sei.« Mit seinem wunderbaren Sprachgefühl entdeckt Bismarck da, daß noch kein Republikaner sein muß (praktisch, aktiv, agitatorisch), wer die Republik (theoretisch) für die vernünftigste Staatsform hält. Der Grund für diesen Unterschied liegt meines Erachtens darin, daß Republikaner viel jüngeren Ursprungs ist, von Republik erst zu einer Zeit abgeleitet, als Republik bereits den Sinn eines nicht monarchisch regierten Staates erhalten hatte. Die ältere Bedeutung von Republik findet sich gelegentlich noch in historischen Werken, höchst selten in der Umgangssprache, wie zum Beispiel in der französischen Redensart: c'est une petite république que votre château.
In der Bedeutung Staat gehört res publica der gebildeten lateinischen Sprache an. Wörtlich übersetzt heißt es: die öffentlichen Angelegenheiten. Cicero stellt sie geradezu den rebus domesticis ac familiaribus gegenüber. Er gebraucht das Wort bald in der Einzahl, bald in der Mehrzahl. In der Mehrzahl ist es noch ein gemeinsprachlicher Ausdruck wie unser öffentliche Angelegenheiten; in der Einzahl wird es zum prägnanten Terminus für das gemeine Wesen, das Gemeinwesen oder den Staat. Merkwürdig ist es, daß Cicero den spätem Bedeutungswandel des Wortes schon vorwegnimmt, da er (d. re publ. I. 32) sagt, nur wo das Volk Anteil an der Regierung nehme, sei die res publica eine wirkliche res populi; wobei zu beachten, daß publicus von populus abzuleiten ist.
Die lateinische Sprache des Mittelalters hat sich auf diese Etymologie nicht besonnen. Res publica ist das Gemeinwesen oder der Staat. Die Stadtgebiete Italiens sind Republiken, ohne Rücksicht auf ihre Regierungsform. Eine Nuance kommt später hinzu; monarchisch regierte Staaten, wie Venedig, Genua, auch Polen, werden Republiken genannt; man denkt dabei unklar an einen Gegensatz zu Erbmonarchien. Res publica bezeichnet so sehr den Staat als solchen, daß du Cange es sogar in seinem Wörterbuche des mittelalterlichen Latein mit Fiskus übersetzen kann. Wieder ist zu beachten, daß fiscus noch bei Cicero soviel wie[51] Staatskasse heißt, bei Tacitus bereits soviel wie kaiserlicher Schatz oder auch Zivilliste. Im Worte fiscus also die Gegenbewegung.
Erst im 16. Jahrhundert besannen sich einige Staatslehrer, die nicht von dem legitimistischen Luther, sondern von Calvin ausgingen, des etymologischen Winkes, daß publicus von populus abzuleiten sei. Sie sind unter dem Namen der Monarchomachen die Begründer der neuen Demokratie geworden. Der Bedeutungswandel des europäischen Wortes Republik knüpfte aber nicht eigentlich an ihre Forderungen an und auch nicht an die Staatslehre von Hobbes, sondern an Wirklichkeiten, an die Begründung und Existenz von monarchomachischen Staaten, von; Republiken im neueren Sinne des Wortes. An der Wende zum 17. Jahrhundert setzten die niederländischen Provinzen ihre Unabhängigkeit von der spanischen Monarchie durch. Fünfzig Jahre später wurde in England der König geköpft, und Cromwell stellte sich an die Spitze des Staates. In beiden Fällen keine Republik nach der modernen staatsrechtlichen Schablone. In den Niederlanden wie in England religiöse, also theokratische Nebenströmungen. Dazu in den Niederlanden der Einfluß erblicher Statthalterschaften, in England die fast monarchische Stellung Cromwells. Es müßte noch genauer untersucht werden, wie groß der Gebrauch war, den die feierlichen Staatsakte vom Worte Republik machten. Jedenfalls hatte es auf die europäischen Völker einen mächtigen Einfluß, daß die Niederlande und England gerade in ihrer monarchenlosen Zeit trotz aller Staatsumwälzungen aufblühten. Und der Bedeutungswandel des Wortes Republik vollzieht sich. Schon im großen Wörterbuche Bayles ist gelegentlich von der Republik, das heißt vom Freistaate, als von der vorteilhafteren Regierungsform die Rede. Der Souverän in einer Republik sei niemals zu jung und niemals zu alt (Art. Henri IV., Anm. P.); das Königtum verursache ungleich größere Kosten als die Republik. (Porcius, Anm. P.) In den entsprechenden Artikeln der Encyclopédie ist endlich die alte Bedeutung so gut wie vergessen und die kurze Definition lautet: République, forme de gouvernement, dans lequel le peuple en corps, ou seulement une partie du peuple, a la souveraine puissance. Republikaner heißt der Bürger einer Republik;[52] man nennt so aber auch Menschen, die für diese Regierungsform begeistert sind. Republikaner im Sinne von Bürger einer Republik (Rousseau nennt sich citoyen de Génève) ist mehr ein konkreter Begriff; Republikaner im Sinne von Anhänger einer Idee kommt von der Abstraktion her, gehört der Umgangssprache aber erst durch den konkreten Begriff an.
Für Deutschland mußte noch der ungeheure Eindruck der großen französischen Revolution hinzukommen, um den Bedeutungswandel von Republik ganz zu entscheiden. Es wäre ein Umweg, sollte auch der Einfluß von dem Freiheitskriege Amerikas untersucht werden.
In Frankreich, wo die Revolution – der Scherz stammt von Hegel – alles auf die Vernunft, also auf den Kopf stellte, wurde schlankweg die Theorie, wie sie sich von den Monarchomachen über Montesquieu zu Rousseau entwickelt hatte, für einige Jahre Wirklichkeit. Die Sprache versuchte rasch zu folgen. Dabei darf nicht übersehen werden, daß das Dogma vom klassischen Altertum auf der Höhe seiner Geltung stand. Römische Trachten, Möbel und Sitten wurden wohl oder übel nachgeahmt; römische Worte konnten fast unverändert eingeführt werden. Den Bedeutungswandel bemerkte man nicht immer.
Am 22. September 1792 wurde das Königtum abgeschafft und die République française eingeführt. Einfach, römisch: République française. Der französische Staat, d.h. Freistaat. Vom gleichen Tage sollte die kurzlebige republikanische Ära datieren, der republikanische Kalender. Das Adjektiv hat einen radikaleren Klang als das Substantiv. Die fünfte Auflage des Dictionnaire der französischen Akademie (von 1814) kann schon republikanischen Geist, ein republikanisches System, republikanische Maximen verzeichnen. In den parlamentarischen Reden wird das Wort république unzählige Mal gebraucht. In vielerlei Bedeutung, wenn man genau hinhorcht: Staat, Idealstaat, französische Wirklichkeit, Ideal der französischen Republik. Aber der Bedeutungswandel von Staat zu Freistaat vollzieht sich doch, an der wirklichen Geschichte, so vollständig, daß man endlich für Staat ein neues Wort braucht; man bildet es durch Lehnübersetzung: [53] res publica wird, weil république etwas Neues bedeutet, fast archaïstisch durch chose publique wiedergegeben. Danton, Robespierre und die Girondisten sprechen von der chose publique.
Eindeutig und international im Sinne von Staat ohne Monarchen ist Republik erst durch die Realität der französischen Republik geworden. In Deutschland war der Sprachgebrauch noch kurz vorher unsicher. Adelung (1777) gibt den Begriff »bürgerliche Gesellschaft, in welcher die höchste Gewalt mehrern anvertraut ist« (Republikaner, nur Einwohner einer solchen Republik, noch nicht auch Anhänger); das sei die engere und gewöhnlichere Bedeutung. Im weitesten Sinne, lehrt Adelung schwerfällig, bedeute die Republik den bürgerlichen Stand, kurz und systemlos: den Staat. Wie recht Adelung hatte, den Sprachgebrauch nicht festzulegen, eine Unsicherheit zu behaupten, das sieht man deutlich aus der Anwendung des Wortes Republik in Schillers republikanischem Trauerspiel »Fiesko« (1783). Wenn man unsere Schauspieler die Phrasen schreien hört, so könnte man vergessen, daß die französische Republik erst neun Jahre später geschaffen wurde. Ebenso, wenn Karl Moor (1781) ruft: »Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen.« (Also ist mit den antiken Staaten der Begriff der ausschweifenden Lebenslust, der Genußfreiheit verbunden, sonst wäre Nonnenkloster kein Gegensatz.) Bei Schiller ist aber damals der Begriff Republik noch nicht eindeutig. Bald denkt er an den Freistaat, besonders im Gebrauch der abgeleiteten Worte republikanisch und Republikaner; doch nicht völlig bewußt. Republikanisches Trauerspiel heißt halb ein Trauerspiel, das in einer Republik spielt, halb eines, das republikanische Gesinnungen erweckt. Im Personenverzeichnis heißen die Mitglieder der Verschwörung Mißvergnügte, nicht Republikaner. Wenn Gianettino (I, 5) von Lumpenrepublikanern und einem republikanischen Hunde spricht, so meint er nur unklar den Anhänger einer Partei, eigentlich noch den niedrigen Bürger. Schiller will die italienischen Stadtrepubliken zeichnen, schielt aber immer wieder nach Rom und Sparta. Sparta war ein kleines Königreich. Da der »Fiesko« in Mannheim[54] nicht recht gefiel, schrieb Schiller (5. Mai 1784): »Republikanische Freiheit ist hier zu Land ein Schall ohne Bedeutung, ein leerer Name – in den Adern der Pfälzer fließt kein römisches Blut.« Wenige Jahre später hätte er Frankreich zitiert und bei dem Worte Republik selbst an etwas Greifbares gedacht. Republik war auch für Schiller ein klingender, aber ein halbleerer Name. Oft im »Fiesko« steht es offenbar noch im alten Sinne für Staat. So, wenn sich der Mohr (I. 9) einen Sklaven der Republik nennt. So, wenn dem Gianettino vorgeworfen wird (II. 8), daß er das Wappen der Republik an der Kutsche führe. So, wenn Gianettinos Agent ruft (II. 12): »Die ganze Republik ist in Wallung.« Sehr hübsch wird das sichtbar, da Fiesko sagt (III. 4): »Republiken wollen sie stürzen, können einer Metze nicht schweigen«; und (III. 10): »Haare und Republiken verwirren die Männer so gern.« Die Republik im neuen Sinne gründet man; die Republik im alten Sinne stürzt, verwirrt man. Einmal stellt freilich Fiesko in einem Monologe (II. 19) den Republikaner Fiesko dem Herzog Fiesko gegenüber; da ist es aber wieder das abgeleitete Wort oder nur: der Staatsbürger.
Es gehört vielleicht mit zur Geschichte des Wortes Republik, daß es gegenwärtig, unter der Herrschaft sozialistischer Wortwerte, etwas von dem Zauberklang seines letzten Bedeutungswandels verloren hat. Der Bürger der république francaise nennt sich stolz, nach seiner Gesinnung, Republikaner, oder nach seinen Rechten citoyen. Das erwähnte Wörterbuch der französischen Akademie von 1814 gibt in seinem beachtenswerten »Supplément contenant les mots nouveaux en usage depuis la révolution« für citoyen die Erklärung, es bezeichne alle Franzosen und in andern Freistaaten die Leute, die sich der Rechte eines citoyen erfreuen. (Muster einer schlechten Definition.) Für Weiber sei es ein bloßer Titel. Unter der Julimonarchie kam man von dem revolutionären Worte ab; bourgeois kam auf, das noch kurz vorher besonders nur den Arbeitgeber gegenüber dem Arbeiter bezeichnet hatte, den wohlhabenden Mittelstand, daneben den Bürgerlichen gegenüber dem Adeligen. Im Adjektiv bourgeois hatte es schon etwas den Beigeschmack von spießbürgerlich.[55] Und heute ruft Bebel verächtlich dem Genossen (vor hundert Jahren hätte er citoyen gesagt) Jaurès zu, die französische Republik sei nur eine Bourgeois-Republik, also keine, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster gewesen wären.
Man achte auf die Bewegung der Begriffe. Sie entspricht recht gut dem Schema Hegels, nur daß die Bewegung nicht in der Vernunft erfolgt, sondern in den Worten der Sprache. Unter der liberalen Monarchie, welche dem Mittelstande, dem Spießbürger, viele politische Rechte verleiht, veraltet das Wort citoyen, das jedem Staatsbürger alle Rechte verheißen hat. Der bourgeois macht aus Frankreich wieder eine Republik, nach Besiegung des Proletariats eine Republik des Mittelstandes. Nun fängt der deutsche Sozialismus an, das Wort Republik zu verachten, und nennt die französische Staatsform eine Bourgeois-Republik. Der Niedergang des Dogmas vom klassischen Altertum kann das nicht bewirkt haben, denn die Verbindung mit res publica ist im Sprachgebrauch abgerissen, Republik bedeutet in der Gemeinsprache nur noch den unmonarchischen Staat. Aber Republik hat seinen suggestiven Wert verloren, und der Idealstaat der Zukunft wird, wenn er einst wirklich werden sollte, nicht sicher den Namen Republik annehmen.
Bis mir der Gegenbeweis erbracht ist, glaube ich daran, daß unser gemein gar nichts anderes ist, als das lat. communis oder doch Verdrängung eines deutschen Wortes durch das lateinische. Die Ähnlichkeiten im edlen und im heruntergekommenen Gebrauche des Worts (franz. commun, engl. common) haben schon oft auf die Vermutung eines gleichen Ursprungs geführt. Pott und Wackernagel scheinen an etwas wie eine falsche Lehnübersetzung gedacht zu haben, als sie die Gleichung communis = gameins aufstellten. Ich folge natürlich Hildebrands Artikel im D. W.; nur daß ich mir meinen Glauben an die Entlehnung vorbehalte.
Communes sind ursprünglich Leute, die sich innerhalb gemeinsamer Schutzwehren, moenia, ansiedelten; der Begriffskern ist das Verhältnis des einzelnen Gemeindebürgers zum Ganzen;[56] ob munia und munera damit zusammenhängt, scheint mir unsicher; daß gemein mit communis zusammenhängt, ist gewiß, unentwirrbar der Zusammenhang mit mein in Meineid. Der allgemeinste Sinn in historischer Zeit ist: allgemein; wer ein deutsches Ohr hat und all noch als verstärkende Vorsilbe empfinden kann, wie es denn früher auch getrennt geschrieben wurde, kann die alte Sprache noch heraushören. »Gemeiner Mangel ist ein allgemeines Band« (Uz). Unerfreulich der höchst unkönigliche Witz in Schillers Maria Stuart: »Es kostet nichts, die allgemeine Schönheit zu sein, als die gemeine sein für alle.« (Ich mache gleich hier darauf aufmerksam, daß der gegenwärtig durchgedrungene verächtliche Sinn bei jeder Unterstreichung von jeher mitspielt; man denke an Hamlets Wort gegen die Mutter: Es ist gemein – It is common I, 2). Im Sinne der Allgemeinheit wird das Wort gebraucht vom Tode, der alle trifft, der gemeine Tod, die gemeine Sucht. Von der Universität als der gemeinen Schule, vom katholischen Glauben schon im Ahd. als dem gemeinen Glauben, auch wohl fast wie ein Eigenname ohne Artikel, von gemeiner Christenheit, gemeiner Kirche, aber auch vom gemeinen Bann und gemeinem Konzil, gemeinem Gebet. Veraltet: gemeiner Brauch (common fashion) und gemeiner Friede (Landfriede); als terminus technicus der Juristen: gemeines Recht, heute wieder üblich oder doch vor kurzem als Gegensatz zu den Partikularrechten; ebenso ist gemeine Sprache (»daß mich beide, Ober- und Niederländer, verstehen mügen« Luther) neuerdings terminus technicus der Sprachwissenschaft geworden, Gemeinsprache, im Gegensatz zu den Mundarten, während einst gemeine Sprache, lingua vulgaris, wie anfangs auch in Italien, die Volkssprache im Gegensatz zum vornehmen Latein war. In der Anwendung auf Weiber überwiegt wohl der Begriff der Gemeinsamkeit gegen den der Gemeinheit, trotz unserm andern Sprachgefühl. »Eine beschlafene Dirne... ist große Fahr dabei, daß sie gar gemein werde« sagt Luther einmal, und für unser Sprachgefühl noch seltsamer: »Ist das nicht ein jämmerlich Ding, daß wir Christen unter uns sollen halten feine gemeine Frauenhäuser?« Der Abstieg des Wortes wird sich in regelmäßigen[57] Stufen nicht verfolgen lassen. Gemeine Leute waren ursprünglich Unparteiische, d.h. auf die sich die streitenden Parteien gemeinsam vertrugen; sodann wirklich pluralisch als die Schiedsrichter oder Richter, die das Recht finden, was sich aber mit der richtenden Gemeinde verquickt; irgend ein Zusammenhang mit Gemeinsinn und dergl. steckt dann in der weiteren Ausbildung dieses gemein als unparteiisch oder nicht »verwandt«. Nun wurde dieses Adjektiv von Menschen auch auf Einrichtungen übertragen; Rechte, Gesetze, auch Spielregeln müssen gemein, d.h. parteilos sein, wie auch einmal im Altfrz. commun et igual (égal). Wer nun als hoher Herr so gemein ist, wie Gesetze und Rechte sein sollen, commun et igual, der ist in ganz Deutschland ein gemeiner Herr im Sinne von Herablassung, Leutseligkeit. Ein Sprachgebrauch, der übrigens im Schwedischen und mundartlich im Dänischen wiederkehrt und sogar schon für das lat. communis (cunctis, vom Kaiser Theodosius) und das griechische koinos belegt ist. In diesem Sinne, noch bis zu Kant (»es ist unter der Regierung Würde, sich mit dem Volke gemein zu machen«), entstand die Redensart sich gemein machen, d.h. zu leutselig, zu familiär sein.
Heruntergekommen ist das Wort wohl schon früh, ich möchte glauben infolge und als Begleiterscheinung der großen politischen Umgestaltungen. Die gemeinen Leute waren einst die souveräne Gemeinde; als der Landesherr souveräner, absoluter Fürst geworden war, drückte er die gemeinen Leute, womit doch auch die Ratsversammlung, also etwas wie das Haus der Gemeinen bezeichnet worden war, im Gegensatz zu Fürsten und Herren oder im Gegensatz zu Beamten, zur quantité négligeable der schlechten (auch schlecht war erst so heruntergekommen) Bauern herunter. Sehr früh wurden schon im Schachspiel die Bauern die gemeinen Leute genannt. Der gemeine Mann, ursprünglich der Mann mit Gemeinderechten, noch im Bauernkriege die gesamte Bauernschaft, wurde mit dem Aufkommen des absoluten Fürstentums der Untertan, soweit er ohne Macht, also ohne Recht war: der arme Mann ohne Adel, ohne Geld, ohne Weihe, ohne Bildung, besonders auch ohne Offiziersrang[58] oder Unteroffiziersrang, a common soldier, einst noch gemeiner Kriegsknecht im Sinne von »Heer, die Offiziere eingeschlossen«, jetzt aber gar ohne Substantiv, ein Gemeiner. So sinkt gemeines Volk vom Ausdruck des staatsbildenden Ganzen zum Ausdruck für den staatsgefährlichen Pöbel hinunter, und erst in revolutionären Zeiten wird wieder auf den gemeinen Mann gehört.
Als nun das Wort so heruntergekommen war, wurde die alltägliche, durchschnittliche Art des Denkens, ja sogar der gesunde Menschenverstand, common sense, verächtlich gefunden gegenüber der hohen Art philosophischen Denkens; und es ist eine schöne Vermutung Hildebrands, daß wir das Wort in seinem jetzigen tief verächtlichen Sinne mit durch Schillers hohen Schwung haben, der gemein im Sinne von niedrig aus Kant übernommen und ganz persönlich in seinem ästhetischen und dichterischen Sprachgebrauch ausgebildet hatte. »Gemein ist alles, was nicht zu dem Geiste spricht; ein gemeiner Kopf wird den edelsten Stoff durch eine gemeine Behandlung verunehren; denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht; die gemeine Deutlichkeit der Dinge.« Da ist es nun wirklich sehr merkwürdig, daß, wie eben Hildebrand bemerkt, Goethe jedesmal, wenn er von Schiller spricht, ihn erhaben über das Gemeine nennt, nicht nur in den berühmten Worten des Epilogs: »Und hinter ihm in wesenlosem Scheine lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.« Wer sein Sprachrohr fein genug abgestimmt hat, kann nun unser verächtliches gemein, daß noch für Adelung kaum etwas Schlimmeres als das Gewöhnliche bedeutete, in Schillerischem Bedeutungswandel = niedrig vernehmen, trotzdem Schiller das Wort eigentlich noch im Adelungschen Sinne zu gebrauchen vermeinte, aber unbewußt durch den Aufschwung seiner Seele das Gewöhnliche zum ganz Niedrigen umprägte.
Die alte Bedeutung von gemein wurde, nachdem der Bedeutungswandel ins Niedrigste sich vollzogen hatte, durch Neubildungen, wie gemeinsam, gemeinschaftlich, ersetzt. Die Nachbarsprachen machten die beiden Bewegungen nicht vollständig mit. Im Französischen ist die alte Bedeutung von commun (droit, intérêt) nicht so archaïstisch wie bei uns; commun heißt zwar auch[59] das Gewöhnliche, Durchschnittliche (année, Durchschnittsjahr), Mittelmäßige (drap commun = ordinäre Ware, aber auch ordinär ist ja erst so heruntergekommen), nur ganz selten ein Gegensatz zu vornehm, wie figure commune, was aber noch ganz gut dem Durchschnittlichen entspricht. Im Englischen ist common etwa zwischen dem französischen commun und dem deutschen gemein in der Mitte geblieben; Eigentümlichkeiten des Englischen, wie commons = Unterhaus und common sense = gesunder Menschenverstand im guten Sinne, sind schon erwähnt.
Aus der Zeit vor dem Niedergang des Worts die Doppelbildung Gemeine, Gemeinde, communio, Kommune. Noch heute Zusammensetzungen wie Kommunalverwaltungen usw. = Gemeindeverwaltung usw. Das deutsche Wort ist jetzt im Aufstieg. Das D. W. vermutet richtig deutschen Einfluß im Geschlecht: la commune. Die Verwendung war einst überaus reich. Luther: »Gemeinschaft (im Abendmahl) heißt das gemeine Gut, deß viel teilhaftig sind und genießen... denn gemein Ding heißet, deß viel im gemein genießen, als gemeine Born, gemeine Gassen, gemeine Acker, Wiesen, Holz, Feuer.« Gegensatz dazu privatus, eigen, individuell; also gemein = publicus, schon bei Notker; Gemeinschreiber notarius publicus (Luther). Gemeingeist wohl Lehnübersetzung nach englisch public spirit. Davon endlich Lehnübersetzung von res publica: gemeinnütze, gemein Gut (15. und 16. Jahrh.), das gemeine Wesen (nur getrennt noch bei Adelung), endlich Gemeinwesen (erst seit Wieland?). Aus gemein Gut bildet sich Gemeinwohl = res publica im Sinne von salut public, dies wohl wieder erst von common weal, public interest. Commonweal ist das ältere Wort; erst commonwealth wurde ein Schlagwort und bezeichnete in England die Regierungsform von der Hinrichtung des Königs bis zur Restauration. In seiner Selbstverteidigung »Vindicius Liberius« (1702) protestiert der Deist Toland gegen die Annahme, die commonwealthmen seien Republikaner im anti-monarchischen Sinne; er führt eine Stelle von Cicero an und übersetzt (was sprachgeschichtlich sehr beachtenswert ist) respublica res est populi mit: a commonwealth is the common-weal of the people; wenn die Regierung, einerlei[60] ob König, Optimaten oder das Volk selbst (Gewalt ausüben), then it is not a faulty commonwealth, but really none at all, for it is not the weal of the people, when a tyrant or a faction disposes of 'em (Spaßeshalber: commonwealth bezeichnet auch eine Schauspielertruppe, die auf Teilung spielt). Die Vorläufer der französischen Revolution führten die Lehnübersetzung salut public ein, und die Revolution selbst vollbrachte unter diesen Zeichen Großes und Entsetzliches. Der Sprachgebrauch folgt immer den Revolutionen nach. Deutsche Pedanterei bildet: das gemeine Beste.
Noch genauer an res publica lehnt sich an: die gemeine Sache (Schiller im Teil mehrfach), auch ohne Artikel Gemeine Sack, wie denn auch ein gemeines Wesen, d.h. eigentlich das eine (Chr. Weise: gemeine W.). Die Bedeutung: was alle angeht, quod omnes interest, tritt oft sehr deutlich hervor; gemeiner Rat schon im Nibelungenlied: gemeine Versammlung (Luther) wie unser Generalversammlung.
Sehr merkwürdig, daß im Russischen, wo die alte Gemeinde mit ihren gemeinsamen Landinteressen vielfach noch besteht, das Wort für Gemeinde (russ. mír) auch die Welt, das Weltall, das Menschengeschlecht bedeutet, den Kosmos.
Im westlichen Europa jedoch hat die Wortgeschichte dazu geführt, daß res publica sich einseitig auf die Staatsform einschränkte, daß dagegen für die Neugestaltung des idealen Zukunftsstaates, der vermeintlich wahren res publica, aus commun die neuen Worte communiste (zuerst im Programm Cabets von 1840; Heine bemächtigt sich bald darauf der Neubildung und führt sie bei uns ein) und Kommunismus gebildet wurden. Communard heißt bald nach 1870 ein Anhänger der Pariser commune; communiste seit 1840 ein Anhänger der Gütergemeinschaft, der communauté, welche Ausdrücke freilich schon längst im Sachenrecht (z.B. dem zwischen Eheleuten) üblich waren.1[61] Dem Worte Kommunismus ist der Stempel aufgedrückt: einseitig, übertrieben wie alle Ismen; das allgemeine Wohl so konsequent durchgesetzt, daß das Individuum sich nicht mehr wohl fühlt.
Wie immer wird zum Hauptworte einer Wissenschaft genommen, was vorher seinen Inhalt verloren hat. Das leerste Wort, das brauchbarste. Wie ein Kürbis zur Flasche wird, nachdem der natürliche Inhalt herausgenommen ist.
Griechenland kannte den Territorial-Staat nicht; polis war Stadt und Staat, die Bürgergemeinde, to koinon Ebenso in Rom civitas. To koinon wurde übersetzt mit res publica. Es ist aber nicht wahr, daß res publica auf diejenigen Staaten eingeschränkt wurde, welche vom Volk gewählte Magistrate besaßen.
Den Staatsbegriff hätten Griechen und Römer gehabt, wenn jemand darnach gefragt hätte, aber es fragte niemand, weder nach andern Staaten, noch nach dem Staate im allgemeinen. Status findet sich im spätem Latein, Status rei publicae bei Ulpianus, sogar Status Romanus bei Aurelius Victor und in einem Briefe Julians bei Ammianus, fast mit römischer Staat zu übersetzen, aber doch mit der Nüance Zustand, Stand.
Wie unter dem römischen Weltreich das Verhältnis der unterworfenen Staaten oder Provinzen niemals staatsrechtlich festgelegt wurde, wie es den Herren der Welt genügte, daß die besiegten Menschen, nicht die Territorien dem römischen Imperium gehorchten, so wurde die Fiktion eines Imperiums im Mittelalter festgehalten durch das römische Reich deutscher Nation. Beachtenswert, wie dann nach einer Unterbrechung von einem halben Jahrtausend Einer, der sich wieder zum Herrn der Welt machte, auch das Wort Imperium hervorholte, sein Reich empire, sich selbst empereur nannte und Staatsrecht Staatsrecht sein ließ. Der Staatsbegriff kam aber auf, als etwa im 14. Jahrhundert die Fiktion des römischen Reichs deutscher Nation für die Stadtherrschaften Italiens nicht mehr aufrecht zu erhalten war. In Italien hatte sich das Wort stato für den politischen Zustand[62] ausgebildet. Dante (Inf. 27. 54.): tra tirannia si vive e stato franco. Man bezeichnete mit stato bald die Organisation der Herrschaft, bald die herrschenden Stände, den herrschenden Stand. Zum Terminus gestempelt wurde das Wort durch den ersten Satz des »Principe« von Macchiavelli: Tutti gli stati sono.... o republiche o principati. Aber noch etwa 100 Jahre lang werden die Ausdrücke stato und republica durcheinander gebraucht, ebenso état und république. Shakespeare ist state schon geläufig. In Deutschland führt sich Staat am spätesten ein, weil hier Lateinisch am längsten die Sprache der Wissenschaft war und die Sache klassisch nur res publica hieß. Erst im 18. Jahrhundert spricht man hier von einem Staatsrecht, früher jus publicum; erst Ende des 18. Jahrhunderts macht das allgemeine Landrecht den Staatsbegriff offiziell.
Doch auch nachher noch erbt sich der alte Sprachgebrauch fort. In Preußen hießen die Provinzen oder Landschaften mit besonderer Verfassung, wie in den Niederlanden, Staaten. »Gesetzsammlung für die königlich preußischen Staaten« ist heute noch offizieller Titel. Und das Patent, mit welchem Franz II. 1804 den österreichischen Staat begründete, spricht von unsern Königreichen und andern Staaten.
So jung also das Wort, so trägt es doch schon den Todeskeim in sich. Innerhalb eines Staates ist der Staatsbegriff selbstverständlich überflüssig. Man spricht nur in Übergangszeiten von staatsrechtlichen Fragen; sonst von innerer Politik. Und wo das Staatsrecht allein von Bedeutung wäre, in den Beziehungen zwischen verschiedenen Staaten, in internationalen Beziehungen, da spricht man von Völkerrecht, von einem jus gentium, anstatt einem jus publicum. Nicht zu übersehen wäre dabei, daß im Worte Völkerrecht sich doch, zuerst sprachlich und unabsichtlich, die Sehnsucht nach einem Recht der Völker ausspricht, einem noch ungeschriebenen Recht, de lege ferenda. Äußerste Heuchelei steckt hinter manchen Anträgen der Staaten zugunsten eines Völkerrechts: jede Macht möchte die besseren Waffen des Gegners verbieten. Die Monarchomachen zogen ebenso aus dem ursprünglichen Sinn von res publica ihre Schlüsse[63] in tyrannos. Eine höchste Ausbildung erlangte dieser Begriff, der so streng wieder aus den Silben res publica abstrahiert wurde, während der großen Revolution im salut public: salus rei publicae suprema lex. Spielt aber schon bald nach Macchiavelli (Botero 1583) als ragione di stato, raison d'état, Staatsraison eine bewußt anarchische und unchristliche Rolle. (Heuchlerisch war auch der Anti-Macchiavel Friedrichs d. Gr.)
Aber auch in den Kreisen, die allein Geschichte machen können, wird vom Staate eigentlich nur noch verlegen gesprochen. wie von einem pudendum. Minister, die zu dienen haben, heißen Staatsminister, aber der Titel sécrétaire d'Etat hatte sich im 17. Jahrhundert für sécrétaire du roi eingeführt, als in ehrlich absolutistischen Zeiten die Bedeutung des Staates betont werden sollte. In Deutschland gar heißt Etat fast nur noch das Budget; Etatredner sind Redner über Geldfragen. Unsere ungern konstitutionellen Fürsten und ihre wirklichen Vertreter, die Gesandten, sprechen vom Staate ebenso selten wie vom Parlamente; dafür von: potentia, puissance, power, Macht. Man könnte diesen Sprachgebrauch fast ehrlich nennen.
Wie groß die Heuchelei ist, die zwischen den Staaten und in den Einzelstaaten mit dem Worte Recht getrieben wird, wo von Machtfragen allein die Rede sein sollte, das erhellt schon daraus, daß ein Bismarck sich einmal dagegen verwahren zu müssen glaubte, die Regel oder das geflügelte Wort »Macht geht vor Recht« gesprochen zu haben; aber bereits Luther hatte den Satz, daß Gewalt über Recht gehe, als ein gemein Sprichwort angeführt, und Spinoza als Staatsrechtslehrer (im politischen Traktat II. 8) begründet das Naturrecht ganz unbefangen damit, daß jeder nur soviel Recht hat, als er Macht besitzt (quia unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet).
Man lese in A. Mengers »Neuer Staatslehre« die vorzügliche Darstellung des Verhältnisses zwischen den einzelnen Gruppen der Staatsbürger, wie es sich entwickelt hat, und man wird beinahe wie einen Haß eines modernen Staatsrechtlers gegen den [64] Staat heraushören. Allerdings redet Menger noch von Zwecken der Menschheit, denkt also doch wohl an eine Bestimmung der Menschheit; aber von dieser Vorstellung aus kommt er zu dem Urteil: »Die Staaten als solche haben gar keinen Zweck, sondern nur ihre Machthaber« (S. 201). Das Streben der obersten Staatsleiter richte sich regelmäßig auf Macht und Glanz; Mengers Ausfall gegen den offiziellen Patriotismus hängt damit zusammen, daß er das Interesse der einzelnen Gruppen an des Staates Macht und Glanz richtig einschätzt. Er erkennt deutlich, daß die alte theokratische Staatslehre, die ja als eine Phrase von den konservativen Parteien immer noch gepredigt wird, zugrunde liegt, wenn heute noch angesehene Staatslehrer dem Staate etwas wie eine selbständige Persönlichkeit zuschreiben. Bis zu einer sprachkritischen Analyse des Staatsbegriffs ist Menger trotzdem nicht vorgedrungen; er ist aber Skeptiker genug, um die Verschiedenheit der einzelnen Staatsformen nicht gerade feierlich zu nehmen; er prophezeit, der volkstümliche Arbeitsstaat der Zukunft werde bei den Romanen eine republikanische, bei den Germanen eine monarchische Form annehmen.
Will man ein deutliches Bild erhalten von der Wortheuchelei, die überall von Rechtsfragen redet, wo es sich einzig und allein um Machtfragen handelt, so betrachte man einmal die Stellung der Parlamente zu den vollziehenden Machthabern einerseits, zu dem wählenden Volke anderseits. Es soll ja nicht geleugnet werden, daß dem Ringen der Parlamente um die Macht bei den besten Parlamentariern ein Rechtsgefühl zugrunde liegt, eine Sehnsucht nach einem Idealstaate, in welchem Immer die res publica, das Gemeinwohl, zu entscheiden hätte; aber nur äußerst selten wird im Parlamente selbst zugestanden, daß der politische Kampf ein Kampf um die Macht sei. Der begabte Oder gar geniale Politiker, der nur reden darf, nicht aber an der Errichtung eines neuen Staatsgebäudes mitschaffen, ist die tragische Gestalt unserer konstitutionellen Staaten, nicht nur Preußen-Deutschlands; ich verweise darauf, wie Maximilian Harden (»Köpfe« 218 f.) das Tragische in der Gestalt Eugen Richters dargestellt hat. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß[65] kleinere Parteihäupter, die niemals zu der Macht gelangen, für die von ihnen verteidigten Rechte durch die Tat einzutreten, tragi-komische oder gar komische Persönlichkeiten sind.
Nicht ganz so schlimm steht es um die wissenschaftlichen Staatsrechtslehrer, weil diese ihre Kraft nicht in elenden Verhandlungen mit den Machthabern und mit dem Volke aufreiben müssen, weil sie, wenn eine geistige Kraft da ist, diese Kraft zur Kritik der Verhältnisse und zur Aufrüttelung einer neuen Sehnsucht verwenden können. Hat ein solcher Staatsrechtslehrer erst eine Schule gegründet – ich denke eher an Rousseau oder Marx als an eine Schule im Hörsaal - , so ist er selbst ein Machtfaktor geworden, ein Staat im Staate, mit dessen Vertretern die herrschenden Machthaber paktieren müssen wie mit den Vertretern anderer Mächte.
Die Gelehrten jedoch, die das Staatsrecht nur systematisch oder historisch darstellen wie andere Fächer auch, dürfen nicht glauben, daß sie irgend eine lebendige Macht bedeuten. Ebensowenig als jemals ein Klassifikator das Reich der Organismen durch seine geistige Arbeit vermehrt hat. Ganz besonders aber ist es falsch, wenn theoretische Staatsrechtslehrer sich auf die Theorien berufen, die ein großer Staatsmann, ein genialer Staatsgeschäftsmann gelegentlich im Kampfe um die Macht ausgesprochen hat. Man studiere einmal die »Grundzüge einer Allgemeinen Staatslehre nach den politischen Reden und Schriftstücken des Fürsten Bismarck«, die Rosin gründlich und mit musterhaftem juristischem Scharfsinn zusammengestellt hat. Eine allgemeine Staatslehre ist aus der Geschäftsführung eines Staatsmannes ebensowenig zu abstrahieren, als eine brauchbare Mechanik aus der Partie eines Billardspielers; jeder Stoß des Spielers beruht auf der Kenntnis mechanischer Gesetze, jeder Zug des Staatsmanns auf der Kenntnis psychologischer Tatsachen; aber keiner von beiden will eine neue Theorie aufstellen oder sich zu einer alten bekennen.
Man vergegenwärtige sich die Lebensarbeit Bismarcks. Er hat sich mit wachsender Bewußtheit und wachsender Kraft die Aufgabe gestellt: den Wunsch seines Königs nach einem mächtigeren[66] Preußen mit seiner eigenen Sehnsucht nach einem einigen Deutschland zu verbinden. Mit wachsender Bewußtheit und mit wachsender Größe gelingt es ihm, die für eine solche Aufgabe nötige Macht in seiner Person zu sammeln. Um diese Macht zu haben, muß er mit allen Mitteln der Psychologie die entgegenstehenden Widerstände niederkämpfen: die Widerstände bei der militärfeindlichen Volkspartei, aber auch die Widerstände beim König und bei dessen Umgebung, die Widerstände bei den adeligen Großgrundbesitzern und bei der katholischen Kirche. Auch wenn Bismarck nicht so oft seine Verachtung gegen wissenschaftliche Theorien in der Politik ausgesprochen hätte, müßte es sich aus der geschilderten Sachlage ergeben, daß Bismarck unaufhörlich um seine Macht zu kämpfen hatte und in jedem Augenblicke des Kampfes die vorhandenen Staatstheorien als Mittel gebrauchte, wie andere psychologische Mittel auch, für seinen einzigen Zweck; und dieser einzige Zweck war nur darum groß und heiligte nur darum alle Mittel, weil die Einigung Deutschlands eine Bedingung der deutschen res publica war, eine Bedingung der allgemeinen Wohlfahrt der deutschen Landsleute. Bismarck wurde in seinen Reden und in seinen Erinnerungsschriften oft genug zum ersten politischen Magister Germaniae; aber man tut ihm gewiß nicht unrecht, wenn man behauptet: die meisten Änderungen aus der Zeit der Kämpfe um seine Macht sind Kompromisse, sind Forderungen des Tages. Die wichtigsten theoretischen Fragen (das Verhältnis zur Kirche, die Staatsform) behandelt er gelegentlich, als ob sie Stellungen der Bälle auf dem Billard wären. »Politik ist keine exakte Wissenschaft.«
So gilt das grimmige Wort, das Hobbes über den Naturzustand der Menschen, über den Zustand vor Entstehung der Staatensysteme gesprochen hatte, erst recht für das Verhältnis der Parteien zu den Systemen eines Staatsrechts: bellum omnium contra omnes. Der Staatsmann haßt und verachtet die Staatsrechtslehrer, diese bekämpfen den Staatsmann, solange er am Werke ist, und setzen sich erst historisch mit ihm auseinander, wie sie sich mit Napoleon erst historisch auseinandergesetzt haben; und die Hauptmasse des Volkes haßt den Staatsmann, die[67] gelehrten Staatsrechtslehrer und – trotzdem die Liebe zur Heimat vorhanden ist – den Staat.
Das gemeine Volk fragt weder den Staatsmann, noch den Gelehrten, noch den Staat nach Theorien, nach Gründen. Es wäre entsetzlich für die Heimat, die wir alle lieben, wenn erst das gemeine Volk den eigenen Machthabern gegenüber so empfinden würde, wie Kleist dem fremden Bedrücker gegenüber, wenn es sich in einer Revolution, die doch einfach und eigentlich die Anpassung an neue Verhältnisse sein sollte, den wilden Kriegsruf zu eigen machte:
»Schlagt ihn tot! das Weltgericht
Fragt euch nach den Gründen nicht!«
Woher dieser Haß, der von niemand geleugnet werden kann, welcher sehen will, was ist? Der Hauptgrund dürfte darin zu suchen sein, daß der Staat seinem Wesen nach nur ein notwendiges Übel ist, ein Mittel der allgemeinen Wohlfahrt, daß aber dieser Staat ebenso personifiziert worden ist wie die weitern Mittel des Staates, wie Heer und Polizei, und daß man alle diese »Persönlichkeiten« und einige andere dazu, weil man sie zu Personen gemacht hatte, für Selbstzwecke hielt. Der Staat sollte nur da mit seinen Machtmitteln eintreten, wo er unentbehrlich ist; aber er sieht in seinen Machtmitteln einen Zweck an sich und möchte darum überall herrschen.
Man achte auf die Geschichte des Wortes Polizei, das vom griech. politeia (res publica) herkommt; bis zum 17. Jahrhundert verstand man unter Polizei entweder den Staat selbst oder die innere Einrichtung eines Staates; dann gewann das Wort immer mehr die Bedeutung einer Aufsicht über das Leben der Staatsbürger und ist heute, trotzdem die Macht der Polizei gesetzlich geregelt ist, beim niedern Volke die meist gehaßte Vertretung des Staates. Der Mann aus dem Volke lernt den Staat aktiv durch seine Dienstpflicht, passiv durch die Polizei kennen. Der Mann aus dem Volke weiß nicht, daß die Rechte und Gesetze, denen er in Familien-, Eigentums-, Straf- und Kirchen-Angelegenheiten[68] gehorcht, eine sehr langsame Geschichte von Jahrtausenden gehabt haben, er weiß nicht, daß die Gesetze und die Rechte des Oben allmächtigen Staates und der unten allmächtigen Polizei erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit um die Anerkennung ihrer Macht ringen; aber der Mann aus dem Volke ahnt, daß der Staat der Polizei eine Macht gegeben hat, die auf keinem alten Herkommen beruht, und sieht im Staate den Polizeistaat.
Dieser Polizeistaat kann nun, selbst wenn er wollte, bei der ungeheuern Ausdehnung der Staatsterritorien nicht mehr individualisieren, kann nicht patriarchalisch sein; er muß normalisieren, schablonisieren. Das religiöse, das politische Genie würde heute beim ersten Auftreten ins Loch gesteckt werden. Die Polizei würde heute keinen Jesus dulden, nicht einmal einen hl. Franciskus. Zum Schutze der Mittelmäßigkeit muß die Polizei das Außerordentliche vernichten. Man denke nur an die Schule, die dieses Polizeistaates würdig ist. Die Mittelmäßigkeit wird abgerichtet, dem Genie werden Klötze zwischen die Füße geworfen. Wo ist der Staat, der (über das Recht auf Arbeit hinaus, das eine schwierige Frage ist) sich die Aufgabe stellen würde, jedem Arbeiterkinde und jedem Häuslerkinde durch einen Schulunterricht, der nicht dem väterlichen Vermögen, sondern den persönlichen Anlagen des Kindes gemäß sein müßte, eine den Anlagen entsprechende Arbeitsmöglichkeit zu gewähren? (Vgl. Art. Schule.)
Nicht darin ist der Hauptgrund der Abkehr vom Staate zu suchen, daß unsere Monarchien nicht die Staatsform von Republiken erhalten haben, sondern darin, daß Monarchien und Republiken nicht mehr zu wissen scheinen, trotz alledem, was in der Not für den vierten Stand geschehen ist: der Staat ist ein Summenwort für die Mittel, die der res publica nützlich sind.
Es gibt einen Zustand des Staates, da die Liebe zur Heimat und der Haß gegen einen fremden Staat sich zu einem heroischen Gefühle für den eigenen Staat vereinigen: der Kriegszustand. Ein Notstand, der Notrecht erzeugt und etwas wie eine Vergewaltigung[69] zur Liebe. Das Aufkommen einer oft bestialischen Gesinnung scheint dann zu beweisen, daß der Krieg wirklich tief in der Natur begründet liege. Er liegt aber nur in der Menschennatur, nicht in der übrigen stillen großen Natur. Diese ist nicht grausam, nur lieblos und morallos. Erst der Mensch hat seine Gewohnheiten und Notdürfte Moral genannt und hat darum im Frieden ein schlechtes Gewissen, wenn er sich an die Umkehrung aller seiner Moralbegriffe erinnert, die den Krieg begleitet hat.
Die Kriege sind verschieden, je nach der Not der lieben Heimat und je nach dem Bewußtsein des eigenen Rechts. Je furchtbarer die Notlage und je stärker das Rechtsbewußtsein, desto erhebender die Vorstellung vom Heldentum im Kriege. Der einzelne Mann tut gewöhnlich nur, was er für seine Pflicht hält, d.h. was der Herdeninstinkt von ihm verlangt. Es sind schon besonnenere Soldaten, bei denen Egoismus zu Heldentaten führt: der Egoismus der verzweifelten Sorge um Haus und Hof, um das Leben von Frau und Kind. Immer noch unter dem Zwange des Herdeninstinkts erscheint dann noch höher der Soldat, der sozial empfindet, der aus Liebe zur Heimat sein Leben opfert. Ist er dabei einfach genug, nicht nachzudenken, so verwechselt er die Heimat mit dem Staate, wohl gar mit dem sonst so gehaßten Polizeistaate. Der Haß gegen den Feind wird zu dem festesten Bande für die Volksgenossen. Haß und Liebe brauchen ein Symbol, an welches so blind geglaubt wird wie an ein Dogma. Auch die Ehre, die doch eigentlich nur auf das Individuum Bezug haben kann, wird mit dem Symbol verbunden gedacht. Dem Regiment ist dieses Symbol die Fahne, dem Staate ebenso der Monarch2. In Republiken wird der Monarch[70] durch ein Schlagwort ersetzt: die ganze Staatsgeschichte oder ein einzelnes Ereignis (in Frankreich die große Revolution, in der Schweiz die Telltat), eine angebliche Aufgabe oder auch nur ein verwirrtes oder ein gefälschtes Wort. Hüben und drüben gibt es für die Dauer des Kriegszustandes nur noch eine einzige Tugend: die Tapferkeit; virtus ist zur Moral geworden. Es gibt kein anderes Ziel als den Sieg; dieser Zweck heiligt alle Mittel.
Gegen die alten und neuen Lobpreiser des ewigen Friedens sind unter Denkern und Feldherren Verteidiger des Krieges aufgestanden, des Krieges an sich, nicht nur eines bestimmten unvermeidlichen Krieges. Den Verteidigungskrieg, d.h. die echte Notwehr, haben immer nur Narren oder Heilige gescholten. Der Krieg enthält nun wirklich den merkwürdigen Widerspruch, daß der gemeine Egoismus des Menschen da zu heroischen Handlungen führt, die diesen gemeinen Egoismus überwinden. Im Kriegszustand erfährt der Mensch, daß er nicht Selbstzweck ist. Je sinnloser das Leben geworden ist, desto deutlicher wird der Sinn des Todes erkannt. Und hier, in der Selbstaufopferung für die Brut, hat die sonst so stille Natur doch den Krieg dem Menschen schon vorgemacht.
Die Moral mit ihren Werturteilen kehrt erst im Frieden zurück; auch die moralische Bewertung des Krieges selbst. Die Probe darauf, ob die heroischen Menschen nicht dümmer waren als die unvernünftige Natur, läßt sich mit Symbolen und Schlagworten, mit Fahnen und Ehren nicht anstellen, nicht einmal mit den Lügen des historischen Ruhms. Der Krieg war gut, wenn die Selbstaufopferung der Brut von Nutzen war. Der Staat, der das vergißt, wird im Frieden wieder so gehaßt werden wie vor dem Kriege.[71]
1 | Unser deutsches Gemeinheit entspricht ursprünglich in mancher Bedeutung dem franz. communauté; es bezeichnete den einer Gemeinde. gehörigen Grund und Boden; zu der heutigen Bedeutung ist es erst ganz in den letzten hundert Jahren heruntergekommen; noch Fichte, Grillparzer und Schlosser gebrauchen es an Stellen, wo wir Mittelmäßigkeit oder Plattheit sagen würden. |
2 | Diese Ähnlichkeit der Fahnentreue mit der Treue zu einem religiösen Dogma ist nicht nur bildlich zu verstehen, sondern ganz buchstäblich. Der Fahneneid wird dem obersten Kriegsherrn geleistet, doch bei der Fahne, auf die Fahne; wie andere Eide einem Menschen geleistet werden bei Gott. Die Fahnen-Zeremonien sind heute noch die gleichen wie bei den römischen Legionen, was besonders ins Auge fällt in Frankreich, seitdem dort die römischen Feldzeichen nachgeahmt worden sind. Die Standarten der Legionen (bei Tacitus werden sie geradezu bellorum Dii genannt) wurden im Lager in ein Tempelchen untergebracht und erfreuten sich dort einer göttlichen Verehrung; freilich wurden auch die römischen Kaiser unter die Götter versetzt, im Gegensatze zu moderner Sitte erst nach ihrem Tode. |
Brockhaus-1911: Res publica · Res severa (est) verum gaudium · Tua res agitur · In medias res · Res · Res pertinéntes
Eisler-1904: Res de re praedicari non potest
Herder-1854: Publica auctoritate · Publica · Quae, qualis, quanta (res) · Res judicata · Res · Fungibiles res · Concordia res parvae crescunt · Integra res · Illicita res
Kirchner-Michaelis-1907: Res de re praedicari non potest
Meyers-1905: Publĭca auctorĭtate · Persōna publĭca · Vidĕant consules, ne qui dres publica detrimenti capĭat · Salus publĭca suprēma lex esto · Res sevēra est verum gaudĭum · Res intĕgra · Res ad triarĭos redĭit · Amōtae res · Tua res agĭtur · Certa res · Nullīus res · In medĭas res · Furtīva res · Res · Communes res · Concordia parvae res crescunt, discordia maximae dilabuntur
Pierer-1857: Publĭca auctoritāte · Quasi publĭca documenta · Piscīna publĭca · Publĭca · Villa publĭca · Judicĭa populi, privata, publica · Patrimonīales res · Religiōsae res · Res · Capitalis res · Communes res · Agitata res · Amōtae res · Dominĭcae res · Intĕgra res · Mancĭpi res · Fiscales res · Fungibĭles res
Buchempfehlung
In einem belebten Café plaudert der Neffe des bekannten Komponisten Rameau mit dem Erzähler über die unauflösliche Widersprüchlichkeit von Individuum und Gesellschaft, von Kunst und Moral. Der Text erschien zuerst 1805 in der deutschen Übersetzung von Goethe, das französische Original galt lange als verschollen, bis es 1891 - 130 Jahre nach seiner Entstehung - durch Zufall in einem Pariser Antiquariat entdeckt wurde.
74 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro