[107] Als Robert Schumann 1850 seine selbstgeschaffene Dresdener Stellung aufgab, um den nach Köln berufenen Ferdinand Hiller im städtischen Musikdirektorat von Düsseldorf abzulösen, versprach er sich das Beste von dem Wechsel seiner Verhältnisse. Sein engeres Vaterland war ihm durch mancherlei widrige Erlebnisse, vor allem aber durch den Mißerfolg und die Zurücksetzung, die seine Oper »Genoveva« in den Hauptstädten Sachsens erfuhr, verleidet worden, und er hoffte von dem regen rheinischen Musikleben mit größerer künstlerischer Befriedigung zugleich Anregung und Lust zu neuem Schaffen zu gewinnen. Anfangs ließ sich auch alles so freundlich für ihn an, daß es schien, als sollten seine Hoffnungen erfüllt werden. An der Seite seiner geliebten Klara war ihm der ehrenvollste und schmeichelhafteste Empfang bereitet worden. In den Kreisen der Düsseldorfer Gesellschaft drängte man sich an das geniale Künstlerpaar heran, über welches so viele interessante, fast märchenhaft klingende Geschichten umherliefen, und zeichnete es auf jede Art aus.
Aber die gegenseitige Zufriedenheit war nicht von langer Dauer, und mit ihr schwand auch das gute Einvernehmen, das zwischen dem Dirigenten, den Mit gliedern seines Chors und Orchesters geherrscht hatte. Den Tagen frischer und kräftiger Anspannung, die Schumann eine Regeneration seines geschwächten Organismus verhießen, folgten nur zu bald Wochen tiefer geistiger und körperlicher Herabstimmung, und von allen Seiten fühlte er sich in seiner Tätigkeit gehemmt. Gewohnt, seiner freigebigen, ihm unerschöpflich dünkenden Phantasie das Äußerste zuzumuten, hatte er in dem verhältnismäßig kurzen Zeitraum von zehn Jahren eine Überfülle von Werken produziert, in dem ersten Jahre seiner glücklichen Ehe allein 138 ein- und mehrstimmige Lieder, Romanzen und Balladen! Die Oper »Genoveva«, das Oratorium »Paradies und Peri«, die Musik zu »Manfred«, das Requiem für »Mignon«, [107] die »Faustszenen«, vier große Orchester-, sieben Kammermusikwerke für mehrere Instrumente, das Klavierkonzert und andere Konzertstücke nebst einer ansehnlichen Zahl von Klavier- und Gesangskompositionen waren zwischen 1840 und 1850 entstanden – eine Unsumme von anstrengender Arbeit, die für ein ganzes Künstlerleben hingereicht hätte. Dazu führte Schumann noch bis 1844 die Redaktion der von ihm gegründeten »Neuen Zeitschrift für Musik« und überließ dieses, den ganzen Mann in Anspruch nehmende Geschäft, dem er die besten Kräfte seiner Jugend aufgeopfert hatte, seinem Mitarbeiter Oswald Lorenz, dem Strohmanne Franz Brendels, als er merkte, daß nicht nur seine Produktion, sondern auch seine Gesundheit darunter litt. Als hätte er viel Versäumtes auf einmal nachholen und die wenigen Mannesjahre, die ihm noch blieben, doppelt und dreifach ausnützen wollen, stürzte er sich auf das künstlerische Schaffen und vergaß bald wieder die Warnung, die ihm seine krankhaft überreizte Natur schon im Oktober 1844, nach Beendigung des »Faust«-Epiloges, erteilt hatte. Nicht wenig trug zu seiner Verstimmung, die in Düsseldorf eine chronische wurde und allmählich zur Weltfurcht und Menschenscheu anwuchs, der Umstand bei, daß in dem Maße, als seine Werke im In- und Auslande Verbreitung und verständnisvolles Entgegenkommen fanden, die Zahl seiner versteckten und offenen Widersacher und Neider sich vermehrte. Er hatte Ursache, manchem zu mißtrauen, dem er selbst ein allzu geneigtes Ohr geliehen hatte, und es wurmte ihn, daß er gerade von denen schnöden Undank einerntete, für die er Segen mit vollen Händen gesäet zu haben sich bewußt war.
Die Furcht, sich in seiner eigenen künstlerischen Existenz bedroht zu sehen, quälte ihn. Aber noch tiefer schmerzte ihn die Erkenntnis, daß die von ihm gepflegte und geförderte Kunst auf abschüssigem Wege dem sicheren Untergange zueilte, und daß er das drohende Verderben nicht aufhalten konnte. Sein weiches, verwundetes Gemüt besaß die Spannfähigkeit nicht mehr, um mit überlegenem Humor den Dingen ruhig ihren Lauf zu lassen, und anstatt ironisch darüber zu lächeln, daß Unkundige ihn selbst jenen wüsten Neuerern beizählten, die sich an den Götterbildern seiner Ideale vergriffen, erbitterte es ihn, wenn man die Rüstkammer [108] seiner kampfesfrohen Jugend durchstöberte, um ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Die schneidige Wehr, vor welcher einmal alles zitterte, was im Reiche der Tonkunst unrein, verlogen, niedrig und schlecht war, sein kritisches Richtschwert, hatte er aus der Hand gegeben, im guten Glauben, daß der Arm, der es nach ihm führte, die gerechte Sache stützen und verteidigen werde.
Nur ein halbes Jahr, vom Juli bis Dezember 1844, hatte Lorenz die Redaktion geführt; vom 1. Januar 1845 an war die Zeitschrift unter Brendels Namen erschienen, und gleich die Neujahrsnummer hatte ein geharnischtes »Programm« in Form eines musikhistorischen Resumés gebracht, in welchem Schumanns Verdienste als Musiker und Musikschriftsteller mit keiner Silbe erwähnt wurden1. Indessen sollte sich erst nach der Revolution von 1848 Brendels ehrgeizige Agitatorennatur völlig entfalten. Das rein Künstlerische wurde ihm immer gleichgültiger; was nicht auf die Massen wirkte oder doch zur Erregung der Massen sich verwenden ließ, existierte nicht für ihn oder wurde bekämpft. Brendel konnte dem ehemaligen Freunde, obwohl er ihn noch eine Zeitlang mit einer Art von schuldiger Rücksicht behandelte, endlich doch die schrecklichste Enttäuschung seines Lebens nicht ersparen. Erst zwischen den Zeilen, dann unverblümt und deutlich gab ihm die »Zeitschrift« zu verstehen, daß Brendel und seine Gesinnungsgenossen die Schumannsche Musik für antiquiert und deren Grundlagen für hinfällig hielten. Schumanns Richtung vom Willkürlich-Persönlichen zur Abgeklärtheit eines objektiv erfaßten und dargestellten musikalischen Schönheitsideals paßte ihnen nicht in ihren Kram. Sie hatten von dem burschikosen »Davidsbündler«, der in seiner Jugend die Philister zu Paaren trieb, anderes erwartet, als der zum klassischen Meister herangereifte Mann ihnen gewähren konnte. Seine formenschöne, still in sich beruhende Kunst, die alles Impetuose und Aggressive von sich abgetan hatte und weder mit den philosophischen und sozialen Tendenzen der Zeit[109] oder »Jetztzeit«, wie Brendel als Gegenwartsmensch gern sagt, noch mit anderen Künsten und Wissenschaften liebäugelte, war ihnen langweilig, die überragende Autorität des Künstlers, der nach Mendelssohns Tode als der erste deutsche Musiker anerkannt und verehrt wurde, unbequem und lästig geworden. »Ote-toi que je m'y mette,« das Losungswort aller Streber, entsprach durchaus dem Sinne einer Partei, die, im Gegensatz zu Schumann und dessen künstlerischen Vorgängern, am Untergraben der Autoritäten arbeitete und nur die Größen gelten ließ, die sie selbst lärmend auf den Schild erhob.
Es wurde Schumann nicht vergessen, daß er einmal, als Liszt in Gegenwart Richard Wagners in geringschätzigem Tone von Mendelssohn sprach, diesen zurechtgewiesen hatte mit den von Entrüstung bebenden Worten: »Wie können Sie sich erlauben, von einem Künstler wie Mendelssohn, der so hoch über Ihnen steht, in so abfälliger Weise zu reden?« Und Wagner verzieh es Schumann nicht, daß dieser ihm die Partitur des »Fliegenden Holländers« mit dem Bemerken zurückschickte, die Oper wäre ihm zu meyerbeerisch. In Wagners aufrührerischen Schriften und Bühnenwerken hatten die »Neudeutschen«, mit Brendel und Liszt an der Spitze, den wahren Mann des Tages erkannt, und es war eine empfindliche Kränkung für Schumann, daß seine arme »Genoveva«, die sich aus der lyrischen Dachstube auf die Bühne verirrte und neben den blendenden Theatererscheinungen der Wagnerschen Oper allerdings eine blasse, schüchterne Figur machte, seit ihrem Leipziger Fiasko so gut wie in Vergessenheit geraten war.
Diese und ähnliche üble Erfahrungen hätte Schumann, so sehr sie ihn schmerzten, vielleicht verwunden, wenn ihm nicht zuletzt die Freude an seinem Düsseldorfer Amt vergällt worden wäre. Seines nervösen Leidens wegen, das seit 1852 immer weiter um sich griff, konnte er seine Berufsgeschäfte bald nicht mehr pünktlich erfüllen; er mußte sich vertreten lassen, und sein Substitut, Julius Tausch, der Chormeister der Düsseldorfer Künstler-Liedertafel, führte ein strammeres Regiment als der von unberechenbaren Zufällen abhängige, wortkarge, in sich gekehrte, leicht ermüdete Tondichter, der auch in seinen gesunden Jahren kein besonders glücklicher Dirigent gewesen war. Chor und Orchester, [110] die Hiller in gutem Zustande hinterlassen hatte, gingen unter Schumann eher zurück als vorwärts, und die Verdrossenheit der Mitwirkenden übertrug sich auf das Publikum. Man kann es dem »Verwaltungsausschuß des allgemeinen Musikvereines« als der vorgesetzten Behörde Schumanns nicht verübeln, daß er an eine Änderung der schwankenden Verhältnisse dachte. Die Art freilich, wie diese herbeigeführt wurde, mußte den verdienten Künstler tief verletzen, und der »rüde rheinische Ton«, über den Brahms später öfters Klage führt, wird nicht dazu beigetragen haben, den Erzürnten zu besänftigen2. Die Rolle, welche Tausch bei dem mißlichen Handel spielte, war gewiß nicht beneidenswert; er entging dem Odium nicht, Schumann verdrängt und dadurch, wenn auch wider Willen, den tragischen Ausgang seines Lebens beschleunigt zu haben.
Die Gerechtigkeit erfordert es, daß wir zur Ergänzung des Tatbestandes ein Zeugnis von Frau Klara Schumann herbeiziehen. Sie schrieb am 19. Januar 1859 an Eduard Hanslick:
»Mein Mann ging damit um, seine Stelle freiwillig niederzulegen, als ihn die traurige Krankheit ereilte, aber selbst nach dem stand man in Düsseldorf lange an, einen anderen Dirigenten anzustellen, weil man immer hoffte, er werde wieder genesen und dann fähig sein, wieder seine Funktionen zu versehen. Mir zahlte man sogar den Gehalt fort, gewissermaßen um mir zu zeigen, daß man sich seiner durchaus nicht zu entäußern denke. War es auch wahr, daß sein ganzes Wesen ein zu tief innerliches war, um ein ausgezeichneter Dirigent sein zu können, so würden Sie doch genauere Nachforschungen über seine Wirksamkeit als solche überzeugen müssen, daß man noch jetzt mit Enthusiasmus vieler Genüsse gedenkt, die seine Begeisterung dem Publikum in den ersten Jahren, wo er noch kräftig und nicht durch gemeinste Intrigen tief gekränkt, geschaffen. Solche Intrigen aber wurden schon früher gegen Mendelssohn verübt, können also für die Fähigkeiten des Dirigenten keineswegs maßgebend sein. Ich weiß nicht, ob Ihnen [111] diese Irrungen durch Wasielewski3 gekommen, denn ich las das Buch nie, weil ich der Überzeugung bin, daß ein Charakter wie Wasielewski, dem mein geliebter Mann in seiner unaussprechlichen Milde und Güte nur gar zu viel traute, nie auch nur eine Ahnung haben könne von solch herrlichem Gemüte, noch von seiner schöpferischen Kraft, die zu begreifen er viel zu geringe musikalische Begabung und zu wenig Kenntnisse hat, nicht zu gedenken des mangelnden Gefühls.«
So spricht die im Andenken an ihren Gatten gekränkte liebende Frau. Die Frage ist nur, ob nicht gerade Frau Klara Schumann über die berührten Verhältnisse am wenigsten genau unterrichtet war, und ob sie nicht von ihren und Schumanns Freunden mit geflissentlicher Schonung im Unklaren erhalten wurde. Ganz anders lautet ein Bericht der Pianistin Louise Japha4.
Die Schwestern Minna und Louise Japha waren von Hamburg nach Düsseldorf gezogen, Minna, um die Malerei zu erlernen, Louise, die schon in ihrer Vaterstadt als Klavierspielerin und Komponistin mit Erfolg aufgetreten war, um bei Robert und Klara Schumann ihre musikalischen Studien zu vollenden. Charakteristisch für Schumanns damaligen Zustand ist, daß seine Frau ihre Schülerin, obwohl sie Fräulein Japha nach Düsseldorf eingeladen hatte und sehr zufrieden mit ihren Fortschritten war, ihrem Gatten fern zu halten suchte. Sie erklärte ihr, er könne keine Störung bei seiner Arbeit vertragen und gebe überhaupt keinen Unterricht. Die Enttäuschte klagt einem Freunde, daß sie in einem Vierteljahre Schumann kaum sechsmal zu Gesicht bekommen und dann immer nur ein paar unwichtige Worte mit ihm gewechselt habe, daß sie ihre Kompositionen Frau Schumann geben müsse, die diese ihrem Gatten überreichte, daß der Meister dann seiner Frau sagte, was er davon halte, und daß sie seine Kritik erst von ihr erfahre. Auch stimmten Robert und Klara in ihren Ansichten nicht immer überein, und während sie ihre Schülerin davor warnte, Lieder zu komponieren, weil dies Dilettantenarbeit sei, hielt er es gerade für besonders wünschenswert. Einmal [112] spielte Fräulein Japha Frau Schumann und einigen anderen eine neue Komposition von sich vor. Als sie geendet hatte, trat Schumann ins Zimmer. »Schade, lieber Robert,« sagte Frau Klara, »daß du nicht hier warst, Fräulein Japha hat uns eben etwas Neues vorgespielt.« Er erwiderte freundlich nickend: »Ich habe vor der Tür gestanden und zugehört.« – Die Sorge Klaras um ihren Robert ging so weit, daß sie ihn nachmittags immer bis an die Tür des Kaffeehauses geleitete, wo er mit Freunden gemütlich zu plaudern pflegte, und womöglich auch wieder von dort abholte. Im Reden wurde Schumann immer schwerfälliger, und Frau Klara erzählte schon im September 1853, daß er oft, wenn sie ihn in seinem Arbeitszimmer zum Ausgehen rief, zuerst nicht sprechen könne, weil er eine Art Lähmung der Zunge fühle. Auch sein Gedächtnis hatte gelitten. Als ihm am Vorabende seines dreiundvierzigsten Geburtstages Schüler und Verehrer mit einigen seiner Quartette ein Ständchen brachten, und dabei »Zierlich ist des Vogels Tritt« gesungen wurde, sagte er freundlich zu einem der Sänger: »Sehr hübsch, sehr hübsch, lieber D., von wem ist das?« Louise Japha, die auch unter Schumanns Leitung im Chor mitsang und somit Gelegenheit hatte, die Stimmung der Düsseldorfer musikalischen Kreise an der Quelle kennen zu lernen, muß leider, wie sie schreibt, bestätigen, daß Schumann eine große Partei gegen sich hatte, die auf seine baldige Entfernung rechnete. Der Vorstand des Gesangvereines habe ihm vor kurzem (Dezember 1852) sogar geschrieben, er solle abtreten, da er nicht dirigieren könne. Allerdings seien diese und andere Beleidigungen wieder zurückgenommen und Abbitte getan worden, aber solche Vorfälle bewiesen zur Genüge, wie es in Düsseldorf mit ihm stehe. Chor und Orchester benähmen sich in den Proben immer störrischer gegen ihn. Die Leute gingen von der Ansicht aus, Schumann habe nicht Energie genug, um sich Respekt zu verschaffen, und anstatt doppelt aufmerksam zu sein, machten sie's umgekehrt und sängen und spielten nach eigenem Behagen und Gutdünken. Bei der Probe zu Joachims Hamlet-Ouverture herrschte eine Verwirrung im Orchester, die sich absolut nicht klären wollte, bis endlich der Komponist herantrat und selber den Taktstock ergriff, worauf dann plötzlich alles in bester Ordnung [113] vor sich ging. Nun verlangte das Orchester dringend, Joachim möge auch bei der Aufführung dirigieren, was aber Joachim natürlich nicht tat. Schumanns Genie blieb den Mitwirkenden, ja sogar dem Düsseldorfer Publikum ziemlich fremd, und man wollte es nicht recht begreifen, wie jemand seinetwegen nach Düsseldorf kommen könne.
Schumann, der, wie aus seinen Briefen an Karl Debrois van Bruyck hervorgeht, mit dem Gedanken spielte, sein Domizil nach Wien zu verlegen, war noch im Amte, als Johannes Brahms Ende September 1853 bei ihm vorsprach. Sein Antrittsbesuch hat sich, wohl im Schumannschen Hause oder in dessen Umgebung zu einer der Wahrheit nicht ganz entsprechenden Legende umgebildet.5 Dr. A. Schubring, der unter der Chiffre DAS und dem Titel »Schumanniana« eine Folge interessanter Aufsätze in musikalischen Zeitschriften veröffentlichte, tischt sie den Lesern auf in der Form, wie er sie von irgend einem Zwischenträger empfangen haben mag.6 Danach wäre Brahms auf seiner Wanderung von »Göttingen nach Düsseldorf« mit einem »Empfehlungsbriefe« Joachims zu Schumann gekommen, »in etwas abgerissener Kleidung und desolatem Schuhwerk,« so daß dieser mit einem verlegenen Blick auf Brahms' Stiefel stockend gesagt habe: »Junger Mann – wenn Sie etwa – zufällig – nicht recht – es kann das ja wohl einmal so vorkommen – nicht recht – bei Kasse sind, so disponieren Sie nur über mich.« Brahms würde es niemals gewagt haben, als Vagabund vor Schumann aufzuziehen. Nach der längeren Gastfreundschaft, die [114] er in dem vornehmen Hause des Geheimrats Deichmann genoß, war er direkt von Mehlem nach Düsseldorf gefahren. Den wandernden Handwerksburschen hatte er bei Deichmanns mit einem salonfähigen jungen Mann vertauscht. Größeren Glauben verdient die von Schubring geschilderte Szene am Klavier: Schumann ließ, hingerissen von der Genialität des Brahmsschen Vortrags, den Ankömmling nicht zu Ende spielen, sondern unterbrach ihn mit den Worten: »Das muß Klara hören,« lief hinaus, holte seine Frau herbei und sagte: »Hier, liebe Klara, sollst du Musik hören, wie du sie noch nicht gehört hast; jetzt fangen Sie das Stück noch einmal an, junger Mann!« Johannes mußte bei Schumanns zu Tische bleiben, und schon in der ersten Stunde fühlte er sich unsäglich wohl im Frieden des musterhaft geführten, allen unlauteren Elementen verschlossenen, einfachen Bürgerhauses, dem der schweigsame Meister als Oberhaupt der Familie mit patriarchalischer Würde vorstand. Voll ehrfürchtiger Bewunderung blickte der unverdorbene Jüngling zu ihm auf, und die anmutige Frau, welche die hohe Künstlerin so harmonisch mit dem vorsorglichen Hausmütterchen in sich zu vereinigen wußte, gewann sein ganzes Herz. Hier, im freundschaftlichen Verkehr mit diesen vornehmen Menschen, ging dem schlichten Sohne des Volkes der Begriff des deutschen Familienlebens auf, hier erwachte in ihm die ewig ungestillte Sehnsucht nach einem eigenen Herde, nach Weib und Kind, die er als den köstlichsten Besitz des Mannes pries; hier lernte er empfinden und erkennen, »wozu der Mensch auf der Welt sei.«7
Nahm das, was Brahms im Schumannschen Hause erlebte, sein Gemüt gefangen, so war der Eindruck, den er auf Robert und Klara machte, noch größer. Der frische Jüngling, der fast noch ein Knabe schien, mit seinem Blondhaar, seiner hellen Stimme und seinen großen, blauen Augen kam Schumann vor wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt, herabgesandt, um den in sich Zurückgedrängten, Hoffnungslosen und Verzweifelten wieder aufzurichten und zu trösten. In Brahms fand Schumann das Ideal seiner Jugend wieder, die so herrlich, so verheißungsvoll gewesen war; er betrachtete ihn wie die Erfüllung eines [115] schönen, halbvergessenen Morgentraumes. Der Eifer, mit welchem Schumann bestrebt war, dem schüchternen, ungeschickten Jungen den Eintritt in die Welt zu erleichtern, hat etwas von der Liebe eines Vaters, der für seinen Sohn all das erhofft, was er selbst nicht erreichen konnte. Brahms wollte sich nur einen Tag in Düsseldorf aufhalten, auf Schumanns Bitten aber mußte er versprechen, so lange zu bleiben, bis Joachim eintreffen und ihn nach Hannover abholen würde. Schumanns Lob hat ihn, wie er dem Freunde schreibt, so froh und kräftig gemacht, daß er die Zeit mit Ungeduld herbeisehnt, wo er endlich wieder zu ruhiger Arbeit, zu unbehindertem Schaffen werde kommen können. Von Sammlung war in dem bunten Düsseldorfer Leben, in das er sich wider seinen Willen, wenn auch mit Vergnügen, verstrickt sah, nicht viel die Rede. Gleich für den 2. Oktober bat Schumann eine Gesellschaft in sein Haus zusammen, an welcher viele Notabilitäten der Kunst teilnahmen, Maler und Musiker, darunter der Konzertmeister des Düsseldorfer Orchesters Ruppert Becker8, und Louise Japha, welche wiederzusehen Brahms sich herzlich freute. Albert Dietrich, ein junger Musiker, der zu Schumanns näherem Umgange gehörte, schloß sich eng an Brahms an und verbrachte mit ihm manche fröhliche Stunde. Schumann kündigte ihm den neuen Kameraden in einer Versammlung des Singvereins an. Mit geheimnisvoller Miene kam er vor dem Beginn der Übung auf ihn zu und sprach glückselig lächelnd: »Es ist jemand gekommen, von dem werden wir alle Wunderdinge erleben.« Zwischen Dietrich, dem wir die wertvollen »Erinnerungen an Johannes Brahms« verdanken, und Brahms entspann sich ein intimes Freundschaftsverhältnis, das bis in das höhere Alter der Freunde und über den Tod des Jüngeren hinaus währte.
Unter so vielen lustigen Gesellen legte Brahms seine anfängliche Schüchternheit ab und wurde bald einer der ausgelassensten, [116] der auf Spaziergängen und Ausflügen die Damen mit seinen Eulenspiegeleien neckte. »Seine Natur war kerngesund, selbst die ernsteste Geistesarbeit strengte ihn kaum an. Er konnte aber auch zu jeder Stunde des Tages fest einschlafen, wenn er es wollte. Im Verkehr mit seinesgleichen war er munter, bisweilen auch übermütig, derb und voll toller Einfälle. Wenn er zu mir die Treppe herauskam, so geschah es in jugendlichem Ungestüm, mit beiden Fäusten pochte er an die Tür und ohne Antwort abzuwarten, stürmte er herein.« (Dietrich.) Eine Gesellschaft zog die andere nach sich. In den Familien der Maler Sohn, Lessing, Gude und Schirmer und bei Eulers, die zu den rheinischen Musikfesten in Beziehung standen, war Brahms ein häufiger und gern gesehener Gast, der sich nicht bitten ließ, die Wirkung seiner vielbewunderten Kunst immer wieder zu erproben.
Die Malerei, zumal die Landschaftsmalerei, steht der Musik mindestens ebenso nahe wie die Poesie, und es ist kein Zufall, daß die Kunst der Farben ihre Terminologie zum Teil von der der Töne geliehen hat. Beide schöpfen aus dem rätselhaften Urgrunde des unter der Schwelle des Bewußtseins fließenden unmittelbaren Naturgefühls, und beide weben den duftigen Schleier der Stimmung um die »gemeine Deutlichkeit der Dinge«. Schon in Hamburg fühlte sich Brahms zu der verwandten Kunst hingezogen, und er hatte sich von Minna Japha die besondere Erlaubnis ausgebeten, sie in ihrem Atelier öfters besuchen zu dürfen. Da wurde er nicht müde, jedes neue Porträt zu bewundern, und meinte einmal, solch ein Bild sei einer Sonate zu vergleichen und koste ebensoviele Mühe: »Und wie viele Sonaten schreibt man denn sein Leben lang!?« Was Brahms den Genossen seiner und der verwandten Kunst zu geben hatte, empfing er von den Freunden reichlich wieder zurück. In Düsseldorf aber bahnte sich jenes innige Verhältnis zur bildenden Kunst an, das für Brahms in der Folge zum Beförderungsmittel seines Schaffens, ja endlich, nachdem er in Italien gewesen war, zu einer Bedingung seines geistigen Lebens werden sollte. In den Ateliers der Maler trat ihm die schwärmerisch geliebte Natur in neuer, idealisierter Gestalt entgegen; er lernte die Objekte mit anderen Augen betrachten und messen, ihre Beziehungen untereinander harmonisch begründen und [117] als höhere Relationen zu dem anschauenden Subjekte des eigenen Ichs erkennen. Julius Allgeyer, der spätere Biograph Anselm Feuerbachs, der sich in Düsseldorf zum Zeichner und Radierer ausbildete, kreuzte zum erstenmale seinen Weg und weihte den Musiker noch tiefer in die Geheimnisse der Farben und Linien, Lichter und Schatten ein.
Bei Schumann machte Brahms auch die Bekanntschaft des Malers Laurens. Sie wurde dadurch von besonderer Wichtigkeit, daß wir ihr das einzige, von Künstlerhand ausgeführte Jugendbildnis des Meisters verdanken. Laurens, aus Montpellier gebürtig, ein großer Liebhaber deutscher Musik, hatte Mendelssohn in Frankfurt Malunterricht erteilt und war 1852 zu Schumann nach Düsseldorf gekommen, um sich von ihm über musikalische Fragen aufklären zu lassen. Auf Betreiben Schumanns, der ein Porträt seines Johannes besitzen wollte, hielt Laurens dessen Züge mit dem Silberstift fest9. Das sein gezeichnete Blatt mit der (falsch datierten) Inschrift »dessiné à la demande de R. Schumann à Düsseldorf 1852« zeigt das mädchenhaft zarte Profil eines ungewöhnlich schönen Menschen. Der Kopf ist ein wenig vorgeneigt, als lausche er auf eine Melodie oder sinne über eine solche nach; der volle Mund halb geschlossen, das tiefliegende Auge träumerisch ins Weite gerichtet. Die langen, aus der herrlich gewölbten, mächtigen Stirn zurückgestrichenen Haare fallen in regellosen dichten Strähnen auf den breit übergeschlagenen Kragen des Tuchrockes hinab. Das eigensinnige Haarbüschel, das Brahms immer über die Abteilung des Scheitels zur unrechten Seite hinüberlief, fehlt nicht. Sonst würde man ihn etwa nur an der dicken Unterlippe erkennen, die sich so gern spöttisch verzog. Stirn und Mund sind in ihrer Bildung den Jahren des Jünglings weit vorausgeeilt; sie verraten, daß das Porträt keinen Knaben, auf welchen die weichen Formen hindeuten, sondern eher einen Mann vorstellt. So sieht ein hoher und reiner Mensch aus, dem alle [118] Herzen zufliegen müssen, und die Kindlichkeit des Gesichtsausdrucks, die auch dem Manne bis in seine letzten Tage erhalten blieb, kennzeichnet den guten Jungen, den ehrlichen und wahrhaftigen Charakter.
Während seines ersten Aufenthaltes in Düsseldorf war Brahms tagtäglich im Schumannschen Hause. Er musizierte und studierte mit Klara, begleitete den Meister auf seinen Spaziergängen, lernte Schach von ihm spielen, ohne in dieser Beziehung ein sonderlich befähigter Schüler zu sein, und bespaßte sich mit den Kindern, die ihn bald herzlich lieb gewannen. Auch in die Magie des Tischrückens mußte er sich von Schumann, der diese sehr natürlichen Wunder für Offenbarungen höherer Mächte hielt, einweihen lassen. Eines Vormittags kam Brahms zu seiner Freundin Japha und berichtete, daß Schumann, der wieder eine Séance bei sich veranstalten wollte, »sein Tischchen gefragt habe, wen er wohl dazu einladen solle. Als auch ihr (Louisens) Name genannt wurde, habe der Tisch energisch protestiert. Brahms schien die Sache ernst zu nehmen und war unwillig, als ihm Fräulein Japha lachend entgegnete: ›Na, da ist der Tisch der Vernünftigste von euch allen gewesen!‹« Sonst waren Furcht und Aberglaube seine schwache Seite nicht. Minna, die Malerin, erkrankte ziemlich schwer an den Masern, die so heftig und bösartig in Düsseldorf auftraten, daß alle Welt sich vor Ansteckung fürchtete, und die Schwestern ziemlich isoliert waren. Brahms verdoppelte gerade während dieser kritischen Zeit seine Aufmerksamkeiten, brachte seinen geliebten, von Schumann entliehenen E.T.A. Hoffmann mit, für den er schon in Hamburg passioniert eingenommen war, die »Prinzessin Brambilla« hatte ihn zu einem Streichquartett begeistert), und las daraus vor. Einen zaghaften Freund, der, als Minna das Schwerste schon überstanden hatte, von Brahms mitgeschleppt, auf der Schwelle stehen blieb und in sichtlicher Angst die Hände auf dem Rücken hielt, suchte er dadurch zu ermutigen, daß er, nachdem er der Genesenden beide Hände geschüttelt hatte, seine Hände ergriff und die eigenen an ihnen abrieb. Für eine lyrische Anthologie, die ihm die Schwestern als Andenken verehrten, bedankte er sich dadurch, daß er ihnen beiden seine Gesänge op. 6 widmete.
[119] Obwohl Brahms so vielseitig in Anspruch genommen wurde, war er doch nicht untätig. Das Repertoire seiner Kompositionen erfuhr eine kostbare Bereicherung durch die f-moll-Sonate (op. 5), die er während des Düsseldorfer Aufenthaltes im Kopfe fertig machte. Allegro, Scherzo und Finale (Satz 1, 3 und 5) wurden im Oktober 1853 komponiert; das Andante und das mit ihm korrespondierende »Rückblick« überschriebene Intermezzo (Satz 2 und 4) waren früher entstanden, vielleicht unterwegs auf seiner Rheinreise oder noch in Hamburg10. Die Wahrscheinlichkeit spricht für die erste Vermutung. Da Brahms später gestattete, daß das Andante abgesondert erschien, wie es denn auch mit dem Scherzo zusammen von Klara Schumann (zuerst am 23. Oktober 1854 in Leipzig) und von ihm selbst (1867 in Pest, 1868 in Kopenhagen), getrennt von den übrigen Sätzen, öffentlich gespielt wurde, so wäre es zu verwundern, wenn er das poesievolle, ganz für sich bestehende Andante nicht schon bei Joachim und Liszt oder in Mehlem hätte hören lassen. Keine der vorhandenen Überlieferungen meldet davon. Er hat es zuerst im Dezember in Leipzig im Privatkreise (bei Ferdinand David) gespielt. Auffallend aber ist, daß Brahms das Sternausche Gedicht, dessen erste Zeilen als Motto über dem Andante stehen, vollständig in sein Hamburger Liederheft eingezeichnet hat; es folgt dort unmittelbar auf »Heimat«. Er wollte es also als Lied komponieren.
Bei Sternau geht das Gedicht weiter:
»Es weht und rauschet durch die Luft,
Als brächten die Rosen all ihren Duft,
Als kämen die Englein gegangen.
Ich küsse dich zum ersten Mal,
Ich küsse Dich viel tausend Mal.
Ich küsse dich immer wieder;
Auf Deine Wangen lange Zeit
Rollt manche Träne der Seligkeit
Wie eine Perle nieder.
[120] Die Stunde verrauscht, der Morgen scheint,
Wir sind noch immer in Liebe vereint
Und halten uns selig umfangen.
Es weht und rauschet durch die Luft,
Als brächten die Rosen all ihren Duft,
Als kämen die Englein gegangen.«
Unmittelbar darauf hat Brahms noch folgendes Lied desselben Dichters aufgezeichnet:
»O wüßtest du, wie bald, wie bald
Die Bäume welk und kahl der Wald,
Du wärst so kalt und lieblos nicht
Und sähst mir freundlich ins Gesicht!
Ein Jahr ist kurz und kurz die Zeit,
Wo Liebeslust und Glück gedeiht,
Wie bald kommt dann der trübe Tag,
An dem verstummt des Herzens Schlag.
O schau mich nicht so lieblos an,
Kurz ist die Zeit und kurz der Wahn!
Der Liebe Seligkeit und Glück
Bringt keine Träne dir zurück!«11
Auch dieses Gedicht war also zur Komposition bestimmt. Der sprachliche Ausdruck oder die Form mochte ihm in beiden Gedichten dann nicht mehr genügen; ihr Inhalt aber regte seine Phantasie zur Komposition der beiden Sonatensätze an, die einander, durch dieselbe Melodie verbunden, so beziehungsvoll gegenüber [121] stehen. Wir glauben nicht fehl zu gehen, wenn wir das zweite Gedicht in geistigen Zusammenhang mit dem »Rückblick« des Intermezzos bringen. Im Rhythmus der Melodie klingen die Strophen Sternaus nach. Das trübe b-moll charakterisiert ihre die Vergänglichkeit der Liebe und des Lebens besingenden Verse.
So knüpfte sich von selbst ein musikalisch-novellistisches Band zwischen beiden Gedichten: die Seligkeit der in Liebe Vereinten, welche aus dem As-dur-Andante und noch mehr aus dessen verklärtemDes-dur-Teile hervortönt, wird zur Voraussetzung des düsteren Intermezzos, und mit Tränen blickt der Vereinsamte vom Grabe seines Glückes in die schöne Zeit zurück, wo er unter den Rosen des Frühlings die Geliebte umfangen hielt, vom dämmernden Abend bis zum anbrechenden Tage. Beide Lieder wuchsen in der Phantasie des Tondichters, welche die des Wortdichters hinter sich ließ, zu einer neuen Dichtung zusammen, und diese empfing ihre innere Wahrheit möglicherweise von einem äußeren Erlebnisse des Komponisten. Er hatte in Hamburg einen unschuldigen Herzensroman mit einer Theatersängerin gehabt, die er anschmachtete, wenn sie Mozarts Zerline, Susanne und ähnliche Soubrettenpartien sang. Daß Brahms sein mondscheintrunkenes Liebesduett mit dem Sternauschen Motto versah, war mehr eine dankbare Aufmerksamkeit gegen den Dichter als ein Avis au lecteur. Für die Art seiner damaligen Produktion aber sind diese Beziehungen aufhellend genug und zu interessant, um mit Stillschweigen übergangen zu werden. Die drei ersten Sonaten blieben seine einzigen Klaviersonaten, und ihre Adagios stehen unter dem Einflusse der Poesie. Sie gingen aus Liedern hervor, die nicht zu Worte kamen, weil dies absolut nicht im Wesen ihrer weit ausgreifenden, hochgespannten Melodien lag. Ihre instrumental gewordenen Tonweisen drücken das in jedem Sinne Unaussprechliche aus und fangen in ihren Formen eine Tiefe und Fülle der Empfindung, eine Nuancierung und einen Wechsel von seinen Unterstimmungen auf, die kein Dichter festzuhalten, kein Sänger wiederzugeben vermöchte. Somit liegen sie jenseits der Grenzen der Poesie, sind also keine Gedanken- und Begriffsmusik in der Art symphonischer Dichtungen, sondern reine, vom Denken unabhängige Gefühlsmusik, d.h. Musik schlechthin.
[122] Schumann war der erste, dem Brahms das unter seinen Augen vollendete Werk vorführte, und Klara sollte die erste sein, die es dem beglückten Komponisten nachspielte. Von neuem erstaunte der Meister über die organische Gestaltungskraft und die Ideenfülle des jungen Genies, wie sie besonders in den thematischen Gegenbewegungen des Scherzos und dem geistreichen kontrapunktischen Spiel des Finales zutage treten. Die f-moll-Sonate ist gesitteter und zahmer als ihre wild einherstürmenden, beiden Vorgängerinnen; die Liebe, die im Herzen ihres Adagios sitzt, verbreitet Milde und Weichheit nach allen Seiten und bricht den Widerstand des trotzigen Helden des es-moll-Scherzos, an den noch das Hauptmotiv des Allegro maestoso erinnert. In formeller Hinsicht bedeutet das Werk einen gewaltigen Fortschritt und Schumann fragte sich: wo will das hinaus? An Dr. Hermann Härtel, den älteren Chef des Verlagshauses von Breitkopf und Härtel, schreibt er, ihm den neuen Autor vorstellend, doch ohne dessen Namen zu nennen, unter dem 8. Oktober: »Es ist hier ein junger Mann erschienen, der uns mit seiner wunderbaren Musik auf das allertiefste ergriffen hat und (wie) ich überzeugt (bin), die größeste Bewegung in der musikalischen Welt hervorrufen wird. Ich werde Ihnen gelegentlich Näheres und Genaueres mitteilen«, und an Joachim waren zuerst nur die determinierten vielsagenden Worte abgegangen: »Das ist der, der kommen mußte.« Immer wieder wendet sich Schumann an Joachim und kann sich nicht genug tun in Ausdrücken der Freude und Bewunderung über den ihm zugeschickten Gast. Er braucht nur an ihn zu denken, um sein Herz verjüngt zu fühlen, nur seinen Namen zu nennen, um in überschwängliches Entzücken auszubrechen. Der junge Brahms wird zum Stichwort der Schumannschen Poesie. Bald ist er ihm ein Adler, der vom Hochgebirge zum Rhein niederflog, bald ein in Katarakten herabstürzender Strom, der den Regenbogen auf den Wellen trägt, von Schmetterlingen umgaukelt und von Nachtigallenstimmen begleitet. Brahms darf sich alles zutrauen, weil er alles kann. In drei Tagen sieht er Frau Klara die Geheimnisse ihrer unvergleichlichen Spielkunst ab; er ist imstande die Erde in wenigen Tagen zu umschiffen12. Am 13. Oktober [123] meldet er Joachim, er habe angefangen, seine Gedanken über den jungen Adler zu sammeln und aufzusetzen; er wünscht ihm bei seinem ersten Flug über die Welt zur Seite zu stehen und zeigt unter demselben Datum Dr. Härtel an, daß binnen kurzem ein mit seinem Namen unterzeichneter Aufsatz über den jungen Johannes Brahms in der »Neuen Zeitschrift für Musik« erscheinen werde. Den Tag darauf sendet er Joachim das Manuskript, um es dem »Spiel-und Kampfgenossen Brahms, der ihn noch genauer kennt«, vor dem Erscheinen mitzuteilen. Der vielberufene Aufsatz schmückte am 28. Oktober die erste Seite der Zeitschrift (Nr. 18 des neununddreißigsten Bandes), ist »Neue Bahnen« betitelt und mit R.S. unterzeichnet.
Ehe wir ihn im Wortlaut folgen lassen, wollen wir, an früher Gesagtes anknüpfend, die Stellung genauer zu bestimmen versuchen, die Schumann dem von ihm in die musikalische Welt Eingeführten gegenüber einnahm, und auch das psychologische Moment nicht übersehen, das dabei in Frage kommt. In der »wunderbaren«, der seinigen durchaus unähnlichen Musik des Zwanzigjährigen glaubte Schumann die gewaltigen Stimmen der Zeit zu hören. Mißlautend und verworren waren sie sonst in sein zerstörtes Innere hineingedrungen und hatten umsonst nach Beschwichtigung und melodischem Widerhall gerufen; hier aber erklangen sie ihm klar und voll und süß und wollten sich zur reinsten Harmonie verbinden. Wonach er bei der späten und unregelmäßigen Entwicklung seines musikalischen Bildungsganges lange hatte streben müssen, und was er erst durch unablässiges Studium errungen hatte, ohne es sich zu freiem Gebrauche jemals völlig aneignen zu können, das fand er dort gegeben in der Fülle und Kraft eines angeborenen reichen, wohlverwendeten schöpferischen Vermögens. Schumanns vom Kleinen zum Großen fortschreitende Kunst hatte mit musivischer Arbeit ihre tausende von ingeniösen, reizenden Einfällen sorgfältig aneinander gereiht, sie bewegte sich gern in engen Formen, die sie durch Vervielfachung erweiterte und vergrößerte, und war der Gefahr der Verkünstelung mit genauer Not entgangen. Sein Schifflein liebte den ruhigen Fluß sanfter Gefühle; nur bei Windstille wagte er sich ins offene Meer hinaus. Brahms segelt bei hoher See, ohne Furcht vor [124] Klippen-, Wogen- und Sturmesnot, und bringt seinen widerstandsfähigen stolzen Dreimaster sicher in den Hafen. Da ist kein buntgemischtes Vielerlei von Gedanken, er kommt oft mit einem einzigen aus, der an Fruchtbarkeit eine Menge von Einfällen beschämt, weil dieses edle Samenkorn immer noch mehr umfaßt, als der Künstler daraus zu entfalten für gut befindet. Seine Anschauung ist aufs Große und Ganze gerichtet; das Detail muß mit den einzelnen Teilen von selbst hinzutreten. Die charakteristischen Züge dieser wahrhaft großen Kunst, die sich auch in der kleinsten Form bewährt, leuchteten schon aus Brahms' Erstlingswerken, und gerade aus ihnen am deutlichsten hervor. Schumann las denn auch prophetischen Blicks die Flammenschrift des Genius, der zur rechten Zeit erschienen war, um die in der Auflösung begriffene deutsche Musik vor dem gänzlichen Verfall zu bewahren. Es wurde ihm sofort klar, daß er von Brahms keinen Zuwachs zu seiner »Schule« erwarten durfte. Brahms selbst sagte einmal in späteren Jahren übertreibend zu einem Freunde: »Von Schumann habe ich nichts gelernt als Schachspielen.« Schumann sah nicht den brauchbaren Propagandisten, den berufenen Apostel in ihm, sondern geradezu den erwarteten Messias. Mochte er in seligen Stunden schöpferischer Begeisterung manchmal davon geträumt haben, daß er selbst die Mission des Erlösers vollenden werde, so hatte er darauf doch längst verzichtet: ein Größerer stand vor ihm, kindlich bescheiden und der Lebensaufgabe nicht bewußt, die seiner wartete. Der großmütige warmherzige und neidlose Schumann wußte, was er zu tun hatte, und so ergriff er, zum letztenmale, die beiseite gelegte Feder des Schriftstellers, um den Genossen seiner Kunst und dem Publikum den Gesalbten des Herrn anzukündigen. Und er tut es in Worten, die wie gemeißelt und in Erz gegossen sind, als sollten sie für alle künftigen Zeiten ein monumentales Zeugnis abgeben für den Gottgesandten und seinen begeisterten Propheten.
Der Aufsatz lautet:
»Es sind Jahre verflossen – beinahe ebensoviele als ich der früheren Redaktion dieser Blätter widmete, nämlich zehn – daß ich mich auf diesem an Erinnerungen so reichen Terrain einmal hätte vernehmen lassen. Oft, trotz angestrengter produktiver [125] Tätigkeit, fühlte ich mich angeregt; manche neue, bedeutende Talente erschienen, eine neue Kraft der Musik schien sich anzukündigen, wie dies viele der hochaufstrebenden Künstler der jüngsten Zeit bezeugen, wenn auch deren Produktionen mehr einem engeren Kreise bekannt sind13. Ich dachte, die Bahnen dieser Auserwählten mit dem größten Interesse verfolgend, es würde und müsse nach solchem Vorgang einmal plötzlich einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion entspränge. Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend, aber von einem trefflichen und begeistert zutragenden Lehrer14 gebildet in den schwierigsten Satzungen der Kunst, mir kurz vorher von einem verehrten bekannten Meister15 empfohlen. Er trug, auch im Äußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen, das ist ein Berufener. Am Klavier sitzend, fing er an, wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Klavier ein Orchester von wehklagenden und laut jubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten, mehr verschleierte Sinfonien – Lieder, deren Poesie man, ohne die Worte zu kennen, verstehen würde, obwohl eine tiefe Gesangmelodie sich durch alle hindurchzieht – einzelne Klavierstücke, teilweise dämonischer Natur von der anmutigsten Form, – dann Sonaten für Violine und Klavier, – Quartette für Saiteninstrumente, – und jedes so abweichend vom andern, [126] daß sie jedes verschiedenen Quellen zu entströmen schienen. Und dann schien es, als vereinigte er, als Strom dahinbrausend, alle wie zu einem Wasserfall, über die hinunterstürzenden Wogen den friedlichen Regenbogen tragend und am Ufer von Schmetterlingen umspielt und von Nachtigallenstimmen begleitet.
Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbarere Blicke in die Geisterwelt bevor. Möchte ihn der höchste Genius dazu stärken, wozu die Voraussicht da ist, da ihm auch ein anderer Genius, der der Bescheidenheit, innewohnt. Seine Mitgenossen begrüßen ihn bei seinem ersten Gang durch die Welt, wo seiner vielleicht Wunden warten werden, aber auch Lorbeeren und Palmen; wir heißen ihn willkommen als starken Streiter.
Es waltet in jeder Zeit ein geheimes Bündnis verwandter Geister. Schließt, die ihr zusammengehört, den Kreis fester, daß die Wahrheit der Kunst immer klarer leuchte, überall Freude und Segen verbreitend.«
Dieser Artikel wirkte wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Man kann sich ungefähr vorstellen, mit welchen Gefühlen ihn Herr Brendel in die Druckerei schickte; Segenswünsche werden ihn gewiß nicht begleitet haben. Ablehnen durfte er ihn nicht, aus Rücksicht sowohl für Schumann wie für sein Blatt. Ein anderes Journal würde den mit einer aufklärenden Randbemerkung erschienenen Aufsatz sofort gebracht und den Redakteur der »Neuen Zeitschrift« in das ungünstigste Licht gestellt haben. Auch fehlte es an einem triftigen Verweigerungs- und Entschuldigungsgrunde, da der von Schumann ausgerufene Messias noch kein öffentliches Zeichen seiner Sendung gegeben hatte, sondern ein homo novus war, gegen den sich füglich nichts einwenden ließ. Es war also das Klügste, unparteiisch zu scheinen und die »Neuen Bahnen« einen guten Weg sein zu lassen; dafür, daß sie in eine Sackgasse führten, falls sie nicht etwa die Richtung der Neudeutschen einschlugen, sollte nach Kräften gesorgt werden. Natürlich stürzten sich alle Übelwollenden und Mißtrauischen, die in einem solchen Falle immer die Majorität bilden, auf das Manko des Artikels, bereit, an dem jüngsten »Protektionskinde der Schumannschen [127] Schule« bei Gelegenheit ihr Mütchen zu kühlen, es die vernichtende Schärfe ihres Superarbitriums fühlen zu lassen. Wo sind die Taten des gepriesenen Helden? fragten sie und zuckten die Achseln über Schumann, der sich schon öfter zu Gunsten einer vielversprechenden Mittelmäßigkeit geirrt habe. »Mozart-Brahms ou Schumann-Brahms,« schreibt Hans v. Bülow an Liszt, »ne trouble point la tranquillité de mon sommeil. J'attendrai ses manifestations. Il y a une quinzaine d'années que Schumann a parlé en des termes tout à fait analogues du ›génie‹ de W. Sterndale ›Benêt‹ (Bennett).«16 Aber auch Gutgesinnte erhoben sich gegen das Präjudizium des verehrten Mannes, und zwar aus denselben Gründen. Die von Schumann so hübsch und anschaulich (durch die Fußnote) dem Erwählten untergeordneten »hochaufstrebenden Künstler« wurden, sofern sie nicht, wie Joachim und Dietrich, persönlich mit Brahms verbunden waren, eher gegen als für ihn eingenommen, und andere, die Schumann überhaupt nicht genannt hatte, schalten laut über seine »Taktlosigkeit«. Was aber allen am meisten auffallen mußte, war der sonderbare Umstand, daß die Häupter der neudeutschen Partei von Schumann mit keiner Silbe erwähnt worden waren. Wagner, Liszt und Berlioz rangierten also nicht unter den »Auserwählten«, sie gehörten nicht einmal zu den »Hochaufstrebenden«, sie zählten überhaupt gar nicht mit. Schumann schloß sie aus dem Kreise verwandter Geister aus und sprach ihnen stillschweigend die »Wahrheit der Kunst« ab. Der feurige Wein seiner Begeisterung bekam dadurch einen bitteren, galligen Nachgeschmack, die offene Aussprache eine geheime, polemische Spitze. Schumann hätte sich bei ruhigerer Überlegung sagen müssen, daß er eine Ungerechtigkeit und, was noch schlimmer war, eine Unklugheit beging. Hätte er seinem Schutzbefohlenen den »Flug über die Welt« erschweren wollen, so hätte er kein passenderes Mittel dazu wählen können: der junge Adler wurde zur Vogelscheuche gemacht, und er wäre gefesselt auf seiner Stange sitzen geblieben, wenn er nicht die Bande zerrissen und sich aus eigener Kraft zur Sonne aufgeschwungen hätte. Ein Schwächerer als Brahms wäre der goldenen Last des treu gemeinten, [128] unvorsichtigen Freundeslobes erlegen, er aber ließ sich von ihr nicht zu Boden drücken, sondern hob sein Haupt mächtig empor, um der Welt zu beweisen, daß er den ihm vorausgeschickten Ruhm noch überflügeln werde. In höherem Sinne fühlte er sich dem Meister verpflichtet für dessen liebevolle Förderung, die sich von außen nach innen wandte, und betrachtete Schumanns Verheißung als eine von diesem kontrahierte Ehrenschuld, die er einzulösen haben würde.
Noch ehe der Aufsatz erschien, traf Joachim in Düsseldorf ein, um am 27. Oktober im ersten Abonnementskonzert unter Schumanns Direktion dessen Phantasie für Violine und Orchester, op. 131, Josef Joachim zugeeignet, aus dem Manuskript zu spielen. Es sollte das letzte Konzert sein, das Schumann in Düsseldorf dirigierte. Bei seiner Ankunft wurde Joachim auf das lieblichste überrascht. Von einem hübschen, wie eine Gärtnerin gekleideten Mädchen, das sich dann als Gisela von Arnim entpuppte, erhielt er einen Blumenkorb. Unter den Blumen aber lag das Manuskript einer Violinsonate in a-moll. Auf dem Umschlage stand von Schumanns Hand:
F.A.E.
In Erwartung der Ankunft des verehrten und geliebten Freundes Joseph Joachim schrieben diese Sonate:
Robert Schumann, Albert Dietrich und Johannes Brahms.
Die musikalischen Anfangsbuchstaben des Joachimschen Symbols (»Frei aber einsam«) und deren in der Zueignung angedeutete Umkehrung wurden in der Sonate, wie in Schumanns tanzenden Lettern (»Karneval«) als Noten thematisch durch alle vier Sätze benutzt, und Joachim mußte den Komponisten eines jeden Satzes erraten. Er spielte die Sonate mit Brahms und bezeichnete richtig das Allegro als von Dietrich, ein Intermezzo (F-dur) von Schumann, das Scherzo (c-moll) von Brahms und das Finale wieder von Schumann herrührend. Das in Joachims Besitz übergegangene Werk blieb ungedruckt.)17 Brahms aber hat sein Scherzo später überarbeitet und es als solches in das c-moll-Klavierquartett [129] op. 60 aufgenommen. Einem schlimmeren Schicksal fiel eine andere Violinsonate in a-moll anheim, jene Sonate, die Brahms in Hamburg komponiert hatte, bevor er mit Reményi in die Fremde zog. Ihr Manuskript ist angeblich bei Liszt in Verlust geraten; Brahms schrieb deshalb an Liszt, Liszt an Reményi und Klindworth – die Notenblätter aber waren nicht aufzutreiben. Da Dietrich die von Brahms geschriebene umfangreiche Violinstimme 1872 bei Wasielewski gesehen hat, so scheint Brahms auf falscher Fährte gesucht zu haben. Auch konnte es sich nur um diese Violinstimme handeln, da Brahms, der alles auswendig wußte, sein Tornister kaum mit der noch umfangreicheren Klavierpartie beschwert haben dürfte. Nur die Mühe der zweiten Abschrift wollte er sich ersparen, als er die Sonate Bartholf Senff zum Verlag anbot, dann aber wieder zurückzog. Joachim reiste am 30. Oktober nach Hannover ab. Brahms folgte am 3. November nach.18
In Hannover fand Brahms endlich die ersehnte Muße; er hielt unter seinen Kompositionen prüfende Musterung, und sie fiel desto strenger aus, je klarer ihm die Gefahr wurde, die aus Schumanns »Neuen Bahnen« für seine Zukunft heranzuwachsen drohte. Er las den Aufsatz erst bei Joachim, der den Freund, ihrer Verabredung gemäß, nach Hannover mitgenommen hatte. So hoch ihn die Auszeichnung des Meisters erfreute und rührte, so kleinlaut machte es ihn, wenn er daran dachte, wie er die ihm widerfahrene Ehre werde rechtfertigen können. Schumann betrieb seine Sache bei Breitkopf und Härtel so ernstlich und dringend, daß »ihm schwindlich wird«. Schon in Düsseldorf konnte er sich mit dem Meister über die Wahl und Reihenfolge der für die Veröffentlichung bestimmten Werke lange nicht einigen. Zuerst waren sechs Opera zur Herausgabe ausgewählt worden, wie Brahms am 17. Oktober an Joachim schreibt, und zwar: op. 1 Phantasie in d-moll für Pianoforte, Violine und Violoncell (Largos und Allegro), op. 2 Lieder, op. 3 Scherzo es-moll, op. 4 C-dur-Sonate, op. 5 a-moll-Sonate für Pianoforte und Geige, op. 6 Gesänge. Brahms zweifelt, ob das Trio, wahrscheinlich dasselbe, das er 1851 bei Schröders in Hamburg unter [130] dem Pseudonym Karl Würth vorgetragen hatte, wert sei, gedruckt zu werden. Erst op. 4 (die (C-dur-Sonate) sei ganz nach seinem Geschmack. Schumann dagegen meinte, man müsse mit den schwächeren Werken anfangen. Er (Brahms) gibt ihm recht, fügt aber hinzu: »Entweder damit anfangen, oder sie ganz fortlassen und streben, hernach nicht zu fallen!« Diefis-moll-Sonate und das h-moll-Quartett19 könnten, nach Schumanns Meinung, jedem Werke nachfolgen. Am liebsten hätte Brahms die C-dur-Sonate vorangestellt. Inzwischen hatte sich Schumann wieder anders besonnen. In seinem Anerbieten vom 3. November schlägt er den Verlegern vor, mit dem Quartett für Streichinstrumente zu beginnen (op. 1), diesem ein Heft von sechs Gesängen als op. 2 einzureihen, das Scherzo an dritter, ein zweites Heft von sechs Gesängen aber an vierter Stelle herauszugeben und mit der Klaviersonate die Reihe abzuschließen. Dafür bedingt er als »Ehrensold« die »dem Gehalt der Werke nur mäßig entsprechende« Summe von vierzig Louisdors, wobei er sich für Quartett und Sonate je zehn, für die Liederhefte je sechs und für das Scherzo acht Louisdors berechnet. Zugleich empfiehlt Schumann den Verlegern Joachims »höchst großartige Ouverture zu Shakespeares Hamlet« wie dessen »nicht minder eigentümliches und wirkungsvolles Konzertstück für Violine und Orchester mit wärmster Teilnahme«. Beide Stücke erschienen auch demzufolge bei Breitkopf und Härtel.
Brahms wendet sich dann am 8. November von Hannover aus direkt an die altberühmte Leipziger Verlagsfirma mit den Worten:
»Euer Wohlgeboren erlaube ich mir hiermit einige meiner Kompositionen zu übersenden, mit der Bitte, dieselben durchzusehen und mir dann gütig sagen zu wollen, ob ich meine Hoffnung erfüllt sehen kann, dieselben durch Ihren Verlag zu veröffentlichen.
Es ist nicht eigene Kühnheit, sondern mehr der Wunsch künstlerischer Freunde, denen ich meine Manuskripte mitteilte, welcher mich zu dem Schritte führt, mit denselben vor die Öffentlichkeit zu treten.
[131] Damit mögen Sie, hochgeehrter Herr, diese Zeilen entschuldigen, falls Ihnen deren Inhalt nicht willkommen ist.
In verehrungsvoller Ergebenheit Johannes Brahms.«
Breitkopf und Härtel erwiderten entgegenkommend; doch hatte sich Brahms schon wieder für eine Änderung der von Schumann getroffenen Auswahl entschieden. Die mehrstimmigen Kammermusikstücke genügten seinen Ansprüchen nicht; er ersetzte das eine durch die fis-moll-Sonate, ließ einstweilen die andere Nummer offen und stellte die beiden Klaviersonaten als op. 1 und 2 an die Spitze der nunmehr auf vier reduzierten Werke. Schumanns Aufsatz war die mittelbare Veranlassung zu einer rigorosen Selbstkritik, wie sie unter ähnlichen Voraussetzungen wohl kein junger, in seine Erstlinge verliebter Autor üben würde. Von dieser früh beobachteten Strenge gegen seine eigenen Arbeiten ist Brahms nie wieder abgewichen. Gesprächsweise bemerkte er einmal (1885) zu dem Verfasser, es sei traurig, daß die jungen Leute es so eilig hätten mit der Aufführung und Publikation ihrer unfertigen Sachen. »Fragen Sie doch in der Musikalienhandlung bei Cranz nach, was er mir, als ich noch gar nicht sehr bekannt war, für Angebote gemacht hat! Er wollte alles drucken, was ich ihm geben würde, Sonaten Lieder, Trios, Quartette. Ich hätte das Geld damals wohl brauchen können, und doch habe ich ihm nichts gegeben.20 Was habe ich für Respekt vor der Druckerschwärze gehabt! Der Zettel ist noch da, auf welchem Schumann und Joachim diejenigen meiner Jugendwerke verzeichneten, die ich herausgeben sollte. Und doch sind nur ein paar Stücke davon erschienen.« Befragt, ob er seine alten Kompositionen noch habe, antwortete er: »Gott bewahre! Das Zeug ist alles verbrannt worden. Die Kisten mit den alten Skripturen standen lange in Hamburg. Als ich vor zwei oder drei Jahren dort war, ging ich auf den Boden – die ganze Kammer war aufs schönste mit meinen Noten tapeziert, sogar die Decke. Ich brauchte mich nur auf den Rücken zu legen, um meine Sonaten und Quartette zu bewundern. Es machte sich sehr gut. [132] Da hab' ich alles heruntergerissen – besser, ich tu's, als andere! – und auch das übrige mitverbrannt. Es waren recht nette Liederchen dabei. Den ganzen Eichendorff und Heine hab' ich in Musik gesetzt. Sie werden mir doch hoffentlich zutrauen, daß ich, Du bist wie eine Blume' auch einmal komponiert habe?« Auch erzählte er, als er zum letzten Male in Hamburg weilte, daß er zwei Kisten mit Jugendarbeiten auf einen Karren laden und diesen in eine große Fabrik fahren ließ, wo er die Verbrennung der Kisten mit Inhalt überwachte.
Brahms zögerte ungebührlich lange mit dem Dank, den er Schumann für dessen Heroldsruf und sonstige Fürsorge schuldete. Es wurde ihm schwer, den Ausdruck zu finden für das, was sein Herz bewegte, und es bedurfte erst einer Ermahnung von Joachims Seite, bei dem sich Schumann über den »Schreibefaulpelz« beschwerte, bis er sich zur Tat aufraffte. Auch waren Briefe von Hause gekommen, die den Säumigen drängten. Schumann hatte sein Manuskript der »Neuen Bahnen« an Vater Brahms nach Hamburg geschickt und dazu geschrieben:
»Geehrter Herr,
Ihr Sohn Johannes ist uns sehr wert geworden, sein musikalischer Genius hat uns freudenreiche Stunden geschaffen. Seinen ersten Gang in die Welt zu erleichtern, habe ich, was ich von ihm denke, öffentlich ausgesprochen. Ich sende Ihnen diese Blätter und denke mir, daß es dem väterlichen Herzen eine kleine Freude geben wird.
So mögen Sie denn mit Zuversicht der Zukunft dieses Lieblings der Musen entgegensehen und meiner innigsten Teilnahme für sein Glück immer versichert sein!
Düsseldorf, den 5. November 1853.
Ihr ergebener
R. Schumann.«
Elf Tage später sandte Johannes folgendes Dankschreiben an Schumann21:
[133] »Verehrter Meister!
Sie haben mich so unendlich glücklich gemacht, daß ich nicht versuchen kann, Ihnen mit Worten zu danken. Gebe Gott, daß Ihnen meine Arbeiten bald den Beweis geben könnten, wie sehr Ihre Liebe und Güte mich gehoben und begeistert hat. Das öffentliche Lob, das Sie mir spendeten, wird die Erwartung des Publikums auf meine Leistungen so außerordentlich gespannt haben, daß ich nicht weiß, wie ich demselben einigermaßen gerecht werden kann. Vor allen Dingen veranlaßt es mich zur größten Vorsicht bei der Wahl der herauszugebenden Sachen. Ich denke keines meiner Trios (!) herauszugeben, und als op. 1 und 2 die Sonaten in C undfis-moll, als op. 3 Lieder und als op. 4 das Scherzo in es-moll zu wählen. Sie werden es natürlich finden, daß ich mit aller Kraft strebe, Ihnen so wenig Schande als möglich zu machen.
Ich zögerte so lange, an Sie zu schreiben, da ich die genannten vier Sachen an Breitkopf geschickt habe und die Antwort erwarten wollte, um Ihnen gleich das Resultat Ihrer Empfehlung mitteilen zu können. Aus Ihrem letzten Brief an Joachim erfuhren wir jedoch schon dasselbe, und so habe ich Ihnen nur zu schreiben, daß ich Ihrem Rate zufolge in den nächsten Tagen (wahrscheinlich morgen) nach Leipzig gehe.
Ferner möchte ich Ihnen erzählen, daß ich meine f-moll-Sonate aufgeschrieben und das Finale bedeutend geändert. Auch die Violin-Sonate habe ich gebessert. Tausend Dank möcht' ich Ihnen noch sagen für Ihr liebes Bild, das Sie mir schickten, sowie auch für den Brief, den Sie meinem Vater schrieben. Sie haben ein paar gute Leute dadurch überglücklich gemacht, und fürs Leben
Ihren
Brahms.«
Nach Leipzig ging Brahms mit dem größten Widerwillen, und er würde die Reise überhaupt unterlassen haben, wenn nicht Schumann sie für unbedingt nötig gehalten hätte: »Sonst verstümmeln sie seine Werke; er muß sie dort selbst vorführen. Es scheint mir dies ganz wichtig .... Noch einmal: ich bitte, bewegen Sie ihn, daß er auf acht Tage nach Leipzig geht.« (Schumann [134] an Joachim.22 Zwar dachte Brahms schon in Mehlem an Leipzig, mit dem Vorsatz, dort »alles Mögliche zu tun, um viel Arbeit zu bekommen«, und auch Musikdirektor Wehner in Göttingen hatte ihm in jedem seiner Briefe dringend zugeredet, dorthin zu gehen, aber er glaubte seine Zeit besser zu verwenden, »wenn er fleißig fortstudierte,« als wenn er suchte, »seine Sachen so praktisch wie möglich zu verhandeln«. Er wollte sich für den Winter in Hannover recht gemütlich einrichten, und da er, dank seines Verlagshonorars, auf dem Wege war, ein Kapitalist zu werden, so konnte er sich den Luxus eines eigenen Stübchens schon vergönnen. Vor dem Egidientore standen, zwischen Obstgärten und Äckern verloren, einzelne Häuser, die einmal für Günstlinge oder Favoritinnen des Fürstenhauses und -hofes gebaut worden waren. Das einstöckige, vier Fenster breite Häuschen am Papenstieg Nr. 4 versteckte sich förmlich hinter den Zweigen der alten Apfel- und Nußbäume, so daß man es von der Stadt aus kaum sah. Ein eigener Schleichweg führt auch heute noch vom Papenstieg aus zu der ehemaligen Solitude, und die beiden Säulen mit ägyptischen Lotoskapitälen, die den Haupteingang noch immer schmücken, Träger eines lebensgefährlichen Miniaturbalkons und gleich diesem selbst aus Holz gearbeitet, verraten, seitdem Stuck und Kalk von ihnen abfielen, wie billig die Tempel waren, welche von vornehmen Herren der empfindsamen Restaurationszeit einer Mondgöttin oder Priesterin der Isis gestiftet wurden. Als der Komponist der f-moll-Sonate dort einzog, diente das seiner Herrlichkeit entkleidete Haus längst nützlicheren Zwecken, obwohl es mit dem Künstlerheim des vom König Georg protegierten hellenistischen Bildhauers Hesemann getreue Nachbarschaft hielt. Wer konnte wissen, ob nicht eines Tages ein goldbetreßter Rotrock dort anpochen würde, um den neuen Mieter das Patent eines königlichen Hof- und Staatspianisten zu überbringen?
In den drei Wochen seines ersten hannoverschen Aufenthaltes verkehrte Brahms fast ausschließlich mit seinem »herzlieben« Joachim, der ihm bei der Auswahl jener für den Druck bestimmten Kompositionen riet und half. Durch ihn kam er nun auch mit [135] Bettina von Arnim und deren Tochter Gisela, die er in Düsseldorf kennen gelernt hatte, in nähere Berührung. Mutter und Tochter erregten sein Interesse in hohem Grade. Bettina, die Freundin Goethes und Beethovens, die Tochter der Maximiliane La Roche, die Schwester Klemens Brentanos, die Witwe Achim von Arnims, war noch in ihrem Alter der von Lebhaftigkeit übersprudelnde Kommentar ihrer Schriften, das personifizierte Tage- und Nachschlagebuch der Romantik und, wenn sie in gute Laune versetzt wurde, wieder das geniale, tolle, verzogene, unberechenbare Kind, in dessen Gesellschaft Goethe den Olympier vergaß und Beethoven seine argwöhnische Menschenscheu ablegte. Sie ließ dann die schlechtere Hälfte ihrer zurechtgelegten Originalität fallen und konnte wirklich so naiv sein wie ein kleines Mädchen. 1852 war Bettina mit beiden Töchtern – Armgart fehlte in Düsseldorf und Hannover – und dem künftigen Gatten Giselas, dem Dichter und Kunsthistoriker Hermann Grimm, Sohn Wilhelms und Neffen Jakob Grimms, in Weimar aufgetaucht, und das vierblättrige Kleeblatt hatte das Seinige zu der dort in Permanenz erklärten allgemeinen Verrücktheit beigetragen. Noch immer verdrehte Bettina den Männern die Köpfe, und ihre nicht minder ungebundenen und extravaganten Töchter stahlen ihnen die Herzen. Ganz Jung-Weimar schmachtete in den Fesseln der Arnims, und es war lange zweifelhaft, wer bei dem Werben um die schöne Gisela als Sieger hervorgehen würde. Brahms, der sich mehr zur lehrreichen Mutter hielt, zollte der bedeutenden Frau seinen Tribut, indem er ihr die sechs Gesänge seines op. 3 zueignete. Auch die anderen Werke »verwidmete« er in Leipzig: sein bester Freund, Joachim, bekam die C-dur-, Klara Schumann die fis-moll-Sonate, sogleich er findet, daß es eigentlich nicht schön aussehe, den Erstlingswerken solche Namen vorzusetzen.
Sein Schumann gegebenes Versprechen hatte Brahms gehalten: er war am 17. November nach Leipzig gereist und meldet schon drei Tage darauf seinem Freunde in Hannover, daß er »mit großer Liebe und Freude« empfangen worden sei. Die Leipziger Tagesblätter beschäftigten sich mit seiner Person, und er macht sich lustig über sie, indem er sie mit amerikanischen Zeitungen vergleicht. Heinrich von Sahr, ein begeisterter junger [136] Musiker und wohlsituierter Kunstfreund, duldete nicht, daß Brahms im Gasthof wohnte, und nahm ihn zu sich. Schon vorher hatte sich Sahr bei Dietrich nach dem »neuen Johannes oder Messias« erkundigt; er war »furchtbar begierig« auf ihn. Nachdem sein Verlangen gestillt worden war, schreibt Sahr: »Es ist ein himmlischer Mensch! Wie muß man Schumann dankbar sein, diesen Kerl ans Tageslicht gebracht zu haben! Die Tage, seitdem er hier ist, gehören zu den schönsten, die ich je erlebt. Er entspricht so ganz dem Ideal, wie ich es mir von einem Künstler gemacht.« Sahr vermittelte die persönliche Bekanntschaft mit Härtels, Moscheles, David, Rietz und anderen angesehenen Leipziger Persönlichkeiten. Auch Friedrich Wieck, den Vater Klara Schumanns, und deren Schwester Marie lernte Brahms kennen. An Ernst Ferdinand Wenzel, einen Schüler Wiecks, Freund Mendelssohns und Schumanns, dessen »schöner Kopf mit der prächtigen Stirn« es ihm angetan hatte, schloß er sich enger an. Sahr, Wenzel und der Musiker Julius Otto Grimm, den Brahms in Leipzig traf, gingen viel mit ihm spazieren; mit ihnen besuchte er Theater und Konzerte, schwärmte in Erinnerungen an Leipzigs künstlerische Vergangenheit, an Lessing und Goethe, Bach und Mendelssohn und erfreute sich der lebensvollen Gegenwart, die wahrlich auch nicht zu verachten war. Der Nachglanz der Mendelssohnschen Epoche ruhte noch auf dem musikalischen Klein-Paris, das bei näherer Besichtigung doch mehr bedeutete als eine Menge kaufmännischer Comptoirs, vor denen dem jungen Romantiker gegraut hatte. Wenn Wien von jeher das Herz der Musik war, so konnte Leipzig damals für deren Kopf gelten; es war noch immer der Sitz musikalischer Intelligenz und Bildung, und Schumann meinte mit Recht, »daß es in Deutschland, vielleicht in der Welt keinen besseren Ort für junge Musiker gebe.« Das Konservatorium, an welchem Gade, Moscheles, Hauptmann und David unterrichteten, galt für die berühmteste derartige Anstalt, und gerade während seines Leipziger Aufenthalts konnte Brahms sich davon überzeugen, daß der gute Ruf dieses Lehrinstituts kein unbegründeter war. Otto Dessoff und Franz v. Holstein glänzten unter den Schülern des Konservatoriums hervor, und das Leben führte sie nicht zum letztenmale mit Brahms zusammen. [137] So überwältigend wirkte die Erscheinung des jungen Helden der »Neuen Bahnen«, daß sie die Gegner entwaffnete, und daß selbst diejenigen, die ihm an Alter weit voraus waren, wie Holstein, sich vor ihm beugten. Franz v. Holstein schreibt über ihn an Pastor Weber in Wolfenbüttel: »Hier hat er (Brahms) ältere und jüngere Komponisten und Musiker in Feuer gesetzt, denn er steht hoch über dem Neid, der nicht zu ihm heranragen kann. Seine Kompositionen (Lieder, Violin- und Pianoforte-Sonaten) sind von einer hinreißenden Gewalt der Erfindung und Genialität, so daß er schon jetzt groß dasteht. Dazu ist er ein heiterer, frischer liebenswürdiger Mensch, voll ebensoviel Bescheidenheit als edlen Selbstvertrauens. Er heißt nicht nur Johannes, sondern ist auch ein wahrer Johanneskopf.« Und seiner Schwester Helene teilt Holstein gleichzeitig mit: »Einen recht großen Genuß gewährt mir die Anwesenheit eines jungen Komponisten aus Hamburg. Er heißt Johannes Brahms, und R. Schumann hat ihn in der Brendelschen Zeitung als den Messias dargestellt, der in die musikalische Welt kommen mußte. Er ist zwanzig Jahre alt und lebte von Unterrichtgeben in Hamburg, bis Joachims Bekanntschaft, bei dem er jetzt lebt, ihn aus der Dunkelheit riß und zum Bewußtsein seines Wertes brachte. Er hat Lieder und Klavierkompositionen geschrieben von einer Gewalt und Genialität, daß man nur staunend davor stehen kann. Grimm und Herr v. Sahr, alle sind entzückt von ihm. Sahr nahm ihn gleich in seine Wohnung, um ihn gar nicht mehr von sich zu lassen, solange er hier war. Auch alle Kenner von Fach erklärten ihn für sehr bedeutend. Dabei ist er der liebenswürdigste und bescheidenste Mensch, voll gutem Herzen und kindlichem Humor. Alle seine Kompositionen wurden ihm gleich glänzend abgekauft. Grimm mag Dir mehr davon erzählen« ...
Die Briefe rühren vom Dezember her; in dem ersten heißt es noch: »Leider hat er uns gestern verlassen, um aber hoffentlich nach Weihnachten mit Joachim zurückzukehren.« In der Tat scheint Brahms über eine Woche von Leipzig entfernt gewesen zu sein, da über die Tage vom 21. bis 29. genauere Nachrichten fehlen. Vermutlich zog er sich, um den Stich seiner bei Senff und Breitkopf zur Publikation vorbereiteten Werke in Ruhe [138] überwachen und die Korrekturen ungestört besorgen zu können, ein paar Tage aufs Land zurück. Herr von Sahr wird ihn bei einer in der Nähe Leipzigs begüterten Adelsfamilie eingeführt, und dort wird er jene Gräfin Ida von Hohenthal, geb. Gräfin von Seherr-Thoß, gefunden haben, welcher die f-moll-Sonate gewidmet ist. Die Hohenthals sind von sächsischem Adel und noch heute bei Leipzig ansässig. Die Widmung der Sonate mag der Dank für genossene Gastfreundschaft gewesen sein. Etwa vom 24. an war Brahms bei Joachim in Hannover und Anfang Dezember wieder in Leipzig. Da er am 7. Dezember Joachim Nachricht gibt, er sei am Donnerstag Abend vom Bahnhof gleich ins Restaurant Helbig gegangen, wo er zur Überraschung von Senff, Wenzel und Sahr plötzlich auftauchte, so muß er am 1. Dezember dort angekommen sein. Er glaubte, sein zweiter Aufenthalt werde nicht allzu lange dauern, denn er sehnte sich zu den Eltern nach Hause. Aber so schnell, wie er gehofft hatte, kam er von Leipzig nicht weg; auch fing es an, ihm dort zu behagen. »Es sind doch köstliche Leute,« schreibt er an Joachim; »so herzlich und warm.« Ferdinand David, der ausgezeichnete Konzertmeister des Gewandhauses, besuchte ihn bei Sahr und spielte mit ihm seine a-moll-Sonate. Er und Moscheles, bei dem sie einen Abend verbrachten, redeten ihm dringend zu, in einer der Davidschen Quartett-Soireen mitzuwirken, die mit den Abonnementskonzerten des Gewandhauses zusammenhingen und nicht minder berühmt als diese waren. Lange getraute er sich nicht, ja zu sagen. »Wenn auch Künstler,« meinte er, »sich zum Vortrage das Fehlende ergänzen, das Publikum ist nicht so gutmütig.«
An Schumann, der, nachdem er die Direktion in Düsseldorf niedergelegt, mit Klara auf eine Konzertreise nach Holland gegangen war, wendet er sich mit der niederländischen Apostrophe:
»Mynheer Domine!23
Verzeihen Sie die lustige Anrede dem, der durch Sie so unendlich glücklich und froh gemacht ist. Nur das Schönste und Beste habe ich Ihnen zu erzählen.
[139] Ihrer warmen Empfehlung verdanke ich meine über alle Erwartung und besonders über alles Verdienst freundliche Aufnahme in Leipzig. Härtels erklärten sich mit vieler Freude bereit, meine ersten Versuche zu drucken. Es sind dies: op. 1, Sonate in C-dur; op. 2, Sonate in fis-moll; op. 3, Lieder; op. 4, Scherzo in es-moll.
Herrn Senff übergab ich zum Verlag: op. 5, Sonate in a-moll für Geige und Pianoforte; op. 6, sechs Lieder.
Dürfte ich meinem zweiten Werke den Namen Ihrer Frau Gemahlin voransetzen? Ich wage es kaum und möchte Ihnen doch so gerne ein kleines Zeichen meiner Verehrung und Dankbarkeit übergeben.
Noch vor Weihnachten werde ich wahrscheinlich Exemplare meiner ersten Sachen bekommen. Mit welchen Gefühlen werde ich dann meine Eltern wiedersehen, nach kaum einjähriger Abwesenheit. Ich kann es nicht beschreiben, wie mir ums Herz wird, denke ich daran.
Möchten Sie nie bereuen, was Sie für mich taten, möchte ich Ihrer würdig werden.
Ihr
Johannes Brahms.«
In Sahr's Studierzimmer wurde Brahms von seinen Korrekturen aufgescheucht durch die das ganze musikalische Leipzig alarmierende Ankündigung, Hektor Berlioz werde mehrere seiner Chor- und Orchesterwerke aufführen, und zwar pikanterweise in den konservativen Gewandhauskonzerten! Der von seinen Landsleuten damals noch für völlig toll gehaltene französische Musiker war in dem schon zehn Jahre vorher einmal von ihm besuchten Deutschland, wo Tiefsinn und Verrücktheit so nah bei einander liegen, daß sie kaum unterschieden und oft verwechselt werden, kein Fremdling mehr. Schumann hatte seine »Symphonie phantastique« bereits 1835 in der »Zeitschrift« sympathisch begrüßt. Dem Brausekopf des jugendlichen Davidsbündlers imponierte die groteske Renommisterei des geistreichen Franzosen; er nahm, wie andere auch, den technischen Erfinder für einen künstlerischen Schöpfer. Was Berlioz als genialer Virtuose des Instrumentalklanges begonnen hatte, wurde mit immer wachsendem Erfolge von Liszt [140] und Wagner fortgesetzt. Sie konnten die Errungenschaften seines in der raffiniertesten Orchestertechnik aufgehenden Geistes sich um so leichter aneignen, als sie gleich ihm von keiner starken rein musikalischen Potenz dabei behindert wurden, und die tönende Objektivation der Idee, d.h. die mehr oder weniger seelen-und gemütlose Veräußerlichung der Musik, wurde ihres französischen Ursprungs entkleidet und zu einer deutschnationalen Angelegenheit gemacht. Auf Konzertreisen, die Berlioz durch Deutschland und Österreich unternahm, fanden die fixen Ideen des musikalischen Monomanen desto größere Verbreitung, je dankbarer alle Halb- und Vierteltalente sich an eine Kunst anklammerten, die den Mangel thematischer Erfindung zum Prinzip erhob und die Blößen des Komponisten mit Instrumentalfarben vertünchte. Über diese sinnfällige, mit Händen zu greifende Musik, welche die Werke anderer Künste kommentierte und illustrierte, konnte füglich jeder mitreden, der nichts zu sagen hatte, und der ästhetischen Kannegießerei war kein Ende abzusehen.
Weimar hatte im Jahre vorher seine Berlioz-Woche gehabt; nun folgte die Stadt Bachs und Mendelssohns nach. Am 1. Dezember dirigierte Berlioz im Gewandhause seine biblische Legende »Die Flucht nach Egypten«, die Harald-Symphonie, eine Szene aus »Faust«, das »Fee-Mab«-Scherzo aus »Romeo und Julie« und die Ouverture zum »Römischen Karneval«, die verführerischesten und populärsten seiner Tonschöpfungen.
Liszt war zu dem Konzert mit großer Gefolgschaft von Weimar herübergekommen, und das Publikum des achten Abonnementskonzertes teilte sich in zwei feindliche Heerlager, die hart aneinander gerieten. »Das übertriebene Beifallgeben der weimarischen Clique«, schreibt Brahms an Joachim in jenem oben erwähnten Briefe vom 7. Dezember, »rief entschiedene Opposition hervor.« Er fand in den Werken des Franzosen durchaus keine Veranlassung zu irgend welchen Demonstrationen, wie ihm überhaupt Parteiwesen und Cliquenwirtschaft gründlich zuwider waren. In den Kreisen der reaktionären Musiker, zu denen auch Sahr gehörte, wurde es ihm übel vermerkt, daß er, dem Gebote der Höflichkeit folgend, am Tage nach dem Konzert Liszt seinen Besuch machte. Er sah sich sehr freundlich von ihm aufgenommen, auch von Reményi, und »alles Denken und [141] Erinnern an Vergangenes wurde sorgfältig vermieden«. Reményi, meint Brahms, habe sich sehr zu seinem Nachteil geändert. Liszt machte gleich darauf mit Peter Cornelius Brahms seinen Gegenbesuch, – es ging unter ihnen zu wie zwischen Souveränen. An demselben Freitage (2. Dezember) war Brahms bei David mit Liszt und Berlioz auf einer Soiree, und den Sonntag darauf »sogar« bei Brendel, »trotz der gräßlichen Gesichter, welche die Leipziger dazu schnitten.« Brendel, der musikgeschichtliche, mit ästhetischen Exkursen gewürzte Vorträge hielt – sie sind in seiner »Geschichte der Musik« gesammelt – hatte am Sonntagnachmittag immer seinen Jour. Das Haus des musikkritischen Diktators stand jedem offen, der etwas bedeutete oder bedeuten wollte. Junge Talente produzierten dort ihre Sachen und erwarben sich dadurch ihr Entree in die Öffentlichkeit. Zu den Stammgästen der Brendelschen Jours zählten natürlich auch die Mitarbeiter der »Zeitschrift«. Die sehr gemischte Gesellschaft konnte für die realistische Entartung des von Schumann gestifteten idealen »Davidsbundes« gelten, der eigentlich nur im Kopfe seines Stifters existierte. »Berlioz, Pohl etc. waren da, und daß ich's nicht vergesse, auch Schloenbach, Giesecke und alle literarischen Nobilitäten (oder Nullitäten?) Leipzigs. Berlioz lobte mich so unendlich warm und herzlich, daß die übrigen demütig nachsprachen. Gestern Abend bei Moscheles war er ebenso freundlich. Ich muß ihm sicher dankbar sein.« Der von Brahms erwähnte Leipziger Schöngeist Arnold Schloenbach hat den denkwürdigen Nachmittag im Brendelschen Salon in einem »offenen Brief an Franz Brendel« verewigt. Brendel hatte ihn dazu ermuntert mit den Worten: »Schreiben Sie das doch für meine Zeitung nieder; so was kann wohl der Poet besser beschreiben als der Musiker.« Der offene Brief (»Neue Zeitschrift f. Musik«, Bd. 39, p. 256–258) ist charakteristisch für das Treiben, die Sitten und den Ton der Leipziger Spießgesellschaft. Schloenbach, der Poet von Brendels Gnaden, schreibt darin u.a.:
»Der Schluß des Ganzen war nun ein besonders Bedeutungsvolles ... es war der junge Brahms aus Hamburg, dem der neuliche Artikel Ihrer Zeitung von Robert Schumann: ›Neue Bahnen‹, galt. Sie wissen, der Artikel hatte in manchen [142] Kreisen Mißtrauen (bei manchen vielleicht nur aus Furcht) erregt, jedenfalls dem jungen Manne einen sehr schwierigen Stand bereitet, weil die Berechtigung zu großen Anforderungen hervorgerufen, und als der junge, schlanke, blonde Mann erschien, so scheinlos, so scheu, so bescheiden, mit der noch im Übergang stehenden, fistelnden Stimme, da mochten wenige den Genius ahnden, der in dieser jungen Natur so reiche Welt geschaffen; Berlioz aber hatte schon bald im Profil des jungen Mannes eine auffallende Ähnlichkeit mit Schiller (sic!) entdeckt und eine verwandte deutsche Seele darin geahndet; und als nun der junge Genius seine Schwingen entfaltete, als er mit außerordentlicher Fertigkeit bei tiefinnerlicher und äußerlicher Energie sein Scherzo dahin blitzen und rauschen und schillern ließ, als dann sein Andante in tiefen, innigen, stark wehmütigen Klängen uns entgegenschwoll, da fühlten wir alle: Ja, hier ist ein wahrhafter Genius, und Schumann hatte recht; da war kein Mißtrauen mehr, nur ganze, volle, echte Künstlerfreude, und als Berlioz den jungen Mann tiefbewegt mit beiden Armen umfaßte und an sein Herz drückte, da, lieber Freund, empfand ich einen so heißen, heiligen Schauer der Begeisterung durch meine Seele strömen, wie ich ihn selten so empfunden. Ich hätte zu diesem seltenen Bilde, den jungen Genius in den Armen des großen Meisters, die junge Eiche kräftig umfaßt von den starken Ästen der ihr stolzes Haupt hoch emporstrebenden Vatereiche – ich hätte zu diesem seltenen Bilde die werdenden und fertigen Musiker der ganzen Welt hinzurufen und sagen mögen: das sind die ersten Naturen, die Künstler von Gottes Gnaden!«
Aus diesem von süßlichem Räucherwerk duftenden Aufsatz geht hervor, daß Brendel und Genossen die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatten, Brahms trotz seines schnellen Abschiedes von Weimar zu den Ihrigen zu zählen, und auch Brahms mag, als er zu Brendel ging, an die Möglichkeit gedacht haben, mit dem einflußreichen Parteiführer auf gutem Fuße zu bleiben. Vielleicht hätte er hinter Wagner, Liszt und Berlioz als Nummer vier seine Stelle angewiesen bekommen und wäre damit auch zufrieden gewesen. Aber er war kein Stellenjäger, und der Brendelsche Jour mußte ihn hinlänglich davon überzeugt haben, daß die geschraubte, [143] anspruchsvolle Art dieser Leute, die seinen Unmut und Spott herausforderte, sich mit der seinigen so wenig vertrug wie das Ideal seiner Kunst mit den von ihnen gepriesenen Werken. Von dem Zauberspuk Berliozscher Orchestermalerei erholte er sich bei Schuberts C-dur-Symphonie, die er zum erstenmale in der Probe zum achten Gewandhauskonzert hörte; bisher hatte er sie nur aus der Partitur gekannt. Das Werk entzückte, aber die Aufführung enttäuschte ihn. Er fand die Tempi »durchgehends reichlich zu schnell, die Posaunen und Trompeten zu stark, die Hörner durchaus schlecht«. Das Motiv in der Genoveva-Ouvertüre, mit der das Konzert eröffnet wurde, war, wie er schreibt, »den Hornisten unmöglich zu blasen.« Die hochgelobten Gewandhauskonzerte hatten in Brahms einen gefährlicheren kritischen Zuhörer gefunden als in den Referenten der Leipziger Tagesblätter und Musikzeitungen. Wunderbar aber fühlte er sich im Theater ergriffen, wo er »ein höchst interessantes Schauspiel ansah, den ›Erbförster‹ von Otto Ludwig aus Eisfeld« ... »Eine geniale Kraft, Natürlichkeit und Innigkeit herrscht in dem Stück« und befängt sein von dem Dichter Otto Ludwig aufgewühltes Wesen.
Unter den Leipziger Patrizierhäusern, in denen Brahms verkehrte, steht das Salomonsche obenan. Joachim und Sahr hatten ihn dort eingeführt, und Hedwig Salomon (die spätere Gattin Franz v. Holsteins) wetteiferte mit ihrer verheirateten Schwester Elisabeth Seeburg in Aufmerksamkeit für den berühmten jungen Gast. In dem anmutigen Buche24, das Helene Vesque v. Püttlingen aus dem handschriftlichen Nachlaß ihrer mütterlichen Freundin Hedwig v. Holstein zusammengestellt hat, ist ein wertvolles Dokument aus jenen angeregten Leipziger Tagen erhalten.
»Herr v. Sahr,« heißt es da, »brachte mir gestern (4. Dezember) ein junges Menschchen, das einen Brief in der Hand hielt von Joachim aus Hannover! Einen herrlichen Brief, voll Schonung und voll liebenswürdigster Dankbarkeit für meine italienischen Saiten, die ich ihm als verlorenes Vielliebchen geschickt. Zum Dank dafür übergab er Brahms diesen Brief, den [144] er als Künstler wie als Freund gar nicht genug rühmen kann. Er saß nun mir gegenüber, dieser junge Held des Tages, dieser von Schumann verheißene Messias; blond, anscheinend zart, und hat doch im zwanzigsten Jahre schon durchgearbeitete Züge, obgleich rein von aller Leidenschaft. Reinheit, Unschuld, Natur, Kraft und Tiefe – das bezeichnet sein Wesen. Man hat so große Lust, ihn wegen Schumanns Weissagung lächerlich zu finden, streng gegen ihn zu sein, aber man vergißt alles, liebt und bewundert ihn ohne Ausnahme. Am Abend kam er zu einer kleinen Gesellschaft hinauf zu Elisabeth. Seine Musik ist durchaus Beethovenisch, hat eine ungeheure Tiefe und Kraft, einen großen Ernst und weniger gärende Elemente im Vergleich zu anderen Künstlern der Jetztzeit. Der zweite Satz seiner ersten Sonate, Variationen über das Volkslied ›Blau, blau Blümelein,‹ ist nach meiner Meinung vollendet schön. Ein Scherzo tat mir hingegen nicht wohl. Er setzte sich zu mir ans Pfeilertischchen und sprach so munter und unaufhörlich, daß seine Freunde am andern Tisch sich gar nicht genug verwundern konnten, da er im allgemeinen äußerst still und träumerisch sei. Wir hatten auch viele Anknüpfungspunkte: Joachim, Wehner und unsere beiderseitigen Lieblingsdichter Jean Paul und Eichendorff und die seinigen Hoffmann und Schiller. Er war ganz entrüstet, daß ich die ›Räuber‹ noch nicht gelesen, und brach endlich los: daß es doch kein einziges kräftiges Frauenzimmer gibt, die so was vertragen kann! Er empfahl sie mir auf die Seele; auch ›Kabale und Liebe‹ müsse ich lesen, sowie die ›Serapionsbrüder‹, vor allem aber die Hoffmannschen musikalischen Novellen, von denen er mit wahrer Begeisterung sprach. ›Ich lege all mein Geld in Büchern an, Bücher sind meine höchste Lust, ich habe von Kindesbeinen an soviel gelesen, wie ich nur konnte, und bin ohne alle Anleitung aus dem Schlechtesten zum Besten durchgedrungen. Unzählige Ritterromane hab ich als Kind verschlungen, bis mir die ›Räuber‹ in die Hände fielen, von denen ich nicht wußte, daß ein großer Dichter sie geschrieben; ich verlangte aber mehr von demselben Schiller und kam so aufwärts.‹ – Mit gleicher Frische spricht er natürlich über die Musik, und als ich ihm sagte: Sie werden einst als Musikdirektor oder [145] angestellter Professor nicht mehr mit solcher Lust musizieren, erwiderte er lachend, aber ganz entschieden: ›Ja, ich lasse mich nicht anstellen.‹«
»Und zu all dieser freien Kraft ein dünnes Knabenstimmchen, das noch nicht mutiert hat! Und ein Kinderantlitz, das jedes Mädchen ohne Erröten küssen könnte. Und die Reinheit und Sicherheit seines ganzen Wesens, die dafür bürgt, daß diesem Menschen die verdorbene Welt nichts anhaben kann; denn so wie er jetzt das Hervorziehen aus der Verborgenheit bis zur verderblichsten Abgötterei vertragen konnte, ohne seine Bescheidenheit, ja ohne die Naivität zu gefährden, so wird ihm Gott auch weiter helfen, der diese herrliche Natur erschuf!«
Mit liebevollem Sinn hat das geniale Mädchen Brahms durchschaut. So wenig der Qualm des ihm gespendeten Weihrauchs seinen klaren Blick umnebelte, so wenig trübten spätere Mißerfolge sein helles Auge. Da er zeitig anfing, die Menschen leidenschaftslos und ohne persönliche Interessen zu betrachten, so lernte er sie kennen und ihr Wesen von dem Schein unterscheiden, den sie sich zu geben suchten. Nur ihrer Liebe fühlte er sich nicht gewachsen; ihre Tugenden hat er vorausgenommen, ihre Erbärmlichkeiten aber reichten an die Höhe seines schweigenden Selbstgefühls nicht hinan. Von Berlioz schied er voll Respekt vor dessen instrumentalen Kenntnissen, und ein erwärmendes Gefühl der Verehrung, das er für den Menschen übrig hatte, glich das frostige Staunen über seine musikalischen Überspanntheiten aus. Berlioz hatte am 12. Dezember noch ein gutbesuchtes, erfolgreiches Konzert gegeben, welchem auch Liszt mit Cornelius und Coßmann beiwohnte, und war mit einem Ueberschuß von. 140–160 Talern sehr vergnügt abgereist. Julius Otto Grimm, eine frische, lustige und gesunde Natur, wie Brahms schreibt, ist in Leipzig Brahms' bester und liebster Freund geworden; auch er will bald nach Hannover kommen, und wird, wie Brahms glaubt, Joachim sehr gefallen. Die freie Zeit, welche ihm Korrekturen, Gesellschaften, Besuche, Theater und Konzerte übrig ließen, verwendete Brahms auf einen Klavierauszug, den er von Joachims Violinwerk machte. Wie geringen Wert er derartigen Arbeiten beimaß, geht daraus hervor, daß er, ohne daß Joachim bei Brahms' Lebzeiten viel [146] davon erfuhr, auch von den drei ihm gewidmeten Joachimschen Ouverturen Klavierauszüge anfertigte. Aus den acht Tagen, die er in Leipzig zubringen wollte, waren vier Wochen geworden.
Kurz vor seiner Abreise, Sonnabend den 17. Dezember, spielte er in der Quartett-Soiree bei David die C-dur-Sonate und das es-moll-Scherzo; es war dies also sein erstes Auftreten im Gewandhause. Der Sonate ging Mendelsohns Streichquartett in D-dur, dem Scherzo, mit dem die Soiree schloß, Mozarts g-moll-Quintett voraus. In der Neujahrsnummer (1854) der Brendelschen »Zeitschrift« erschien ein äußerst lobendes Referat, das von ganzem Herzen und mit der innersten Befriedigung der Ansicht Schumanns beistimmt. Dann aber verlautete dort lange, bis zum Juli 1855, eine Personalnotiz ausgenommen, nichts mehr über den jungen Meister und seine Werke, obwohl im Jahre 1854 schon deren neun erschienen waren. Gewisse Leipziger »Notabilitäten« bemerkten zu ihrem nicht geringen Verdrusse, daß sie von ihm als »Nullitäten« angesehen und behandelt wurden, Arnold Schloenbach konnte über keinen schönsten Jour seines Lebens bei Brendel weiter berichten, und die »Partei« erhielt Wind, daß Brahms um alles in der Welt nicht zu ihr gerechnet werden wollte. Er hatte die Leipziger Schöngeister bald vergessen, als er am 20. Dezember mit Grimm nach Hannover abfuhr, um dort seine Freunde Joachim und den von Düsseldorf herübergereisten Dietrich wieder zu umarmen, und seine Glückseligkeit war vollkommen, als er in sauberen, frischgedruckten Exemplaren die C-dur-Sonate und das erste Liederheft seinen Eltern und Lehrern in Hamburg eigenhändig unter den Weihnachtsbaum legen konnte. Im besten Zimmer der zweiten Etage, Lilienstraße 7, beleuchteten am heiligen Abend die bunten Kerzen lauter fröhliche Gesichter. Bei Vater Brahms war das Christkind mit Johannes eingekehrt: er war Kontrabassist in den vereinigten Hamburger Theatern geworden. An Robert Schumann aber schickte Johannes von Hause seine Erstlinge mit folgenden Begleitzeilen:
»Verehrter Freund!
Hiermit nehme ich mir die Freiheit, Ihnen Ihre ersten Pflegekinder (die Ihnen ihr Weltbürgerrecht verdanken) zu [147] übersenden: sehr besorgt, ob sie sich nicht noch derselben Nachsicht und Liebe von Ihnen zu erfreuen haben.
Mir sehen sie in der neuen Gestalt noch viel zu ordentlich und ängstlich, ja philisterhaft aus. Ich kann mich noch immer nicht daran gewöhnen, die unschuldigen Natursöhne in so anständiger Kleidung zu sehen.
Ich freue mich unendlich darauf, Sie in Hannover zu sehen, um Ihnen sagen zu können, daß meine Eltern und ich Ihrer und Joachims übergroßer Liebe die seligste Zeit unseres Lebens verdanken.
Ich sah meine Eltern und Lehrer überglücklich wieder und verlebe eine wonnige Zeit in ihrer Mitte.
Ihrer Frau Gemahlin und Ihren Kindern bitte ich die herzlichsten Grüße zu sagen von
Ihrem
Johannes Brahms.«
[148] 1 Mit der Miene eines obersten Schiedsrichters, der einen alten Streit beilegen will, widmete Brendel im Februar desselben Jahres Schumann und Mendelssohn eine Serie von Artikeln, in welchen er zu dem kläglichen Endergebnis kommt, sie wären eigentlich alle beide mehr als Muster einer allgemeinen Bildung denn als Meister ihrer Kunst anzusehen.
2 Zur Charakteristik der Düsseldorfer Verhältnisse sei die ergötzliche Tatsache erwähnt, daß dort im Winter 1852–53 eigens ein »Anti-Musikverein gegen schlechte und schlecht ausgeführte Musik« gegründet worden war.
3 Robert Schumann. Eine Biographie von Josef Wilhelm v. Wasielewski.
4 Die hieher gehörigen Briefe lagen dem Verfasser im Original vor.
5 Offenbar ist dieser Besuch, der, nach einer Tagebuchaufzeichnung Schumanns am 30. Sptbr. stattfand, mit der im vorigen Kapitel geschilderten Szene vor Deichmanns Hause verwechselt oder vermengt worden. Vgl. Litzmann, a.a.O. p. 280.
6 Brahms ließ sich nicht näher auf die Geschichten ein, welche von der Fama über ihn in Umlauf gesetzt wurden. Um Schubring nicht desavouieren zu müssen, der ihm wert war, schrieb er ihm: »Ich sah ... gestern bei einem Freund die, Bagge'sche' [die seit 1863 von Selmar Bagge redigierte ›Allgemeine Musikalische Zeitung‹]. Mit Freuden Dein DAS, mit einigem Schrecken die Lebensbeschreibung! Das ist nun meine besondere Antipathie, weshalb ich einstweilen nicht las und Dir diesen langversäumten Gruß sende.« Auf die von Schubring erzählten Anekdoten kam er auch später nicht zurück.
7 Seine eigenen Worte.
8 Auszüge aus dessen Tagebuche sind mir von F. Gustav Jansen mitgeteilt worden. Merkwürdigerweise ist in den Aufzeichnungen Robert und Klara Schumanns, die dem Verfasser erst durch Litzmanns Publikation bekannt wurden, von dieser Gesellschaft keine Rede. Unterm 1. Oktober notiert Schumann: »Nachmittags um 5 Musik bei uns.« Vom 2. Oktober berichtet Klara: »Nachmittags kam Brahms, spielte uns von seinen Sachen und ergriff uns alle (ich hatte es einigen Schülerinnen und Frl. Lehár gesagt) aufs Tiefste« ...
9 Klara Schumann schenkte das Bild später der Frau Musikdirektor Marie Böie in Altona, und Brahms verteilte Abzüge einer photographischen Reproduktion an nähere Freunde. Die Besitzerin des Originals hatte die Güte, neuerdings eine photographische Abnahme (in Originalgröße) für den Verfasser anfertigen zu lassen. Der Leser findet sie als Heliogravure dem Buche beigegeben.
10 Nach einer persönlichen Mitteilung Albert Dietrichs wäre das Intermezzo erst nach Brahms' Rückkehr von Leipzig, also im Dezember 1853, komponiert worden. Dem widerspricht die Notiz in des Meisters Kompositionsverzeichnis, wo er bei der f-moll-Sonate anmerkt: »Oktober 1853 Düsseldorf, Andante und Intermezzo früher.«
11 Die Gedichte, überschrieben »An die Heimat«, »Junge Liebe« und »Bitte« wurden zuerst in einer »Mein Orient« betitelten Sammlung von Novellen und Liedern gedruckt, die C.O. Sternau bei A. Inkermann in Magdeburg zu Anfang der Vierzigerjahre herausgab. Ebendort erschien von demselben Verfasser 1843 ein »Kaleidoskop von Dresden«. Das sehr selten gewordene Büchlein ist dadurch besonders bemerkenswert, daß es einen (wohl den ersten) enthusiastischen Bericht über Richard Wagner in Dresden enthält. »Rienzi«, schreibt Sternau, »macht jederzeit noch ein volles Haus, obgleich er der Länge wegen in zwei Abenden gegeben wird ... Wagners Werke sind die Schöpfungen einer gewaltigen, zügellosen Phantasie, eines reichen, fast überreichen Genius und gänzlich abweichend von der Bahn aller modernen und antiken Komponisten ... Der Mann ist noch jung, eine Welt steht ihm offen, und mancher Lorbeerbaum blüht noch darin, der ihn mit seinen Zweigen schmücken kann.« – Derselbe Sternau hat auch einen verbindenden Text zur Musik von Webers »Preziosa« gedichtet.
12 F. Gustav Jansen, Robert Schumanns Briefe. Neue Folge. S. 323 ff.
13 (Anm. Schumanns.) »Ich habe hier im Sinn: Josef Joachim, Ernst Naumann, Ludwig Norman, Woldemar Bargiel, Theodor Kirchner, Julius Schäffer, Albert Dietrich, des tiefsinnigen, großer Kunst beflissenen geistlichen Tonsetzers C.F. Wilsing nicht zu vergessen. Als rüstig schreitende Vorboten wären hier auch Niels W. Gade, C.F. Mangold, Robert Franz und St. Heller zu nennen.«
14 (Desgl.) »Eduard Marxsen in Hamburg.«
15 Josef Joachim.
16 Marie v. Bülow: »Hans von Bülow. Briefe.« II.p. 114.
17 Nur das Scherzo ist als selbständiges Instrumentalstück von der »Deutschen Brahmsgesellschaft« her ausgegeben worden.
18 Litzmann II 285.
19 Von diesem ersten Brahmsschen Streichquartett ist dann keine Rede mehr. Brahms hat es, ebenso wie die d-moll-Phantasie vernichtet.
20 Nur der 13. Psalm für Frauenchor und Orgel (op. 27) und die Duette für Alt und Bariton (op. 28) sind 1861 bei C.A. Spina in Wien (in Hamburg August Cranz) erschienen.
21 Dieser und die folgenden, von Brahms an Schumann gerichteten Briefe sind nach Brahms' Tode zuerst von La Mara in der »Neuen Freien Presse« veröffentlicht worden.
22 Bei F.G. Jansen a.a.O.
23 Die Bezeichnung Dominus (Herr) und Domina (Herrin) für Robert und Klara Schumann, welche von Brahms herrührt, wurde von den jungen Künstlern, die das Paar verehrten, beibehalten.
24 »Eine Glückliche.« Hedwig v. Holstein in ihren Briefen und Tagebuchblättern.
Buchempfehlung
Albert Brachvogel zeichnet in seinem Trauerspiel den Weg des schönen Sohnes des Flussgottes nach, der von beiden Geschlechtern umworben und begehrt wird, doch in seiner Selbstliebe allein seinem Spiegelbild verfällt.
68 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro