Gerechtigkeit

[629] Gerechtigkeit ist im allgemeinsten Sinne diejenige Eigenschaft eines Menschen oder eines Volkes, zufolge der sein Handeln mit dem Rechten (dem als Norm oder Gesetz allgemein Anerkannten oder Anzuerkennenden) übereinstimmt. So bedeutet in der christlichen Ethik G. (Rechtschaffenheit) die vollkommene Befolgung der göttlichen Gebote; bei Platon ist die G. als die der idealen Bestimmung des Menschen entsprechende Verfassung der Seele der Inbegriff aller Tugend überhaupt (vgl. Gerechtigkeit Gottes). Im engern Sinn ist G. diejenige Verhaltungsweise, die durch die Rücksicht auf die Rechte andrer bestimmt wird und sie weder selbst verletzt (passive G.) noch auch deren Verletzung duldet (aktive G.). Während die allgemeine ethische Idee der G. die Achtung aller vernunftgemäßen oder in den geltenden sozialen Anschauungen begründeten Ansprüche andrer fordert, bezieht sich die G. im juristischen Sinne nur auf das äußerliche legale Verhalten, die Befolgung der geltenden, die Beziehungen der Staatsbürger regelnden Gesetze, bez. das pflichtmäßige Verhalten der mit der Aufrechterhaltung und Einhaltung der Gesetze betrauten Beamten. G. in diesem Sinn ist die Kardinaltugend des Richters. Da aber die strikte Anwendung des geschriebenen Rechts oft zur Härte, ja zur Ungerechtigkeit (im ethischen Sinne) führen kann (»summum jus summa injuria«), so gilt in diesem Falle die Forderung, daß nicht ausschließlich der G., sondern auch der Billigkeit Rechnung getragen werde.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 629.
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