XII.

Der Maiaufstand.

[352] Auflösung der Kammern. – Deputationen an den König. – Sturm auf das Zeughaus. –- Flucht des Königs, provisorische Regierung. – ›Seid ihr mit uns gegen fremde Truppen?‹ – Sempers Barrikade. – Der Kampf; Wagner auf dem Kreuzturm. – Ankunft Röckels. – Wagner nach Chemnitz. – Einnahme der Stadt durch die preußischen Truppen.


So traf mich der Dresdener Aufstand, den ich mit vielen für den Beginn einer allgemeinen Erhebung Deutschlands hielt; wer sollte so blind sein nicht zu ersehen, daß ich da keine Wahl mehr hatte, wo ich nur noch mit Entschiedenheit einer Welt den Rücken kehren mußte, der ich meinem Wesen nach längst nicht mehr angehörte.

Richard Wagner.


Mit welcher Sicherheit die Regierung auf einen Kampf mit dem Volke rechnete, geht aus den von ihr getroffenen wohlberechneten militärischen Anordnungen hervor. Bereits am Tage vor der Kammerauflösung war den Soldaten der städtischen Besatzung das Verlassen des Ortes untersagt, die vorhandenen Geschütze in Bereitschaft gesetzt, an die Grenze zwei mobile Divisionen preußischer Truppen beordert, mit der Weisung, ohne vorherige Anfrage in Berlin, auf bloß mündlichen Befehl, den Marsch nach Dresden anzutreten. Unterlassen war dem gegenüber jeder Schritt zur Bewaffnung und Kampfbereitschaft der bestehenden Bürgerwehr. Eine vielsagende Unterlassung! Man war sich bewußt, eine Vergewaltigung des ganzen Volkes1 in allen seinen Schichten unternommen und demnach – bei aller vorauszusetzenden Loyalität – auch die Kommunalgarde gegen sich zu haben, die man alsdann ganz folgerichtig nicht erst noch bewaffnen wollte.

Auf der für Montag den 30. April anberaumten letzten Landtagssitzung sollte die Auflösung der Kammern vollzogen werden. Mit diesem Akte war[353] zugleich Röckels persönliche Freiheit bedroht und dem Belieben der Behörden anheimgestellt Er wurde daher noch vor Schluß der Sitzung von einigen Freunden aus dem Saal gerufen und benachrichtigt, in den Seitengängen und Nebenzimmern des Landhauses seien zahlreiche Polizeiagenten und Soldaten verborgen. Sie drangen darauf, daß er sich augenblicklich für einige Tage von Dresden entferne, solange das Mandat des Abgeordneten ihn noch schützte. Eine Rückkehr in seine Wohnung schien unter diesen Verhältnissen nicht mehr ratsam, – und so hatte er an jenem Morgen, ohne es zu ahnen, auf beinahe dreizehn Jahre von seiner Familie Abschied genommen.2 Beide Kammern des Landtages beeilten sich noch auf dieser letzten Beratung, ihre bisherigen Differenzpunkte über die Anerkennung der Reichsverfassung zu schlichten; in beiden Kammern erhoben sich noch Stimmen ernster Warnung vor der Verderblichkeit des von der Regierung eingeschlagenen Weges; dann schlossen sie ihre Sitzungen mit einem begeisterten Hoch auf Deutschlands Einheit und Freiheit und die – Beides verbürgende – Reichsverfassung. Am gleichen Tage faßte der demokratische Vaterlandsverein den Beschluß der Beeidigung des Militärs und der Bürgerwehr auf die Verfassung und erklärte in einer Eingabe an das Staatsministerium ›jeden Widerstand gegen die Reichsverfassung von oben als revolutionären Akt und das Königliche Gesamtministerium für die Folgen einer solchen Revolution von oben allenthalben verantwortlich‹.

Mit wie leichtem Mut Herr v. Beust diese ›Verantwortlichkeit‹ trug, das bewies er schon tags darauf, am 1. Mai, indem er den von der Zentralgewalt in Frankfurt nach Dresden gesandten Reichskommissar, den weimarischen Minister v. Watzdorf, der eindringlich zur Anerkennung der Reichsverfassung mahnte, mit hochmütig spöttischen Worten abwies, die er sogar noch in seine (1881 erschienenen) ›Erinnerungen‹ aufnehmen zu müssen glaubte.3 Keine mahnende Stimme fand nunmehr Gehör. Aus allen Teilen des Landes drängten sich an den darauf folgenden Tagen die Deputationen von Stadtmagistraten, Ortsvorständen, Vereinen jeder Art mit Adressen an den König. Die Hauptstadt Dresden selbst stellte sich an die Spitze dieser Kundgebungen; ähnlich lautende Mahnungen und Beschwörungen liefen aus Leipzig, Chemnitz, Freiberg, Zwickau und allen größeren Städten ein. Allen dringenden Bitten, allen vollberechtigten Forderungen setzte der sonst so weichgesinnte Monarch sein starres ›Nein!‹ entgegen. Die Aufregung der Gemüter machte durch Gruppen von Einwohnern aller Stände bemerkbar, die in der Nähe des königlichen Schlosses die Rückkehr der Deputationen und ihre Berichte über die ihnen erteilte Antwort erwarteten. Das Abziehen sämtlicher nach dem Schlosse sich drängenden Deputationen mit derselben unveränderlichen, [354] trostlosen Antwort, die Beibehaltung gerade derjenigen Minister, gegen welche sich das allgemeine Mißtrauen richtete, endlich der drohende Eingriff Preußens steigerte die fieberhafte Spannung immer höher. Eine dumpfe Schwüle lag auf allen Gemütern. Gerüchte von dem nahe bevorstehenden, ja schon erfolgten Einmarsch preußischer Truppen fanden willigen Glauben. Die allgemeine Erregung spiegelt sich in den, am Mittwoch den 2. Mai an Röckel gerichteten Zeilen Wagners wieder Röckel hatte sich nach Prag gewendet; dahin schrieb ihm Wagner, er möge schleunigst zurückkehren, da ihm wenigstens augenblicklich keine Gefahr drohe, vielmehr zu befürchten stehe, die Aufregung in Dresden könne zu einem vorzeitigen Konflikt führen. ›Hier ist es sehr unruhig; alle Vereine, auch die sämtliche Kommunalgarde, selbst das hier liegende Regiment »Prinz Albert« haben die energischesten Erklärungen für die deutsche Verfassung abgegeben: auch der Stadtrat. – Man macht sich auf einen entscheidenden Konflikt, wo nicht mit dem König, so doch jedenfalls mit preußischen Truppen gefaßt; man kennt nur noch eine Furcht, nämlich daß eine Revolution zu früh ausbrechen könnte.4 ... Kurz, es herrscht hier die höchste Aufregung, und ich würde Dir aus ganzem Herzen raten, sehr schnell zurückzukommen, da Deine Frau und Kinder unter solchen Umständen in großer Unruhe sind.‹5

Der Umstand, daß die Regierung mit dem von ihr selbst herbeigerufenen Landesfeinde in Verbindung stand, schien jedermann des Gehorsams gegen sie zu entbinden, zugleich aber es dem gesamten Volke zur Pflicht zu machen, mit allen Kräften in entschlossenem Widerstande für Freiheit und Unabhängigkeit einzustehen. Es wurde demgemäß am Donnerstag den 3. Mai nachmittags in einer schnell berufenen Stadtverordneten-Sitzung ein Verteidigungsausschuß gegen die fremden Truppen eingesetzt, der sich, bei dem Charakter des bald entbrennenden Kampfes, am nächsten Tage schon in einen allgemeinen Sicherheitsausschuß erweiterte. Bisher waren alle Vorgänge auf seiten der Bürgerschaft in den Schranken des Gesetzes geblieben, doch lange konnte eine solche Spannung nicht anhalten. Die in den Straßen umherwogende Menge war bei aller Erregtheit doch noch völlig unbewaffnet und bestand nicht zum kleinsten Teile aus Frauen und Kindern. Am dichtesten war das Gedränge in der Schloßgasse und auf dem Zeughausplatze. Das hölzerne Gittertor des Zeughofes bei der Zeughauswache wich dem unwillkürlichen Drucke der Menge; da gab die im Hofe aufgestellte, in keiner Weise noch angegriffene Infanterie-Abteilung auf Befehl ihres Offiziers plötzlich Feuer. Fünf Leichen, darunter die eines hochbetagten Greises, eröffneten [355] die Reihe der Opfer. Das erste Blut war geflossen. Die anfängliche Bestürzung des Volkshaufens über den unerwarteten Angriff wich schnell der Wut. Ein Steinhagel, sowie das Büchsenfeuer der hinzugekommenen Turner nötigte das Militär, sich mit einem toten Offizier und mehreren Verwundeten in das Innere des Zeughauses zurückzuziehen Dies war gegen drei Uhr nachmittags; die Leichen der Gefallenen wurden von der Menge unter Racheruf auf Wagen durch die Straßen geführt. Bataillone der Bürgerwehr hatten vor dem Rathaus Posto gefaßt, darunter die Akademische Legion. ›In Reih' und Glied der letzteren‹, erzählt Kietz, ›stand ich mit vielen Künstlern, das Rathaus schützend Plötzlich sahen wir Wagner über den Altmarkt kommen Professor Rietschel, der mit unter uns stand, rief ihn an: »Herr Kapellmeister, wie steht's in der Stadt? können Sie uns Auskunft geben?« Worauf Wagner erwiderte: »Die Gemeinheit offenbart sich!« und weiter eilte Kurze Zeit darauf wurde unter allgemeiner größter Aufregung der Leiterwagen mit den ersten Toten bei uns vorübergefahren und man hörte vom Ballon neben dem Rathaus den bekannten »Racheruf« der Schröder-Devrient.‹6

Das Geschrei nach Waffen nahm überhand, eine Turnerschar rückte durch die Rampische Gasse nach dem Zeughaus vor. Mit einem jener, zur Fortschaffung der ersten Gefallenen herbeigeschafften Leiterwagen wurde das Haupttor eingerannt und die Menge drang in den Hof. Dieser erste wirkliche Angriff wurde durch einen Kartätschenschuß der Besatzung erwidert, der über zwanzig Personen tot oder verwundet zu Boden streckte, während gleichzeitig die Infanterie aus den Fenstern auf die herbeigeeilte Kommunalgarde feuerte. Inzwischen war im Rathause der Sicherheitsausschluß und zahlreiches Publikum versammelt und harrte der von allen Seiten einlaufenden Nachrichten. Da sei (so wird nach ›aktenmäßigen‹ Aussagen – leider sehr unklar! – berichtet) der Historienmaler Theodor Kaufmann atemlos in den Saal gestürzt und habe einen Bund Schlüssel, worunter sich auch der des Zeughauses (?) befand, auf die Tafel niedergeworfen. Man umarmte und küßte Kaufmann, und der Advokat Samuel Eduard Tzschirner, als Mitglied des Sicherheitsausschusses, gab Befehl, die schwarz-rot-goldene Fahne auf dem Altan des Rathauses aufzupflanzen und Sturm zu läuten. Die [356] eben anwesenden Richard Wagner und Ingenieur Heine, mit noch mehreren anderen Personen,7 seien fortgeeilt, um Tzschirners Befehl vollziehen zu lassen. ›An der Kreuzkirche angelangt, fanden sie Schwierigkeiten; endlich gelangten sie an Ort und Stelle, und Wagner und Heine zogen, bis die übrigen andere Personen herbeischafften, selbst den Strang und läuteten Sturm während des Angriffes auf das Zeughaus.‹8 Wie ganz unvorbereitet seitens des Volkes alles war, erhellt daraus, daß der eine Kartätschenschuß genügte, um die stürmende Menge zu zerstreuen, obgleich es, nach der fachmännischen Aussage des Grafen Waldersee, ›nur der geringsten richtigen Führung bedurft hätte, um das ganze Zeughaus zu nehmen, bevor die Besatzung noch Zeit gehabt wieder zu laden‹. Mit dem Rufe ›Verrat!‹ ›Rache!‹ kehrten Volk und Bürgerwehr durch die Straßen nach dem Rathause zurück. ›Es bot einen traurigen Anblick, die Kommunalgarde zersprengt vom Zeughause fliehen zu sehen, mit todblassen Mienen und eingestehend: niemand hätte einen Schuß Pulver, um sich zu verteidigen.‹9 Während die Menge in wildester Aufregung nach Waffen schrie, verlangte die Kommunalgarde Munition, sowohl zu ihrer eigenen Verteidigung gegen weitere Angriffe des Militärs, als auch, um den erregten Volksmassen mit größerem Nachdruck entgegentreten zu können. Auf diese Forderung erklärte der Kommandant Lenz (Besitzer eines großen Modewarengeschäftes und Hoflieferant, dessen Kunden meist der Aristokratie angehörten), daß keine Munition vorhanden sei. Die handgreifliche Unwahrheit dieses Vorgebens steigerte den Unwillen auch der gemäßigtesten Bürger auf den höchsten Grad. Mit Verwünschungen überhäuft, legte der Oberbefehlshaber der Dresdener Bürgerwehr das Kommando nieder und wurde der Volksrache nur durch Verhaftung entzogen, aus der man ihn im Dunkel des Abends wieder entließ. An seiner Stelle wurde von dem Stadtrat der frühere griechische Oberstleutnant Heinze, Mitglied der eben aufgelösten ersten Kammer, zum Kommunal- und Stadtkommandanten mit unumschränkter Vollmacht ernannt.

Während jenes feindlichen Zusammenstoßes befand sich eben wieder eine Deputation von Mitgliedern des Stadtrates und der Stadtverordneten auf dem Schlosse. Sie hatte nur die beiden Minister sprechen können, die zu diesem Zweck von der königlichen Tafel abberufen wurden. Die dringendsten Ermahnungen und Beschwörungen zur Abwendung des drohenden Bürgerkrieges fanden ein bloß achselzuckendes Gehör. Mitten in die Unterredung [357] hinein dröhnte furchtbar mahnend der verhängnisvolle Kartäischenschuß und machte das Königsschloß bis in seine Grundfesten erzittern. Eine zweite Deputation wurde der ersten nachgesendet, um durch den Hinweis auf das bereits vergossene Blut den König zum Abgehen von seinem unseligen Entschluß zu bewegen. Sie traf mit einer anderen aus Leipzig und einer dritten der Kommunalgarde zusammen, während unten auf der Straße unter wildem Geschrei die blutenden Leichen der Gefallenen vor das Schloß gefahren wurden. Ein einziges Wort würde hingereicht haben, um die Gemüter zu beruhigen. ›Aber alles ist umsonst – der König bleibt fest. In der schmerzlichsten Erregung fallen die Deputierten ihm zu Füßen; sie haben dasselbe Schicksal, das sie früher gehabt und das eine kurz vorher beim Könige gewesene Deputation der Leipziger Gemeindevertreter erfahren hatte – ihre Vorstellungen, ihr Flehen finden keinen Weg zum Herzen des Königs. Er kann sein Wort nicht brechen, – dafür brechen nun viele Herzen im Tode.‹10 Nach dem blutigen Zusammenstoß am Zeughause fanden zwar an diesem Tage, wie auch die ganze Nacht hindurch, keine direkten Feindseligkeiten mehr statt; allein die aufs höchste gestiegene Erbitterung des Volkes, die Hast, mit der es sich bewaffnete, Barrikaden aufwarf und alle Vorbereitungen traf, ließ einen furchtbaren Kampf voraussehen.11 Um die Gefahr eines Übertrittes der Soldaten zu ihren aufständischen Brüdern abzuwehren, hielt man die Regimenter in den Kasernen eingeschlossen; zugleich aber beeilte man sich, sowohl die übrigen sächsischen Garnisonen, wie auch die preußischen Hilfstruppen schleunigst herbeizuziehen. So verlief die Nacht äußerlich ruhig, aber das Volk rüstete sich und arbeitete unausgesetzt an den Verteidigungswerken. Raketensignale stiegen weithin sichtbar vom Kreuzturm empor und wurden von den umliegenden Orten durch helle Feuerzeichen auf den Höhen erwidert.

Der Morgen des 4. Mai (Freitag) brach an. In der ersten Frühe desselben verbreitete sich die unglaubliche Kunde: der König mit Umgebung an Angehörigen und Ministern sei nächtlicherweile auf die Festung Königstein entflohen. Da eine wahrnehmbare Veranlassung zu diesem Schritte nicht vorlag, ein Kampf oder gar ein Angriff auf das Schloß nicht statt gefunden hatte, geschweige denn, daß die Person des Monarchen irgendwie bedroht gewesen wäre, konnte diese plötzliche Entfernung mehr nur als eine Art Entführung durch seine Minister betrachtet werden; als ihr Gefangener [358] sollte er vor allem der Gefahr entzogen werden, daß die Schrecken des ihn umtobenden Bürgerkrieges sein Herz zur Umkehr bewegten Dennoch wurde die plötzliche Abreise mit dem ganzen Schein einer augenblicklichen Flucht aus dringender Lebensgefahr umgeben. Ein dichter Nebel bedeckte das Elbtal, als um vier Uhr der König und die Königin mit ihrem Gefolge zu Faß das Schloß verließen und über die Brücke nach Neustadt eilten, wo das bereitgehaltene Dampfschiff sie aufnahm und ungefährdet nach der Festung brachte. Mit ihm verließen die Minister die Stadt, ohne irgend jemand, selbst nicht die obersten Befehlshaber, von ihrer Abreise zu benachrichtigen oder einen Stellvertreter mit ihren Anweisungen und Vollmachten zu hinterlassen. Indem auf seiten der Regierung niemand in der Stadt verblieb, als das aktive Militär, war jede Möglichkeit zu weiteren Verhandlungen genommen und das Zeichen zum Kampfe gegeben. Auf die erste Nachricht von des Königs Entfernung eilte sogleich eine Deputation des Stadtrates mit dem Bürgerwehr-Kommandanten Heinze und seinem Adjutanten v. Zychlinski in das Schloß, – um nach einer Stunde unverrichteter Sache von ihrer erfolglosen Entdeckungsfahrt nach einer Regierung zurückzukehren. Die Kriegserklärung war damit erfolgt: die renitente Bevölkerung dem Angriff eigener und fremder Truppen preisgegeben. In Sturmeseile wurden die größtenteils verlassenen Barrikaden wieder besetzt, und der Kampf begann.

Das Feuer, welches bei der geschützten Aufstellung der Soldaten in den Gebäuden und der Volksstreiter hinter den Barrikaden bis dahin noch wenig Opfer gekostet hatte, währte jedoch nur einige Stunden; denn die Stadtdeputation schloß unterdessen mit dem, ohne jede Instruktion gelassenen Stadtkommandanten Generalmajor v. Schulz einen fünfstündigen Waffenstillstand.12 Bereits am frühen Morgen, als die ersten Schüsse fielen, hatte es Wagner nicht mehr in seiner entlegenen Wohnung geduldet, er hatte sein Haus verlassen und sich, wie am vorhergehenden Tage, zur Stadt begeben. ›Unterwegs begegnete ihm Bakunin, dem er sagte, er gehe selbst aufs Rathaus, und Bakunin solle ebendahin kommen.‹13 In die Zeit dieses Waffenstillstandes fällt die einzige nachweisliche und wohlverbürgte Aktion des Meisters, durch welche er tatsächlich den Versuch gemacht hat, in die Vorgänge der sächsischen Volkserhebung tätig einzugreifen. Aber diese einzige Betätigung ist allerdings seiner würdig: wir dürfen sie als eine wahre Inspiration bezeichnen. Wäre sie auf empfänglicheren Boden gefallen, sie hätte [359] dem mörderischen Bruderkampf zwischen sächsischen Soldaten und dem sächsischen Volke mit einem Schlage ein Ende gemacht. War unter den jedem rechtlichen Bewußtsein widersprechenden Fehlgriffen der Regierung die Hereinberufung fremder Truppen gegen das eigene Volk der gravierendste, die Zumutung in Verbindung mit fremden, dem Lande unvereidigten Söldnern gegen ihre eigenen Brüder zu fechten, für die sächsischen Soldaten die demütigendste: so galt es nun, den glühenden Funken dieser Scham zur Flamme zu entfachen. Bereits einmal hatte der sächsische Soldat, in seiner Treue gegen sein Volk, der Weltgeschichte eine bedeutende Wendung gegeben, indem er, durch die Schwäche seines Monarchen zum Bruderkampfe gezwungen, inmitten einer entscheidenden Schlacht seinen verirrten König verließ, um zu seinem Volke überzugehen. Welch neue unvergleichliche Wendung, welcher unblutige Sieg wäre es gewesen, wenn nach Ablauf des Waffenstillstandes eben dieselben tapferen Scharen, dem Zuge des Herzens folgend, den Irrtum ihres Oberherrn verbessert und dem Volke sich verbunden hätten, um mit vereinten Kräften den gesetzwidrig herbeigerufenen, derzeitigen ›Landesfeind‹ aus den frevelnd überschrittenen Grenzen zu verjagen! Es ist daher verständlich, daß dieser Gedanke die Phantasie Wagners unaufhörlich beschäftigte, und er nur auf Mittel und Wege sann, wie hier einem doppelt frevelhaften Blutvergießen vorzubeugen wäre! So zog er den Umstand als förderlich in Erwägung, daß sein alter Freund Ferdinand Heine, welcher als Kostümier viel zeichnete und ganze Folgen von Bilderbogen der verschiedenen sächsischen Waffengattungen älterer und neuerer Zeit hatte erscheinen lassen, durch diese seine Liebhaberei eine ausgebreitete Bekanntschaft mit höheren Offizieren besaß Daran dachte Wagner gleich in den ersten Tagen des Aufstandes; er begab sich alsbald in Heines Wohnung und bestürmte ihn, er möchte sofort nach Neustadt laufen, um die einflußreichsten Offiziere aufzusuchen und sie zu veranlassen, nichts gegen das Volk zu tun. Auf diese Weise könnte alles Blutvergießen abgewendet und er der Retter der ganzen Sache werden. Heine erwiderte: ›du bist wohl verrückt, die würden mir gut die Wege weisen!‹ Nun erzählt der damalige Buchdrucker der Röckelschen ›Volksblätter‹, R. Römpler,14 er sei eben an jenem Freitag Morgen auf dem Rathause mit Wagner zusammengetroffen, der ihn gefragt habe, ob man nicht etwas tun oder drucken könnte, um zu erfahren, wie die sächsischen Truppen gesinnt seien Er schlug dazu Streifen mit großer Schrift vor, auf denen nichts weiter als die Worte stehen sollten: ›Seid ihr mit uns gegen fremde [360] Truppen?‹ und bestellte sich die Zusendung derselben aufs Rathaus. Der Druck wurde ausgeführt. ›Ungefähr eine Stunde darauf‹, berichtet Römpler weiter, ›kam ich wieder nach dem Rathause, sah aber auf dem Wege dahin die Streifen überall an den Straßenecken und den inneren Barrikaden angeklebt. Auf dem Marktplatze traf ich Wagner wieder und fragte ihn, ob er gesehen habe, auf welche Weise die Streifen benutzt worden wären. Da er dies verneinte, ersuchte ich ihn mit mir zu kommen, um sich zu überzeugen. Da brach er in Erstaunen aus und rief: »Mein Gott, wer hat wohl diese Dummheit gemacht?« Wir gingen nun zusammen nach der Ostra-Allee, wo das Geschäftslokal war; er wartete, bis noch zweihundert Streifen gedruckt waren, nahm dieselben unter den Arm und verließ die Druckerei. Ich folgte ihm, um zu sehen, was er denn eigentlich zu tun gedächte, sah ihn dann über die Barrikade am alten Opernhause gehen und sich direkt an das Militär wenden, welches (während des Waffenstillstandes) auf dem Schloßplatze und auf der Elbbrücke aufgestellt war. Hier verteilte er eigenhändig die bewußten Streifen unter die Soldaten Hierauf wendete er sich der Brühlschen Terrasse zu, wo ich ihn aus den Augen verlor; nachträglich hörte ich aber, daß er dort dasselbe getan. Daß er bei diesem Beginnen nicht sofort festgenommen, ja sogar erschossen wurde, ist ein wahres Wunder.‹15 An die Erzählung Römplers schließt sich bestätigend diejenige von Gustav Kietz: ›Während des kurzen Waffenstillstandes, den ich benutzte, um mich auf der Brühlschen Terrasse davon zu überzeugen, ob wirklich in Neustadt und oben auf der Terrasse selbst alles voll von Militär liege, traf ich oben vor der Akademie zum letztenmal mit Wagner zusammen. Er hatte unter dem Arm einen großen Packen Zettel, von denen er mir einen Teil gab, mit der Weisung, sie doch möglichst ungesehen unter das Militär zu verteilen. Auf den Zetteln stand groß gedruckt: »Seid ihr mit uns gegen fremde Truppen?« Ich machte mich sofort an die Arbeit; da trat plötzlich ein Hauptmann auf mich zu und riß mir die Zettel aus der Hand, ließ mich aber zum Glück mit dem Ruf: verführte Jugend! laufen.‹

Die Vaterlandsvereinsrede und der soeben geschilderte Appell an das patriotische Gefühl der sächsischen Soldaten, die beiden einzigen rein persönlichen Aktionen Richard Wagners in dieser erregten Periode, – wie bezeichnend, daß es sich in beiden um Versöhnung, Vereinigung, Ausgleichung zerstörender und verderblicher Gegensätze handelt! Jene an die herrschenden politischen Parteien, diese an das Ehrgefühl der Soldaten gerichtet; beide mißverstanden und abgelehnt, jene an der Verranntheit in die unfruchtbare [361] politische Formel gescheitert, diese an den umsichtig getroffenen Maßregeln gegen das Aufkommen jedes Schamgefühls und an der Mißleitung des militärischen Instinktes der Königstreue. Sie waren nach Möglichkeit von jeder Berührung mit der bürgerlichen Bevölkerung abgeschlossen, außerdem vom ersten Tage des Kampfes an durch reichlichste Libationen geistiger Getränke in beständigem Rausche erhalten – ›Der Wein sei nur so geflossen‹, so lautete das nachmalige Geständnis dieser ›Gesinnungstüchtigen‹, deren mehrere sich später bitter anklagten ›nicht den Mut gehabt zu haben, zum Volke überzutreten‹.16 Wer sich nicht in blinder Anbetung des Erfolges gefällt, hält sich bei der Betrachtung geschichtlicher Vorgänge gern auch für unverwirklichte edlere Möglichkeiten das Auge offen; ja, für jedes tiefer begründete geschichtliche Urteil ist ihre Erwägung eine unumgängliche Voraussetzung Vergegenwärtigen wir uns demnach in flüchtigem Überblick die Wendung der Situation, wenn der Appell Wagners in dem Herzen des sächsischen Heeres einen besseren Boden gefunden hätte. Noch war es zu keinem andauernden erbitterten Blutvergießen gekommen. Ein übertritt der zur Niederwerfung angeblicher ›Rebellen‹ abkommandierten Regimenter wäre für das gesamte sächsische Militär ein entscheidender Vorgang gewesen; eine verderbliche und nach der bestehenden Bundesverfassung gesetzwidrige Politik wäre durch dieses Zusammenhalten in ihren blutigen Folgen durchkreuzt und von dem einigen sächsischen Volke dementiert worden. Der unvermeidliche Kampf hätte nur noch den fremden Eindringlingen gegolten; und der angestammten, tiefgewurzelten Liebe des Sachsenvolkes zu seinem Könige wäre nach siegreicher Behauptung des Feldes die Auffindung eines Modus der Einigung wahrlich nicht schwer gefallen. Die Anerkennung der ›Reichsverfassung‹ für Sachsen hätte allerdings ihr Zustandekommen noch keineswegs gesichert, aber sie wäre ein schwer ins Gewicht fallendes Beispiel für ihre Annahme auch in den übrigen deutschen Staaten gewesen. Vor allem wären Ströme von Bürgerblut unvergossen, zahllose von berauschten Soldaten verübte Greuel gegen eine besiegte Bevölkerung unverübt geblieben; Exzesse brutaler Gewalttätigkeit, die dem sächsischen Militär späterhin die bittersten Vorwürfe von Verwandten und Freunden und in manchen Teilen eine solche Verachtung zuzogen, daß kein Mädchen mit einem Soldaten tanzte.

Zur Vermeidung völliger Anarchie unter den aufgeregten Massen war die schleunige Einsetzung einer obersten Behörde mit ausgedehnten Machtbefugnissen das dringendste Bedürfnis. Noch an demselben 4. Mai, während der Dauer des Waffenstillstandes, traten daher um die zwölfte Stunde des Mittags alle noch erreichbaren Mitglieder der kürzlich aufgelösten Landtags-Kammern im großen Sessionszimmer des Altstädter Rathauses zusammen [362] und ernannten aus ihrer Mitte eine provisorische Regierung, aus dem Geh. Regierungsrat Karl Todt, dem Kreisamtmann Heubner aus Freiberg und dem radikalen Abgeordneten und Advokaten Samuel Eduard Tzschirner aus Bautzen bestehend. Der erste Akt dieser Regierung war die feierliche Vereidigung des Volkes auf die Reichsverfassung, verbunden mit dem Gelöbnis, sie nach allen Kräften zu verteidigen und für sie einzustehen. Jubelnder Zuruf und Glockengeläute begrüßte die bewährten Männer, als sie auf den Balton des Rathauses vor das Volk traten Ob Wagner bei dem Akte der Wahl zugegen gewesen, soll nach den protokollarischen Aussagen des Ratsdieners nicht zu konstatieren sein;17 dagegen wird er nach anderweitigen Zeugenaussagen beschuldigt, der erste gewesen zu sein, der, als der Oberlehrer Dr. Hermann Köchly nach erfolgter Wahl vom Balkon des Rathauses herab dem versammelten Volke die Mitglieder der provisorischen Regierung präsentierte, mit voller Stimme ein begeistertes Hoch auf dieselben ausbrachte. Der denunziatorische Eifer unterläßt nicht hinzuzufügen, daß er sichtbar durch seine Stimme und sein Ansehen auf die Umgebung zur Nachahmung wirkte.18 Die Schwierigkeiten, mit denen jene Männer zu kämpfen hatten, waren von Hause aus fast überwältigend. Es fehlte ihnen an Unterbeamten zur Vollstreckung ihrer Beschlüsse, auch war ihnen der Mangel an Orts- und Personenkenntnis hinderlich, da keiner von ihnen aus Dresden stammte.Todt befand sich in seiner neuen Stellung von Hause aus in furchtbarstem Zwiespalt mit sich selbst und verließ Dresden wenige Tage später, um in Frankfurt die Vermittelung der Zentralgewalt zu erwirken. Tzschirner, ein begabter Advokat und Redner, ermangelte nach übereinstimmenden Zeugnissen jenes sicheren Überblicks und jener Selbstvergessenheit, ohne die auch der fähigste Kopf einer solchen Lage nicht gewachsen ist.19 Heubner endlich, dessen Edelsinn selbst die Reaktion anerkannte, der nur aus dem Patriotismus einer idealen Gesinnung die Wahl angenommen hatte, ein klarer Geist und ebenso milder als gewissenhafter Richter, wäre in seiner selbstlosen Hingebung an die Sache jeden Augenblick freudig bereit gewesen, sein eigenes Leben zum Opfer zu bringen, besaß aber nicht das revolutionäre Genie, um das ungesichtete Chaos der ihm übergebenen Verhältnisse in kürzester Frist in einen sicher wirkenden Organismus umzuwandeln, noch weniger die in solchen Fällen unentbehrliche eiserne Festigkeit, die ›mit Menschenleben wie mit Schachfiguren rechnet‹. Dagegen schloß sich noch im Laufe desselben Nachmittags Bakunin aus eigenem Antriebe der provisorischen Regierung an und hielt sich (nach der übereinstimmenden Aussage der Ratsaufwärter), Karten und Pläne von Sachsen studierend, größtenteils im Expeditionszimmer der Regierung auf. Obgleich sein Name nie auf [363] ihren Erlassen mit verzeichnet stand, griff er dennoch nachweislich mit energischer Hand in die lockeren Zügel der strategischen Leitung ein, soweit eine solche bei dem allgemeinen Mangel an Organisation tatsächlich stattfand, gab Befehle und Anordnungen und stellte den Barrikadenkommandanten Erlaubnisscheine aus, jedes Haus niederzubrennen, wenn man die Soldaten nicht anders daraus vertreiben könne. Seine bei dieser Gelegenheit gefallene Äußerung: ›was Häuser! mögen die in die Luft fliegen‹ wird von den offiziösen Geschichtsschreibern des Dresdener Aufstandes mit einer moralischen Entrüstung angeführt, als wäre es nach ihrer Ansicht bei diesem rücksichtslos herausgeforderten blutigen Kampfe in der Tat mehr auf die Gebäude als auf hingeopferte Menschenleben angekommen, und das schöne Dresden nicht von seiner eigenen Regierung unerbittlich zum Schlachtfelde designiert worden. Eine solche Auffassung muß um so mehr auffallen, als nach dem Urteile des preußischen Kommandanten Waldersee die todesmutig kämpfenden Aufständischen überall sich der gemäßigtesten Schonung bedienten, daß sie, statt offensiv zu verfahren, immer den Gang der Ereignisse an sich herankommen ließen, während, wie er nachweist, mannigfache Gelegenheiten sich darboten, die sie bei anderer Gesinnung zu ihren Gunsten hätten ausnutzen können.20 Noch mehr: es lag nicht an dem guten Willen der sächsischen Minister, daß nicht überhaupt die ganze Stadt einem, von Grund aus zerstörenden Bombardement ausgesetzt und in einen Schutt- und Trümmerhaufen umgewandelt worden wäre;21 sondern einzig des preußischen Kommandanten, der dem bereits erteilten Befehl der Minister zum Trotz dessen Ausführung so lange verzögerte, bis sie nicht mehr erforderlich war. Allerdings war die vorherrschend defensive Haltung durch die Position des Volkes bedingt, die beim Wiederausbruch des Kampfes bereits eine ungünstige geworden war. Im Laufe des Tages hatten zwar beide Teile ansehnliche Verstärkungen erhalten, das Militär jedoch gut organisierte Bataillone, das Volk hingegen nur Zuzüge aus den umgebenden Orten von unbekannter Stärke, ohne Führer und Zusammenhalt, ermüdet von dem Marsche, die daher auch die Entwerfung eines regelrechten Angriffsplanes unmöglich machten und sich sogleich auf die Barrikaden verteilten. Ein Angriff auf die festen, durch Artillerie geschützten Stellungen der Truppen war mit den untergeordneten Kräften nach den ersten vierundzwanzig Stunden nicht mehr ausführbar, und man mußte [364] sich auf die Verteidigung der Barrikaden beschränken, mit denen alle Straßen mehrfach versperrt waren.

Nachdem am Freitag Abend die beiden Minister Beust und Rabenhorst nach dem sicheren Stadtteil jenseits der Elbe zurückgekehrt waren, wo sie im Blockhaus der Neustadt Quartier nahmen, eröffneten am nächsten Morgen, am Sonnabend den 5. Mai, die Truppen ihrerseits die Feindseligkeiten mit einer Kanonade aus dem Schlosse und nahmen einige der Barrikaden. Von da ab währte der Kampf ohne Unterbrechung bis zum 8. Mai abends. Die Hauptbarrikade am Ende der Wilsdruffer Gasse hatte den Architekten Gottfried Semper, der in der dorthin abkommandierten Scharfschützenkompagnie der Kommunalgarde seinen Dienst tat, durch ihre Unzweckmäßigkeit und geringe Widerstandskraft mit steigendem Unmut erfüllt. Daß man ›etwas so einfältig anfangen könne, wenn man einmal revolutionieren wollte‹, war ihm auf die Länge unerträglich: er eilte aufs Rathaus zu den in der provisorischen Regierung versammelten Freunden und kanzelte sie ob ihrer schlechten Organisation der Verteidigungswerke tüchtig herunter. Da hieß es denn natürlich: ›mach's besser, wenn du kannst!‹ ›Ja, das kann ich allerdings‹, schrie der gereizte Künstler ›ich würde mich schämen, solch schlechte Arbeit zu machen.‹ Sofort rannte er auf seinen Posten an der Wilsdruffer Barrikade zurück, wo man ihn mit Jubel empfing: er ließ Flankenwerke errichten und ordnete eine so zweckmäßige und feste Verstärkung der Schutzbauten an, daß sie sogar dem Geschützfeuer widerstehen konnten und mittelst Durchbrechung der Häuser umgangen werden mußten.22 Massenangriffe auf die Barrikaden konnten indes in den engen Dresdener Straßen überhaupt nur an wenigen Stellen auf wirklich offenen Plätzen, wie dem Neumarkt, unternommen werden. Um ihre Streitkräfte in eine Linie zu bringen, hatten die Aufständischen von Haus zu Haus Verbindungen durchgebrochen, ein Verfahren, welches bald auch von den Soldaten nachgeahmt ward. Ein eigentlicher Straßenkampf kam demnach nur an vereinzelten Stellen vor: man beschoß sich gegenseitig aus den Häusern, durchbrach die Zwischenwände und suchte in dieser Weise vorzudringen. Entsprechend dem Wunsche der Minister, die Rebellen wie in einem Netze einzufangen, um ihr Entkommen zu verhindern, bestand der militärische Plan darin, die Altstadt mit einer vom Schlosse ausgehenden Schlinge zu umzingeln und in immer engere Kreise einzuschließen. Indes war dieser Plan nicht so erfolgreich, wie gehofft; die bewundernswerte Tapferkeit und Ausdauer, welche die Volksstreiter, darunter mehrere [365] Mädchen,23 in der Verteidigung jedes Postens bewiesen, ist selbst von den erbittertsten Gegnern anerkannt worden Sie er hellt zur Genüge aus der bloßen Tatsache, daß das Militär trotz seiner bedeutenden numerischen Übermacht, seiner Organisation und trefflichen Ausrüstung, sich nach einem sechstägigen furchtbaren Kampf doch nur erst in den Besitz kaum des dritten Teiles der kleinen Altstadt gesetzt und sogar den nur einige hundert Schritt vom Schlosse entfernten Altmarkt nicht erreicht hatte. Auf seiten des kämpfenden Volkes war alles persönliche Bravour und Beharrlichkeit; von einheitlicher Leitung war keine Rede. Dem Kommandanten Heinze fehlte jedes Mittel, um einen bestimmenden Einfluß auf den Gang des Kampfes auszuüben. Zu keiner Stunde wußte er auch nur annähernd, welche Zahl von Streitern er befehligte, wie viele hier, wie viele dort standen, welchen Führern die einzelnen Trupps gehorchten. Auch genoß er kein Vertrauen, sondern kam den von ihm Befehligten in seiner griechischen Uniform wie ein Schauspieler vor. Dieser Zustand bewirkte u.a. bei Semper eine große Gereiztheit; er kam (nach Kietz' Erzählung) eines Tages, während der Kampf noch tobte, zu seinem Freunde Max Hanfstängl und dessen Brüdern, warf grimmig seine Flinte hin und rief: aus dieser Schweinerei würde nichts; er würde sich nicht weiter daran beteiligen, sondern nach Hause gehen.24 Daß er dies dennoch nicht tat, sondern als Kommandant der Barrikade an der Waisenhausgasse bis zum letzten Augenblick aushielt und erst wich, als die blutbedeckte Stadt fast schon ganz in der Gewalt der Sieger war:25 das entsprach dann wieder ganz seinem stämmigen, durchaus antiken Charakter, der, gleich Wagner selbst, wo es sich um eine künstlerische oder moralische Überzeugung handelte, keine Rücksicht auf seine bürgerliche Lebensstellung oder persönliche Sicherheit nahm.

In der Frühe des Sonnabends hatte die Schröder-Devrient das bereits von dem vollen Getöse des Kampfes erfüllte Dresden verlassen, um sich von dort zunächst nach Berlin zu flüchten. ›Der Frühling hatte sich in voller Schönheit über die Erde ausgebreitet‹, so schildert sie selbst diese Abreise ›und nie werde ich den erschütternden Eindruck vergessen, den es auf mich [366] machte, als ich durch die üppigen Fluren fuhr, über welche der Himmel seinen hellsten Glanz ergoß, während aus der im Tale liegenden Stadt die Sturmglocken des Aufruhrs herüberschallten.‹ ›Mitten in diese aufgeregte Zeit‹, erzählt Ludwig Eckardt,26 ›fällt meine persönliche Begegnung mit Richard Wagner in Dresden. Ich sehe ihn noch in aufgeregter Stimmung vor mir, nach Nachrichten haschend, Ratschläge erteilend, immer mit der Erregtheit eines persönlich Beteiligten.‹ Die Enge der Straßen, die Unmöglichkeit, zwischen ihren Mauern eingeschlossen, einen Überblick über Angriff und Verteidigung der Barrikaden zu gewinnen, trieb ihn alsbald auf den höchsten Punkt der eingeschlossenen Altstadt, den 96 Meter hohen Turm der Kreuzkirche. Von dem über der Galerie gelegenen Glockenstuhl feuerten gegen 70 Mann aufständische Scharfschützen unablässig auf das in den Straßen kämpfende Militär; von der Galerie aus ließen sich die Ereignisse des Kampfes am geeignetsten überschauen.27 Aus erhaben klarer Höhe blickte er über den im Maienschmucke prangenden, sonnenbeglänzten Elbgau: über ihm heller, blauer Frühlingshimmel; dicht unter seinen Füßen dröhnten die Sturmglocken zu dem knatternden Gewehrfeuer, das unablässig die Stadt durchtobte; über seinem Haupte krachten die Büchsenschüsse der Verteidiger. Aber auch nach dem Turme hinauf wurde von sächsischen Jägern und preußischen Scharfschützen von unten und von den nächstgelegenen höheren Punkten aus ein regelrechtes Feuer unterhalten: dicht um ihn schlugen die Gewehrkugeln an das Mauerwerk. Den Hinweis eines Warners auf diese lebensgefährliche Position habe er bloß mit den humoristischen Worten beantwortet. ›Keine Sorge, ich bin unsterblich!‹28 Der Kreuzturm war in jenen [367] Tagen die wichtigste Beobachtungs- und Signalstation, nächst dem Rathause, als Sitz der provisorischen Regierung, der zweitwichtigste Punkt für die Volksstreiter; er wurde nicht leer von Beobachtern, um nach den beständig eintreffenden Zuzügen aus den umgebenden Orten auszuschauen. Der Kampf da unten konnte nur dann eine Hoffnung auf Gelingen haben, wenn ringsum das ganze Land sich erhob, die Bürgerwehren und Freischaren aus allen Gauen herbeiströmten, um die Hauptstadt zu entsetzen und die Truppen zum Weichen zu zwingen. Mit Spannung wurde daher das Heranziehen neuer Scharen beobachtet und signalisiert. Ein Herr von B., der mit Wagner, ohne ihn persönlich zu kennen, den Kreuzturm bestiegen hatte, berichtet, wie er und ein anderer, ihm ebenfalls unbekannter Herr (nach Dinger der Adjutant des Bürgerwehr-Kommmandanten, der Rechtskandidat Leo von Zychlinski) Notizen auf Papier geschrieben und solches, an einem Stein befestigt, hinuntergeworfen hätten, worauf die unten postierten Schildwachen diese Rapportzettel nach dem Rathause weiter beförderten.29 Als er um sieben Uhr abends den Turm verlassen, seien diese Herren noch oben geblieben. In der Tat verbrachte Wagner die ganze Nacht von Sonnabend auf den Sonntag und einen Teil des folgenden Tages auf seinem erhöhten Beobachtungsplatze. Eine Erinnerung an die Nacht auf dem Kreuzturm bieten uns die – leider sehr verworrenen und ungenügenden – Aufzeichnungen eines gewissen Professors Thum, eine lange und lebhafte Disputation mit dem Meister betreffend, über ›antike und christliche Welt anschauung‹ und ausführliche, aber von dem Zuhörer nur sehr mangelhaft begriffene und demgemäß wiedergegebene Mitteilungen über künstlerische Fragen, wie über die Dresdener Kapelle und die Leipziger Gewandhauskapelle, über die ›Torheit, nach Beethoven – reine Musik schreiben zu wollen‹ u.a.m.30[368] Am Sonntag habe Wagners Frau einen Brief ihres Gatten erhalten, worin er sie bat, ihm eine Flasche Wein und eine Dose Schnupftabak nach dem Kreuzturm zu senden,31 und ihm zugleich mit dieser Sendung eine Nachricht übermittelt, worin sie ihn beschwor, nach Hause zurückzukehren.

Das Knallen der Büchsen und Dröhnen der Kanonen hatte nur während einiger Nachtstunden geruht; der Morgen des folgenden Sonntags, des 6. Mai, fand bereits größere Massen preußischer Truppen in die Neustadt eingerückt. Schritt für Schritt erkämpfte sich das Militär seinen Weg durch die Häuserreihe, von den Fenstern aus schießend und beschossen, und stets gezwungen, die Barrikaden von hinten her zu nehmen. Dabei hatte es in der Artillerie einen Verbündeten, dem die Aufständischen nichts entgegensetzen konnten Gegenüber den gewichtigen Zwölfpfündern des Militärs werden in den gleichzeitigen Nachrichten32 auf seiten des Volkes nur Böller erwähnt, von Bergleuten aus Burgk mitgebracht, aus denen zylinderförmige Eisenstücke, drei bis vier Zoll stark und anderthalb im Durchmesser, aus langen Stangen abgeschlagen, geschossen wurden.33 Die Gebäude, in denen die Aufständischen sich verschanzt hatten, und von denen aus sie die Straßeneingänge beherrschten, wurden so lange mit schweren Geschützen bearbeitet, bis sie, gänzlich durchlöchert, keinen Schutz mehr boten und des drohenden Einsturzes wegen verlassen werden mußten. Dennoch geschah das Vorrücken der Truppen nur sehr langsam und allmählich. An demselben Sonntag traf Röckel von Prag aus mit der Post in Dresden ein. ›Zahlreiche Zuzüge‹, so erzählt er, ›belebten den Weg durch Sachsen. In allen Ortschaften war die Bevölkerung versammelt, um über ihre Haltung zu beraten; allerwärts hatte man sich bereits für die kräftige Unterstützung der Volkssache entschieden oder war im Begriff es zu tun. Schon in weiter Entfernung um Dresden vernahm man das Dröhnen der Geschütze; näherhin das Stürmen der Glocken und Knattern des Gewehrfeuers, bis endlich von den letzten Anhöhen die Stadt selbst ersichtlich ward, aus der zwei Rauchsäulen in den hellen Maihimmel emporstiegen: das alte Opernhaus, von Unbekannten angezündet, und ein von den Preußen angezündetes Privathaus standen in Flammen. Es war Sonntag den 6. Mai nachmittags, als ich eintraf. Der Postwagen mußte vor dem Tore halten; denn Barrikaden versperrten den Eingang und weiterhin alle Straßen von dieser Seite. In den entfernteren Stadtteilen erblickte man zwischen verrammelten Häusern, geschlossenen Läden und müßigen Barrikaden die gewöhnlichen Gruppen von ängstlich gespannten [369] Neugierigen und einzelnen Bewaffneten, die ihren Familien oder Freunden Kunde bringen wollten: der Kampf war noch auf die Straßen um das Schloß und den Neumarkt beschränkt. Um einen schmerzlichen Auftritt in meiner Familie, die mich noch fern glauben sollte, zu vermeiden, begab ich mich gar nicht in meine Wohnung, sondern gleich auf das Rathaus. Hier fand ich die Mitglieder der provisorischen Regierung, Heubner, Todt und Tzschirner, den Kommandanten Oberstleutnant Heinze, Bakunin und andere Es verstand sich von selbst, daß ich mich gleich der provisorischen Regierung ganz zur Verfügung stellte; allein auch hier waltete eine große Hilf-und Ratlosigkeit. Höchst mangelhaft über die Vorgänge in der Stadt und im Lande unterrichtet, mußten sie in jedem einzelnen Falle sich oft Leute suchen, die ihre Befehle weiter trugen, und konnten niemals sicher sein, daß diese ausgerichtet oder befolgt wurden. In dieser Weise trotz allen Eifers zu einer relativen Unwirksamkeit verurteilt, wurden diese Männer doch Tag und Nacht durch die verschiedenartigsten Anforderungen in rastloser Tätigkeit erhalten.‹34

Seit dem Beginn des Kampfes fühlte sich die Bevölkerung Dresdens in der Lage von Einwohnern einer belagerten Stadt, die von ihrer Regierung verlassen, von fremden Truppen bedroht, allein noch auf Beistand von der höchsten militärischen Bundesmacht wartete. Demgemäß verließ Todt schon am 6. Mai Dresden, um in Frankfurt die Vermittelung der Zentralgewalt zu erwirken. Die wichtigsten Erfordernisse für Belagerte sind ohne Zweifel Lebens mittel und Munition. An ersteren trat glücklicherweise kein Mangel ein, denn bis auf weite Entfernung sandten die umliegenden Ortschaften reichliche Gaben an Brot, Fleisch und Gemüsen Bedenklicher war die rasche Abnahme des geringen Vorrates an Pulver. ›Wie in allen solchen Kämpfen wurde mit den Schüssen eben nicht gegeizt, das Knallen von beiden Seiten unterbrach sich keinen Augenblick, mochte auch keine denkbare Möglichkeit, einen Feind zu treffen, vorhanden sein. Mit weniger Sorge konnte sich das Militär dieser lärmenden Neigung hingeben; schlimmer war es mit den Aufständischen bestellt, wo die Munition kaum noch für den nächsten Tag zu reichen versprach. Die Einnahme der nur schwach besetzten Pulvermühle in der Nacht von Sonntag auf den Montag brachte jedoch diesem Mangel einige Abhilfe, und Blei lieferten zur Not die Dächer und Röhren.‹35 Die Verwundeten fanden Aufnahme in Apotheken und Lazaretten; auch an Gefangenen fehlte es nicht, die unter verschiedenartigen politischen Anschuldigungen, zumeist als ›Spione‹, eingeliefert und im Polizeigebäude untergebracht waren. Heubner ließ sie vorführen; an Stelle ihrer schwer herbeizuschaffenden Ankläger wurden sie selbst aufgefordert anzugeben, was [370] gegen sie vorlag, und da solchergestalt ihre völlige Unschuld sich schnell ins klarste Licht setzte, stand ihrer augenblicklichen Freilassung nichts im Wege Standrechtliche Erschießungen königlich gesinnter Bürger auf dem Altmarkt, worüber man fabelhafte Gerüchte aussprengte, haben überhaupt nicht stattgefunden. Selbst gefangene Soldaten entwaffnete man bloß und ließ sie frei umhergehen. Man nahm nicht mit Unrecht an, daß sie nur gezwungen gegen das Volk kämpften, und wirklich kam es nicht vor, daß einer von ihnen die gewährte Freiheit mißbrauchte, um wieder auf die andere Seite zu gelangen. Ein gefangener Kommunalgardist stand im Verdacht, meuchlings auf das Volk geschossen zu haben, die Menge verlangte tumultuarisch seine sofortige Aburteilung ›Da bekundete‹, nach Röckels Erzählung ›Bakunin die ganze ihm von seinen wahrheitsliebenden Feinden so freigebig zugesprochene Härte und Blutgier. Mit barschem Tone befahl er dem immer tiefer sich verstrickenden Angeklagten zu schweigen, trat dann hinter ihn und flüsterte ihm ein, was er zu sagen habe, um die aufgeregten Leidenschaften zu versöhnen, während zu gleich andere die Ankläger zu beruhigen suchten; und so endete dieses revolutionäre Standgericht mit der sofortigen Freilassung des Geängsteten.‹

Über die Begebenheiten der nächstfolgenden Tage bieten uns die Forschungen Dingers, soweit sie Wagners Person und Verhalten betreffen, einen eigentümlichen Anhalt in Form eines, wenn auch nicht völlig zuverlässigen, kurzgefaßten Tagebuches,36 dessen Quelle er zwar nicht nennt, das aber ersichtlich den Erinnerungen einer damals im Hause des Meisters lebenden jüngeren Schwester Minnas entstammt. Hiernach wäre Wagner am Montag, den 7. Mai,37 aus seiner entlegenen Wohnung in der Friedrichstadt, um Erkundigungen über den Fortgang der Sache einzuziehen, wieder sehr zeitig in die Stadt gegangen, jedoch bereits nach einigen Stunden wieder zurückgekehrt. Ungenau und der gekennzeichneten femininen Beschaffenheit seiner Quelle angemessen ist jedoch Dingers am selben Orte gegebene Motivierung dieser Rückkehr: ›das Treiben der Revolutionäre hätte seinen Abscheu erregt‹ Vielmehr wird selbst die oberflächlichste psychologische Einsicht und persönliche Kenntnis Wagners auf denselben Schluß hinleiten, den uns alle folgenden wohldokumentierten Tatsachen bestätigen: je höher die Gefahr der Volksstreiter stieg, desto tiefer und ernstlicher mußte sein Interesse für die bedrohte persönliche Sicherheit ihrer aufopferungsvollen Führer und eine etwa noch mögliche Rettung der guten Sache werden. Man mag überhaupt über die Berechtigung der gesamten sächsischen Volkserhebung und speziell der Dresdener Kämpfe denken, wie man will: unter allen Umständen fordert der ausdauernde Heroismus ihrer erwählten Führer bis zu dem Moment [371] ihrer Gefangennahme, sowie nicht minder die heldenmütige Tapferkeit ihrer kriegsungeübten Scharen und ihre konsequent ausgeübte Schonung des Privateigentums, die größte Hochachtung des objektiven Beobachters heraus, wie sie ihnen denn auch selbst von gegnerischer Seite her reichlichst zuteil geworden ist. In wie viel höherem Grade mußte eine solche diesen Männern von Wagners Seite gewiß sein, bei seinem ausgeprägten Interesse für den leidenden Teil und seinen – im Briefwechsel mit Uhlig-deutlichst kundgegebenen menschlich persönlichen Sympathien! Im vollen Widerspruch zu seiner eigenen Behauptung führt denn auch derselbe Forscher die Tatsache an, daß vielmehr Wagner noch auf demselben Gange zum Rathaus Gelegenheit gefunden habe, einen frischen Zuzug von Zittauer Freischaren in die Stadt zu geleiten.38 Dabei sei er – zum ersten Male seit dessen tags zuvor erfolgter Rückkehr – auf Röckel gestoßen, während dieser im Auftrag der provisorischen Regierung die Barrikaden besuchte, außer acht gelassene Posten besetzte, zum Ausharren ermunterte und vermittelst Durchbrechen der Scheidewände zwischen den Häusern Verbindungen herstellen ließ. Der Zustand der Barrikaden, die zwar fest, aber meist niedrig und leicht zu übersteigen waren, hatte Röckel auf wirksamere Mittel zur Abwehr eines etwaigen Sturmes sinnen lassen; und er war auf den Einfall geraten, sie mit Pechkränzen39 zu bestecken, die, im Falle der äußersten Not angezündet, wohl geeignet sein mochten, einem weiteren Vordringen der Belagerer zu wehren. Mit der nötigen Vollmacht dazu ausgestattet, hatte er bereits die erforderlichen Materialien, wenn auch in ungenügender Menge, zusammengebracht und war eben im Begriffe gewesen, die Ausführung der Arbeit anzuordnen, als inzwischen einige angstverwirrte Stadträte, die massiven steinernen Häuser Dresdens mit hölzernen, strohbedachten Scheunen verwechselnd, die provisorische Regierung zu einem schriftlichen Widerruf ihrer Anordnung bewogen. Er berichtete Wagner über diesen Vorsichts-Erfolg, und die beiden Freunde trennten sich ahnungslos, um sich erst nach dreizehn Jahren wiederzusehen.40 Denn bereits in der folgenden Nacht war es Röckel beschieden, [372] während er soeben einem starken Zuzug aus der Gegend des Plauenschen Grundes entgegengegangen war, um ihn auf sicheren Wegen in die Stadt zu führen, in die Hände eines umherstreifenden Reitertrupps zu fallen. Damit war sein Schicksal besiegelt.

›Wagners gewöhnlicher Weg in die Stadt und wieder zurück‹, so berichtet Gustav Kietz auf Grund einer mündlichen Erzählung des Meisters und seiner eigenen Anschauung ›führte ihn natürlich durch die Ostra-Allee; als aber später Kanonen auf dem Zwingerwall aufgefahren waren, die namentlich das von den Aufständischen stark besetzte Turmhaus (jetzt Webers Hotel) beschossen, mußte er einen großen Umweg machen, um nach Hause zu kommen. Er ging also nach der Annenkirche, um über den Freiberger Platz nach Friedrichstadt zu gelangen. Als er über die Barrikade bei der Annenkirche stieg, hörte er hinter sich einen Ruf: »Herr Kapellmeister!« und als er sich umblickte, sah er auf der Barrikade einen stattlichen Mann, der ihm mit kräftiger Stimme zurief: »Der Freude schöner Götterfunke hat gezündet!« Als er mir‹, fährt Kietz in seiner Erzählung fort ›im Jahre 1873 auf einem Spaziergang in Bayreuth diese »eigentümliche Geschichte« erzählte, machte er auch die Armbewegung dazu und das »gezündet« wurde in seiner ausdrucksvollen, unmittelbar vergegenwärtigenden Weise stark hervorgehoben.‹ Es sei, ›sehr sonderbar‹ gewesen, habe der Meister mit unvergeßlichem Stimmton seiner Erzählung des Vorfalles hinzugefügt.41 Es mußte also einer der Zuhörer seiner Aufführung der neunten Symphonie gewesen sein.

Was er bei diesem Ausgang am Morgen des 7. Mai erfuhr und was ihn dazu bestimmte, alsbald in seine Wohnung zurückzukehren, war der Plan der provisorischen Regierung, den Schauplatz des Kampfes aus der belagerten und schwer zu behauptenden Residenz in das sächsische Erzgebirge zu übertragen. Vermittelst ihrer vielfachen Verbindungen und Anhänger durch das ganze Land, hatten die Häupter der Bewegung Kenntnis von dem Anrücken vermehrter Streitkräfte, wie von der baldigst in Aussicht stehenden völligen Einschließung der Stadt auf dem linken Elbufer erhalten. Sie gewannen die Überzeugung, daß die Überwältigung Dresdens durch die Truppen [373] unvermeidlich sei und begründeten darauf den Plan, die nicht länger mehr zu haltende Hauptstadt aufzugeben und die Oberleitung der Bewegung, die mittlerweile das ganze Land erfaßt hatte, behufs eines allgemeinen Volkskrieges an einen anderen Ort zu verlegen. Zu solchem Zwecke war der Heimatsort Heubners, Freiberg im sächsischen Erzgebirge ausersehen;42 die festen gebirgigen Positionen und das schwierigere Terrain hätten ansehnliche Militärkräfte erfordert, um die provisorische Regierung und die daselbst verschanzten Aufständischen aus dem neugewählten Mittelpunkt zu vertreiben. Da inzwischen auch die Friedrichstadt und Wagners eigene Wohnung nicht mehr vor den Kugeln sicher war – nach Dinger wäre er selbst von einer Kugel gestreift gewesen! – schlug er seiner Gattin vor, mit ihm nach Chemnitz zu gehen, wo er sie im Schutze seines daselbst lebenden Schwagers Wolfram43 wohl geborgen wissen durfte. Gern willigte diese ein und reiste mit ihm noch am gleichen Montag Mittag44 im Postwagen nach Chemnitz ab, wo man gegen Abend eintraf. Daß er dort ›mit Eifer für den Zuzug der dortigen Kommunalgarde nach Dresden wirkte‹, wird uns anderweitig berichtet.45 Er hatte jedoch, nachdem er Minna dort in Sicherheit wußte, in Chemnitz keine Ruhe mehr; es drängte ihn, wieder nach Dresden zurückzukehren. Bereits anderen Tages, Dienstag den 8. Mai, in aller Frühe führte er diesen Vorsatz aus. ›Mittlerweile waren aber durch Zernierungs-Truppen oder Freischaren die Straßen nach Dresden gesperrt; Wagner ward daher auf Umwegen nach Tharandt geführt und fuhr nach Freiberg. Unterwegs in Öderan traf er einen Trupp Chemnitzer Kommunalgarde, die vom Volke gezwungen wurde, nach Dresden zu marschieren und durch etwa 1400 Freischärler verdoppelt war. Es lag durchaus nicht im Plane der biederen Chemnitzer, etwas Ungesetzliches zu unternehmen, d.h. sich am Kampfe in Dresden zu beteiligen. Sie zögerten absichtlich, so sehr sie konnten. Wagner munterte die Scharen zum Zuge nach Dresden auf‹.46 Übereinstimmend damit berichtet Stephan Born, in Freiberg habe sich die Chemnitzer Truppe geweigert weiterzuziehen, und so sei Wagner als Überbringer [374] einer Forderung der Chemnitzer Kommunalgarde nach Dresden gekommen, dahin lautend, daß ein Mitglied der provisorischen Regierung oder des Kommandos der Aufständischen nach Freiberg komme, um mit jener Bürgerwehr über deren Einzug in die von den preußischen Truppen belagerte, aber noch nicht völlig eingeschlossene Hauptstadt zu unterhandeln. Im Laufe der vierundzwanzig Stunden seiner Abwesenheit war hier inzwischen das Militär von mehreren Seiten her mit Durchbrechung der inneren Häuserwände bis an den Altmarkt vorgedrungen; die ganze Moritzstraße bereits tags zuvor auf die gleiche Weise nach schwerem Kampfe genommen, in der Nacht auch von der entgegengesetzten Seite der Postplatz mit dem Lokale des ›Engelklub‹, welches eine der stärksten Barrikaden flankierte, und aus dessen Fenstern unausgesetzt von den Aufständischen geschossen wurde, von einem preußischen Garderegiment mit dem Bajonett erstürmt und am Morgen des 8. Mai ein drittes preußisches Bataillon, gegen tausend Mann stark, in die Neustadt eingerückt, während noch zahlreiche preußische Truppen, namentlich Reiterei und Artillerie, erwartet wurden.47 Im übrigen hatte in den beiden letzten Tagen des heißesten Kampfes das schwere Geschütz fast gänzlich geschwiegen; weil die Truppen meistens im Innern der Häuser vordrangen oder Eckgebäude der Straßen mit Sturm nahmen. Was ihnen dabei begegnete, ward ohne Schonung teils niedergeschossen, teils mit dem Bajonett erstochen, auch wehrlose Greise und Verwundete; daher die unverhältnismäßige Zahl der Toten auf seiten des Volkes im Verhältnis zum Militär.48

Um jenen ihm von der Chemnitzer Kommunalgarde gewordenen Auftrag auszurichten und auch aus persönlicher Teilnahme für die Häupter der Volkserhebung kam Wagner ›an dem verhängnisvollen Dienstag Abend gerade noch einmal aufs Rathaus‹ und hatte dabei Gelegenheit, den als ›Spion‹ gefangenen jungen Fürstenau, der mit den Stimmen der Berliozschen Juli-Symphonie von Berlin zurückgekehrt war, durch seine Bürgschaft bei der provisorischen Regierung zu befreien.49 Noch in derselben Nacht begab er sich dann nach Freiberg zurück, in Begleitung eines Mitgliedes des Kommandos, des Advokaten Hermann Marsch Marschall von Bieberstein,50 der [375] (nach Born) ›zum Zwecke der Unterhandlung mit der Chemnitzer Kommunalgarde mit Wagner nach Freiberg ging, ohne jedoch etwas ausrichten zu können‹ (?). Den zurückgebliebenen Verteidigern, die trotz aller Übermüdung nach viertägigem Kampf auf Leben und Tod, je enger der Halbkreis der Belagernden sich um sie schloß, desto löwenmutiger sich hielten, blieb jetzt nur die Wahl: sich entweder unter den Trümmern Dresdens zu begraben oder den bereits gefaßten Plan eines bewaffneten Rückzuges auszuführen. Der schwachherzige militärische Befehlshaber der Aufständischen, Heinze, hatte sich zwar noch am Dienstag Abend freiwillig als Gefangener gestellt, dafür aber war, nach anderen Zuzügen, noch ein solcher aus Altenburg, 400 Mann stark, durch die Wilsdruffer Vorstadt, den einzigen von den Preußen noch nicht genommenen Eingang des Altmarktes, eingetroffen, so daß der Widerstand durch diese neuangekommenen Leute noch einmal so kräftig wurde. Die ganze Nacht hindurch tönten alle Glocken; Gewehrsalven und Kanonenschüsse wurden bis vier Uhr gehört. Nachdem alle Vorkehrungen getroffen waren, fand in den Morgenstunden des 9. Mai auf ein gegebenes Zeichen – dreimal drei Glockenschläge vom Turme der Kreuzkirche – der Rückzug in bester Ordnung statt. Die einrückenden Truppen fanden, außer in den Besatzungen einiger vorstädtischen Barrikaden, keinen Gegner mehr zu bekämpfen; aus allen Häusern, ja fast aus allen Fenstern, verkündigten weiße Fahnen die Unterwerfung der Zurückgebliebenen und ihre Bitte um Schonung an.51

Die Hoffnung, den Kampf inmitten der tatkräftigen Bevölkerung des Erzgebirges fortsetzen zu können, erwies sich als eine Täuschung. Die erst jetzt in größeren geordneten Massen nach Dresden eilenden Zuzüge lösten sich, auf die Nachricht vom Verlust der Hauptstadt, wieder auf. Unbekannt mit jener weiteren Absicht, hielten sie alles für verloren. Selbst von den Abziehenden teilten nicht wenige diese Meinung und zerstreuten sich nach verschiedenen Richtungen. Preußische Truppen zogen weithin ins Land, nach Pirna, wo sich aufrührerische Bewegungen zeigten, an die böhmische Grenze, nach Chemnitz, Freiberg und Tharandt. Man war rasch im Verfolgen und Einfangen, in Massen wurden die Flüchtlinge hertransportiert. Bald erfolgte die Gefangennahme der Mitglieder der provisorischen Regierung. Die öffentliche Stimmung blieb matt und gedrückt; der König kehrte von seiner Bergfestung zurück, aber man hörte nicht von ihm reden. ›Im Vorübergehen wurden die Plakate mit diesem Namen an den Straßenecken gelesen, aber in tiefer Brust dämmerte mit seinem Namen die Erinnerung an den Beginn und die Ursache des Kampfes wieder auf.‹52 Dann wurden die gerichtlichen [376] Untersuchungen eröffnet, den Hauptschuldigen drohte Todes- und lebenslängliche Zuchthausstrafe; nach den Entflohenen regnete es Steckbriefe.53 ›Nach dem Ausgang der Revolution‹, erzählt Gustav Kietz ›war natürlich mein erster Gang zu Wagners, wo ich Minna allein antraf. Unter Schluchzen erzählte sie mir von Wagners Flucht, von seiner Unschuld usw.; er habe nur Das getan, was jeder außerhalb der Stadt Wohnende tat: er sei, von Unruhe getrieben, hineingelaufen, um zu sehen, wie es stünde usw.54 Mir war das ganz begreiflich; es war mir genau so ergangen, weil die unsinnigsten Gerüchte in den Vorstädten verbreitet wurden. Es machte mir einen unendlich traurigen Eindruck, den Papagei während dieser trüben Berichte im Nebenzimmer immer sein. »Richard! Freiheit!« rufen zu hören. Konnte nicht Wagner in dem Moment schon gefangen sein?‹

Fußnoten

1 Sehr mit Recht bezeichnet Graf Beust die Maiereignisse von 1849 in seinem bereits zitierten Memoirenwerk: ›eine Insurrektion des ganzen sächsischen Volkes‹, und Vorgänge selbst belehren uns darüber, daß der Aufstand über das ganze Land sich ausbreitete.


2 Röckel, S. 56/57.


3 v. Beust, Erinnerungen zu Erinnerungen, S. 18.


4 Daß eine solche für den 20. Mai tatsächlich geplant, und dieser Tag als der Termin eines allgemeinen Losbruchs im ganzen Lande signalisiert gewesen sei, ist bis auf den heutigen Tag eine unerwiesene Behauptung.


5 Chamberlain, echte Briefe an F. Präger, S. 123/24.


6 Über diesen letzteren gibt es bekanntlich noch die andere Version, wonach die große Künstlerin nur an dem offenen Fenster eines Hauses am Altmarkt einen Schrei des Entsetzens über die soeben dort vorübergetragenen ersten Leichen ausgestoßen habe; die Denunziationssucht bemächtigte sich aber dieses Aufschreis und etwaiger aufgeregter Worte sogleich in dem Sinne, als habe sie ›das Volk zum Bau von Barrikaden haranguiert‹. Vgl. Signale 1849, Nr. 27 v. 5. Juni: ›auch Mme. Schröder-Devrient soll bei dem Straßenkampf in Dresden eine Rolle gespielt haben: sie hat gewedelt mit dem Taschentuch. Ob sie für rötliche Republik oder für die Reichsverfassung gewedelt hat, wissen wir nicht.‹


7 In dem Aktenbericht ist hier von anderer Hand die Randbemerkung hinzugefügt: der Regenschirmfabrikant Julius Schärff, der Steinmetzmeister Moritz Keßler, beide aus Dresden.


8 Vgl. Oppenheim, a. a. O. Wir sehen uns indes veranlaßt hinzuzufügen, daß die ganze obige Angabe, soweit sie Wagner betrifft, uns im Unterschiede von allen folgenden, durch keinerlei eigene Erinnerung des Meisters bestätigt worden ist.


9 Korrespondenz der Augsburger Allg. Zeitung vom 8. Mai 1849, S. 1973.


10 Enthüllungen über die Mai-Revolution in Dresden, von einem Dresdener, S. 30 Vgl. Röckel, S. 42.


11 ›Der Barrikadenbau schreitet unter Sturmgeläute und Generalmarsch fort. Auf der Wilsdruffer Gasse stehen in kurzem fünf starke Barrikaden; eine Hauptbarrikade zieht sich auf der Schloßgasse vom Lesemuseum nach dem Hotel de Pologne; die Granitplatten des Trottoirs und die Pflastersteine sind aufgehoben und verwendet‹ (Korrespondenzblatt der Augsb. Allg. Zeitung vom 4. Mai 1849, S. 1951).


12 Zur Strafe für diesen Versuch, den Kampf zu verhüten und den Konflikt friedlich beizulegen, wurde dieser Kommandant noch während der Dauer des Aufstandes in Ungnaden entlassen und an seine Statt der General von Schirnding zum Oberbefehlshaber der Besatzung ernannt.


13 Dinger, S. 183 nach den Akten, S. 26/27.


14 Vgl. den Eingang des an Röckel gerichteten Briefes vom 2. Mai: ›Ich bin in diesem Augenblicke sehr aufgeregt und zerstreut nach bestandenem heftigen Ärger mit Römpler und Katz‹ (Druckerei der Volksblätter), und die charakteristische Erwähnung Jr. Lüttichs im Mus. Wochbl. 1894, Nr. 44, S. 540, wonach der ›alte Römpler‹ ein ›Hitzkopf und Demokrat bis an sein Ende‹ († 1892 zu Melbourne in Australien) gewesen sei.


15 R. Römpler, eine Erinnerung an Richard Wagner, in Püttmanns ›Australischem Kalender für 1890‹, Melbourne, H. Püttmann u. Co. Daraus abgedruckt im Musikalischen Wochenblatt 1894, Nr. 27, S. 322.


16 Röckel, Sachsens Erhebung, S. 79/80.


17 Dinger, S. 183.


18 Oppenheim, a. a. O.


19 Röckel, S. 60.


20 Waldersee, der Kampf in Dresden, S. 90.


21 Sie hielten sich vielmehr für jede voraussichtliche Zerstörung und eventuell die Einäscherung der ganzen Stadt einfach an den Punkt des am 5. Mai von ihnen erlassenen Kapitulationsantrages: ›Die Stadt haftet für den durch die Dämpfung des Aufruhrs erwachsenen öffentlichen Aufwand.‹ Nicht die Aufständischen, sondern die preußische Artillerie hat die phantastischen Zerstörungs-Theorien Bakunins auf das ergiebigste ins Praktische umgesetzt; für die Übertragung des daraus entstandenen Odiums auf die ›Insurgenten‹ wurde durch eine reaktionär geleitete Presse reichlich gesorgt.


22 Pecht, deutsche Künstler, S. 181–82. ›Die Uneinnehmbarkeit seines Bollwerks, das mittelst Durchbrechung der Häuser umgangen werden mußte, zeigte sich dann allerdings. Er selbst (Semper) hatte drei Tage lang an seiner Verteidigung als gemeiner Scharfschütze, teilgenommen und war alsdann zur Errichtung einer neuen, die den Rückzug decken sollte, an die Waisenhausgasse abberufen wor den.‹


23 Vgl. Röckel, S. 64: ›In den exponiertesten Häusern, mitten im Gepfeife der Kugeln, unter Kämpfenden, Verwundeten und Sterbenden, wirtschafteten Mädchen und Frauen mit so ruhiger Besonnenheit, als wären sie in solchen Szenen aufgewachsen.‹ Aber auch an waffenführenden Barrikadenstreiterinnen fehlte es nicht. ›Ein junges Mädchen, deren Bräutigam gleich in den ersten Tagen an ihrer Seite gefallen war, hatte geschworen seinen Tod zu rächen. In Trauerkleidung mit aufgelöstem Haar, stand sie frei auf der gefährlichsten Barrikade, mit sicherer Hand ihre Kugeln aussendend, bis sie endlich, tödlich verwundet zusammenbrach. Sie war nicht die einzige Heldin jener Tage.‹


24 Er wohnte damals in einem der großen Häuser auf der Waisenhausgasse, die später da standen, wo Wagner zuerst wohnte (S. 36 Anm. 3).


25 Pecht, Deutsche Künstler des 19. Jahrhunderts, S. 182.


26 Dr. Ludwig Eckardt, Richard Wagners Entwickelung und Richtung, Hamburg 1857, S. 10.


27 ›Seiner weitreichenden, umfassenden Fernsicht wegen wird der Turm des alten, durch architektonische Schönheit keineswegs hervorragenden Gebäudes seit alters als hervorragendste Warte über den Elbgau benutzt.‹ ›Tief unten zu den Füßen des (dem Altmarkt zugewendeten) Turmes lagert sich die Stadt. Die Dächer des ältesten Teiles Dresdens gruppieren sich in malerischer Unordnung und mannigfaltiger Höhenabstufung durcheinander; das große Quadrat des Altmarktes unterbricht die Dächermassen. Wie auf einem zierlichen Miniatur-Panorama überblicken wir mit einem Male alle historisch hervorragenden Gebäude Dresdens: Schloß, Zwinger, Dom, Terrasse und Theater. Der Elbstrom teilt in mannigfaltigen Windungen das Panorama; drei belebte Brücken spannen sich über das hellblaue, grün umsäumte Band des Stromes. Jenseits dehnt sich die Neustadt aus, ein jüngerer Stadtteil, der sich fächerartig nach den waldigen Hügeln und dem grünen Hochplateau der den Horizont abschließenden Dresdener Heide hinein erstreckt. Weite grüne Plätze, lange hohe Kastanienalleen wechseln mit den weißen Häusermassen aus hellem sächsischen Sandstein. Aus der grünen Fläche der Wälder schauen die Mauern stattlicher Schlösser hervor; in der äußersten Flanke gegen Osten erhebt sich der ungefähr 30 Kilometer entfernte Königstein, seine weißen Mauern glänzen im Sonnenschein und beherrschen das flachere, wie ein buntes, farbenvolles Gewirk ausgebreitete, weite fruchtbare Gefilde des Elbtales‹ (Verkürzt nach Dinger, S. 206/7).


28 Dieser wohlmeinende Warner soll der Kandidat der Medizin und Anführer der Leipziger Zuzuges Ferdinand Goetz gewesen sein, der spätere tapfere Reichstagsabgeordnete und hochverdiente Förderer der Turnsache (waren es doch vorzugsweise die Turner und Studenten, die unter den ca. 10000 bewaffneten Aufständischen durch Treffsicherheit, Mannszucht, Ausdauer und Todesmut hervorragten). Goetz teilte seine Arbeit damals zwischen der ärztlichen Hilfeleistung an Verwundeten im Lazarett und der mutigen Beteiligung am Kampfe. ›Von der provisorischen Regierung zur Ausschau nach heranrücken dem Zuzug auf den Kreuzturm entsendet, traf er hier den Kgl. sächsischen Hofkapellmeister Richard Wagner, der die Turmwache hatte und – gleich dem Kgl. Hofbaumeister Semper – im Lager der »Rebellen« sich befand. Die Kugeln der Truppen sausten von der Gemäldegalerie her um die Köpfe der Beiden, so daß Goetz dem Komponisten des »Rienzi« zurief: er möge sich nicht so tollkühn dem Kugelregen aussetzen. Darauf entgegnete jedoch Wagner: »Die Kugel, die mich niederstrecken könnte, ist noch nicht gegossen!« Vielleicht sprach er so im Vorgefühl der Unsterblichkeit seines Schaffens.‹ (Hans Blum, die deutsche Revolution, S. 403).


29 Dinger, S. 184 u. 210.


30 Allgem. Mus. Zeitung 1893, S. 439. Leider sind diese Aufzeichnungen so ungenau, daß darin z.B. statt Beethoven – Berlioz genannt wird! Auch finden sich darin Wendungen wie ›der Messias der Musik‹, die Wagner zu keiner Zeit gebraucht hat.


31 Dinger, S. 183.


32 Augsburger Allg. Zeitung vom 12. Mai 1849, S. 2043.


33 Vgl. Augsb. Allg. Zeitung vom 10. Mai 1849, S. 2009: ›In der Schloßgasse hat das Militär noch nicht vordringen können; es wird namentlich von einigen auf den Barrikaden befindlichen kleinen Kanonen, die mit Eisenstücken geladen sind, bis durch das Georgentor zur Brücke scharf bestrichen.‹


34 Röckel, S. 59/61.


35 Ebendaselbst, S. 61.


36 Dinger, S. 183/84.


37 Dinger gibt irrtümlich an: ›am Dienstag‹.


38 Nach dem Aktenmaterial, den in diesem Falle eine Aussage Rockels zugrunde liegt. –


39 Diese, nicht über das Stadium der ersten Vorbereitung gediehenen, im Keim ihrer Entstehung erstickten Pechkränze haben nachmals einen der Hauptentscheidungsgründe zu Röckels Todesurteil geliefert (NB. seitens derselben Regierung, die zu gleicher Zeit die Einäscherung Dresdens durch ein Bombardement bereits befohlen hatte, vgl. S. 364 u.)! Außerdem bemächtigte sich ihrer ein böswilliges Gerücht in dem entstellenden Sinne, daß vermittelst dieser – gar nicht zur Ausführung gelangten – Pechkränze das Königliche Schloß habe in Brand gesteckt werden sollen und das alte Opernhaus wirklich in Brand gesteckt worden sei. Nun war aber das letztere, mit feuergefährlichen Stoffen, Dekorationen usw. angefüllte, an sich unschöne Gebäude nachweislich bereits vor Röckels Ankunft in Flammen aufgegangen! –


40 An diese verhängnisvolle letzte Begegnung beider Freunde knüpft Dinger, vielleicht auf Grund seiner obengenannten Quelle, die gänzlich aus der Luft gegriffene weitere Behauptung: Wagner sei dabei durch die ›rauch- und pechgeschwärzte Gestalt Röckels abgeschreckt‹ (a. a. O. S. 184); ›Röckel sei soeben von dem bewußten Pechsieden gekommen‹ (ebenda); ›der pechbesudelte Röckel sei Wagner ein widerwärtiges Bild gewesen‹ (a. a. O. S. 227)! Einer genaueren Durchlesung der unmißverständlichen eigenen Angaben Röckels hätte er entnehmen können, daß das ›bewußte Pechsieden‹ über haupt gar nicht statt gefunden hat und der Gegenbefehl der provisorischen Regierung bereits eintraf, bevor noch Aussicht vorhanden war, das Pech schmelzen zu lassen, da in demselben Gasthof, in welchem die Arbeit vorgenommen werden sollte, zuvor noch die Bereitung des Mahles für einige hundert Streiter abgewartet werden mußte (Röckel, S. 63).


41 Briefliche Mitteilung von Dr. Gustav Kietz vom 7. Januar 1897.


42 Waldersee, S. 205ff. Röckel, S. 53.


43 Vgl. Band I, S. 147, 442.


44 Dinger bleibt konsequent beim Dienstag.


45 In einem Aufsatze Stephan Borns in den ›Baseler Nachrichten‹, zitiert bei B. Vogel, R. Wagners Leben und Werke, S. 24.


46 Dinger, S. 184/85 fügt diesen Angaben folgende Stelle aus dem Rapport zweier Chemnitzer Kommunalgarden-Offiziere an das Kriegsministerium bei: ›In Öderan zeigte sich die Stimmung der Freischaren in drohender Weise. Man erklärte uns in keinem Falle rückwärts zu lassen, sondern trieb rastlos vorwärts, wozu die Emissäre der provisorischen Regierung, unter denen hier auch der Kapell meister Wagner auftauchte, gleichfalls anzufeuern sich bemühten. In Freiberg fielen wir wiederum Emissären in die Hände.‹ Ganz mit Recht bemerkt dazu Dinger, es sei kein Grund anzunehmen, daß Wagner dabei als Bevollmächtigter (›Emissär‹) der provisorischen Regierung gehandelt habe; er werde es vielmehr aus eigenem Antrieb getan haben.


47 Bis zum 11. Mai sollten 12000 Mann preußischer Truppen in Dresden angekommen sein; man erwartete fernere Zuzüge bis zu 30000 Mann, die in Sachsen einrücken und das Land besetzen sollten.


48 Die hierbei vorgekommene fahrlässig brutale Ermordung eines deutschen Fürsten, eines Prinzen v. Schwarzburg-Rudolstadt, der wenige Tage zuvor einer Augenkrankheit wegen nach Dresden gekommen war und mit seinem Diener im Hotel zur Stadt Rom, wo er logierte, von den in sein Zimmer dringenden Soldaten niedergemacht wurde, und ähnliche Heldentaten, lese man bei Röckel S. 70ff. nach.


49 Briefe an Uhlig, S. 8.


50 Hermann Marschall von Bieberstein, Advokat, 1849 aus Sachsen flüchtig, wandte sich nach Zürich (dort in der Ausgemeinde Wipkingen eingebürgert), wo er bis zu seinem Tode – Mitte der 70er Jahre – als General-Agent der Baseler Lebensversicherungsgesellschaft und Mitredakteur des Züricher Tageblattes fungierte. Nach seinem Tode siedelte seine Familie nach Berlin über.


51 Welcher Art die ihnen zu teil gewordene Schonung war, lese man bei Röckel S. 68/73 des näheren nach.


52 Dresdener Korrespondenz der Augsburger Allg. Zeitung vom 16. Mai 1849.


53 Der ›Dresdener Anzeiger‹ enthält nach Dingers Zählung bis zum 1. Juni i. g. 20 Steckbriefe in nachstehender Folge: 11. Mai: Advokat Hermann Marschall von Bieberstein, Rechtskandidat Leo von Zychlinski; 13. Mai. Fabrikant Julius Schärff; 15. Mai: Steinmetzmeister Moritz Keßler; 16. Mai: Dr. jur. Meinert usw.; 17. Mai: C. F. A. Krause, Professor Gottfried Semper, Advokat Theodor Kell; Dr. phil. Munde; 19. Mai: Richard Wagner, Ludwig Wittig und Hermann Lindemann, die Redakteure der ›Dresdener Zeitung‹. Nach Angabe der ›Vereinigten Volksblätter‹ belief sich die Liste der bis zum 6. Juni steckbrieflich Verfolgten auf 74 Personen, darunter 20 Bürgermeister und Stadtverordnete, 19 Arbeiter, Landarbeiter, Techniker, 14 Landtagsabgeordnete, 13 Grund- und Geschäftsbesitzer, 11 Advokaten und Gerichtsdirektoren, 9 Gymnasial- und Bürgerschullehrer, 9 Schriftsteller und Redakteure, 6 königliche Beamte (unter diesen ist wohl Wagner mit begriffen), 3 Studierende, 3 Soldaten, 1 Arzt, 1 Geistlicher. (Vgl. Dinger, S. 216/17.)


54 Vgl. ihre späteren Äußerungen gegen Frau Wille: Mein Mann hat keine Schuld begangen: er hatte nur von der Höhe des Turmes nach den Zuzügen aus den Dörfern ausgeschaut, welche von draußen der Stadt zu Hilfe kommen sollten. Er hatte nicht auf den Barrikaden gestanden, wie von ihm erzählt wurde; er hatte keine Waffen genommen hatte sich nur fliehend retten können, als preußisches Militär in Dresden einrückte (E. Wille, Erinnerungen, S. 45/46).

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 2, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 352-377.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

In Paris ergötzt sich am 14. Juli 1789 ein adeliges Publikum an einer primitiven Schaupielinszenierung, die ihm suggeriert, »unter dem gefährlichsten Gesindel von Paris zu sitzen«. Als der reale Aufruhr der Revolution die Straßen von Paris erfasst, verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit. Für Schnitzler ungewöhnlich montiert der Autor im »grünen Kakadu« die Ebenen von Illusion und Wiklichkeit vor einer historischen Kulisse.

38 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon