V.

[149] Im Januar 1854 meldete die »Neue Zeitschrift für Musik«: »Johannes Brahms hat sich für einige Zeit in Hannover niedergelassen. – Einen stilleren Ort konnte der junge Mann gewiß nicht finden.«

Zwischen den beiden Zeilen dieser Notiz spricht sich die Enttäuschung und Verstimmung der Leipziger aus. Anstatt, wie man ihm nahe gelegt hatte, ins Kriegslager der Neudeutschen nach Leipzig zu kommen und dort der »heiligen« Sache zu dienen, war Brahms am 3. Januar von Hamburg in sein Komponistenstübchen am Papenstieg zurückgekehrt. Hier war er »einsam, aber frei,« und hier fand er die Ruhe, nach der er sich schon im Sommer vergebens gesehnt hatte. Er bedurfte ihrer. Denn ein neues großes Werk lag ihm auf der Seele, das ihm Ersatz leisten sollte für die Kammermusikstücke, die bei seiner engern Wahl durchgefallen und nicht zur Veröffentlichung gekommen waren: Das H-dur-Trio.

Mit gutem Recht darf dieses Prachtstück Brahms'scher Kammermusik, um welches die Morgenlichter der neuen Zeit spielen, während der Sonnenuntergang der alten wie in einer schönen Mittsommernacht noch nachleuchtet, als ein musikalisches Reisetagebuch des jungen Kreisler betrachtet werden. Es spiegelt Erlebnisse des rheinischen Sommers von 1853 wieder; die Skizzen zu seinen vier Sätzen wurden wohl schon unterwegs, in Mehlem und Düsseldorf, aufgezeichnet. Jedenfalls wurde das Werk in der verhältnismäßig kurzen Dauer von kaum drei Wochen beendigt. Da der Komponist den Januar als Entstehungszeit des Trios angibt, so bleiben nur die Tage vom 4. bis zum 20. und vom 29. bis 31. dafür übrig; die zwischen beiden Perioden liegende Lücke wurde von einem Besuche des Schumannschen Ehepaares ausgefüllt. Im Allegro lüftet Schumanns »junger Adler« die Schwingen und fliegt der Sonne zu, ein Strom von Melodie [149] stürzt aus der Höhe herab, »auf seinen Wellen den Regenbogen tragend, am Ufer von Schmetterlingen umspielt und von Nachtigallenstimmen begleitet.« Das poetische, auf den jungen Brahms angewendete Bild des Meisters wird von dem pompösen Anfange des Trios in Tönen illustriert. Majestätisch ist der Schwung der vom Pianoforte angestimmten Melodie, das im vierten Teil hinzutretende Violoncell überflügelt sie in der Terz, und die Violine ruft mit Lauten der Nachtigall dazwischen. Der Gesang fliegt auf, bricht hervor mit der Gewalt eines plötzlich sich ereignenden Wunders und zeigt zum erstenmale im Pathos seiner Hebungen und Senkungen jene charakteristische Eigentümlichkeit der Brahms'schen Melodie, welche männliche Tatenfreunde mit weiblicher, bis zur Wehmut hinabsinkender Empfindsamkeit wechseln läßt. Die Melodienschritte, Takt 3 und 4 der Violoncellstimme:


5. Kapitel

rythmisch ausgedrückt: 5. Kapitel, sind, dem versus Adonius der sapphischen Strophe konform, ein klassisch-romantisches Element der Poesie und Musikgeworden (wir erinnern an Beethovens »Adelaide,« Schuberts »Gefrorene Tränen« und Mendelssohns »Primula veris«). Keiner ergeht sich in ihnen mit solcher Vorliebe, und keiner bringt mit ihnen so wundervolle Wirkungen hervor wie Brahms. In seinen Werken wimmelt es von Beispielen dafür; als besonders bezeichnend sei nur das die tiefsten Saiten der Empfindung berührende Andante aus dem f-moll-Quintett erwähnt, welches in seinem Hauptsatze auf einer Erweiterung desselben rhythmisch-melodischen Motivs beruht. Und noch etwas möchten wir im Anschluß an das Trio als charakteristisch für den Harmoniker Brahms hervorheben: seine ihm angeborene Fähigkeit, die Harmonie ohne Gefährdung der Tonalität blitzschnell zu verändern. So sehr er sich in Trugschlüssen und im Anschlagen entlegener Harmonien gefällt, verliert er doch niemals die Grundtonart aus den Augen; der Zuhörer wird von ihm immer im dramatischen Sinne überrascht, weil er die Überraschung erwartet und sicher sein darf, daß sie nicht auf den augenblicklichen (theatralischen) Effekt berechnet ist. Mit Schubert teilt Brahms den Reichtum an genialen harmonischen [150] Einfällen, aber er ist ihm darin überlegen, daß er von seinem Vermögen einen noch begründeteren, folgerichtigeren Gebrauch macht. Frappant ist im 24. Takte des Allegros die Wirkung der chromatischen Schritte, die von H-dur nach cis-moll führen: in der Klavierbegleitung rücken die Bässe drohend vorwärts, der Diskant weicht erschreckt zurück, sie prallen wie zwei Wellen aneinander:


5. Kapitel

und die Melodie der Saiteninstrumente steuert ruhig darüber fort.

Obgleich das H-dur-Trio durch seine breite, dem reicheren und mannigfaltigeren Inhalt entsprechende Form und die kunstvollere Konstruktion seines Baues, und nicht durch sie allein, die drei Klaviersonaten überragt, so trägt es doch deutlicher als die vorigen Werke leicht erkennbare Spuren der Frühzeit an sich. Keine »verschleierte Symphonie« mehr, sondern ein der Gattung und ihren Ausdrucksmitteln durchaus angepaßtes Kammermusikstück, und auch deshalb das vollkommenere Werk, verfällt es trotzdem in die Fehler der Jugend, die über Maß und Ziel hinaus unbekümmert darauf losstürmt, und mutet den Zuhörern wie den Spielern mehr zu, als diese gemeiniglich zu leisten und zu genießen gewöhnt sind. Ein Zwischensatz, wie die nach der Reprise beginnende Fuge (Tempo più moderato p. 15), erweitert die Form nicht, sondern zersprengt sie, wenn diese Fuge auch thematisch motiviert und bereits vor dem Schlusse des ersten Teils (p. 6) neckisch angekündigt worden ist. Tatsächlich hat das Allegro zwei große Durchführungen aufzuweisen, und der Zuhörer, der den episodischen Anlauf zur Fuge längst vergessen hat, betrachtet das sehr energisch einsetzende, in Septimen und Sexten auf- und absteigende Thema als unwillkommenen Eindringling. Irgend ein närrischer Schulmeister scheint sich über den Satz hergemacht [151] zu haben, um ihn zu verderben, während der übermütige Komponist den zopfigen, steifen Pedanten nur herbeiruft, um sich über ihn lustig zu machen und ihn durchzuprügeln. Hier rührte sich der Romantiker, der in dem jungen Brahms steckte, an der unpassenden Stelle. Das Tagebuchartige der Komposition forderte und erhielt sein Recht. Ein zweites, aber lieblicheres Portrait erblicken wir in dem feierlichen, geheimnisvollen Adagio, das die Kirche neben den Konzertsaal setzt und in einem unvermuteten Allegro eine Art von persönlicher Diskussion bringt, um dann, zum Eingang zurückkehrend, allzukurz abzuschließen. Die Mittelsätze des Adagios vertragen sich so wenig miteinander wie die unvorhergesehenen Abenteuer eines Reisetages. Der E-dur-Satz begleitet die ersten Takte des Schubertschen Liedes »Am Meer« mit dem Pizzicato der Saiteninstrumente. Daß es sich hierbei um ein Zitat handelt, scheint auf der Hand zu liegen. Wären Gänsefüßchen in der Notenschrift eingeführt, so hätte sie Brahms öfters gebrauchen müssen. Wie in den Liedern »Liebe und Frühling« op. 3, Nr. 2 und 3, Mozarts »Batti, batti« von ihm benützt wird, um einer angebeteten Sängerin der Zerline zu versichern, daß seine »Tag- und Nachtgedanken« reben- und windengleich ihr Bild umranken, und daß er ohne sie nicht mehr zu Walde nach Duft und Klang und Schatten gehen will, so bedeuten wohl auch die beiden Takte des Schubertschen Liedes eine anzügliche Huldigung. Reminiszenzenjäger finden bei Brahms, wie übrigens allerwärts, ein ergiebiges Terrain.1

[152] Es mag dem jungen Komponisten keine geringe Genugtuung gewährt haben, alle die heterogenen Bestandteile seines H-dur-Trios einheitlich verbunden zu wissen durch den gemeinsamen Grundgedanken:


5. Kapitel

Mit ihm sind die zerstreuten Blätter seines musikalischen Tagebuches zusammengeheftet. Wir begegnen diesem Motiv bei Brahms öfters wieder, z.B. in dem niederrheinischen Volksliede op 97, Nr. 4:


5. Kapitel

in der Ballade »Edward« op. 75, Nr. 1:


5. Kapitel

im Finale des Horntrios:


5. Kapitel

im Totenmarsch des Deutschen Requiems:


5. Kapitel

und wir erkennen in ihm die nahe Verwandtschaft mit dem Choral »Wer nur den lieben Gott läßt walten.« Derselben Wurzel entsproß auch die zarte Liebesmelodie aus dem Andante der f-moll-Sonate:


5. Kapitel

[153] Man vergleiche damit die ausdrucksvolle Stelle aus dem Intermezzo des g-moll-Quartetts op. 25:


5. Kapitel

und man wird über die Gestaltungs- und Verwandlungsfähigkeit eines musikalischen Vermögens staunen, das, ob es bewußt oder unbewußt gebraucht wird, durchaus genialen Ursprungs ist. Am unverhülltesten tritt die Melodie im Scherzo des Trios auf, wo sie auch ihren Mollcharakter beibehalten hat:


5. Kapitel

Merkwürdigerweise bestimmt das Scherzo den Mollschluß des ganzen Werkes; es scheint also dessen Keimblatt gewesen zu sein. Die Ableitung des Hauptthemas


5. Kapitel

bietet keine Schwierigkeit, und das Adagio blüht aus dessen drittem und viertem Takte (a) auf. Höchst eigentümlich ist das unruhig wühlende Finale, das sich lange zu keiner bestimmten Tonart entscheiden kann, und dessen chromatisches Hauptthema sich klagend hin und her wirst, wie ein Kranker oder ein von Sorgen Gequälter, der keinen Schlaf findet. Es sind die Gefühle, mit welchen der junge Adler vom ersten Sonnenfluge zur trüben Erde wiederkehrt.

Seinem Komponisten blieb das neue Opus besonders teuer, und er hat es dadurch vor anderen Jugendwerken ausgezeichnet, daß er ihm im Alter eine gründliche Umarbeitung angedeihen ließ. Schon als Anton Door das H-dur-Trio 1871 in Wien einführte – er spielte es in seinen Triosoireen zuerst mit Heckmann und Krumpholz, später noch einmal mit Wirth und Popper –, mußte er auf ausdrücklichen Wunsch des Meisters einen Teil der Durchführung im ersten Satze streichen. Achtzehn Jahre später ließ [154] Brahms das alte Trio in »neuer Ausgabe« erscheinen.2 Der schöne Wildling mußte alles abtun, was dem gereiften Künstler mißfiel, nur eines blieb ihm unverkümmert erhalten, der bestrickende Reiz seiner feurigen Jugend. Brahms hat das H-dur-Trio wie eine brauchbare Skizze betrachtet; er ließ die starken Hauptgedanken, ja sogar einen ganzen Satz, das Scherzo, ziemlich unverändert stehen, schied das Überflüssige, allzu Persönliche aus und ersetzte die schwächeren unselbständigen Seitenthemen der übrigen Sätze durch neue Erfindungen. Daraus ergaben sich naturgemäß vollkommen andere thematische Folgerungen und Kombinationen. Auch das zweite Thema des Finales, jene »wahrhaft einzig schöne Fis-dur-Cello-Kantilene«, deren Verlust Reimann beklagt, fiel der Kritik des Bearbeiters zum Opfer. Sie ist, wie schon Kretzschmar3 anmerkt, eine offenbare Umspielung der Beethovenschen Melodie: »Nimm sie hin denn, diese Lieder« aus dem »Liederkreis an die ferne Geliebte«. Was Brahms mit der zwingenden Kraft seiner Logik, mit der raschen Beweglichkeit seines Geistes und mit der unerschöpflichen Fülle seiner Phantasie auszurichten vermochte, sehen wir voll Bewunderung an diesem in seiner Art einzigen Beispiele, wo er uns den Schlüssel zu seiner Künstlerwerkstätte in die Hand drückt. Das Wunderbarste an diesem wiedergeborenen Werke, das außer Beethovens großem B-dur-Trio op. 97 keinen Rivalen kennt, bleibt die unauflösliche Verschmelzung von Alt und Neu. Da gibt es weder verborgene Risse noch geheime Nähte, alles ist wie aus einem Gusse geformt. Neben dem neuen sieht das alte [155] Werk mit seiner romantischen Zerfahrenheit und seiner Vor liebe für das Episodische wie Flickarbeit aus, aber, wohlverstanden, auch nur neben dem neuen. Beide Fassungen mögen miteinander fortbestehen; als eines der interessantesten Kapitel aus dem musikalischen Tagebuche des jungen Johannes Kreisler wird das im November 18544 als op. 8 bei Breitkopf und Härtel edierte H-dur-Trio immer seine Verehrer finden, welche die Originalfassung der späteren Überarbeitung vorziehen.

Die musikalische Welt aber bekümmerte sich damals, die erwähnten rühmlichen Ausnahmen abgerechnet, so wenig um das Trio wie um die anderen Erstlinge des Komponisten, die ruckweise in drei Stößen herauskamen, und zwar op. 1, 3, 6 im Dezember 1853, op. 2, 4, 5 im Februar und op. 7, 8, 9 im November 1854. Eigen trifft es sich, daß Hans v. Bülow, »aufgeweckt und tapfer wie immer« (Joachim), der erste war, der ein Stück von Brahms öffentlich vortrug, und zwar das Allegro der C-dur-Sonate in einer »Akademie« der Frau Adele Peroni-Glaßbrenner zu Hamburg (am 1. März 1854)5. Auch Bülow, ein so passionierter Freund von Novitäten er sonst war, kannte von Brahms nur die eine Sonate; denn in seinem Briefe vom 28. Februar 1854 spricht er von der Sonate von Brahms, als ob nur eine existiert hätte. Die zweite aber war schon erschienen, als er in Hannover mit Brahms zusammentraf, und wenn er sie auch nicht aus dem Druck zu kennen brauchte, so ist es doch bezeichnend für das eben angesponnene Verhältnis zu Brahms und dessen Zurückhaltung, daß dieser ihm die Sonaten in fis- und f-moll nicht mitteilte. Übrigens ließ Bülow in seiner ehrlichen Art dem neuen Bekannten alle Gerechtigkeit widerfahren, indem er seiner Mutter schrieb: »Den Robert Schumannschen jungen Propheten habe ich ziemlich genau kennengelernt; er ist seit zwei Tagen hier und immer mit uns« (Joachim und ihm). »Eine sehr liebenswürdige, kandide Natur und in seinem Talente wirklich etwas Gottesgnadentum in gutem Sinne.« Hätte Bülow damals Brahms genauer als [156] »ziemlich genau« kennen gelernt, so würde er bei seinem offenen und empfänglichen Wesen gänzlich von ihm eingenommen gewesen sein und Meister Liszt darüber berichtet haben. Für ihn aber gehörte Brahms noch zu jener »quantité d'autres choses«, mit denen er Liszt nicht langweilen will, und welche zu besprechen er sich für Weimar aufhebt6. Brahms hat Bülow den kleinen Liebesdienst oder die große Aufmerksamkeit, die er ihm in Hamburg erwies, nicht vergessen. Als Bülow sich gänzlich zu ihm bekehrt hatte und, dreißig Jahre später, wiederum in Hamburg und vorher in Berlin die C-dur-Sonate auf sein Programm setzte, diesmal vollständig, schrieb ihm Brahms: »Die Sendung Deines Programms und Deine Inschrift waren mir eine schöne Freude Und wollte mich diese auch zunächst mit leiser Wehmut ansehen, so mußte ich doch gleich daran denken, wie mir zu Mute war – als ich jene Worte und Noten höchst ernsthaft empfand und niederschrieb. Ich hatte die Überzeugung und habe den herzlichsten Wunsch, es möge auch Dir im rechten Sinne gerade so kräftiglich und gut zu Mute sein. – Eben da ich die Feder hingelegt und die Gedanken recht herzlich bei Dir sind, kommt ein Brief von S. Er schreibt u.a.: ›Die Variationen gingen herrlich – Sie kennen ja Bülows Auffassung und Wiedergabe, es klappt alles bis zum ›Tippel‹ – schwungvoll, sein und schön.‹ Nach so würdigen (!) schönen Worten lege ich die Feder wieder hin, meine Gedanken aber spazieren desto fröhlicher an das schöne Alsterbassin und zu Dir. Laß mich recht bald wieder ein Programm – mit einer recht schönen Inschrift bekommen!« Und auf denselben Gegenstand zurückgreifend, fährt Brahms später fort: »Daß ein Brief bei Dir a tempo kommt, ist wohl natürlich, denn Du hast ja alle Tage Sonn- und Konzerttag; aber auch tempissimo treffen ist nicht schwer – wenn damit ein Stück von mir auf Deinem Programm gemeint ist. Das erinnert mich an Deinen neulichen Vortrag meinerC-dur-Sonate, und dies wieder läßt mich weiter denken, daß Du der erste warst, der ein Stück von mir – öffentlich spielte. Eben diese Sonate, auch in Hamburg, und im Konzert der Frau Peroni-Glaßbrenner; die Jahreszahl 1853 finde ich [157] leicht in Simrocks Katalog. Die Sonate war noch gar nicht erschienen, Du hattest Dir einen Abzug verschafft und spieltest sie auswendig7. – Dies alles aber bringt mich darauf, daß ich mich als Mensch die Zeit über nicht geändert habe. Du stichelst auf meine ›Schnuppigkeit‹ allem Öffentlichen gegenüber. Sie hatte nicht nötig sich auszubilden, sie war immer dieselbe. Ich kann nicht verlangen, daß Du sie eigentlich begreifest, denn sonst hätten wir Dich eben nicht, den uns höchst nötigen Hans v. Bülow. – Aber daß sie ihre schönen Grenzen hat, das mußtest Du daraus sehen oder ahnen, daß ich, der ich keinerlei Tagebuch führe, das Erwähnte im Gedächtnis meines Herzens bewahrt habe! Ich war allezeit ein Mensch fürs Kloster – es gibt nur nicht die passende Sorte.«

Nach Bülows Abreise – er hatte sich konzertierens halber acht Tage in Hannover aufgehalten, in der Hoffnung, Hofpianist zu werden – kam es den Freunden doppelt still in der stillen Stadt vor, in der man sich, nach Bülows witzigem Ausspruch, auf die Länge ennuyierte »wie ein Mops an der Leine.« Bis zur Thronbesteigung Ernst Augusts machte die Kapitale, trotz der Erhebung des Kurfürstentums zum Königreich, den Eindruck einer Provinzialstadt. Der König hatte früher seine Residenz in England, und die Stadt war im Sommer wie ausgestorben; im Winter aber gaben Landadel und Beamtenschaft einen Ton an, der nicht gerade zur Steigerung des geselligen Vergnügens beitrug. Dem etwas gewaltsamen Aufschwung, den das öffentliche Wesen zu Ende der Vierzigerjahre seit dem Bau der Eisenbahn genommen hatte, war eine Periode des Stillstandes gefolgt. Erst allmählich begann unter der Regierung des hochgesinnten Königs Georg V. sich wieder neues Leben zu regen. Die Kunst, besonders die Musik, erfreute sich seiner eifrigen Fürsorge. Des Augenlichtes beraubt, hatte der unglückliche Monarch den Gehörsinn in einer Weise ausgebildet, daß er sich getrauen durfte, »mit den Ohren zu sehen.« Er war nicht nur ausübender Musiker, sondern auch [158] Komponist und Ästhetiker und hatte schon als Prinz von Cumberland gegen zweihundert Musikstücke: Lieder, Vokalquartette, Chöre, Kantaten, Märsche, Tänze, auch eine Ouverture und eine Symphonie für Orchester, komponiert, daneben einige musikphilosophische Schriften verfaßt.8 Die 1852 im Neuen Hoftheater wieder eröffnete Oper, welche unter Heinrich Marschners und Karl Ludwig Fischers Direktion stand, versammelte ein erlesenes Personal von Solisten mit einem Chor von siebzig Sängern. Das Orchester war sechzig Mann stark und veranstaltete unter Joachims Leitung in einem eigens dafür eingerichteten Nebensaale des Theaters alljährlich acht Abonnementskonzerte, die sich bald einen ausgezeichneten Ruf erwarben, desgleichen die Quartettabende, zu denen sich Joachim mit den Gebrüdern Eyertt und dem Violoncellisten Lindner vereinigte. Es fehlte also für einen jungen Musiker in dem damaligen Hannover nicht an Anregung, aber diese war doch nicht kräftig genug, um zwei Feuergeister wie Brahms und Joachim zu befriedigen. Mit dem berühmten Schöpfer des »Hans Heiling« kam Brahms auf keinen vertrauteren Fuß, als Joachim vor ihm gekommen war.

Eben damals, als Brahms in Hannover weilte, war Marschner durch die schwere Erkrankung und den Tod seiner geliebten Frau Marianne geb. Wohlbrück (sie starb am 4. Februar 1854) in die größte Betrübnis versetzt worden, und der trauernde, menschenscheue, überdies von eigenem Leiden schwer heimgesuchte Mann fand weder Lust noch Mut, neue Bekanntschaften zu pflegen. Wie Julius Rodenberg erzählt, der uns in seinen »Erinnerungen aus der Jugendzeit« ein anziehendes Charakterbild des dramatischen Tondichters überliefert hat, verbrachte dieser gebrochen und hilflos, in der einzigen Gesellschaft seines vierzehnjährigen Sohnes, die kranken Augen von einem grünen Schirm geschützt, stumme und dunkle Wochen der Stubenhaft, und als er noch einmal bessere Tage wiedersah, und ihm in der Sängerin Therese Janda der tröstende Abendstern seines Lebens aufging, erwarteten ihn unaufhörliche Reibereien und Kämpfe, die er mit [159] Vorgesetzten und Untergebenen zu bestehen hatte, bis er (1859) seines Amtes entsetzt wurde. Daß die Ungunst der Verhältnisse keine Annäherung zwischen Brahms und Marschner erlaubte, ist zu bedauern. Wer weiß, ob nicht gerade in dieser Zeit der Empfänglichkeit Brahms von Marschner mit Erfolg einem Gebiete der Musik zugeführt worden wäre, nach welchem er zehn Jahre später ein so heißes Verlangen trug. Aus der Marschnerschen Oper hätte sich durch die Nachfolge einer eminent musikalischen jungen Kraft jene neue Phase der dramatischen Tonkunst entwickeln können, von welcher Brahms, der außerordentlichen Ausbreitung der Wagnerschen Werke ungeachtet, noch träumte, als in Bayreuth der Untergang der alten Oper längst besiegelt war.

Mit großem Jubel wurde von den Freunden und J.O. Grimm die Nachricht begrüßt, daß Robert und Klara Schumann am 20. Januar in Hannover erscheinen würden. Eduard Hille, der dort die von ihm ins Leben gerufene »Neue Singakademie« dirigierte, wollte »Paradies und Peri« aufführen und hatte Schumann dazu eingeladen9. Eine Konzertreise durch Holland, die sich zu einem Triumphzuge für das Künstlerpaar gestaltete, war von dem wohltätigsten Einfluß auf Schumann gewesen, und die Aussicht, eine Woche mit seinen jungen Kunstgenossen zu verbringen, machte ihn froh wie lange nichts. In einem lustigen Briefe an Joachim fragt er: »Nun – wo ist Johannes? Ist er bei Ihnen? Dann grüßen Sie ihn. Fliegt er hoch – oder nur unter Blumen? Läßt er noch keine Pauken und Drommeten erschallen? Er soll sich immer an die Anfänge der Beethovenschen Symphonien erinnern; er soll etwas Ähnliches zu machen suchen. Der Anfang ist die Hauptsache; hat man angefangen, dann kommt einem das Ende wie von selbst entgegen. Grüßen Sie ihn – ich schreibe ihm noch selbst in diesen Tagen.« Joachim empfing den Meister am 21. Januar im Abonementskonzert mit dessend-moll-Symphonie und spielte Schumanns ihm gewidmete Violin-Phantasie10, Klara, außer ein [160] paar Kleinigkeiten von Chopin und Heller, Beethovens Es-dur-Konzert. Hof und Publikum waren entzückt, und die freudige Stimmung des Willkommens hielt bis zum Abschied an, der am Abend des 28. festlich begangen wurde. Niemals soll Schumann so aufgeräumt und gesprächig gewesen sein. Der sonst immer in sich gekehrte, wortkarge Meister erzählte mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit von seiner Vergangenheit und imitierte sogar laut im öffentlichen Lokale die komische Szene, welche sich bei der ersten Probe seinerB-dur-Symphonie mit den Hornisten ereignete, da diese das Hauptmotiv des ersten Satzes nicht so blasen konnten, wie es zuerst geschrieben stand11.

Keiner aus der Runde fröhlicher Zecher, die mit Schumann seine Ungeschicklichkeit belachten, mochte ahnen, daß dieses vergnügte, von Champagner überschäumende Konvivium das letzte sein sollte, das sie mit dem Meister abhielten. Auf der Schwelle seines Düsseldorfer Studierzimmers kauerte das furchtbare Gespenst, das schon einigemale die Schattenarme nach ihm ausgestreckt hatte, und diesmal war es nicht mehr fortzuweisen und zu bannen. Mit fremden Stimmen sprach und sang, flüsterte und raunte, schrie und drohte es ihm zu, bei Tag und Nacht verfolgte es ihn, so daß er weder seine Gedanken sammeln noch schlafen konnte. Einmal des Nachts glaubte er Schuberts und Mendelssohns Stimmen zu hören, die ihm ein Thema zum Variieren aus dem Jenseits brachten. Er schrieb das ihm auf so wunderbare Weise zugekommene Thema noch in der Nacht auf und begann an den Variationen zu arbeiten. Mitten in der Arbeit – es war am 27. Februar gegen Mittag, und Albert Dietrich wollte eben bei ihm eintreten – legte er die Feder weg, entfloh durch eine Tür, die sonst immer sorgfältig verschlossen gehalten wurde, weil er schon öfters von Flucht und Selbstmord phantasiert hatte, und lief barhaupt und im Schlafrock zum Rhein hinab. Er betrat die Schiffbrücke und verpfändete, da er kein Geld bei sich hatte, dem Zolleinnehmer sein rotseidenes Halstuch. Dann stürzte er sich in den Strom. Der Kapitän des zur Abfahrt bereitliegenden Dampfers [161] »Viktoria«, der den Vorgang bemerkt hatte, ließ den Unglücklichen retten. Ohnmächtig wurde Schumann in einen Wagen gesetzt und ein Schwarm von bunten Karnevalsmasken – es war gerade Faschingsmontag – geleitete ihn nach seiner Wohnung.12

Dank der Fürsorge des Arztes Dr. Hasenclever blieb der schaudervolle Anblick des Geretteten, dessen Zustand zwischen Anfällen von Tobsucht und Lethargie wechselte, seiner der größten Schonung bedürftigen Gattin erspart. Am 4. März wurde Schumann in die Privatheilanstalt des Dr. Richarz nach Endenich bei Bonn transportiert, und Klara sah ihn dort erst kurz vor seinem Tode (am 29. Juli 1856) wieder, da die Ärzte ihren Besuch mit Rücksicht auf den Kranken nicht gestatten konnten. In welcher Gemütsverfassung sich die Ärmste befand, ist mit Worten nicht zu sagen. Erst als beruhigendere Nachrichten, die das Beste hoffen ließen, aus Endenich eintrafen, löste sich die Starrheit ihres von der Wucht des Schicksalschlages zu Boden geschmetterten Gemütes, und sie wandte sich der Kunst wieder zu, von der sie Beruhigung, Linderung und Trost in ihrem Leid empfing. »Frau Schumann,« schreibt Dietrich am 19. März an seinen Freund Ernst Naumann, »trägt ihr übergroßes Leiden mit einer Seelenstärke, die man aufs höchste bewundern muß. Anfangs schien sie zwar zusammenbrechen zu wollen, besonders in den ersten Tagen der Trennung von ihrem Gatten; sie wurde immer bleicher, immer stiller und matter, doch jetzt belebt sie die Hoffnung wieder; sie arbeitet wie gewöhnlich und findet Trost und Erholung in der Musik. Gestern und vorgestern hat sie die ganze Faustmusik von Schumann mit uns durchgenommen. Wir sind täglich bei ihr, und ich kann jetzt an kein Fortreisen denken ... Brahms hat ein ganz wundervolles Trio geschrieben und ist ein Mensch, den man sich, in jeder Beziehung zum Muster nehmen soll, bei seiner Tiefe gesund, frisch und heiter, durchaus unberührt von modern krankhaftem Wesen. Grimm ist eine milde, treue Seele ...«

Von den drei jungen Freunden ihres Gatten, die Frau Klara über die schwersten Stunden ihres Leben hinweghalfen, [162] trat Brahms als liebevoller, unermüdlicher und aufopfernder Helfer und Berater ihrem Herzen am nächsten. Bei der Kunde von dem furchtbaren Unglück, das Schumann und sein Haus heimsuchte, hatte er alles stehen und liegen lassen und war sogleich von Hannover nach Düsseldorf geeilt, um sich fortan einer Aufgabe zu widmen, in der er eine heilige Pflicht dankbarer Freundschaft erkannte. Seine Anwesenheit war in jeder Beziehung wohltätig für die tiefgebeugte Frau. Denn kaum hatte sich die Kunde von Schumanns Erkrankung verbreitet, so drängte man sich an Frau Klara mit allerlei ungebetenem, verfänglichem Rat. Fromme Damen richteten erbauliche Mahnungen an Frau Schumann und priesen sie glücklich, daß ihr eine solche »Heimsuchung« zuteil geworden wäre. »Ich glaube,« sagte Brahms 1887 zu Geheimrat Wendt in Thun, »sie wäre verrückt geworden, wenn sie damals nicht mich kleinen Mann gehabt hätte, der, unter all den Frauenzimmern das einzige männliche Individuum, ihr den Unsinn wieder ausredete. Als man Schumann nach Endenich gebracht hatte, schickten die Düsseldorfer Pietisten einen ›strengen‹ Prediger, um ihn ins Gebet zu nehmen. Der Arzt aber erklärte, ohne ausdrückliche schriftliche Zusage der Frau Schumann werde er ihn nicht zu dem Kranken lassen, und diese hat, nach meinem Dazwischentreten, die Erlaubnis nie gegeben.«

Auch Joachim hatte am 4. März einen kurzen Urlaub zu einem Besuch in Düsseldorf benützt. Anfang April schreibt Brahms dem Freunde, Frau Schumann erhalte beständig gute und ruhige Briefe von dem Direktor der Heilanstalt, und teilt ihm den letzten, eben angelangten, mit. Das Aussehen des Kranken hat sich gebessert; Appetit und Schlaf sind sehr gut. Gewalttätig gegen seinen Wärter ist er nicht mehr gewesen, auch die Anfälle von Angst und Gehörstäuschungen haben sich nicht wiederholt. Wenn Schumann nicht spazieren gehe, so liege er meist auf dem Sopha oder auf seinem Bett. Auf seinen Spaziergängen suche er häufig Veilchen. Da auch Klara ihrem Robert Blumen geschickt habe, so möchte er, Brahms, fast an Sympathie glauben. So wenig man, meint er weiter, sanguinische Hoffnungen an dergleichen knüpfen könne, kräftige doch die eingetretene Ruhe den Körper für spätere, vielleicht größere Leiden, und die günstigeren Nachrichten erhielten [163] Schumann und ihnen die herrliche Frau. Zu ihrer Pflege will er seine Schwester Elise aus Hamburg kommen lassen. Seit ihrer frühesten Jugend kränklich und schwach, werde sie von dem Aufenthalt am Rhein Nutzen für ihre schwankende Gesundheit ziehen. Joachim möchte sie in Hannover erwarten und gleich nach Düsseldorf mitnehmen. Es sei der herrlichste Frühling, alles grün, und die Nachtigallen würden mit der nächsten Post erwartet. »Den 19. April (1853) ging ich aus Hamburg. Könnte ich den Jahrestag nicht mit Dir und der Schwester feiern?« Als Joachim erklärte, er wolle den Sommer in Hannover bleiben und nur auf etwa vierzehn Tage nach Düsseldorf kommen, ist Brahms sehr ungehalten darüber. Noch mehr aber empört ihn die wenig freundliche Aufnahme, die Joachims Hamlet-Ouverture im Leipziger Gewandhauskonzert (23. März) gefunden hat, und er macht seinem Zorn in den Worten Luft: »Man darf sich nicht unterfangen wollen, höhere, reinere Gefühle zu hegen als das Publikum.« Sich selbst führt er als abschreckendes Beispiel an: er habe noch keinen höheren Traum, als dem Publikum zu gefallen, geträumt und dafür einigen Beifall davongetragen. Wie ärgerlich! Nun denke er daran, höher aufzusteigen und dem Volke der Krähen zu entkommen.

Zu dieser durch ihre übergroße Bescheidenheit fast befremdenden Äußerung mag ihn Beethovens IX. Symphonie veranlaßt haben. Ferdinand Hiller hatte sie in Köln aufgeführt, und Brahms war mit Grimm dazu von Düsseldorf hinübergefahren. Er hörte das damals noch viel umstrittene, von den Neudeutschen zum Fundament für ihre poetisch-musikalischen Verirrungen herabgezogene Meisterwerk zum erstenmale und fühlte sich von ihm ebenso angespornt wie entmutigt. Schumanns Aufsatz »Neue Bahnen« trat ihm wieder vor die Seele und galt ihm nach dem tragischen Wendepunkt im Leben des Meisters geradezu als das künstlerische Testament eines Sterbenden, das er zu vollstrecken haben würde. Noch ein halbes Jahr zuvor meinte er die Einlösung der ihm aufgebürdeten Ehrenschuld hinausschieben zu dürfen – was hatte er bisher Großes erfahren, und welche Studien hatte er gemacht, daß er es wagen sollte, einen weltumfassenden Geist wie Beethoven in die Schranken zu fordern!? Nun aber war das Schicksal, das [164] bei Beethoven an die Pforte pochte, zertrümmernd bei ihm eingetreten und halte ihn eines Erlebnisses gewürdigt, das ihn mit einem Schlage aus dem mit Blumen umzirkten Zauberkreise romantischer Stimmungen herausriß. Beethovens Neunte Symphonie erschien ihm in ihrem ersten Satze wie das musikalische Correlat der Schumannschen Katastrophe, und symphonische Gedanken bewegten sein Herz, die er sich kaum zu fassen getraute. Noch zu Anfang der Siebzigerjahre sagte Brahms zu Hermann Levi in Karlsruhe, der damals sein intimer Freund war: »Ich werde nie eine Symphonie komponieren! Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen (Beethoven) hinter sich marschieren hört13. In seiner inneren Bedrängnis half sich Brahms dadurch, daß er an das Klavier band, was im Orchester, zu dem es hindrängte, noch nicht haften wollte. So entstanden die Anfänge seines d-moll-Konzerts.«

Außer dem Requiem und der c-moll-Symphonie hat ihn kein Werk so lange beschäftigt, ihm soviel zu schaffen gemacht wie dieses titanische Schmerzenskind seines Geistes, das er jahrelang mit sich herumschleppte, ehe er es auf eigene Füße stellte.

Wie wir in dem H-dur-Trio ein bestimmendes, der Entwicklung des Komponisten vorausgeeiltes Hauptwerk der Brahmsschen Kammermusik erkannt haben, so sprechen wir auch dem d-moll, Konzert grundlegende kritische Bedeutung für seine symphonischen Kompositionen zu. Es ist eigentlich seine erste Symphonie und anfangs auch als solche gedacht. Sie »verschleierte« sich nur zur Sonate für zwei Klaviere, um sich schließlich als Klavierkonzert zu enthüllen. Das Konzert aber wurde eine Symphonie mit obligatem Klavier und inaugurierte als solche zugleich das erste Werk einer neuen Gattung. Der Unsicherheit und Hilflosigkeit des jungen Komponisten allein ist es zuzuschreiben, daß er sich nicht völlig klar wurde über den zwingenden orchestralen Charakter der Tonbilder, die chaotisch seine Phantasie durchwogten, und daß er aus der Not des Surrogatorchesters eine Tugend[165] machte. Am 9. April schreibt Grimm an Joachim: »Kreisler (Brahms) ist der wunderlichste Mensch. Kaum entzückte er uns durch sein Trio, so hat er schon wieder drei Sätze einer Sonate für zwei Klaviere fertig, die mir noch himmelhöher vorkommen.« Dietrich, der ins sächsische Erzgebirge zu seiner Familie und von da nach Leipzig gereist war, um seine erste Symphonie zu dirigieren und verschiedene seiner Kompositionen in Verlag zu geben, sah nach seiner Rückkehr in Düsseldorf dieselbe Sonate für zwei Klaviere in sehr sorgfältiger Schrift; das Hauptthema blieb ihm unvergeßlich, und er erkannte später in ihm den Anfang des d-moll-Konzertes wieder. Und noch eine andere sehr merkwürdige Wahrnehmung machte Dietrich: der zweite Satz der Sonate war ein langsames Scherzo im Sarabandentempo mit einer Melodie welche dann erst im »Deutschen Requiem« als Thema des Totenmarsches wieder auftauchte! Der grandiose Anfang des d-moll-Konzertes mit seinen, von den Pauken festgehaltenen wirbelnden Orgelpunkten, mit seinem zum furchtbarem Sprunge ausholenden ersten Gedanken, dem sich die ruckweise einsetzenden Triller gleich einem das ganze Orchester durchschauernden mächtigen Schüttelfrost angliedern, ist aus der Vorstellung von Schumanns Selbstmordversuch (Sturz in den Rhein) hervorgegangen14. In der, von Joachim aufbewahrten Originalpartitur trägt das Adagio die Überschrift: »Benedictus qui venit in nomine Domini.« Erinnern wir uns daran, daß Brahms in seinem aus Leipzig an Schumann gerichteten Briefe den Meister mit »Mynheer Domine« anredete, so können wir den Ideenkreis des neuen Werkes mit einiger Sicherheit durchlaufen and dürfen uns einbilden, die Voraussetzungen, unter denen es entstand, alle in Händen zu haben. Das Allegro der viersätzig geplanten großen Symphonie sollte ein Seelenbild der von Brahms schaudernd miterlebten Katastrophe sein. Im Scherzo, das, weitab von seiner eigentlichen Natur, in Beethovenschem Sinne (3. Satz der c-moll-Symphonie) einen pathetischen Ton anschlägt, glauben wir das Geleite zu erkennen, das dem vom Wahnsinn umnachteten Davidsbündler (Marche macabre contre les Philistins) nach Endenich in das Haus der Schrecken und des [166] Todes gegeben wird. Das Adagio aber scheint dem frommen Werke des jungen Freundes den weihevollsten Segen zu geben, der im Namen des teuern Herrn »in nomine Domini« zu der verlassenen Domina und den ihres Vaters beraubten Kindern zurückkehrt, um ihnen in ihrem grenzenlosen Unglück beizustehen. Das ist auch ein Programm, wenn auch keines im abstrakten Geiste der symphonischen Dichtungen, sondern ein musikalisches, aus der Musik entwickeltes, und Beethovens letztes Orchesterwerk hat bei seinem Entwurfe mitgeholfen. Den instrumentalen Ansprüchen eines Finalsatzes aber, wie die gewaltig intentionierte Symphonie ihn erforderte, fand sich der Neuling noch nicht gewachsen. Am Finale, das vermutlich die Apotheose des zur Unsterblichkeit eingehenden Künstlergeistes bringen sollte, scheiterte die Symphonie. Brahms ließ die unausführbaren Skizzen liegen, beseitigte das Scherzo, wendete die Stellen, bei denen der symphonische Charakter des Werkes zurücktrat, in eine Prinzipalstimme um, stattete diese mit neuen Erfindungen klaviermäßig aus und komponierte das Konzert-Rondo hinzu, welches jetzt das Werk abschließt. Eine Erinnerung an das unausgeführte Finale der verunglückten Symphonie aber tauchte nach dreiundzwanzig Jahren wie der auf – im Schlußsatz der c-moll-Symphonie op. 68. Hier erscheint der Gedanke an die Apotheose des vollendeten Künstlers erweitert und verallgemeinert zum triumphierenden Siegesgesang des lebendigen Genius, der aus den dämmernden Schatten der Täler aufgestiegen ist zu den lichten Höhen der Menschheit.

Nach der Aufführung der Neunten Symphonie, welche die Bekanntschaft mit Ferdinand Hiller erneuerte, waren Brahms und Grimm von Köln nach Bonn gefahren und mit Wasielewski und Reimers nach Endenich hinausgepilgert, um Erkundigungen über Schumann einzuziehen. Sehen durften sie ihn nicht; aber sie hörten von den Ärzten, daß er noch immer sehr ruhig sei, selten von Aufregungen geringeren Grades befallen werde, viel schlafe und lichte Augenblicke habe, wo er erzähle, auf welchen Bergen er gewesen sei, und daß er in Düsseldorf Blumen gepflegt habe. Von seiner Frau spreche er nicht, aber es sei unmöglich, daß er, wenn er an solche Dinge denkt, nicht auch an Klara denken sollte. Von Bonn aus besuchten Brahms und Grimm Godesberg, den [167] Drachenfels, die Mehlemer Aue und Königswinter bei dem schönsten Frühlingswetter. Bei Deichmanns machten sie wunderbare psychophysikalische Experimente. »So unbegreifliche Sachen haben wir gesehen, daß wir blaß wurden. Menschen müssen sich nach dem Willen anderer bewegen, Bleifedern unsere geheimsten Gedan ken niederschreiben etc.« Im Mai liefen schlechtere Nachrichten über Schumann ein, der wieder an anhaltenden Gehörstäuschungen litt, und Frau Klara lebte in beständiger Angst und Sorge.

Zu den teilnahmsvollen Menschen, die Frau Schumann damals aufsuchten, gehörte Hedwig Salomon. Ihrer Feder entstammt ein an Ort und Stelle verfaßtes »Fliegendes Blatt aus Düsseldorf,« das, am 7. Mai 1854, Brahms 21. Geburtstage niedergeschrieben, ein ergreifendes Bild der Zustände im Schumannschen Hause gibt15. »Nachdem wir die Maler besucht,« heißt es da, »und die einbrechende Dämmerung allen Farben ein Ende machte, gingen wir zur Musik über, die das Licht in sich selber hat«. Klara Schumann zu sehen, fühlte ich eine solche Sehnsucht, daß ich die Scheu vor der gefeierten Künstlerin überwand. Wir gerieten zuerst in Schumanns Küche, von da in die Kinderstube, wo uns die Bonne zu warten bat, weil ›Frau Doktorin gerade am Musizieren sei,‹ wir möchten ihr doch einstweilen von außen zuhören. Das Klavierspiel klang groß, ernst und kraftvoll; wir begriffen nicht, daß sie jetzt so spielen könne. Als das Stück vorüber war (ich hatte es nicht erkannt, obgleich es mir bekannt erschien) kam sie heraus, und ich hatte Mühe, ihr nicht gleich um den Hals zu fallen, so rührend sah sie aus; verändert, alt und gelb geworden, aber nicht gebrochen oder kläglich. Wir vermieden, von dem Unglück zu sprechen, sie fragte gleich nach Bekannten, und warum ihr A. so lange nicht geschrieben? Dann dankte sie E. aufs herzlichste für ihren Besuch, kämpfte gegen das Weinen und brach doch bald in bittere Tränen aus. ›Wenn ich nicht fest hoffte, daß es besser würde mit meinem Manne, möchte ich nicht mehr leben, ich kann nicht leben ohne ihn. Das Schrecklichste ist nur, daß ich nicht bei ihm sein darf, und daß er in der ganzen Zeit noch nicht ein einzigesmal nach mir verlangt hat.‹ Diese [168] Worte konnte sie kaum aussprechen, sie waren durch krampfhaftes Schluchzen unterbrochen, und ihre lieben Augen blickten mich unsäglich jammervoll an. ›Aber denken Sie ja nicht,‹ fuhr sie gefaßter fort, ›daß es so schlimm ist mit meinem Manne. Sie würden ihm seine Krankheit gar nicht anmerken, er kann die tiefsten Gespräche führen, und ist sich vollkommen klar über seinen Zustand; er ist ja freiwillig in die Anstalt gegangen, um desto eher zu uns zurückzukehren.‹ – Wie sehr täuscht sie sich; es soll zwar etwas besser mit ihm gehen, aber sie weiß ja nichts von dem Sturz in den Rhein, sie hält das Bild fest, so wie es vor dieser Katastrophe war; eine ihrer Freundinnen sagte mir später, daß man sie jetzt noch schonen wolle, daß aber die Wahrheit doch nicht für immer zu verheimlichen sei.

Sie führte uns in sein Zimmer. Da stand sein Schreibtisch mit frischen Blumen geschmückt, und ein armes Bild ersetzte seine Stelle! Johannes Brahms saß vor Schumanns Klavier und hatte seineC-dur-Sonate gespielt, das war das mir bekannte Stück gewesen, was ich zu meiner Schande nicht erkannt hatte. Er war sehr freundlich und bestürmte mich mit Fragen über Leipzig, so wie auch Herr Grimm, der durchaus die neuesten Nachrichten über Herrn v. Sahr wissen wollte. Ich tröstete beide durch einen Gruß von Herrn v. Holstein, nach dem sie eifrig fragten ... Brahms spielte wundervoll, zwei Sätze aus der f-moll-Sonate, die ich noch nicht kannte. Ehe er das Scherzo anfing, warnte uns die Schumann, wir möchten nicht in Ohnmacht fallen, denn es jage einem einen gewaltigen Schrecken ein und bestehe aus lauter »Donnerwetters«. Sie wurde heiter, sah verklärt und jung aus, das Herz ging ihr auf, aber sie lobte Brahms nur mit Lächeln und mit einem Händedruck. – Ich setzte den alten Scherz wegen der Schillerschen Räuber16 mit Brahms fort, er sprach lebhaft über Otto Jahn17 und über Joachims Hamlet, Ouverture. Er habe sie auch beim einmaligen Anhören nicht verstanden, gar nicht verstanden, dann sei aber Joachim zu ihm gekommen, habe sie ihm vorgespielt, die Partitur gezeigt, und so sei ihm nach und nach [169] eine Bewunderung über das Werk gekommen, so daß er jetzt daran hinauf sehen müsse wie zu etwas Unerreichbarem. Ich war höchst verwundert über diese Bescheidenheit, und Grimm sekundierte immer mit gutgemeintem Gelächter. Es hat etwas sehr Erwärmendes, daß sich diese jungen Leute so sehr lieben und gegenseitig verehren, und ich hoffe, daß jeder schädliche Einfluß an Brahms' herrlicher Natur abläuft wie der Regen an einem wasserdichten Mantel; aber Angst ist mir doch für diese musikalische Richtung, mir ist's so oft unheimlich dabei, und wenn ich auf derartige Musik, die mich aufs höchste interessiert, etwas Klares, Altes höre, so wird mir doch plötzlich wie eine schwere Last von der Seele genommen.

Als Mariechen, die wundervoll tief, ernst und innig aussieht, die Lichter hereinbrachte, kamen alle Kinder, Elise, Julie, Ludwig, Ferdinand und Eugenie und sagten jedem einzeln gute Nacht. Die Knaben sprachen sonderbarer Weise ganz undeutlich, Ludwig ist aber sehr lieb und bot mir gleich einen Kuß an. Elise ist häßlich, die kleine Eugenie sehr wunderlich. »Gott, wie rührte mich dieses Häuflein Kinder! – ob man uns wohl im höchsten Notfalle eines anvertraute?« ...18

Nachdem das H-dur-Trio im März die Feuerprobe bei Frau Schumann bestanden hatte – Brahms spielte es ihr mit Becker und Reimers vor – bot er es zusammen mit einem aus sechs Nummern bestehenden Liederheft Breitkopf und Härtel zum Verlag an. Sie akzeptierten beides um den von Brahms geforderten Preis von zwölf und acht Louisdors und ließen das Trio als op. 8, die »Sechs Gesänge« als op. 7 im November erscheinen. Brahms hatte auf eine möglichst schnelle Entscheidung gedrungen; er brauchte die hundert Taler Gold sehr nötig, weil er bei Joachim und Grimm Schulden machen mußte, um den Sommer über in Düsseldorf leben zu können. Seine Bedürfnisse waren gering, aber er hatte weder regelmäßige Einnahmen noch Aussichten auf solche. Einige Privatstunden, die er in Vertretung der Frau Schumann oder auf deren [170] Empfehlung hin gab, schützten ihn kaum vor der äußersten Not, und wenn er auch den Mittagstisch immer bei Schumanns gedeckt fand, so konnte er doch mit Rücksicht auf seine Bekanntschaften nicht ganz so ärmlich auftreten, wie er es sonst gewohnt war. Er bewohnte am Schadowplatz, einem stillen, grünen, zwischen die Hauptverkehrsadern der Stadt eingeschobenen Dreieck, nahe bei der prächtigen Königsallee und der an dem großen Teiche des Hofgartens entlang führenden Hofgartenstraße ein kleines Zimmer, in welchem kein Klavier Platz hatte. Die notwendigsten Übungen hielt er, um nicht steife Finger zu bekommen, in dem Pianofortemagazin von Klems ab. Der Konzertflügel, den Schumann seiner Frau am 13. September 1853 zum Geburtstag geschenkt hatte, war bei Klems gekauft worden. Dort befaßte er sich auch, von Frau Schumann inspiriert und geleitet, noch eingehender mit Schumanns Pianofortewerken oder machte sich mit musikalischen Novitäten bekannt. Seine Tageseinteilung war ungefähr die folgende: Der Morgen wurde den Musen gewidmet. Nach dem Frühstück, das Brahms unter den Weißbuchen des Ananasberges, eines kleinen, zwischen den Teichen aufgeworfenen Hügels, einnahm, ging er mit seinen Gedanken im Hofgarten oder am Rhein spazieren; dann übte er bei Klems, gab seine Stunden oder arbeitete an seinen Kompositionen. Nach Tisch vertiefte er sich in die Werke älterer Dichter und Musiker, ergänzte seine Sammlungen von Abschriften, besuchte die Maler in ihren Ateliers oder nahm an einem Ausfluge teil und musizierte am Abend mit Frau Klara, wenn er nicht bei einer befreundeten Familie eingeladen war. Auch die alten Hamburger Mondscheinpartieen wurden erneuert und heroische Übungen zur Kräftigung und Vertiefung seiner noch immer dünnen, hohen Stimme angestellt.

Am 11. Juni schenkte Klara einem Sohne das Leben, der den Namen Felix (nach Mendelssohn) erhielt und von Brahms aus der Taufe gehoben wurde.19 Vom Wochenbett aufgestanden, [171] brachte Frau Klara, noch halb Patientin, ihre Tochter Julie zur Mutter20 nach Berlin und blieb vier Tage dort in Gesellschaft von Joachim, der einen Teil seines Urlaubes bei Arnims und Wilhelm Grimm verbrachte und dann weiter, nach Wien, gehen wollte. Frau Schumann hatte daran gedacht, ihre Freunde in Leipzig zu besuchen, kürzte aber ihre Reise ab und war bald wieder in Düsseldorf, wo sie von Brahms mit Ungeduld erwartet wurde. Freundlichere Nachrichten aus Endenich riefen sie nach Hause, und sie wähnte, ihr Gatte werde ihr bald wiedergegeben werden. Aus seiner melancholischen Apathie begann der Kranke wie aus einem langen schweren Traume zu erwachen, und das verlorene Gedächtnis kehrte ihm nach und nach wieder zurück. Er hatte Blumen gepflückt und die ihn betreuende Hausdame der Anstalt gebeten, das Sträußchen nach Düsseldorf zu schicken. Auf die Frage: An wen? hatte er freundlich lächelnd geantwortet: »O, Sie wissen es schon.« Darüber war heller Jubel unter den Freunden entstanden, und der duftige Gruß der Liebe war an Frau Klara nach Berlin gesendet worden. Dieser Vorgang wiederholte sich. Ein mit Schumanns befreundetes Fräulein, die einen Krankenbesuch in Endenich gemacht hatte, überreichte Frau Klara einen neuen Strauß von Rosen und Nelken. Von einem Fenster aus hatte sie Schumann beobachtet, wie er festen und raschen Schrittes zwischen den Gartenbeeten umherging, die Blumen mit der Lorgnette besah und mit dem Taschentuche hin- und herwehte, was er immer zu tun pflegte, wenn er heiter gestimmt war. Dies und anderes meldete Brahms in Briefen an Joachim. Er und Grimm beteten Klara an, und beide wetteiferten mit einander in Huldigungen, die sie der geliebten »Herrin« darbrachten. Brahms laßt sich einmal die verräterische Äußerung entschlüpfen: »Ich glaube, ich achte und verehre sie doch nicht höher, als ich sie liebe ... ich meine, ein Mädchen kann ich gar nicht mehr lieben, ich habe sie wenigstens ganz vergessen; die versprechen uns nur den Himmel, den Klara uns geöffnet hat.«

Aus diesem Wirrsal widerstreitender Gefühle entstand eine Reihe von Kompositionen, die zum Teil nicht herausgegeben worden [172] sind. Brahms schickte sie Joachim zur Begutachtung, da er sich ohne das Urteil des Freundes zu nichts entschließen konnte. Er dachte alles in zwei Heften zu veröffentlichen unter dem Titel »Blätter aus dem Tagebuche eines Musikers, herausgegeben vom jungen Kreisler«. Die Sachen sollten, wie er sagt, den anonymen Titel nicht tragen, um schlechter sein zu dürfen als seine früheren, sondern nur des Witzes wegen, und weil sie Gelegenheitsstücke seien. Es waren lauter Pianofortewerke, ein Menuett in as-moll, ein Scherzino in h-moll, ein zweites Stück (»Andenken an M.B.«)21 inh-moll, eines in d-moll, eine Sarabande und eine Reihe von Variationen. Joachim, der in den beiden »Capriccios« in h-moll – so mußten sie, seiner Ansicht nach, genannt werden – alte Bekannte fand, die über Mendelssohn auf Bach zurückwiesen, erklärte sich mit Entschiedenheit gegen den Titel des Ganzen. Zur Zeit Hoffmanns und Jean Pauls seien ähnliche Mystifikationen neu gewesen, heute aber kämen sie ihm unzweckmäßig und unstatthaft vor. Wie es scheint, war die »Sarabande«, der Brahms dann noch eine Gavotte folgen ließ, welche er und Klara Schumann in ihr Repertoire aufnahmen, das einzige Überbleibsel der ganzen Reihe, das dann auch nebst der Gavotte verschwunden ist. – Auch über seine d-moll-Sonate (siehe oben!) konnte Brahms nicht ins Klare kommen, und er möchte sie (wie er an Joachim schreibt) gern lange liegen lassen können. Er habe die drei ersten Sätze oft mit Frau Schumann gespielt, aber da zwei Klaviere ihm eigentlich nicht für das Werk genügten, so habe er sich mit Grimms Hilfe an die Instrumentierung gemacht. Was die Partitur betreffe, so denke er sich wohl, daß er das Gute, das sich darin vorfinden sollte, Grimm verdanke. Das Mangelhafte und Schlechte aber, das wohl nicht so tief versteckt sei, habe entweder Grimm übersehen, oder sein Eigensinn stehen lassen.

Während Grimm gegen Joachim von Kreislers neuer »Variationen-Symphonie« schwärmte, und dieser in das Lob des Freundes einstimmte, fand Brahms die Variationen »klein und unbedeutend« und meinte, »man brauche eigentlich solche Kindereien nicht mehr«. Es waren die »Variationen über ein Thema von Schumann«, die als op. 9 erschienen sind. Um zu erkennen, welchen Fortschritt der Einundzwanzigjährige in dieser ihm besonders zusagenden Form [173] der Komposition gemacht hatte, braucht man das neue Werk nur mit den Variationen über ein ungarisches Lied zu vergleichen. Diese sind zwar später (1861) veröffentlicht, aber früher, etwa ein halbes Jahr vorop. 9, komponiert worden. Schon die Wahl des Themas ist keine glückliche (Brahms hatte es sich am 17. Januar 1853 notiert) und die Willkür, mit welcher er die widerhaarige Melodie in Dreiviertel- und Viervierteltakte zerlegte, grenzt an Trotz. Man merkt dem jugendlichen Hitzkopfe die Lust nur allzu sehr an, einen sporenklirrenden Magyaren nach der deutschen Pfeife tanzen zu lassen, und die kontrapunktischen Sprünge, zu welchen er das nationale Lied zwingt, haben etwas von der Bockbeinigkeit des steifen Theoretikers – die Pußta wird in Marxsens Schulstube verlegt. Vielleicht bedeuten die Variationen eine Erinnerung an Reményi, die beinahe aussieht, wie eine Abrechnung oder Zurechtweisung. Ein ganz anderer Geist waltet in den sechzehn Veränderungen der Schumannschen Melodie. Sie ist den »Bunten Blättern« op. 99 entnommen und steht dort als erstes in einer Reihe von acht »Albumblättern«, geistreichen, graziösen und lieblichen musikalischen Einfällen im Charakter der Jean Paulschen »Frucht- und Dornenstücke«. Brahms hatte im Sinne, zusammen mit Frau Klara dem erkrankten Meister eine Huldigung darzubringen, und darum griff er zu demselben Thema, das Klara schon im Mai variiert hatte, und richtete es so ein, daß beide Werke gleichzeitig bei Breitkopf und Härtel herauskamen. Daß Brahms' Variationen an künstlerischer Arbeit die seiner geliebten Herrin bei weitem überragen, bedarf kaum der Erwähnung. Wenn Schumann zu wählen oder den Autor eines jeden Werkes zu erraten gehabt hätte, wie damals Joachim bei der FAE-Sonate, so würde er das op. 9 seines jungen Freundes sofort erkannt und dem op. 20 seiner Frau vorgezogen haben. In der Tat ist es gleich von der ersten Variation an, welche das Thema in den Baß legt und aus einer Mittelstimme eine neue Melodie hervorzieht, bis zu dem im Pianissimo zerflatternden Schlusse unverkennbarer Brahms, obwohl dieser offenbar alle Mühe aufwendet, um den sich glorreich ankündigenden Meister der Händel- und Haydn-Variationen zu verleugnen und so gut Schumannisch zu sein wie etwa die Variationen für zwei Klaviere und die »Symphonischen Etuden« es von ihm verlangten. [174] Wenn zuletzt der Baß, den Brahms, wie später gewöhnlich, mit fast noch größerer Aufmerksamkeit behandelt als die Melodie, mit leisen Geisterschritten über die Szene schleicht, als hätte er sich von der Begleiterin endgültig losgesagt, die vor seinem Anhauch in Asche zerfällt, so erwarten wir ihn als basso ostinato eines Passacaglios wiederkehren zu hören, so sehr stehen wir hier schon im Banne der Brahmsschen Denkweise. Er läßt alle Künste des Kontrapunkts spielen, und fast immer gehorchen sie ihm so willig wie in der fünfzehnten Variation, wo der tiefe Baß die Melodie als Canon in der Sext ganz natürlich begleitet, während dieselbe Melodie unmittelbar vorher sich mit sich selbst in der Sekunde kreuzt. Ein Non plus ultra musikalischer Hexerei wird in der zehnten Variation erreicht: da kehrt sich der Baß22 zur Melodie und diese neuerdings wieder zu einem zweiten Baß um; dazu bringen die Mittelstimmen in Terzen und Quarten das Thema in rhythmischer Verkürzung, und in der Repetition erscheint gar der zur Melodie erhobene Baß zugleich als Canon in der Umkehrung. Das sind Gelehrtenspäße, die desto mehr bemerkt und bewundert sein wollen, je sorgsamer sie sich der Betrachtung zu entziehen scheinen. Brahms selbst dachte in den Jahren seiner Reise ziemlich gering von solchen Kunststücken, sofern sie nur um ihrer selbst willen gemacht werden.23 Daß ein junger Meister auf seine Fertigkeiten stolz ist, wird man ihm billig verzeihen. Auch kann man darauf schwören, daß in allen Finessen und Schrullen bei Brahms ein verborgener Sinn waltet, welchen herauszubringen, es immer der Mühe lohnt. Wie aus einem am 24. Juni 1854 an Marxsen gerichteten Briefe hervorzugehen scheint, hatten die Variationen besondere Titel, die Brahms auf den Rat Joachims wieder beseitigte. Auch sollten sie in das eine Heft der oben (S. 173) erwähnten »Blätter aus dem Tagebuche eines Musikers« aufgenommen werden. Allerlei Anspielungen auf Robert und [175] Klara Schumann kommen in den Variationen vor, und nicht jede springt so deutlich in die Augen wie der Scherz, den sich Brahms in der neunten Variation erlaubt. Bei flüchtigem Hinblicke glaubt man, das zweite der Schumannschen Albumblätter sei zufällig in die Arbeit hereingeflogen, und bemerkt erst, näher zusehend, daß durch die Mittelstimme das fremde Tonstück in eine Variation des gegebenen Themas verwandelt worden ist. Bei Schumann beginnt das Stück:


5. Kapitel

Bei Brahms heißt es:


5. Kapitel

Vor dem überlegenen Geiste des Freundes mußte Klara die Segel streichen; ziemlich kleinlaut und mit Widerstreben schenkte sie ihm das Manuskript ihrer sechs Variationen und schrieb darauf: »Dem verehrten Johannes Brahms auf freundliches Verlangen von Clara Schumann. Düsseldorf, July 1854.« Schubring, der sein Befremden über die Dedikation zu Brahms brieflich aussprach, mußte sich von ihm zurechtweisen lassen mit den Worten: »Sie hätten aufs Geradewohl annehmen müssen. Frau Schumann sei eine rechte Frau, d.h. eine besondere, und trotz jedem op. 20 sei die Widmung am Platze und ihr lieb.« Den Verlegern gegenüber schlug Brahms einen anderen Ton an als den wegwerfenden, in dem er zu Joachim von seinem neuesten Werke gesprochen hatte. »Hier endlich,« schreibt er am 25. September,[176] »die versprochenen Variationen, verzeihen Sie die lange Verzögerung, sie ist nur zum Teil meine Schuld. – Aus einem Grunde, der sehr nahe liegt, möchte ich wünschen, daß mein Werk gleichzeitig mit dem der Frau Schumann erscheine, ich weiß jedoch nicht, wie Sie darüber denken, und ob sich das mit Ihrem Vorteil vereinigen läßt. – Da ich die Variationen für das beste halte, was ich bis jetzt geschrieben, da sie außerdem nicht schwer etc. sind, und deshalb wohl eine größere Verbreitung finden könnten als die Sonaten, so glaubte ich sie mit zwölf Louisdor nicht zu hoch honoriert. – Ihr letzter Brief jedoch veranlaßte mich, den Abzug von zwei Louisdor Ihrem Gutdünken zu überlassen, falls Ihnen der obenerwähnte Preis zu riskiert scheinen sollte. – Frau Schumann beauftragte mich, Ihnen die Korrektur ihrer Variationen zu schicken, die ich hiermit beilege.«

Außer den genannten Werken hat Brahms im Sommer 1854 noch die Balladen op. 10, den Satz einer Symphonie und eine »Sarabande und Gavotte« für Klavier komponiert,24 die er zwar nicht drucken ließ, aber in einer mit Klara Schumann und Joachim gemeinschaftlich am 14. November 1855 zu Danzig veranstalteten Soiree zum erstenmal öffentlich spielte. Wie es scheint, hat sich nichts davon erhalten. Mitte August reiste Frau Klara, um ihre angegriffenen Nerven zu stärken, ins Seebad nach Ostende. Brahms und Grimm hielten es in Düsseldorf nicht länger aus; sie fuhren den Rhein stromaufwärts und trennten sich in Mainz. Brahms beabsichtigte durch den Schwarzwald in die Schweiz zu reisen, Grimm zu Freunden nach Nassau, beide aber trafen sich zu ihrer gegenseitigen Verwunderung bald darauf wieder in – Düsseldorf. Ein unbezwingliches Heimweh hatte Brahms in Ulm zur Rückkehr getrieben, Grimm hatte die Freunde verfehlt, und so waren sie wieder auf dem alten, lieben, leidigen Flecke, wo sie alles an die ferne Angebetete erinnerte. Zuvor hatte jeder für sich in Endenich einen Besuch gemacht, in der Hoffnung, Erfreuliches über den Kranken an Frau Klara berichten zu können. Aber beide durften Schumann nur aus einem Versteck belauschen und vermochten nichts wie den allgemeinen guten Eindruck zu bestätigen, den das milde und sanfte Wesen des Kranken auf sie machte. [177] Zum Empfange Klaras, deren Rückkehr noch vor ihrem Hochzeits- und Geburtstage erfolgte, hatte sich Brahms gerüstet und ihr einen langjährigen Wunsch erfüllt, indem er Schumanns Quintett für Pianoforte zu vier Händen setzte.25 Das Scherzo hat er auch für zwei Hände allein arrangiert, für die der Frau Klara: »Sie lacht über so etwas.« Während sie fort war, nahm er das Manuskript heimlich aus dem Schrank und versenkte sich immer tiefer hinein, »wie in ein paar dunkelblaue Augen«. So schreibt er an Joachim, nachdem dieser ihm seine neuen Ouvertüren (zu Shakespeares »Heinrich IV.« und Hermann Grimms »Demetrius«) geschickt hatte. Den Symphoniesatz, meint er, habe Joachim, wie gewöhnlich, durch ein schön gefärbtes Glas gesehen, er wolle ihn durchaus ändern und verbessern, da in der Komposition noch manches fehle, und er von der Instrumentation nicht einmal soviel verstehe, wie im Satze zu sehen sei, welcher das Beste Grimm verdanke. Er begreife nicht, daß Joachim sich für »Variatiönchen und Sonälchen«, wie seine, interessieren könne. Bei Joachims Ouvertüren, von denen er die zu Heinrich besonders liebe, sehe er den Freund immer lebendig vor sich, »tief bewegt, hoch erhoben, als ob er es eben schaffe«. Von Klara heißt es: »Sie spielt ganz mit der früheren Kraft, aber intensiver, noch mehr wie Du. Sie spielte mir gestern meine f-moll-Sonate vor, ganz wie ich sie gedacht, dann aber edler, mit ruhigerer Begeisterung, nebenbei sauber und rein und in den größten Kraftstellen mit dem herrlichsten Ton, lauter kleine Vorzüge, die sie vor mir voraus hat.« Zu seinen Variationen seien noch zwei neue hinzugekommen, in der einen spreche Klara! (Wahrscheinlich ist die elfte Variation gemeint, in der zum Schlusse das Thema der Klara Wieck aus Schumanns op. 5 in rhythmischer Veränderung zitiert wird.) Brahms versichert dem Freunde, daß er den Winter bei ihm in Hannover bleiben wolle. Wie sollte er nach Hamburg oder Leipzig gehen, wenn er mit ihm zusammen leben könne! Nur solange Frau Schumann in Düsseldorf sei, dürfe er nicht fort. Anfang Oktober, sobald sie ihre Konzertreisen wieder antrete, werde er [178] mit Grimm nach Hannover kommen, vorerst jedoch nur als Durchreisender, weil er die Eltern in Hamburg besuchen müsse und dort auch Frau Schumann zu begrüßen hoffe, zu Neujahr aber werde er bei ihm sein. Er habe eine unendliche Sehnsucht danach, mit Joachim zu leben, und glaube, die immerwährende Aufregung in Düsseldorf tue ihm nicht gut. Da solle dann regelmäßig musiziert werden; er verstehe es jetzt hoffentlich besser und habe auch einen größeren Katalog im Kopfe. Mit dem Gelde gehe es ihm schlecht, und er müsse Joachim die ihm geliehenen fünfzig Taler noch schuldig bleiben. In Düsseldorf habe er sich den Äschylos, Plutarch, Shakespeare und »Faust« gekauft: »So gehts, wenn ich nur einige Taler habe!«

Während Frau Klara auf Reisen ging, wollte Brahms die Flöte blasen lernen, um nicht nur immer vierhändig mit ihr spielen zu müssen; aber die Kuhlauschen Sonaten waren ihnen beiden doch zu langweilig. Noch in anderer und ersprießlicherer Weise machte er sich die Abwesenheit seiner Freundin zunutze. Als sie in Berlin war, begann er »zu seiner großen Wonne« die Bücher und Noten Schumanns zu ordnen. »Ich habe mich selten so wohl befunden,« schreibt er an Dietrich, »als jetzt in dieser Bibliothek wühlend,« und auch während ihrer Ostender Kur saß er dort den ganzen Tag und studierte. Schon in Hamburg hatte er sich zu Ende der Vierziger- oder zu Beginn der Fünfzigerjahre eine Anthologie angelegt in der Gestalt von Taschenbüchern, in die er einzutragen pflegte, was ihm bei seiner Lektüre Denkwürdiges aufstieß. Er nannte diese Sammlung »Schatzkästlein des jungen Kreisler« und setzte sie in Weimar und Hannover fort. Drei Fächer des papierenen Schatzkästleins haben sich erhalten; das dritte Heft, in grünes Leder gebunden, war offenbar ein Geschenk; die beiden anderen sind gewöhnliche kleine Pappbände in Oktav, wie sie die Schüler haben. Das erste trägt den Vermerk »Hamburg« auf dem inneren Deckel, und auf der letzten Seite das Datum »Düsseldorf, März 1854«. Es enthält 371 wohlnumerierte Loci aus Büchern, die Brahms zwischen 1849 und 1854 gelesen hat. Jean Paul, Schumanns Lieblingsdichter, der verständnisvolle Freund der Musiker, ein Schriftsteller, der selbst nur zu häufig in Worten musiziert, ist am stärksten vertreten. Ihm reihen sich [179] E.T.A. Hoffmann, Herder, Lichtenberg, Bernardin de Saint-Pierre, Young, Klopstock, Sophokles und Novalis an, dessen romantisch-geistreiche Verrücktheiten dem angehenden Literaturkenner besonders imponiert zu haben scheinen.

Es folgen Zitate aus Lessings »Nathan«, Mendelssohns »Phädon«, Auerbachs »Frau Professorin« und »Luzifer«, Waiblingers Tagebuch, Grillparzers »Sappho«, Sonetten von Dante und Tasso, Luthers »Tischreden«, Schillers und Goethes Gedichten. Schillers »Jungfrau«, Hammers »Orientalischen Poesien«, Heinses »Laidion« und Seumes »Briefen über Rußland«. Weiter begegnen uns Mahlmann, Ewald v. Kleist, Leopold Schefer, Swift, Cicero, Pestalozzi, Pope, Andersen, Blumauer, Bürger, Franz Horn Eichendorff, Kinkel, Freiligrath, Geibel, Chamisso, Rollett, Kerner, Hippel. Mit Vorliebe werden Stellen aus revolutionären Zeitgedichten angezogen; ein Zitat aus Freiligraths »Die Toten und die Lebenden« (aus den 1849 erschienenen »Neueren politischen und sozialen Gedichten«) hilft die Zeit der Sammlung näher bestimmen. Irgend eine Epigrammen-Auslese bot dem Sammler eine Menge von Sinngedichten dar, deren Autoren (Gryphius, Logau, Wernicke u.a.) er damals schwerlich näher kennen gelernt haben wird.

Brahms lieh das Buch Joachim, der es um einige Einzeichnungen vermehrte. Da fortan Joachims Handschrift immer wiederkehrt und die von Brahms öfters unterbricht, so scheinen die Freunde auch die Früchte ihrer literarischen Studien einander mitgeteilt zu haben. Der Einfluß, den der Ältere auf den Jüngeren ausübte, verrät sich bis in ihre Schriftzeichen hinein. Joachims Hand ist, gleich der Schumanns, der in jüngeren Jahren eine der Brahmsschen ähnliche, weibliche, schräg liegende, kritzelige Schrift hatte, von Mendelssohns zierlichen, steilen und schön geschwungenen Charakteren ausgebildet. Man sieht, wie sich Brahms' Schrift an der des Freundes förmlich aufrichtet. Aus Eigenem steuert Joachim unter seiner in Noten ausgedrückten Devise f.a.e. mancherlei bei. Er ist dem empirischen Autodidakten der Wissenschaft gegenüber der geschulte und geübte Logiker, kehrt den denkenden Künstler hervor, der mit der Philosophie liebäugelt und zitiert Bettinas »Denken ist Beten«. Sein [180] unablässiges Streben nach der höchsten Stufe der Kunstübung wird von dem Ausspruch befestigt: »Es gibt einen Grad der Technik, der zu Geist, weil zur Vollkommenheit wird,« und Brahms eignet sich den Gedanken zustimmend an, indem er ihn mit seiner Hand einträgt. Auch das schöne Wort, das sich Joachim zur Richtschnur für sein Leben nahm, ist hier niedergelegt: »Künstler sollen nicht Diener, sondern Priester des Publikums sein.«

Das zweite Sammelbuch schließt sich eng an das erste an mit der Überschrift: »II. Des jungen Kreislers Schatzkästlein. Düsseldorf im März 1854.« Hier werden erst die aus Schumanns Bibliothek gewonnenen Lesefrüchte aufgespeichert. Bedenkt man, daß die Schätze der Weltliteratur zu jener Zeit noch nicht so leicht zugänglich waren wie heute, so wird man über den Bienenfleiß eines Künstlers staunen, der eigentlich anderes zu tun hatte, als sich um Dichter und Philosophen zu bekümmern. Wie schmerzlich mußte Brahms die Lücken seiner Bildung empfunden haben, und wie unstillbar mußte der Hunger seines Wissens sein, daß er Werke von Schriftstellern las, die schon damals mehr den Literarhistoriker als das Lesepublikum interessierten! Anfangs mag er alles verschlungen haben, was er gelegentlich von geistiger Nahrung vorfand. Bald aber schärfte sich mit der Verfeinerung des Geschmackes sein Urteil, und er ließ beiseite, was ihm nicht taugte. Aus dem sich selbst Belehrenden wurde ein Lehrer anderer und ein Kenner, der es mit mancher Leuchte der Wissenschaft aufnehmen konnte. In seinem Schatzkästlein liegt der Schlüssel zu seinem innersten Wesen. Die Stellen, die er rot anstrich, mit einem Notabene versah oder gar mit einem verschlungenen J.B. unterzeichnete, verdienten alle unverkürzt wiedergegeben zu werden. Mit Novalis erkannte er in der Scham ein Gefühl der Profanation; Freundschaft, Liebe und Pietät sollten geheimnisvoll behandelt werden. Nur in seltenen vertrauten Momenten sollte man davon reden, sonst aber sich stillschweigend darüber einverstehen. »Vieles ist zu zart, um gedacht, noch mehreres, um besprochen zu werden.« Friedrich v. Sallet spricht ihm aus der Seele, wenn er denselben Gedanken noch weiter ausführt: »Meist findet man das, was man Offenheit [181] nennt, im höchsten Grade just bei den leichtfertigsten und gedankenlosesten Menschen; das, was man Verschlossenheit nennt, gerade bei den tiefsten, reichsten und treuesten Gemütern. Und wirklich: ich teile mich gern mit und liebe ein volles, freies Ergießen des Gesprächs beim Becherklange; alles, was ich Edles gedacht, sei nicht für mich, es sei, wo möglich, für die ganze Welt erobert. Aber dennoch gibts ein Allerheiligstes im Gemüt. Was dort im innersten Kern, im Verborgenen prangt, das mag ich nicht hervorholen und im allgemeinen Licht des Tages eitel und kindisch glitzern lassen. Es bleibe da in heiliger Nacht! Selbst meinem Seelenfreunde, sei er der edelste Mann, selbst meiner Geliebten (wenn ich eine hätte) darf ich in dürren Worten nicht Kunde davon geben. Weshalb? Ich könnte einen einzigen schiefen Ausdruck brauchen, der andere könnte einen einzigen Ausdruck schief fassen, und mein Götterbild, von einem Hohlspiegel reflektiert, würde zur Fratze, entweder gemein oder alltäglich oder gar mißgestaltet und lächerlich. Was hätte der Mensch überhaupt am Menschen zu sinnen und zu forschen, wenn jeder sich gleich, bis zum innersten Grund seines Wesens wie ein Einmaleins, auswendig hersagen könnte? Was hätte der Mensch an Menschen zu lieben, wenn nicht das Unausgesprochene, nie ganz Erforschte? Vom Heiligen in uns, direkt auseinandersetzend, Bericht zu erstatten, ist eine schamlose Entweihung. Hat der andere ein geistiges Auge, das würdig ist, es zu schauen, so möge er still einen jener seligen Augen blicke erwarten, wo der Wolkenvorhang zerreißt, und ein rascher, fassender Blick ins Innerste des Tempels dem Würdigen gegönnt ist. Was er da erschaut und erkennt, das ist sein, so gut als mein, aber mehr geahnt als hausbacken begriffen, und in solchen Augenblicken wird das hohe Fest der Freundschaft und der Liebe gefeiert. Ich selbst aber darf in Worten nichts davon offenbaren, außer in der Dichtung. Da darf ich es, denn da geschieht es auf eine mir unbegreifliche göttliche Weise; und überdies ist die Dichtung kein ums Maul geschmierter Brei, sondern auch wieder nur Hieroglyphe, die nur der Würdigste sich ahnungsvoll zu deuten weiß.«

Ein drittes Heft »März 1855« datiert, wurde von Brahms dem deutschen Sprichwort geweiht mit dem Motto: »Gute [182] Sprüche, weise Lehren muß man üben, nicht bloß hören.« Das Schatzkästlein des jungen Kreisler aber hatte noch ein besonderes, mit Sammet ausgeschlagenes Fach für Juwelen, die zum Kronschmuck seiner gepriesenen Kunst gehörten. »Düsseldorf September 1853« steht auf der Etikette eines neuen Bandes, und das erste Blatt führt den Titel: »Schöne Gedanken über Musik«. Von Robert Schumanns Beispiel angetrieben, der lange und besonders in seinen letzten gesunden Tagen damit umging, musikalische Aussprüche von Dichtern zu einem »Dichtergarten« zu vereinigen, sonderte Brahms die im Feuer seiner Kunst leuchtenden Edelsteine von den andern und nahm aus den übrigen Heften herüber, was er über dieselbe Materie schon gesammelt hatte. Jean Paul ist auch hier das A und O. Seine Apostrophe: »O Musik! Nachklang aus einer entlegenen harmonischen Welt! Seufzer des Engels in uns!« eröffnet die Reihe. Shakespeare folgt, der große Liebhaber und Schätzer der lustigen Kunst der Töne, die »mit Himmelszungen zu uns redet«. Recht auf den Nordländer Brahms paßt Jean Pauls »In kalten Ländern ergötzen die Vögel mit einer schönen Stimme, in warmen nur mit schönem Gefleder,« und er pflichtet Novalis bei, wenn er sagt: »Die Musik redet eine allgemeine Sprache, durch welche der Geist frei, unbestimmt angeregt wird; dies tut ihm wohl, so bekannt und vaterländisch, er ist auf diese kurzen Augenblicke in seiner Heimat.« Bei Jean Pauls Bemerkung: »Die Tonkunst ist die Heilige, die Madonna unter den Künsten; sie kann nichts gebären als das Sittliche. Selig ist eine Priesterin dieser Madonna, und ihr Gesang ist nur ein anderes Gebet« – dachte er wohl an die geliebte Domina. Immermann belehrte ihn, daß der Fleiß, wie ein Magnet, durch fortgesetztes Tragen unglaublicher Lasten immer mächtiger werde, und er tröstet sich mit Beethoven, der erklärte, er könne seine Werke nicht nach einer Mode meißeln und zuschneiden, wie sie's haben wollten; das Neue und Originelle gebäre sich selbst, ohne daß man daran denke. Es freut ihn, das Gesetz der thematischen Einheit von Lessing bestätigt zu finden, der schreibt: »Ohne Zusammenhang, ohne die innigste Verbindung aller und jeder Teile ist die Musik ein eitler Sandhaufen, der keines dauernden Eindrucks fähig ist; nur der Zusammenhang macht sie zu einem [183] festen Marmor, an dem sich die Hand des Künstlers verewigen kann,« und mit Genugtuung pocht er den Neudeutschen gegenüber auf Goethes, aus dem klaren Brunnen tiefer Kunstkenntnis geschöpften Satze; »Was uns zu strengen Forderungen, zu entschiedenen Gesetzen am meisten berechtigt, ist, daß gerade das Genie, das angeborene Talent sie am ersten begreift, ihnen den willigsten Gehorsam leistet. Nur das Halbvermögen wünschte gern seine beschränkte Besonderheit an die Stelle des unbedingten Ganzen zu setzen und seine falschen Griffe, unter Vorwand einer begreiflichen Originalität und Selbständigkeit zu beschönigen. Das lassen wir aber nicht gelten, sondern hüten unsere Schüler vor allen Mißtritten, wodurch ein großer Teil des Lebens, ja manchmal das ganze Leben verwirrt und zerpflückt wird. Mit dem Genie haben wir am liebsten zu tun, denn das wird eben, von dem guten Geschmack beseelt, bald erkennen, was ihm nutz ist. Es begreift, daß Kunst eben darum Kunst heißt, weil sie nicht Natur ist. Es bequemt sich zum Respekt, sogar vor dem, was man konventionell nennen könnte: denn was ist dieses anders, als daß die vorzüglichsten Menschen übereinkamen, das Notwendige das Unerläßliche für das Beste zu halten?«26

Im Juli 1854 hat Brahms das erste Heft der von ihm gesammelten »Schönen Gedanken über Musik« abgeschlossen. Nicht unwahrscheinlich ist es, daß er im Sinne hatte, Schumann mit seiner Sammlung ein willkommenes Geschenk zu machen, gewissermaßen als Untergärtner seines »Dichtergartens«. Ein systematisch angelegtes Inhaltsverzeichnis auf der letzten Seite des Oktavheftes läßt darauf schließen, daß er seinen Stoff später übersichtlich ordnen wollte. Die Rubriken: »Schöne Bilder«, »Über Studium, Form und Technik«, »Über Kritik« und »Publikum« sind mit Zahlen ausgefüllt, die mit den im Text stehenden Nummern korrespondieren. Schumanns Erkrankung oder vielmehr die traurige Gewißheit ihrer Unheilbarkeit mag dem so eifrig begonnenen Unternehmen ein Ziel gesetzt haben. Ein zweites Heft in Quart bricht in der Mitte ab. Die 134. und letzte Einzeichnung von 1854 ist [184] Goethes, wie auf Brahms gemünztes, an Eckermann gerichtetes Wort: »Es gibt vortreffliche Menschen, die nichts aus dem Stegreife, nichts oben hin zu tun vermögen, sondern deren Natur es verlangt, ihre jedesmaligen Gegenstände mit Ruhe tief zu durchdringen. Solche Talente machen uns oft ungeduldig, indem man selten von ihnen erlangt, was man augenblicklich wünscht; allein auf diesem Wege wird das Höchste geleistet.« – Außer den bereits genannten Autoren las Brahms damals, wie aus seinen Exzerpten hervorgeht, noch Uhland, Hebbel, Tiedge, Raupach, Terenz, Rückert, Voß, Rob. Blum, R. Wagner, Zimmermann, Fr. v. Schlegel, Macauley, A. v. Humboldt, Grabbe, Büchner, Herwegh, Z. Werner, Byron, A. Grün, H. v. Collin, Zedlitz, Herbart, W. Menzel, Scherenberg, Tieck, Eckermann, A. Kahlert, Thibaut, Bulwer, Zelter, Wackenroder, Platen, C.M. v. Weber, Rottek – eine bunte, aber keine schlechte Gesellschaft!27

Diese Brahmsschen Kolleklanea sind nicht die einzigen, welche er früh angelegt hatte, in Düsseldorf und späterhin vervollständigte und überall mit sich führte. Von seinen Textvorräten, die gelegentlich vermehrt wurden, ist schon die Rede gewesen. Dazu kamen noch weitschichtige Sammlungen von Volksgesängen und Kopiaturen seltener Musikwerke, die er selbst besorgte oder von anderen für sich besorgen ließ. Schon ehe er Kretzschmer-Zuccalmaglios »Deutsche Volkslieder mit ihren Originalweisen« und Beckers »Lieder und Weisen vergangener Jahrhunderte« in Schumanns Bibliothek fand, hatte er sich zusammengetragen, was er aus seltenen Liederbüchern und aus dem Munde des Volkes selbst erreichen konnte. Die »Schönen, lieblichen, alten und neuen Liedlein,« und H.L. Haßlers »Lustgarten deutscher Gesänge, Balleti, Gaillarden« (Nürnberg 1546 und 1601) nebst anderen Anthologien des 16. und 17. Jahrhunderts steuerten manche Perle zu seinem Liederschatze bei. Ein glücklicher Zufall spielte ihm Grimms und Arnolds »Volkslieder aus dem Siebengebirge« in die Hand, die er nach Arnolds Manuskript kopieren durfte, noch ehe sie im Druck veröffentlicht [185] wurden. Daß er die Gaben, welche er empfing, nicht durch die kritisch geschärften Brillengläser des gelehrten Historikers betrachtete, sondern mit den unbewaffneten Augen des naiven Künstlers ansah, mögen ihm pedantische Philologen zum Vorwurf machen. Er fragte so wenig nach dem Ursprung des Passionschorals »O Haupt voll Blut und Wunden«, obwohl er sich das Haßlersche »An Maria« gerichtete Liebeslied »Mein G'müt ist mir verwirret« notierte, wie er Mißtrauen in »Des Knaben Wunderhorn« oder gar in Nikolais parodischen »Kleinen seinen Almanach« setzte, sondern er begnügte sich damit, verschiedene Versionen desselben Liedes aufzuzeichnen, wenn er es da und dort anders hörte, als er gewohnt war, und alles darauf hin zu prüfen, ob er es für seine musikalischen Zwecke gebrauchen könnte oder nicht. Die Mehrzahl der von ihm herausgegebenen Volksliederbearbeitungen, welche im Laufe der Zeit mancherlei Veränderung und Umgestaltung erfuhren, weist auf die Jahre der Sammlungen und Sammlung (1854 bis 1858) zurück. Auch ließ er sich die Mahnung gesagt sein, Chorstücke älterer italienischer Meister, wie Palestrina, Allegri Bei, Lotti vorzunehmen, deren Studium Schumann allen jungen Künstlern dringend anzuempfehlen pflegte, »damit man hinter den Gesangsgeist komme«. Es existieren Abschriften seiner Hand von Palestrinas »Missa Papae Marcelli«, Lottis »Crucifixus« zu acht und zehn Stimmen, Rovettas »Salve Regina«, Corsis »Adoramus te Christe«, Durantes »Misericordias Domini« und ähnlichen berühmten Werken polyphoner Kirchenmusik, die damals noch nicht in bequemen neuen Ausgaben vorlagen. Frau Klara wurde die Genossin seiner Studien und kopierte für Johannes, was sie auf Konzertreisen in den großen Bibliotheken der Hauptstädte Interessantes fand.

Bald nach ihrem Geburtstage sollten die Freunde eine unverhoffte große Freude erleben. Am 12. September (Schumanns Hochzeitstage) war ein Brief vom Bonner Arzte gekommen, worin dieser schrieb, Schumann hätte gegen ihn die Befürchtung ausgesprochen, seine Frau müsse gestorben sein, da er immer noch keinen Brief von ihr erhalten habe. Der Arzt hatte Klara ersucht, einige Zeilen an ihren Mann zu schreiben, und diese hatte ihm zwei Briefe gesendet, einen, in dem sie die beiden wichtigen Tage (12. und [186] 13. September) erwähnte, und einen, in dem sie nichts davon sagte. Da Schumann aber von selbst die hohe Bedeutung dieser Tage hervorhob, so war ihm der erste Brief gegeben worden. Nun lief am 15. ein neuer Brief des Arztes ein, mit Einlagen. Brahms übergab ihn Frau Schumann »mit Zittern und Zagen«. Kamen ihre Briefe zurück oder eine Antwort?28 »Sie öffnete den Brief und konnte mir kaum zulallen: ›Von meinem Mann!‹ Lesen konnte sie lange nicht. Dann aber, welche unaussprechliche Wonne! Sie sah aus wie derF-dur 3/4-Satz im Finale von ›Fidelio‹, ich kann's nicht anders beschreiben. Weinen kann man nicht darüber, aber das ganze Gesicht zieht sich zusammen vor stillem, wonnigem Schauer. – Ich war der erste, der nach ihr den Brief las. Jetzt schicke ich Dir, dem liebsten Freunde, die erste Nachricht und eine Abschrift des Briefes, Klara sendet Dir darin den schönsten Gruß. O was gäb' ich darum, wenn ich Dich nur jetzt noch hier hätte, ich wünschte in der Stunde und auch jetzt niemand anders her. Den letzten Satz seines Briefes (›So viele Fragen‹) kann ich nicht genug lesen, er beweist mir am stärksten, was ich glaube, daß er nämlich nur noch in der Furcht, in der Einbildung krank ist. Er fürchtet, irre zu fragen, und bittet sie, dann den Schleier darüber zu werfen! – Ihren Brief hat er, wie der Arzt schreibt, oft an dem Tage gelesen, auch geweint vor Rührung. Da der Arzt ihr erlaubte, seine Fragen zu beantworten, auch das Verlangte zu schicken, so tut sie es denselben Tag. – Noch eins, was ich nicht begreife. Der Arzt schrieb im letzten Briefe, Schumann habe sich gewundert, nichts über ihre glückliche Niederkunft zu finden in ihrem Briefe, und da bemerkt der Arzt Frau Schumann, daß er Herrn Schumann schon davon erzählt!! Es hieß doch immer, Herr Sch. habe seiner Frau mit keiner Silbe erwähnt! – Nun, alles gleich, ihr zweiter Brief wird ihn vollständig klar machen, es dauert gewiß nicht lang, daß wir ihn sehen. – Frau Sch. hat ihm natürlich seine Schriften geschickt. Wie schön er vom Thema in Es29 schreibt, Schubert bleibt aus dem Spiel jetzt! – Juble mit mir, Geliebter, von Zweifel kann doch nicht mehr die Rede sein?«

[187] Schumanns Brief, wie elf andere, die er von Endenich an Klara, Brahms und Joachim richtete, sind von Eduard Hanslick in dem Aufsatz »Aus Robert Schumanns letzten Tagen« noch bei Brahms' Lebzeiten publiziert worden30. Man kann sie nicht ohne tiefe Gemütsbewegung lesen, voll innigen Mitleids für den Unglücklichen, der das ihm entschwundene Gedächtnis mit aller Qual und Anstrengung zurückzurufen sucht, um sich und andern zu beweisen, wie getreu er sich an jede Kleinigkeit erinnere. Frau Schumann und Brahms ließen sich von dem Schein täuschen und versprachen sich von der leichten Besserung des Kranken eine entscheidende Wendung zur Genesung. Hier nur die Stellen, die auf Brahms Bezug nehmen. Am 18. September schreibt Schumann: »Brahms, den Du freundlich und verehrungsvoll grüßen wolltest, ganz nach Düsseldorf übergesiedelt – welche Freudenbotschaft!... Was haben Brahms und Joachim komponiert? ...« Am 26. d. M.: »Das wundert mich, daß Brahms kontrapunktische Studien treibt, was ihm gar nicht ähnlich sieht ... des Bildnisses von Laurens kann ich mich noch besinnen.« Am 10. Oktober: »Welche Freudensendung hast Du mir wieder gemacht!... Die Komposition von Brahms über das Thema, das Du variiertest ... Die Variationen muß ich noch genauer kennen lernen; ich schreibe selbst an ihn ... Herrn Grimms erinnere ich mich auch sehr gut, wir waren ja immer mit Brahms und Joachim in der Eisenbahn-Restauration (in Hannover).« Am 27. November: »Die Variationen von Johannes haben mich bei der ersten Durchsicht gleich und bei tieferer Erkenntnis immer mehr entzückt. An Brahms schreib' ich selber noch; hängt sein von de Laurens gezeichnetes Bild noch in meinem Studierzimmer? Er ist einer der schönsten und genialsten Jünglinge. Mit Entzücken erinnere ich mich des herrlichen Eindrucks, den er das erstemal durch seine C-dur-Sonate und später fis-moll-Sonate und das Scherzo in es-moll machte. O könnte ich ihn wieder hören! Auch seine Balladen möcht' ich.« Am 6. Januar 1855: »Nun wollte ich Dir, meine Klara, auch ganz besonders für die Künstlerbriefe danken und Johannes für die Sonate [188] und Balladen. Die kenn' ich jetzt. Die Sonate – einmal erinnere ich mich, sie von ihm gehört zu haben – und so tief ergriffen; überall genial, tief, innig, wie alles ineinander verwoben. Und die Balladen – die erste wunderbar, ganz neu; nur das doppio movimento bei der zweiten versteh' ich nicht, wird es nicht zu schnell? Der Schluß schön-eigentümlich! Die zweite wie anders, wie mannigfaltig, die Phantasie reich anzuregen; zauberhafte Klänge sind drin. Das Schluß-Baß-Fis scheint die dritte Ballade einzuleiten. Wie nennt man die? Dämonisch – ganz herrlich, und wie's immer heimlicher wird nach dem pp im Trio; dieses selbst ganz verklärt, und der Rückgang und der Schluß! Hat diese Ballade auf Dich, meine Klara, wohl einen gleichen Eindruck hervorgebracht? In der vierten Ballade wie schön, daß der seltsame erste Melodieton zum Schlusse zwischen Moll und Dur schwankt und wehmütig in Dur bleibt. Nun weiter zu Ouvertüren und Symphonien! Gefällt dies Dir, meine Klara, nicht besser als Orgel?31 Eine Symphonie oder Oper, die enthusiastische Wirkung und großes Aufsehen macht, bringt am schnellsten und auch alle andern Kompositionen vorwärts. Er muß.«

Dieser Passus über Brahms' Balladen ist das Gehaltvollste und Bedeutendste, was Schumann in seinen Endenicher Briefen schrieb. Vor allen Erinnerungen, die er aus seinem gebrochenen und zerstückten Gedächtnisse zusammensuchte, wurde ihm die an den genialen Jüngling und dessen Musik am lebhaftesten gegenwärtig, und wenn es möglich gewesen wäre, den hingesunkenen Geist des Kranken wieder zu erheben, so hätten die neuen Werke seines Heilandes ein solches Wunder hervorbringen müssen. Die vier Balladen, die Schumann im Manuskript erhielt, da sie erst im März 1856 (mit einer Zueignung an Julius Otto Grimm) herauskamen, können als Fortsetzungen oder Analogien zu den Mittelsätzen in Brahms' Sonaten betrachtet werden. Es sind die Adagios zu drei unkomponiert gebliebenen Klaviersonaten; Nr. 2 und 3 gehören, wie Schumann richtig bemerkte, zusammen, so eng wie Adagio und Scherzo eines zyklischen Werkes. Schumann nennt den Charakter des h-moll-Stückes »dämonisch«, im Gegensatz [189] zu Klara, die darin »Engel erblickte, welche durch den blauen Himmel ziehen«, und dieser Widerspruch soll, wie Hanslick berichtet, ausschlaggebend dafür gewesen sein, daß die Absicht, Schumann aus der Heilanstalt herauszunehmen, nicht ausgeführt wurde. Da Brahms selbst aber der Auffassung Schumanns zuneigte, so beruht die Nachricht wohl auf einem Mißverständnis. Von den drei anderen Balladen hat der Komponist das Stück durch den Untertitel »Intermezzo« abgesondert und ihm somit die Stelle angewiesen, die es innerhalb des Balladen-Zyklus als Prototyp jener Gattung von teils unheimlichen, teils lieblichen Tonsätzen einnimmt, die in vielen seiner späteren zyklischen Instrumentalwerke das Scherzo vertreten. Klara kann die Engel nur in dem durchaus pianissimo gehaltenen gesanglichen Fis-dur-Teile des Intermezzos (seinem »Trio«) erblickt haben; sie besänftigen die Dämonen des Hauptsatzes, und das im Baß immer wiederkehrende, tiefe glockentönige Fis läutet den Frieden ein. So vertragen und versöhnen sich die gegensätzlichen Anschauungen, und es besteht kein Grund mehr, sie als falsch oder unvereinbar zu verwerfen. Brahms seinerseits gab die gute Meinung, die er von dem Intermezzo hatte, wieder auf, wie die Notabenes und Fragezeichen seines Handexemplares dartun. Sonst lagen ihm die Balladen sehr am Herzen, weil sie ihn an die schönen, stillen Sommerabende erinnerten, an denen er sie der aufmerksamsten Zuhörerin erzählte. Nur bei der ersten ist die poetische Quelle angegeben, aus der er seine Musik schöpfte; doch läßt sich vermuten, daß auch die anderen ihr Entstehen den Anregungen verdanken, die er von der Lektüre der Dichter empfing. Interessant und lehrreich wäre es, die nach der schottischen Ballade »Edward« (aus Herders »Stimmen der Völker«) geschaffene Komposition Absatz für Absatz mit dem poetischen Texte zu vergleichen. Im Anfang decken sich Melodie und Wort vollkommen:


5. Kapitel

[190] aber schon die um zwei Takte erweiterte Wiederholung des Verses paßt weder auf diesen noch auf die die Frage beschließende Zeile: »Und gehst so traurig her? – O!«

Auch die allgemeine Gliederung der Komposition stimmt nicht mit dem Gedicht überein; sie scheidet nur zweimal Frage und Antwort in eigentümlichen Rhythmen von je 3 + 5 und 5 Takten. Nach dem vierten Doppelstrich beginnt eine Art von Durchführung; der Baß, welcher die Antwort: »Ich habe geschlagen meinen Geier tot,« begleitete, eine musikalische Umkehrung der Frage, wird von der Melodie emanzipiert und durch eintretende Triolen gesteigert; er enthüllt sich als die drohende Stimme des bösen Gewissens, das in den ängstlichen Fragen der Mutter und den ausweichenden Antworten des Sohnes zittert. Das Andante ist in ein beschleunigtes Tempo übergegangen (Allegro ma non troppo), sein immerwährendes crescendo entladet sich in mehreren Fortissimoschlägen, bis das schreckliche Geständnis des Sohnes zugleich mit dem furchtbaren, der Mutter zugeschleuderten Fluche (»Ich habe geschlagen meinen Vater tot« ... »Fluch will ich Euch lassen und höllisch Feuer, denn Ihr, Ihr rietet es mit«) die Spannung löst, und mit dem ersten Tempo leise die erste Melodie zurückkehrt. Gebrochene Triolen verzehnfachen die zum Weheruf entmannte Anrede »Edward! Edward!«, so daß sie wie das Lallen und Stammeln des Wahnsinnes klingt, und die düstere Koda des Musikers verhilft der Ballade des Dichters zu einem Epiloge von tragischer Größe und Weihe. Niemals überschreitet dabei der Komponist die ihm vorgesteckten Grenzen des musikalischen Erzählers, ob er auch als Seelenmaler, wie Beethoven in seiner großen Leonoren-Ouvertüre, den Lyriker und Dramatiker mit dem epischen Dichter vereinigt. Wenn irgendein Tonstück lebendig für die Befähigung Brahms' zum Opernkomponisten zeugt, so ist es diese Ballade. Sie schien ihm in ihrer Vollendung, die man ihr trotz ihrer freien Form zusprechen muß, gleichwohl nur ein Provisorium zu sein. Das Gedicht, mit dem er sich vorläufig abgefunden hatte, ließ ihn nicht wieder los, und er komponierte es später noch einmal als Duett zwischen Alt und Tenor (op. 76, Nr. 1). Im Juli 1878 schreibt er an Otto Dessoff: »Ich brauche nicht viel zu sagen, wie einem das schöne [191] Gedicht gar nie aus dem Sinne geht, wie man es einmal, in gewissem Sinne los werden muß. Freilich brummte mir Chor und Orchester im Kopf herum dabei, und eigentlich wünschte ich sehr, es möge sich jemand verführen lassen, eine Partitur-Anlage zu machen. Natürlich Frauen- und Männerchor unisono, Harfe vom ersten Takt an (damit sie nicht etwa später Effekt macht! e-moll statt f-moll).«

Bleiben die anderen Balladen aus op. 10, was die Größe der Konzeption anbelangt, auch hinter dieser Nummer eins zurück, so geben sie ihr doch an Eindringlichkeit und Prägnanz des Vortrages wenig oder gar nichts nach. Der Charakter ihrer Objekte brachte es mit sich, daß andere Saiten der Empfindung in ihnen angeschlagen wurden. Alle haben die Freiheit der Form miteinander gemein, die den Musiker in seiner Abhängigkeit vom Dichter zeigt, ohne im übrigen ihn zu unerlaubten Zugeständnissen an sein verschwiegenes »Programm« zu verleiten. Man bedauert das Fehlen direkter Hinweise aus rein persönlichen Gründen und vermißt jene um so weniger, je weiter der Spielraum ist, den die melodiegesättigten kühn harmonisierten und episodenreichen Tongemälde mit ihrem meist aus ungeraden und ungleichen Taktgliedern zusammengesetzten Periodenbau der Phantasie des Zuhörers eröffnen. Deiters behält Recht, wenn er sagt, Brahms »versuche schon hier gewissermaßen eine Brücke zu schlagen zwischen instrumentaler und vokaler Kunst, oder vielmehr auszusprechen, daß ihm die Musik ohne Worte zum musikalischen Ausdrucke dessen, was ihn zum Schaffen treibt, völlig genügt, daß sie ihm dasselbe ausdrückt«.32 Wichtiger als die Frage nach den Stoffen, die Brahms zur Komposition seiner Balladen anregten, ist uns die Wahrnehmung, daß sowohl hier wie in den Variationen op. 9 eine erhebliche Verbesserung oder sagen wir lieber Vereinfachung seines Klaviersatzes zu bemerken ist. Sein technisches Studium Schumannscher Klavierwerke hat gute Früchte getragen. Besonders in der vierten Ballade zeigt sich der segensreiche Einfluß des Meisters.

Seinen Entschluß, an Brahms zu schreiben, führte Schumann [192] am 27. November 1854 aus. Er dankte ihm für alles Freundliche und Gütige, was er an Klara getan, und lobte seine »herrlichen« Variationen: wie sich das Ganze so einzig abrunde im reichsten phantastischen Glanz und einer tiefen Kunst, welche die früher an Brahms erkannte noch hinter sich lasse, wie geheimnisvoll, leidenschaftlich und innig das Thema immer wieder auftauche und verschwinde. Besonders rühmt Schumann den Schluß nach der vierzehnten, kunstreich in der Sekunde kanonisch geführten Variation, die fünfzehnte in Ges, »mit dem genialen zweiten Teile,« und die letzte. Er hofft, seinen Liebling bald persönlich zu sehen und an seiner Seite sich der Bonner Gegend und der reizenden Aussicht nach dem Siebengebirge zu erfreuen. Brahms antwortete von Hamburg aus am 2. Dezember:


»Geliebtester Freund!


Wie kann ich Ihnen meine Freude über Ihren teuren Brief sagen! Schon so oft machten Sie mich glücklich, wenn Sie in den Briefen an Ihre Frau meiner so liebend gedachten, und jetzt gehört mir ausschließlich ein Brief! Es ist der erste, den ich von Ihnen habe, er ist mir so unendlich wert.

Ich empfing ihn leider in Hamburg, wohin ich gereist war, um meine Eltern zu besuchen; viel lieber hätte ich ihn aus der Hand Ihrer Frau empfangen.

In einigen Tagen denke ich wieder nach Düsseldorf zu gehen, ich sehne mich dahin.

Mit freudigem Mut erfüllt mich das übergroße Lob, dessen Sie meine Variationen wert halten. Seit diesem Frühjahr studiere ich fleißig Ihre Werke, wie gerne hörte ich auch darüber Ihr Lob! Dieses Jahr verlebte ich seit dem Frühling in Düsseldorf; es wird mir unvergeßlich sein, immer höher lernte ich Sie und Ihre herrliche Frau verehren und lieben.

Noch nie habe ich so froh und sicher in die Zukunft gesehen, so fest an eine herrliche Zukunft geglaubt als jetzt. Wie wünsche ich sie nah und näher, die schöne Zeit, wo Sie uns ganz wiedergegeben sind. Ich kann Sie dann nicht mehr verlassen, ich werde mich bemühen, mir immer mehr Ihre teure Freundschaft zu erwerben.

Leben Sie wohl und gedenken Sie meiner in Liebe.

Ihr Sie innig verehrender


Johannes Brahms.


[193] Meine Eltern und Ihre hiesigen Freunde gedenken Ihrer mit größter Verehrung und Liebe. Die Eltern, Herr Marxsen, Otten und Ave bitten mich besonders, Ihnen die herzlichsten Grüße zu sagen.«


Auf seiner Heimreise kehrte Brahms bei Joachim in Hannover ein. Als ankündigenden Gruß hatte er dem Freunde, der in Wien und Pest konzertierte, folgenden Canon für Alt und Viola geschickt:


5. Kapitel

5. Kapitel

und ihm mitgeteilt, daß Frau v. Arnim ihm ihre und ihres Mannes sämtliche Werke (als Dank für die Liederwidmung von op. 8) geschenkt habe, so daß er gar nicht wisse, was er vor Erstaunen und Freude anfangen sollte. Mitte November langte [194] er mit Klara Schumann und Grimm in Hannover an. Grimm wollte sich gänzlich dort niederlassen, Klara bei Hofe spielen. Brahms hatte gemeint, dem Herrn Staatsmusikdirektor werde es ein Leichtes sein, schnell ein Hofkonzert zu arrangieren. Da sie am Sonnabend einträfen, könnte es am Sonntag stattfinden: »Sonntag hat der Herr und König weiter keine Umstände, er zieht den Frack an und setzt die Krone schon des Morgens von selbst auf, weil's Sonntag ist.« Sein Stübchen am Papenstieg hatte Brahms seinem Freunde Grimm überlassen, und er wohnte in der Prinzenstraße 7 bei Joachim, »qui était très agréablement établi dans le plus beau quartier de la ville. Au-dessus de son piano pendent Beethoven et Shakespeare, entre deux vues d'Égypte: Karnak, Thèbes, sphinx à tête humaine et à tête de bélieret Medinet-Abou, Thèbes, constructions postérieures33 Aus dem Hofkonzert wurde nichts; dafür bekamen Beethoven, Shakespeare und die Sphinx von Theben desto mehr von Schumann, Brahms und Joachim zu hören an jenem Sonntag Abend, nachdem die lustige Gesellschaft den schönen Herbsttag im Park von Herrenhausen zugebracht hatte. Brahms fuhr bald darauf nach Hamburg, wohin ihm Grimm im November nachfolgte. Frau Klara ging zunächst nach Weimar und von dort über Leipzig nach Berlin, um in norddeutschen Städten zu konzertieren. Ihr war es darum zu tun, möglichst viel Geld zu verdienen, um ihre des Ernährers beraubte Familie zu erhalten. Niemals aber hätte sie, obwohl sie jetzt mehr Rücksicht auf das Publikum nehmen mußte als früher, dem Geschmack des großen Haufens auch nur die geringste Konzession gemacht, die mit ihrer edlen Künstlernatur nicht übereinstimmte. Als ihre Konzerttour in Weimar begann, schrieb Franz Liszt über sie die poetischen Worte34: »Aus der lieblichen Spielgenossin der Musen ist eine weihevolle, pflichtgetreue und strenge Priesterin geworden. Dem feuchten Jugendglanz der Augen ist der starrende angstdurchschauerte Blick gefolgt. Die sonst so leicht in das Haar geflochtene [195] Blumenkrone verbirgt jetzt kaum die sengenden Narben, die der heilige Reif tief in die Stirne gedrückt. Wenn unter ihren Fingern die Saiten ertönen, scheint mysteriöses Licht ihnen zu entfliehen. Nicht mehr jene auftretenden Lichtwellen, deren Strahl das Haar erzittern, das Herz erbeben macht, umkreisen sie: alle Wärme ist in eine Glut zusammengedrängt, deren Brennpunkt nur die Hierophanten der Kunst kennen, dem nur sie allein sich nähern dürfen, um den elektrischen Strom göttlichen Feuers zu fühlen, das ohne Fackel, ohne Strahl, ohne Flamme um so unauslöschlicher brennt. Eine vorwurfsfreie Vollendung charakterisiert jeden Ton dieser sanften, leidenden Sibylle, die, Himmelslüfte atmend, mit der Erde nur noch durch ihre Tränen verbunden bleibt.«

Klara Schumann hatte das Andante und Scherzo aus der f-moll-Sonate von Brahms am 23. Oktober in Leipzig gespielt und wiederholte diese Stücke im November in Hamburg und Altona, wie sie auch auf späteren Konzertreisen gern ihr Programm mit ihnen schmückte. Daß die bedeutende Künstlerin öffentlich für Brahms eintrat, machte in seiner Vaterstadt größeres Aufsehen als im Jahre vorher der Artikel Schumanns, der von den Lokalblättern zu einer dröhnenden Lobeserhebung für Marxsen ausgebeutet worden war. Man hätte glauben sollen, das ganze musikalische Hamburg wäre auf den Schumannschen Alarmschuß hin mobil geworden, um sich dem großen Sohne der Stadt zur Verfügung zu stellen. Es blieb aber ganz still und alles beim alten. Nur ein paar Musiker, die es selbst noch zu keiner allgemein anerkannten Bedeutung gebracht hatten, wie Theodor Ave Lallement, und Karl G.P. Grädener, schlossen sich enger an den jungen Genius an. Beide waren keine gebürtigen Hamburger; Avé Lallement war aus Lübeck, Grädener aus Kiel, wo er zehn Jahre lang den Posten eines Universitätsmusikdirektors bekleidet hatte, nach Hamburg eingewandert. In den »Rückerinnerungen eines alten Musikanten« erzählt Ave Lallement, er habe Brahms, als dieser noch ein blutjunger Mensch gewesen sei, hinter der Tür des Zimmers, in welchem er zu üben pflegte (wahrscheinlich also im Magazin der Klavierfabrik von Baumgardten und Heins) oft belauscht, festgebannt von der Herrlichkeit seines wunderbaren [196] Spieles. Brahms lernte beide jetzt persönlich kennen und erwärmte sich sofort für Avés leicht erregbares Künstlernaturell und für Grädeners ebenso gediegenes wie originelles Wesen, das Schärfe des Geistes, schlagfertigen Witz und vielseitige Bildung mit einem, mehr dem kritischen Verstand als der Empfindung zuneigenden schöpferischen musikalischen Talente verband. »Wir leben hier herrlich und in Freuden«, schreibt Grimm an Joachim, während Brahms »365 mal in einer Minute« eine Klavierpassage übt; »unser blonder Freund ist glückselig und toll. Mittags hat Frau Schumann heut und gestern (am 10. und 9. November) mit uns, d.h. bei Johannes' Eltern gegessen – wir gehen nach Uhlenhorst und wer weiß wohin und erinnern uns unserer Promenade durchs Gebüsch (in Herrenhausen) ... Avé ist ein unbändig netter Kerl. Brahms dankt Dir vielmals für Dein Konzert. Seine Mutter und Schwester sind so lieb und schön – ich fühle mich unsäglich wohl.«

Für den 22. November wurde ein musikalisches Rendez-vous in Hannover verabredet, zu welchem Grädener seine Frau und sein drittes Quartett mitbringen und Frau Schumann oder Brahms dessen H-dur-Trio spielen sollte. Brahms hätte beinahe in Hamburg bleiben müssen, weil es ihm am besten fehlte. Aber, wie aus Klara Schumanns Tagebüchern hervorgeht,35 schaffte er zuletzt doch Rat und traf in Hannover ein. Nach Hamburg zurückgekehrt, erhielt er Besuch von dem Violinisten Edmund Singer, der sich bei ihm beklagte, wie entsetzlich schwer die Konzerte von Schumann und Joachim seien, zumal das Joachimsche, das er in Weimar spielen wollte. Aufführungen Beethovenscher Chor- und Orchesterwerke (IX. Symphonie, »Meeresstille und glückliche Fahrt« und Festouverture in C), die er in Hamburg hörte, machten ihm wenig Vergnügen. Er schwebte dabei in beständiger Angst, sie möchten durchfallen, und ärgerte sich fortwährend über »zu gefühlvolle Bässe, zu schnelle Tempi und schlecht geänderte Singstimmen.« Auf Weihnachten, die er mit Joachim bei Frau Klara in Düsseldorf verleben wollte, plante er ein neues Huldigungsgeschenk für Schumann. Joachim, Bargiel und er sollten ihre »Sachen« zusammentun und dem Meister in sauberer Abschrift einbescheren, [197] Joachim seine Violinstücke, womöglich auch die »Hebräischen Gesänge« und die Variationen für Bratsche. »Montag früh möchte ich wohl von hier fort,« schreibt er am 16. Dezember, »mit niemand kann ich hier von Euch sprechen, und da hab ich denn empfinden gelernt, daß ich mich verändert, daß ich mich zuweilen aussprechen muß.« Für den mit seinen Gefühlen zurückhaltenden Brahms ein Geständnis, das zu denken gibt!

Erst sieben Tage später reiste er von Hamburg ab und traf am 23. Dezember bei Klara ein. Ihr war von Joachim, der Schumann am 24. früh in Endenich besucht und gesprochen hatte, trostreiche Botschaft überbracht worden, und so konnten die drei im engsten Freundschaftsbunde den heiligen Abend zwar ernst gestimmt, aber doch voll Hoffnung auf eine bessere Zukunft feiern. Brahms schreibt darüber am 30. Dezember an Robert Schumann:


»Verehrtester Freund!


Recht viel möchte ich Ihnen vom Weihnachtsabend schreiben, wie er uns durch Joachims Nachrichten so schön wurde, wie er uns den ganzen Abend von Ihnen erzählte, und Ihre Frau so still weinte. Wir waren ganz erfüllt von der freudigen Hoffnung, Sie auch bald wiedersehen zu können.

Immer schaffen Sie doch die Tage, die uns sonst doppelte Trauertage wären, zu hohen Festtagen um. An ihrem Geburtstag durfte Ihre Frau Ihnen den ersten Brief schreiben, am Weihnachtsabend sprach Sie zuerst der Freund, dem allein wir das Glück gönnen und uns nur still wünschen, ihm bald folgen zu dürfen.

Am ersten Feiertag bescherte Ihre Frau. Sie wird Ihnen wohl gerade jetzt davon schreiben, auch wie hübsch Marie mit Joachim Ihre a-moll-Sonate, und Elise die Kinderszenen spielte, auch, wie sie mich hoch erfreute durch die sämtlichen Werke Jean Pauls; ich hoffte nicht, sie in vielen Jahren mein Eigen nennen zu können. Joachim bekam die Partituren Ihrer Symphonien, mit denen Ihre Frau mich schon früher beschenkt hat.36

[198] Den Abend vor Weihnacht kam ich hier wieder an, wie lang schien mir die Trennung von Ihrer Frau! Ich hatte mich so an ihren erhebenden Umgang gewöhnt, ich hatte den ganzen Sommer so herrlich in ihrer Nähe verlebt und sie so hoch bewundern und lieben lernen, daß mir alles kahl schien, daß ich mich nur sehnen konnte, sie wieder zu sehen. Wie Schönes brachte ich doch mit aus Hamburg! Von Herrn Avé die Partitur zu Glucks ›Alceste‹ (die italienische Ausgabe 1776). Ihren ersten teuren Brief an mich und manchen von Ihrer geliebten Frau. Für ein schönes Wort in Ihrem letzten Brief, für das liebevolle ›Du‹, muß ich Ihnen noch besonders auf das herzlichste danken; auch Ihre so sehr gütige Frau erfreut mich jetzt durch das schöne vertrauliche Wort; es ist mir der höchste Beweis Ihrer Zuneigung, ich will es immer mehr zu verdienen suchen.

Noch vieles hätte ich Ihnen zu schreiben, geliebtester Freund, doch würde es wohl nur Wiederholung dessen sein, was Ihre Frau Ihnen schreibt; deshalb schließe ich mit dem wärmsten Händedruck und Gruß.


Ihr

Johannes.«

Fußnoten

[199] 1 Wie Brahms selbst über dergleichen dachte, geht aus einem im Juli 1888 an Dessoff gerichteten Briefe hervor. Dessoff hatte ein, Brahms gewidmetes, Streichquartett komponiert und sich nachträglich an einer Stelle gestoßen, die ihm allzustark von Brahms' II. Symphonie beeinflußt schien. Er wollte die »Reminiszenz« ausmerzen, da schrieb ihm Brahms: »Ich bitte Dich, mache keine Dummheiten. Eines der dümmsten Kapitel der dummen Leute ist das von den Reminiszenzen. Die betreffende kleine Stelle bei mir ist, so vortrefflich auch alles Übrige sein mag, wirklich ganz und gar nichts. Bei Dir aber ist gerade die Stelle von einer allerliebst warmen, schönen und natürlichen Empfindung. Verdirb nicht, rühr nicht daran, Du kannst gar nicht oft so schön sprechen – doch, du fängst ja erst an zu plaudern! Eigentlich hätte ich nichts sagen und hernach mir das herrenlose Gut nehmen sollen. Keine Note darfst Du daran ändern. Schließlich weißt Du natürlich, daß ich bei der Gelegenheit auch und viel schlimmer gestohlen habe. Die Volkmannsche Reminiszenz ist gar nicht der Rede wert. Die Floskel war lange vor Volkmanns Geburt da, das hat aber nicht im geringsten gehindert, daß er eben wieder ein sehr hübsches Stück daraus gemacht hat.«


2 Brahms spielte es in Wien am 22. Februar 1890 mit Rosé und Hummer, nachdem er es kurz vorher mit Hubay und Popper in Budapest hatte hören lassen. Die erste öffentliche Aufführung des Trios in Deutschland fand am 18. Dezember 1855 in einer Kammermusiksoiree der Herren Mächtig und Seyfriz in Breslau statt; dann spielte es Robert Radecke in Berlin (Februar 1856). Joachim wollte das Trio mit Brahms im März 1856 in seiner ersten Kammermusiksoiree zu Hannover aufführen. Brahms aber war nicht dazu, zu bewegen. – Das H-dur-Trio war auch das erste Brahmssche Werk, das über den Ozean in die neue Welt drang. Nach einer Mitteilung Philipp Halés ist es am 26. Dezember 1855 von William Mason in Boston öffentlich gespielt worden, nach Florence May von demselben und den Herren Theodor Thomas und Karl Bergmann schon vorher am 27. November in New York.


3 Hermann Kretzschmar: »Johannes Brahms«. Grenzboten 1884.


4 Das thematische Verzeichnis gibt fälschlich die Jahreszahl 1859 an.


5 Das Programm ist faksimiliert in den von Marie v. Bülow herausgegebenen Briefen ihres Gatten (II, p. 185).


6 Siehe ebenda p. 167.


7 Hier hat Brahms sein Gedächtnis ebenso getäuscht wie seine Phantasie; die C-dur-Sonate lag schon gedruckt vor, als Bülow mit Brahms in Hannover zusammentraf.


8 Vgl. Georg Fischer: »Opern und Konzerte im Hoftheater zu Hannover.«


9 Die Aufführung zerschlug sich im letzten Augenblick. (Vgl. Berthold Litzmann: »Clara Schumann, ein Künstlerleben« II 290.)


10 Als Joachim im Herbst vorher die Phantasie bei Schumann prima vista probierte und den Geist des Werkes sofort wundervoll zum Ausdrucke brachte, neigte sich Schumann zu der neben ihm sitzenden Louisse Japha und flüsterte ihr ins Ohr, indem er auf Joachim zeigte: »Man kann ihn gar nicht lieb genug haben.«


11 A. Moser a.a.O.


12 Nach dem Bericht eines Augenzeugen dem Verfasser von F. Gustav Jansen mitgeteilt.


13 Nach einer direkten Mitteilung Levis. Brahms meinte hier »für die Öffentlichkeit komponieren«. Denn außer dem ersten Satz seiner c-moll-Symphonie, den er Levi zeigte, hatte er schon mehrere, nicht publizierte, symphonische Werke komponiert, ehe er (1876) mit seiner ersten Symphonie hervortrat.


14 Nach einer persönlichen Mitteilung Joachims.


15 Zuerst veröffentlicht im »Neuen Wiener Tagblatt« vom 8. Mai 1897.


16 Siehe das vorige Kapitel.


17 Der berühmte Archäologe und Mozart-Biograph, seiner politischen Gesinnung wegen in Leipzig gemaßregelt.


18 Zur Feier desselben 7. Mai hatte J.O. Grimm eine »Zukunfts-Brahmanen-Polka« aus den musikalischen Buchstaben des Namens Brahms: BAHEs komponiert und dem Freunde mit einem Geburtstagskuchen übersendet, dazu die Mahnung; »Erwache aus Deinen ledernen Träumereien und koste diesen Kuchen!«


19 Dieser talentvollste unter den Söhnen Robert Schumanns, der vom Vater reiche poetische Anlagen erbte, starb schon im Alter von 25 Jahren. Er ist der Dichter des viel gesungenen Brahmsschen Liedes »Meine Liebe ist grün«. Brahms hat noch zwei seiner Gedichte komponiert: op. 63 Nr. 6 und op. 86 Nr. 5.


20 Frau Wieck war in zweiter Ehe mit dem Musiklehrer Adolf Bargiel, dem Vater des Komponisten Woldemar Bargiel, verheiratet.


21 Mendelssohn-Bartholdy.


22 Der Baß ist konform mit dem den »Impromptus über ein Thema von Klara Wieck« von Schumann inop. 5 zugrunde gelegten.


23 Im Besitze des Verfassers befindet sich ein ihm von Brahms geschenkter Band seiner Pianofortewerke, der viele Korrekturen und Anmerkungen von seiner Hand enthält. Bei Nr. 10 der in Rede stehenden Variationen hat er ein Fragezeichen mit einem gewaltigen Notabene an den Rand gesetzt.


24 Siehe oben!


25 Im thematischen Verzeichnis der Schumannschen Werke wird das Arrangement Frau Schumann zugeschrieben.


26 Die gesperrt gedruckten Worte sind von Brahms unterstrichen.


27 »›Des jungen Kreislers Schatzkästlein‹, Aussprüche von Dichtern, Philosophen und Künstlern, zusammengetragen von Johannes Brahms« ist 1909 vollständig, herausgegeben von Carl Krebs, im Verlag der Deutschen Brahmsgesellschaft erschienen.


28 Brahms an Joachim.


29 Jenes, später von Brahms neu variierte Thema, von welchem Schumann sich einbildete, Mendelssohn und Schubert hätten es ihm gebracht.


30 Zuerst in der »Neuen freien Presse« vom 27. und 23. Oktober 1896, dann unter dem Titel »Robert Schumann in Endenich« in dem Buche »Am Ende des Jahrhunderts«, der »Modernen Oper« VIII. Teil.


31 Brahms unterrichtete sich in Düsseldorf im Orgelspiel.


32 »Johannes Brahms« von Herm. Deiters. Sammlung musikalischer Vorträge, 1880. I.


33 La Mara: »Franz Liszts Briefe an die Fürstin Carolyne Sayn-Wittgenstein« p 191.


34 »Neue Zeitschrift für Musik« LXI p. 245 ff.


35 Litzmann, a.a.O. p. 354.


36 Außerdem erhielt Brahms von Klara ein Autograph Chopins zum Geschenke: das Prélude Nr. 18 in As.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 1, 4. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1921, S. 149-200.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Flucht in die Finsternis

Flucht in die Finsternis

Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«

74 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon