[51] In Hannover kam Brahms gerade zurecht, um den sich während des Mai 1863 immer wieder erneuernden Abschied des Fräulein Amalie Weiß im Theater mit zu feiern. Joachim hatte seine Braut veranlaßt, der Bühne zu entsagen, und sie trat an der Stätte ihrer jungen Triumphe in ihren Hauptrollen zum letzten Male vor das Publikum. Ihr künftiger Eheherr hatte auf Befehl der Königin zu deren Geburtstage Glucks »Orpheus« einstudiert, und bei einer Wiederholung der Oper saß Brahms mit Klara Schumann und Otto Jahn unter den Zuhörern. Brahms war, wie er an Dietrich schreibt, sehr entzückt von der neuen Braut.1 Bei lustigem Herumschlendern im Walde lernte er das liebenswürdige Mädchen näher kennen, die Künstlerin aber nahm ihn durch die »schöne sanfte Würde« ihres Orpheus vollends gefangen. Sie besaß die edelste und reinste tiefe Altstimme, die er noch gehört hatte, und diese Stimme, welche an gesättigtem Glanz und dunklem Feuer mit jeder altitalienischen Bratsche wetteifern konnte, verleugnete trotz ihrer fast männlichen Kraft nicht die zart empfindende Seele des Weibes, sondern klang wie die Verkündigerin ungehobener, zum Lichte eines höheren Tages drängender Gemütsschätze.2 Bei vielen Liedern, die Brahms in der Folge komponierte, lag ihm ihr herrlicher Timbre im Ohr, und Amalie Joachim teilte sich mit Julius Stockhausen in die Ehre, die Brahmssche Lyrik vielfach inspiriert und befruchtet zu haben. Über der Freude des Wiedersehens mit den alten Freunden und der Lust an der neuen folgenreichen Bekanntschaft, wurde ein anderer Zweck, der Brahms nach Hannover geführt hatte, nicht vergessen.
[51] Es handelte sich darum, ein noch unerprobtes Werk der Brahmsschen Kammermusik gründlich durchzunehmen, über welches lange zwischen den Freunden hin und her geschrieben worden war: das f-moll-Quintett. Auch dieses, einen der stolzesten Höhenpunkte im Schaffen des Komponisten bedeutende Meisterwerk war ein Schmerzenskind seines Geistes und sollte ihm noch viel zu schaffen machen. Vor Jahresfrist in die Welt gesetzt – das Quintett wurde im Frühling 1862 zu Münster am Stein begonnen und bald darauf in Hamm beendet3 – wollte es nicht stehen und gehen lernen, sondern vergalt alle Liebe und Sorgfalt seines Erzeugers mit hartnäckigem, passivem Widerstande. Woran es bei ihm fehlte, wußte und ahnte Brahms lange nicht. Ausnahmsweise einmal für seine eigene Schöpfung persönlich eingenommen, war er von der starken Ursprünglichkeit und zwingenden Kraft seiner Erfindung, von dem hohen Wert seiner gediegenen Arbeit so tief durchdrungen, daß er das Quintett lieber als irgend ein anderes Werk während seines Aufenthaltes in Wien aufgeführt hätte, zumal er bemerkt zu haben glaubte, daß gerade in Wien (»wohl mit durch Wagner«) die Musik »aufgeregteren Charakters« jeder anderen vorgezogen wurde. Ihm standen dabei noch mehr die Musiker als das Publikum vor Augen. Sein Sextett, so hatte er am 9. November 1862 an Joachim geschrieben, in demselben Briefe, der von Wagners Einfluß auf den Geschmack der Wiener spricht, lasse kühl, wogegen sein Klavierkonzert sehr gefalle, und sein A-dur-Quartett habe hinter dem in g-moll zurückstehen müssen. Glücklicherweise konnte er damals seine Absicht nicht realisieren; denn er erhielt das Manuskript des Quintetts, das vier Wochen in Hannover liegen geblieben war, ehe es Joachim auf seinen englischen Konzertfahrten nachreiste, so spät wieder, daß bei der gebotenen Vorsicht des Einstudierens an eine öffentliche Aufführung nicht mehr zu denken war. In seiner ursprünglichen, von unerhörten Schroffheiten, Härten und kaum zu überwältigenden technischen Schwierigkeiten strotzenden Fassung (als Streichquintett mit zwei Violoncellen) hätte das Werk, wenn es überhaupt gespielt worden wäre, zweifellos das fürchterlichste Fiasko gemacht. – »So wie das Quintett ist« schreibt Joachim, der im April mit [52] seiner Quartettgesellschaft in Hamburg gastierte, »möchte ich es nicht öffentlich produzieren – aber nur, weil ich hoffe, du änderst hie und da einige selbst mir zu große Schroffheiten und lichtest hie und da das Kolorit.« Ungern gab er das Werk, um das er von Brahms gedrängt wurde, aus den Händen, ohne es dem Freunde vorgespielt zu haben, was, nach seiner Meinung das einzige Mittel gewesen wäre, ihm zu nützen. Er vermißte den sinnlichen Reiz des Wohlklanges, ohne den kein musikalisches Werk gefallen kann, mag es noch so erhabene Gedanken ausdrücken, noch so fließende Melodien enthalten, noch so kunstvoll gearbeitet sein.
Brahms konnte sich von der üblen Klangwirkung noch in Wien überzeugen, da ihm das Quintett privatim von Heller, Bachrich, Goldmark, Lackenbacher und Gänsbacher vorgespielt wurde. Obwohl er die von Joachim angedeuteten anstößigen Stellen abgeändert oder gemildert hatte, wollte es nicht klingen. Immerhin war die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß die Schuld an der mangelhaften Ausführung lag. Nun aber klang es auch bei Joachim, nach sorgfältigem Studium und öfterem Probieren um weniges besser, und der Beweis war erbracht, daß der Fehler nicht in einigen, leicht zu beseitigenden Äußerlichkeiten, sondern tiefer im Organismus des Werkes saß, obwohl es, wie auch Joachim urteilt, »in jeder Zeile Zeugnis einer fast übermütigen Gestaltungskraft gibt und durch und durch voll Geist ist.« In der Wahl der Instrumente wie in der Ungeübtheit des Komponisten, der mit der Natur des Streichquartetts praktisch noch immer nicht hinlänglich vertraut war, glauben wir die Ursache der mangelhaften Wirkung erkennen zu dürfen. Da Brahms das Manuskript des Streichquintetts dem Feuertode überantwortete, nachdem er es in eine Sonate für zwei Klaviere und endlich, da diese auch nicht zur Versinnlichung seiner Ideen ausreichte, in das Quintett für Klavier und Streichinstrumente umgewandelt hatte, so entzieht sich das Werk in seiner ursprünglichen Gestalt unserer Kontrolle. Aber die zuvor ausgesprochenen Vermutungen erhalten beweiskräftiges Gewicht, wenn wir sehen, daß das Quintett auch in seiner letzten Fassung den Streichern noch manchmal Wirkungen abverlangte, die ihnen versagt sind.
Mit dem f-moll-Quintett sollte Brahms eine ähnliche Erfahrung [53] machen wie mit seinem Klavierkonzert, das, anfangs als Symphonie gedacht, doch zu viel Klaviermäßiges hatte, um rein im Orchester aufgehen zu können. Auch hier stemmten sich dem Komponisten die von ihm gewählten Ausdrucksmittel entgegen, und er fühlte sich durch sie in seinem Gedankenfluge eher gehemmt als befördert, wenn er seinen großartigen, keineswegs einfachen Formideen nachjagte. Streng genommen, eignen sich die in ihrem Charakter so verschiedenartigen Themata innerhalb desselben Stückes weder für ein einzelnes Instrument, noch für irgend einen Komplex von Instrumenten, es müßte denn ein besonders organisiertes Orchester fakultativ für sie eintreten. Aber der Masse des Orchesters widerstrebt andererseits der Grundcharakter der Komposition, der diese entschieden der Kammermusik zuweist. Für das dominierende Thema des ersten Satzes, das gleichsam zauderte die niederreißende Gewalt eines unbeugsamen Entschlusses aufzubieten, um dann im Fortissimo mit ihr loszubrechen, scheint selbst das Unisono der Instrumente noch zu schwach – das Pedal der Orgel müßte nachhelfen. Man begreift nicht, daß die rollenden Figuren des Klaviers, die auf der Durdominant von F wie zu einem Tigersprunge ausholen, einmal den Streichern zugeteilt gewesen sein sollen. Diese und ähnliche Stellen waren offenbar für die Herbeiführung des Pianofortes entscheidend. Das Thema ist von Brahms zuerst in folgender Weise phrasiert worden:
während es heute so dasteht:
Wir würden, in Übereinstimmung mit der daraus entwickelten Figuration:
[54] einer dritten Variante den Vorzug geben:
Ein Zufall oder Versehen ist der eigentümliche Zuschnitt des Themas, der seine organische Gliederung verwischt, gewiß nicht; vielleicht sollte der allzu leichte Schwung, der durch die Verknüpfung des Auftaktes mit dem Niederschlage entstände, vermieden und die Wucht des Ganzen noch verstärkt werden.4 Als Gegensatz zu der trostlos flehenden Bitte, mit welcher die erste Violine ein neues Dhemia beginnt, kann der trotzige Hauptgedanke sich gar nicht energisch genug zusammenfassen. Wie schmerzlich schneidet das scharf dissonierende Des in die Harmonie ein, und wie wunderbar wird die ausdrucksvolle Melodie vorbereitet! Das Klavier nimmt ihren Anfang voraus, als solle sie gegen den eigenwilligen Helden aufgeboten und zu Hilfe gerufen werden. Wie? kommst du nicht? klagt es, und die Hoffnung sinkt:
Man glaubt den Schluß gehört und f-moll erreicht zu haben. Da fällt die Geige wieder mit Des ein:
[55] und führt die Melodie fort, weit fort nach eis. Hier erwartet den Zuhörer eine seltsame Überraschung. Über leise und unablässig bohrenden Baßtriolen huscht wie mit Fledermausflügeln eine gespenstische Gestalt dahin:
und die tieferen Saiteninstrumente singen:
Dieses aus drei Tönen gebildete, ängstlich flehende vierte Thema scheint dem zweiten nahe verwandt; in der Tat spricht aus ihm dieselbe bittende Klage, nur noch inniger und rührender. Im Basse regt sich ungeduldig die aus dem Hauptgedanken entwickelte Figur Ia. Die Harmonie moduliert nach Des, der Baß bleibt auf den Dominanttönen liegen, während die Streicher an die sehnsüchtige Phrase:
ein leises, vom Klavier beantwortetes Martellato anreihen, das durch rhythmische Verschiebungen und Dehnungen, zuletzt durch Pausen und Einsätze auf schwächeren Taktteilen den Eindruck der Verängstigung und ermattender Resignation hervorruft. Die Dimensionen des Satzes entsprechen dem Reichtum seiner Gedanken, und doch bewahrt der Satz seine gedrungene Form, er hat keinen Takt zu viel und keinen zu wenig. Noch knapper womöglich tritt ihm der Durchführungsteil gegenüber, der sich auf Modifikationen und Kombinationen von I und III beschränkt, aus dem Schlusse des ersten Teiles einen neuen Kontrapunkt gewinnt und fast unvermerkt in die Wiederholung überleitet. Von schauerlicher Wirkung [56] ist dabei die Veränderung des Hauptgedankens. In der schleichenden, wie an dünnen Nebelfäden fortspinnenden Melodie der Geiger erkennt man kaum noch das wuchtige Thema. Sein Heldentrotz scheint gebrochen, die Instrumente spielen wehmütig mit den Blättern und Blüten des zerpflückten Kranzes, die sie einander zuwerfen. Von der zerklüfteten Einsamkeit eines öden Tales hallen die Seufzer der aufgelösten Melodie im zwei- und dreifachen Echo wieder. Das ist echter Brahms. In der Unersättlichkeit seiner fortzeugenden Phantasie bewährt sich die elementare Schöpferkraft seiner Melodiebildung. Tod und Leben fließen ihr in eins zusammen, und die Trümmer einer untergehenden Welt bedeuten für sie die Keime einer aufgehenden. Man betrachte die b-moll-Stelle (Takt 32 der Durchführung) und sehe, wie die Violinen, die sich an dem Zerstörungsspiel der Instrumente beteiligen, schon wieder eine frische Melodie singen:
Die Morgenröte des sonnigen, As-dur-Andantes schwebt herauf:
In diesem, von schwärmerischer Liebessehnsucht trunkenen, nach himmlischem Genügen schmachtenden Tongedicht, das von den unvergessenen Wonnen des Andantes der f-moll-Sonate zu den kaum geahnten Seligkeiten der Romanze des c-moll-Quartetts einen schimmernden Irisbogen schlägt, in dieser entzückenden Offenbarung des feurigsten und zartesten Jünglingsherzens sind Schuberts »Gefrorene Tränen« wieder aufgetaut, um sich mit den Blutstropfen zu vermählen, die aus den langsamen Sätzen Beethovenscher Quartette fallen. (Zu dem Seitensatz:
findet sich im Adagio des Harfenquartetts eine frappante Analogie: [57] Takt 25 ff.) Die phantastischen und dämonischen Elemente, welche den ersten Satz regieren, beherrschen auch Scherzo und Finale. Im Scherzo werden alle Spukgeister der Romantik auf einmal losgelassen, und das barocke Finale, das nach einer tief traurigen, still vor sich hinbrütenden Introduktion einen melancholischen Gesellen, dem gar nicht danach zumute ist, zum Tanz abkommandiert, scheint mit dem Wahnwitz zu spielen. Erinnern wir uns daran, daß die Ruinen der Sickingenschen Ebernburg über dem Haupte des Komponisten standen, da er das Werk konzipierte, und daß es ihn »gewaltig schüttelte«, als ihm der Irrsinn in Woldemar Bargiels zerrüttetem Geiste ebendort zur selbigen Zeit wieder begegnete! Unholde und Gespenster, aber auch leuchtende Lichtgestalten der Vergangenheit und Gegenwart blickten dem Schreiber über die Achsel, und der alte Johannes Kreisler wurde wieder in ihm lebendig. Das wilde, mit herkömmlichen Maßen kaum zu messende Scherzo (c-moll) bekämpft die Mächte des Unheils, welche in zwei einander ablösenden Moll-Perioden von zwölf und zehn Dakten schlürfend und trippelnd näher schleichen mit einer strahlenden Durmelodie. Gewappnet sprengt sie auf mutigem Streitrosse heran und schwingt ihr freudiges Schwert. Mag immerhin ein Fugato die Zahl der Gegner vervielfachen, Roß und Reitersmann fürchten sich nicht; und der Ritter trotz Tod und Teufel (Dürer) zieht siegreich in die Burg ein.5 Jene zuerst in C auftretende [58] Melodie wäre das berufene Trio des Scherzos gewesen; dieses erscheint dann ebenfalls in C-dur und läuft Gefahr, für einen schwächeren Nachklang des dritten Scherzothemas gehalten zu werden. Stellt die an dissonierenden Vorhalten reiche Einleitung des Finales die Harmonie in Frage, so will sich auch das zweite Thema (un pochettino più animato) zu keiner entschiedenen Tonart bekennen, sondern bringt ein trübes Ferment in den Satz, das mitunter wunderliche Blasen wirst und die organischen Verbindungen, zu denen es hintreibt, revoltierend wieder zerstört. Aber sollten auch hier und da die von dem Meister des f-moll-Quintetts erreichten Wirkungen hinter seinen Intentionen zurückgeblieben sein – ein gewaltiges, zu den Gipfeln der Brahmsschen Kunst wie der Musik überhaupt sich erhebendes Meisterwerk bleibt das Quintett doch und zugleich ein unwiderlegliches Zeugnis dafür, daß die variable Form des Sonatensatzes der Phantasie des Künstlers einen weiteren Spielraum gewährt als die ausgeklügelten Formlosigkeiten seiner aberwitzigen Nachfolger.
Da das Werk, wie schon gesagt, auch in Hannover nicht klingen wollte, als es Joachim dem Freunde vorführte, so legte es der enttäuschte Komponist vorläufig beiseite und nahm es erst im Winter 1863/64 wieder auf, als er es zu der »Sonate für zwei Pianoforte«, im Sommer 1864 aber endlich zu dem Quintett für Pianoforte und Streichinstrumente umarbeitete, so wie es uns heute vorliegt. Brahms gibt in seinem Kompositionsverzeichnisse kurzweg 1864 als Zeit der Umarbeitung an, und es wäre immerhin möglich, daß erst das Klavierquintett die Sonate für zwei Klaviere nach sich zog. Die Logik der Tatsachen spricht anders und entscheidet für den umgekehrten Fall.6 Denn Brahms[59] spielte die Sonate als Novität am 17. April 1864 mit Tausig in einem Extrakonzert der Wiener Singakademie, das ihm die Augen über die Unzulänglichkeit auch der zweiten Bearbeitung öffnete. Gerade die beiden ersten Sätze enttäuschten das musikalische Publikum, weil sie instrumentaler gedacht waren, während die beiden letzten als die klaviermäßigeren »die gedrückte Stimmung des Auditoriums wieder aufrichteten«. So berichtet die brahmsfreundliche »Allgemeine musikalische Zeitung«, und sie bemerkt, daß der »über die Gebühr ausgedehnte erste Satz (!), sowie die verschwommene, unverständliche Träumerei des zweiten (!!) gegründete Bedenken erregten«. Gotthard, der den Spielern die Noten, umwendete, will gehört haben, wie Brahms während des Spieles über das Unverständnis der Zuhörer bittere Worte des Unwillens äußerte.
In demselben Konzert wurden u.a. auch die »Neckereien« zum erstenmal öffentlich gesungen, und zwar von Marie Wilt, Ida Flatz und den Herren Prihoda und Panzer. Brahms hatte das reizende Vokalquartett nebst dem von süß einschmeichelnder, natürlich gesteigerter Melodie getragenen »Gang zum Liebchen« in Wien komponiert. Beide Quartette waren ein köstliches Weihnachtsgeschenk der Muse, mit dem sie ihn am 24. Dezember 1862 überraschte, gleich nachdem er sein unsterbliches Lied von der »Heimat« gesungen, als hätte sie ihn mit einer lustigen Gabe über die Qual seiner Sehnsucht trösten wollen. »Neckereien« und »Der Gang zum Liebchen« erschienen zusammen mit dem früheren »Wechsellied zum Tanze« als op. 31 und erregten überall, wo sie gesungen wurden, einhelligen Jubel durch die Frische ihrer Erfindung, die feine, unauffällige Kunst ihrer Arbeit, wie sie sich [60] andererseits nicht zuletzt durch ihre Sangbarkeit empfahlen. Zum allerersten Male wurde op. 31 Nr. 1 öffentlich als »Wechselgesang beim Tanze« am 18. Dezember 1862 in Wien gesungen, und zwar von Ottilie Hauer, Ida Flatz, Eduard Tisch und Förchtgott in jener Soiree, die zum Besten des hilfsbedürftigen, schwer erkrankten Violinvirtuosen H.W. Ernst veranstaltet worden war.7 Das Opus ist, nebenbei bemerkt, das letzte, das Brahms Breitkopf & Härtel zum Verlage überließ. »Zwei Motetten« und »Geistliches Lied« waren den weltlichen Quartetten dort unmittelbar vorangegangen, und er sandte ihnen das neue Werk nach als »einen kleinen Epilog der sich, lustig und verliebt, wie er ist, ganz wohl schicken wird«. Daß dies lustige Kleeblatt, namentlich Nr. 1, sich »beim Exekutieren immer erstaunlich warme Freunde erworben habe«, glaubt er hinzufügen zu müssen.
An Rieter-Biedermann aber, den Verleger desf-moll-Quintetts, schreibt Brahms am 22. Juli 1865 aus Baden-Baden: »Vor allem bitte ich nochmals, den Stich möglichst zu beschleunigen und vom Quintett mir sobald als möglich (vielleicht nach der ersten Revision) ein brauchbares Exemplar zukommen zu lassen. Joachim kommt noch hierher, und überhaupt möchte es gespielt werden. Ferner möchte ich, wir behielten das Werk auch als ›Sonate für zwei Klaviere‹ in Aug' und Sinn. Es ist mir und allen, die es gespielt und gehört, doch einmal besonders lieb in dieser Gestalt, und möchte ein interessantes Werk für zwei Klaviere doch wohl gern empfangen werden. Ein vierhändiges Arrangement kann ich Ihnen jedenfalls (für spätere Herausgabe jedoch) geben.« Das Werk wurde in beiden Fassungen der Frau Prinzessin Anna (jetzt Landgräfin) von Hessen, geborenen Prinzessin von Preußen und Mutter des als ernsten Musiker rühmlich bekannten Landgrafen Alexander Friedrich, zugeeignet. Sie lebte im Sommer 1864 in Baden-Baden, und Brahms lernte sie durch Elise Schumann kennen, die bei ihr wohnte. Da sie selbst sehr musikalisch war und viel mit Klara Schumann und Brahms musizierte, so fand sie lebhaftes Gefallen an der neuen »Sonate« und bedankte sich für deren Widmung bei dem Autor mit dem wahrhaft königlichen [61] Geschenk des Originalmanuskripts von Mozarts g-moll-Symphonie, die als Hauptstück der Brahmsschen Autographensammlung von dem glücklichen Besitzer heilig und in Ehren gehalten wurde.8
Die denkwürdigen Schicksale des f-moll-Quintetts haben uns den Ereignissen vorausgreifen lassen. Wir kehren zu Brahms zurück, der am 6. Mai 1863 von Hannover nach Hamburg gereist war, um seinen dreißigsten Geburtstag im Vaterhause zu verleben. Zu seiner großen Betrübnis sollte er daheim nicht alles so wiederfinden, wie er es verlassen hatte. Zwischen seinen Eltern, die er beide mit gleich zärtlicher Liebe umfaßte, war eine Entfremdung eingetreten, und nur durch sein vermittelndes Eingreifen konnte die gegenseitige Spannung gelöst, der völlige Bruch vermieden werden. Der Altersunterschied zwischen den Ehegatten machte sich immer empfindlicher geltend, je älter beide wurden. Vater Johann Jakob stellte als Siebenundfünfzigjähriger noch immer einen stattlichen und lebenslustigen Mann vor, während [62] seine vierundsiebzigjährige Frau Christiane längst eine gebrochene hinfällige Greisin geworden war, die gänzlich unter dem ungünstigen, eher aufreizenden als mildernden Einflusse ihrer verblühten Tochter Elise stand. Beide Frauen, durch gemeinsame Interessen verbunden, in denen sie sich vom Vater verkürzt wähnten, konspirierten gegen das Oberhaupt der Familie und ließen es das Übergewicht ihrer häuslichen Macht fühlen. Bruder Fritz, in jeder Beziehung das Gegenteil von Johannes, hatte sich zwar zu einem tüchtigen Pianisten und gut bezahlten Klavierlehrer ausgebildet, ging aber als Kunstelegant und Musikdandy seine eigenen Wege, kümmerte sich um nichts, lebte flott darauf los, kontrahierte unbedenklich Schulden und trug das Seinige dazu bei, den Unfrieden in der Familie zu vermehren. Kein Wunder, daß die heiß ersehnte Heimat den Zurückgekehrten befremdete! Teils hatte sie sich in der kurzen Zeit seiner Abwesenheit wirklich verändert, teils sah er sie selbst mit anderen Augen an, und er fühlte sich erst wieder wohl, als er nach notdürftig wiederhergestellter Ordnung im Vaterhause vom Sillberg auf die Elbe und die Villen von Blankenese niederblickte, um sich in Armidens Zaubergärten, denen er kaum entronnen war, zurückzuträumen.
Anstatt sein gemütliches Hammer Quartier in der Schwarzestraße bei Frau Dr. Roesing wieder zu beziehen, war er, möglichst fern von Verwandten und Bekannten, in einen versteckten Schlupfwinkel entwichen, den er in dem zum üppigen Buen retiro der Hamburger Geldaristokratie umgewandelten ehemaligen Fischerdorf ausgekundschaftet hatte. Dort wußte er sich vor schadenfrohen Beileidsbezeugungen falscher Freunde sicher, dort vermutete ihn kein Komiteemitglied der Philharmonischcu Gesellschaft, und dort konnte er sich einer größeren Arbeit hingeben, die ihn seit der Abreise von Wien unausgesetzt beschäftigte. Hübbe9 erzählt, daß Brahms in Blankenese einmal eine unerwartete Begegnung mit seinem Mädchenquartett hatte. Die Damen lockten ihn, den sie still für sich in Gedanken durch den Park gehen sahen, mit einem ihrer oftgesungenen Lieder. Weitere Folgen scheint das Renkontre nicht gehabt zu haben; denn der Hamburger Frauenchor trat nicht [63] mehr zusammen. Seinem Dirigenten lagen ganz andere Dinge am Herzen. In Goethes Gedichten hatte er in nächster Nachbarschaft der von Mendelssohn komponierten »Ersten Walpurgisnacht« die Rinaldo-Kantate gefunden und sich wundersam von ihr berührt gefühlt. Noch immer harrte der herrliche Text eines kongenialen Tondichters. Ein solcher ist der Kapellmeister Winter in München gewiß nicht gewesen, obgleich er vor allen andern einmal dazu berufen war, als Autor des beliebten »Unterbrochenen Opferfestes« und einer der zahllosen »Armiden«, die seit Ferraris erster derartiger Oper von 1639 in Italien, Frankreich und Deutschland ihren Rinaldo und das Publikum bezauberten. Wohl wußte er sich den Dank des Prinzen Friedrich von Gotha zu verdienen, für dessen »hübsche und gebildete Tenorstimme« Goethe den Text verfaßt hatte, und auch den Beifall des Dichters zu erwerben. Seine Musik aber verscholl mit der Stimme des durchlauchtigen Sängers und drang nicht einmal bis zu Zelter, der, als Goethe ihm das Gedicht nachträglich schickte, selbst Lust bekam, es zu komponieren. Zelter rühmt die »zauberhafte Leichtigkeit, Lieblichkeit und reizende Glätte« des Textes und meint, es werde keine der leichten Arbeiten sein, »wenn herauskommen soll, was drinnen steckt«.
In Wien hatte Brahms die Stimme des jungen Gustav Walter und den Chor des Wiener Männergesangvereins gehört. Der weiche, quellende Glanz der einen, das machtvolle Organ des andern, das an Fülle und Mannigfaltigkeit der Tongebung mit jedem gemischten Chor, an Feinheit des nuancierten Ausdrucks und agogischer Dynamik mit jedem Solisten wetteifern konnte, verfehlten ihren Eindruck auf den überraschten Zuhörer nicht. Beide zusammen mögen ihn in seinem Vorsatz bestärkt haben. Den Ausschlag aber gab, wie immer bei Brahms, der alles, was ihm von außen zukam, nur dann der Beachtung wertschätzte, wenn es einem inneren Triebe begegnete, seine Gemütsverfassung. Die erlebte Wahrheit in Goethes Darstellung des Rinaldo hatte ihn im Innersten getroffen; das Gedicht hielt auch ihm den diamantenen Schild als Spiegel vor, und er erkannte schaudernd in dem Doppelwesen Rinaldo-Goethes sein eigenes Bild. Auch er hatte die längst beschlossene Abreise zaudernd immer wieder hinausgeschoben:[64] auch er konnte sich von dem Lustgefilde der schönen Stadt nicht trennen und wartete, trotzdem der eigentliche Zweck seines Aufenthalts längst vereitelt war, und auch er schmachtete in den Fesseln einer dunkeläugigen Armida. Das Gerücht bezeichnet die erste dramatische Sängerin, die vielgefeierte Donna Anna, Agathe, Valentine, Elisabet, Elsa und Leonore der Wiener Hofoper Luise Dustmann als den freundlich an seinem Himmel aufgegangenen Stern der Liebe, der dem Fremdling auf seinen ersten Wiener Gängen voranleuchtete. Gewiß ist, daß Brahms intim mit ihr verkehrte, und daß er ihr bis an sein Ende (Frau Dustmann überlebte ihn um zwei Jahre) treue Freundschaft bewahrte. Ebenso sicher ist, daß sie ihn als Fidelio durch ihren seelenvollen Gesang und ihr ergreifendes Spiel zu Tränen rührte – er sprach manchmal davon und immer mit leidenschaftlicher Wärme. Gleichwohl kann hier nur von einer Vermutung die Rede sein, die allerdings noch durch einen besonderen Umstand unterstützt wird. In der Art seines Rinaldo – die erste und letzte, die er geschrieben – hat Brahms die Wendung aus dem Poco Allegro der Kerkerarie.
Florestans herübergenommen: »Ein Engel, Leonore!« Vielleicht war es auf ein Zitat, ein Merkzeichen abgesehen, wie er sie liebte.10 Die Übereinstimmung tritt dadurch noch lebhafter hervor, daß das ganze Musikstück unter dem Zeichen Beethovens zu stehen scheint, wenn es auch hauptsächlich die Kongruenz der Metren ist – beide Arien beginnen in vierfüßigen, übers Kreuz gereimten Trochäen, die bei erhöhter Leidenschaftlichkeit in Anapästen übergehen – was eine gewisse allgemeine Ähnlichkeit mehr vortäuscht als feststellt.
Goethes »Rinaldo« fußt auf einer Episode aus Tassos »Befreitem Jerusalem«, die der moderne Dichter als bekannt voraussetzen durfte. Bei ihm aber ist die Situation eine andere als in dem italienischen Original. Rinaldo hat bereits entsagt und ist entschlossen, den mahnenden Gefährten, die vom Meere aus in Armidens Garten eingedrungen sind, zu folgen. [65] Das Schiff steht zur Abfahrt gerüstet. Aber der Unselige zögert noch: die jähe, plötzliche Veränderung, die mit ihm und um ihn vorgegangen ist, befremdet, ängstigt, hemmt ihn, sie zwingt seinen Geist, die entschwundenen Bilder des Glückes von neuem aufleben zu lassen, und der Gedanke an die verlorene Fülle der Vergangenheit, der stärker ist als das Pflichtgebot der leeren, nüchternen Gegenwart, will ihn zurückhalten. Das Paradies, in welchem sich die Reize Himmels und der Erde vereinigten, ist unversehens ein wüster Schreckensort geworden. In dem Augenblicke, da Rinaldo, aus dem Frieden seiner Seele aufgestört, Armiden entsagt, vollzieht sich in ihm eine Umwandlung, die noch stärker ist als der gleichzeitig eintretende Dekorationswechsel des äußeren Schauplatzes. So war es auch Goethe geschehen bei der Lösung eines unklaren Liebesverhältnisses, und die alte Zeit lebte wieder in ihm auf, als er im Jahre 1811 den sechzehnten Gesang des »Befreiten Jerusalem« überlas und den Stoff für seine Kantate darin entdeckte. Mit verjüngender Kraft strömten dem Zweiundsechzig jährigen die an seine Lililieder erinnernden Verse von den Lippen:
»Stelle her der goldnen Tage
Paradiese noch einmal,
Liebes Herz! ja schlage, schlage!
Treuer Geist, erschaff sie wieder!
Freier Atem, deine Lieder
Mischen sich mit Lust und Qual.«
Rinaldo-Goethe kann sich nicht darein finden, daß er nur der Narr seiner Illusion gewesen sein soll, und er sucht das unvergängliche Teil seiner Liebesleidenschaft durch die Macht der Poesie zu retten und zu befestigen: an die Stelle des desillusionierten Liebhabers tritt der Dichter. Aber der eine ist ein ebenso gefährlicher passiver Widersacher des tätigen Helden wie der andre. Im Beispiele Rinaldos wird der psychologische Vorgang, der den Liebhaber zum Dichter macht und den Dichter wieder zum Liebhaber zurückzubilden droht, dargestellt, somit der ganze Konflikt von außen nach innen gewendet, aus dem Körperlichen ins Geistige, aus dem Dramatischen ins Lyrische übersetzt. Den gebrochenen Zauber wieder herzustellen, gelang dem Poeten so gut, daß er, von seinem eigenen Hirngespinst gefangen, an die Realität seiner Schöpfung glaubt und außer sich gerät, seine Armida, die er [66] nun recht eigentlich erst besitzt, verlassen zu sollen. Der zweite Abschied fällt ihm noch schwerer als der erste. Von der leiblichen Armida konnte Rinaldo sich losreißen, ihrem Phantom wird er nicht entrinnen. Kein diamantener Schild vermag den feineren Trug der Phantasie zu entsiegeln, der den gröberen der Sinne ablöste. Erst das aus der Ferne des Lagers wirkende Gebet der Kreuzfahrer rettet den Helden vor der neuen, bedenklichsten Gefahr, in Schwärmerei des Wahnsinns zu verfallen, und der umspringende günstige Wind ist das Zeichen, daß die »Liebe von oben« an ihm teilgenommen. Die Meerfahrt schafft ihm Genesen, und er erreicht sein hohes Ziel.
Brahms ließ sich die Worte, die Zelter und Goethe über den Gegenstand austauschten, gesagt sein.11 Er hütete sich, des Guten zu viel zu tun, blieb streng bei der Sache und führte das leicht und frei Angedeutete aus, ohne den inneren Gang, den psychologischen Prozeß der Handlung, durch ablenkende Schilderungen zu unterbrechen oder den Text mit billigem Schmuck zu überladen. Im richtigen Gebrauch der Kunstmittel zeigte Brahms den Meister und verschmähte jede Art von gefallsüchtiger Übertreibung, hinter welcher der Schwächling gern seinen Mangel an Gemüt verbirgt. Einem luxurierenden Orchestermaler wäre es ein leichtes gewesen, mit ein paar geschickten Handgriffen die unbequeme Hauptsache beiseite zu schieben, um Tasso und Goethe als symphonischer Dichter abzutrumpfen. Armidens Palast und Garten, der diamantene Schild, die Verwandlung, die Erscheinung der Zauberin, das Wunder der Befreiung oder »Erlösung«, die Heimfahrt – welche Fülle von verführerischen Gelegenheiten, in blendender Tonmalerei zu schwelgen! Mit offenen Augen ging Brahms an diesen Herrlichkeiten vorbei, zur großen Enttäuschung seiner mit dem Publikum harmonierenden Verehrer, und hielt sich, wie bei den Romanzen von der schönen Magelone, mit denen sein »Rinaldo« in Stil und Ausdruck nahe verwandt ist, an jenes unsichtbare ideale Theater der Phantasie, in welchem allein er den für die Goethesche »Szene« geeigneten Schauplatz erkannte. Darum gelang es ihm auch, den tiefen Sinn der Dichtung zu enträtseln und anstatt[67] einer Serie schnell verblassender Prunkbilder das, die Züge unsterblichen Geistes tragende Seelengemälde zu schaffen, welches wir, im Widerspruch zu den Urteilen anderer, in diesem Muster einer weltlichen Kantate bewundern. Das von Brahms im »Rinaldo« verwendete Orchester ist das gewöhnliche, nur gebraucht der Komponist drei Pauken und läßt hier und da die kleine Flöte eintreten, um besonderen Stellen ein scharfes Licht aufzusetzen. Mit den Posaunen wird sehr sparsam und vorsichtig umgegangen. Sie erscheinen zuerst bei dem Vorzeigen des Schildes, wo sie im Pianissimo, abwechselnd mit Holzbläsern und Hörnern die Oktaven der Streicher füllen helfen, dröhnen in die Vision der vom Blitze getroffenen Paläste hinein, begleiten die von günstigem Winde beförderte Seereise und bekräftigen das Losungswort des Schlusses. Der reichlich bedachte Chor der Bläser drückt niemals auf den der Singstimmen und breitet ein zartes, lustiges Gewebe unter dem Tenorsolo aus, das nicht leicht zu singen ist, am wenigsten in der bis zum Delirium gesteigerten Exaltation des Helden, dafür aber mit der großen Arie jedem halbwegs gebildeten Sänger zum schönsten Erfolge verhilft. Das in süßesten Wohllaut getauchte Musikstück ist das Herz der zweiteiligen Kantate, die sich in mehrere, eng miteinander verbundene Sätze gliedert, aber nur den zweiten Teil, den Schlußchor, gesondert für sich bestehen läßt. Als Bindemittel dienen mehrere Leitmotive, die zum Teil schon in dem kurzen Orchestervorspiel, der gedrängten und spannenden Exposition des Ganzen, eingeführt werden.
Nicht an ihnen allein ist der Einfluß zu bemerken, den Wagners »Tristan« ganz unverkennbar auf »Rinaldo« ausgeübt hat. Die Nähe der imposanten symphonisch-dramatischen Liebestragödie, welche von der Wiener Hofoper nach siebenundsiebzig an, strengenden Proben im März 1863 beiseite gelegt wurde, tat ihre Wirkung auf alle, die mit ihr zu tun bekamen. Cornelius und Tausig waren mit Partitur und Klavierauszügen bewaffnet, und »Tristan und Isolde« ihr tägliches Brot, das sie mit Brahms teilten. Cornelius studierte auf Wagners Betreiben der Dustmann und Destinn die Partien der Isolde und Brangäne ein, Tausig spielte das Werk von Anfang bis Ende auf dem Klavier, und [68] Brahms hörte mit schauderndem Entzücken zu.12 In keinem andern Brahmsschen Werke kommen so viele unvorbereitete, rasche Harmoniewechsel vor wie in seinem »Rinaldo«, und die seufzenden und jammernden Tonreihen:
und
oder auch:
die sich mit Motiven aus Tristan, z.B. mit:
berühren, gehören bei ihm zu den größten Seltenheiten. Auch das für dramatisch geltende Tremolo fehlt nicht. Aber diese kleinen Flecken entstellen das Werk nicht; wir möchten sie Schönheitspflästerchen der Partitur nennen, da sie deren Glanz und gesunde Farbe noch hervorheben.
So lyrisch das Werk, seinem Charakter gemäß, verläuft, – es finden sich doch in ihm allerlei dramatische Ansätze. Rinaldo selbst zerfließt nicht in Stimmung, sondern verdichtet sich zu einer lebensvollen Gestalt. »Der Komponist,« schreibt Billroth, »hat nicht einen durch Bezauberung sinnlich verliebten Mann in reiferen Jahren, sondern einen von der Schwärmerei der Liebe beseelten Jüngling aus dem Rinaldo gemacht«, und fügt hinzu: »In der [69] künstlerischen Produktion kann man eben nicht lügen.«13 Es könnte also die oft aufgeworfene Frage, ob Brahms das Zeug zum dramatischen Komponisten hatte, im Hinblick auf »Rinaldo« in bejahendem Sinne beantwortet werden. Dafür, daß er nicht zum Musikdrama fortgeschritten, sondern bei der Oper geblieben wäre, könnte abermals, ohne Appellation an die Prinzipien des Meisters, der »Rinaldo« einstehen: seine Leitmotive, welche von denen Wagners an prägnanter Plastik bei weitem übertroffen werden, haben zu viel innerliches organisches Leben und zu wenig äußerliche Widerstandskraft und Tragfähigkeit, um ein derartiges weitläufiges Ton- und Wortgebäude zu stützen.
Das späte Erscheinen der Kantate hat Biographen und Kritiker beirrt. Man glaubte sie mit dem »Frithjof« von Max Bruch (1864) in Konkurrenz bringen und andererseits an Brahms' »Deutschem Requiem« messen zu sollen, das der ersten Aufführung des »Rinaldo« voranging. Diese fand erst am 28. Februar 1869 in einem Konzert des Wiener Akademischen Gesangvereins14 unter Brahms statt, und Gustav Walter sang die Titelpartie, so schön, daß Billroth meinte, man wisse nicht, ob er für den Rinaldo oder dieser für ihn geschaffen worden sei. Brahms schreibt darüber an Simrock: »Nun verlangt es Sie gewiß, von der ersten Aufführung zu hören, und ich will noch rasch erzählen. Vor allem hat sie mir recht viel Spaß gemacht und keine Bedenken. Dann war sie so gut, wie ich es nicht leicht wieder erlebe. Walter schwärmte für seine Partie und sang sie außerordentlich schön. Der Chor (300 junge Leute) war vortrefflich und das Orchester doch immer das Opernorchester hier. – Ihnen wäre nun wohl Publikum und [70] Kritik das Wichtigste – aber da ist, wie gewöhnlich, nicht so viel Rühmliches zu melden. Energisch ausgezischt wie im vorigen Jahr mein Requiem ist der Rinaldo wohl nicht, aber von einem Erfolg kann ich auch wohl nicht sprechen. Und diesmal hörten die Kritiker vom Blatt und schrieben denn auch gehörig was zusammen. Es ist eine alte Erfahrung, daß die Leute immer etwas Bestimmtes erwarten und ebenso von uns immer etwas ganz anderes kriegen. So hoffte man denn diesmal jedenfalls ein Crescendo des Requiem und bestimmt eine schön aufgeregte, geile Venusberg-Wirtschaft bei der Armida usw. ... Übrigens bitte ich Sie, sich deshalb die Sache noch zu überlegen! Es ist immerhin ein umfängliches Werk, und daß es mir und einigen Enthusiasten Vergnügen gemacht, sagt nicht viel. In der Rieterschen Zeitschrift kommen vielleicht ein paar Worte über Rinaldo von Hofrat Billroth.«
Zu den »einigen Enthusiasten« gehörte außer Billroth auch Hermann Deiters, der in derselben Zeitschrift eine wertvolle, sehr eingehende Studie veröffentlichte. Auch er verfällt, wie noch alle Kritiker des »Rinaldo« in den Irrtum, daß die stumme Armida wirklich auf der Szene erscheine, und daß ihre Dazwischenkunft die »letzte und stärkste Prüfung« des Helden sei. (Die zweideutigen Verse: »Zum zweiten Male seh' ich erscheinen« usw. sind die Ursache des alten und manches neuen Mißverständnisses, unter denen die in ihrer ätherischen Schönheit unverstandene, lichtumflossene Komposition noch immer zu leiden hat.) Aber er wünscht doch nicht, wie Hanslick, dem schwärmerischen Jüngling »einige Tropfen Tannhäuserblut« oder vermißt, wie Kretzschmar, den »groben Theaterpinsel«, noch tut er, wie Reimann und andere, das Werk achselzuckend mit ein paar Redensarten ab. Wäre Brahms rechtzeitig, d.h. vor dem Requiem mit dem »Rinaldo« aufgetreten, so wäre dies dem äußeren Erfolge günstiger gewesen. Er konnte es nicht, weil er mit dem Schlußchor lange nicht zufrieden war und erst im Sommer 1868 nach dem Bonner Musikfeste dazu kam, ihn in zweiter, endgültiger Fassung zu vollenden.15 [71] In Blankenese wurde das Werk nur provisorisch abgeschlossen.
In seiner dortigen Zurückgezogenheit wurde Brahms eines Tages von der Arbeit aufgestört durch ein Telegramm von Flatz und einen Brief Josef Gänsbachers, die ihm mitteilten, daß ihn die Wiener Singakademie zu ihrem Chormeister gewählt habe. Die Nachricht kam Brahms unerwartet und überraschte ihn um so mehr, als er, wie schon im vorigen Kapitel gesagt worden ist, zwar schon in Wien davon hatte reden hören, daß man bei einem etwaigen Personalwechsel auf ihn reflektieren würde, – »mir wird, wie es scheint, die Chormeisterstelle der Singakademie hingehalten« schrieb er an Joachim – aber damals hoffte er noch auf Hamburg und verhielt sich, auch aus anderen Gründen, mehr ab lehnend als entgegenkommend. Zudem ging in Wien die Rede, daß Stockhausen an eine damals geplante »Hofopernschule« berufen werden sollte. Nun war am 6. Mai Ferdinand Stegmayer, der bisherige Leiter der Akademie, gestorben, und es mußte zur Neuwahl geschritten werden. Um die Stelle bewarb sich Franz Krenn, der sich mit Hellmesberger in die Vertretung des erkrankten Stegmayer teilte. Ein geborener Österreicher, besaß er schon als solcher die Sympathien seiner Landsleute und hatte sich überdies durch seine Kirchenkompositionen – er war Kapellmeister an der Hofkirche zum heiligen Michael – einen großen Anhang gemacht. Gänsbacher, neben Flatz, dem Gatten der früher erwähnten Sängerin, das einflußreichste Vorstandsmitglied der Singakademie, erhielt gleich nach dem Tode Stegmayers in der Kanzlei des Advokaten Baron Härtel, bei dem er mit Dr. Schneider, dem Neffen Franz Schuberts, als Konzipist arbeitete, den Besuch des Musikmäcens Fürsten Czartoryski, der ihn und Schneider für den von oben protegierten Krenn zu gewinnen hoffte. Gänsbacher aber, der das Heil des Vereins in Brahms sah, agitierte lebhaft für diesen, trat in der Generalversammlung mit einem glänzenden Plädoyer gegen den Fürsten auf und setzte die Wahl durch, mit neununddreißig gegen achtunddreißig Stimmen. Eine einzige Stimme, vielleicht die irgend eines unbekannten, gleichgültigen Menschen entschied das Schicksal des großen Künstlers und führte damit eine wichtige – folgenschwere Wendung in der neueren Musikgeschichte [72] herbei! Denn Brahms nahm die Wahl ohne allzu langes Überlegen und Verhandeln an, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit und fast im Widerspruche zu seiner zähen, vorsichtigen und nachdenklichen Natur. Der Gedanke, daß gekränkter Ehrgeiz und verletzte Vaterlandsliebe dabei im Spiele waren, läßt sich nicht abweisen. – Wahrscheinlich hatte er bei seiner Anwesenheit in Wien über die eigentümlichen Verhältnisse der Singakademie an der gehörigen Stelle keine näheren Erkundigungen eingezogen; denn wäre er von dem desolaten Zustande des Institutes, das ihn an seine Spitze berief, genau unterrichtet gewesen, so hätte er gewiß niemals Ja gesagt. Unter allen Umständen war sein Entschluß ein überstürzter, und wir werden in der Folge sehen, daß er es zwar zu büßen, aber nicht zu bereuen hatte,par dépit der Dirigent der Wiener Singakademie geworden zu sein, denn seine dauernde Übersiedlung nach Wien schlug zum Segen für ihn und seine Kunst aus.
Er selbst mochte sich am wenigsten klar sein über den verborgenen Beweggrund, der ihn antrieb, so vorschnell zu handeln, anstatt, wie er früher zu Joachim sagte, »ernsthaft zu bedenken«. Ihm bereitete es keine geringe Genugtuung, sich vor den Hamburgern in seiner neuen Würde zeigen zu können, und die Aussicht auf die lang erwünschte geregelte Tätigkeit, von der er sich die kräftigste Förderung seines Talentes versprach, erfüllte ihn mit Lust und Freude. Der redliche Wille und heilige Eifer, mit dem er dann sein Amt antrat, galten ihm, wie immer, als die sicherste Gewähr für den glücklichen Erfolg, und so ließ er, nachdem er schon eine Woche vorher an Gänsbacher geschrieben hatte: »Bis dahin sollen Sie sich nicht blamiert haben; ich nehme an, und ich komme«, am 30. Mai 1863 folgendes ostensible Schreiben an die Vereinsleitung der Wiener Singakademie vom Stapel:
»Hochgeehrteste Herren!
Daß die Dirigentenwahl der Wiener Singakademie auf mich fallen konnte, ist mir ein ebenso überraschendes als ehrenvolles Zeichen Ihres Vertrauens erschienen, das ich dankbar zu schätzen weiß. Und so möchte ich Ihnen denn vor allem meine lebhafte Freude über das mir gewordene Anerbieten ausdrücken, und wie sehr ich geneigt bin, ja wie sehr ich wünsche, ich möge [73] das mir geschenkte Vertrauen durch meine Tätigkeit für die Akademie verdienen können. Ich hoffe nun, und zwar teils durch Ihre Güte, einiges Nähere über die Akademie und über die von mir verlangte Tätigkeit zu erfahren, und hoffe zugleich sehr, es möge mir der Antrag dann immer annehmbarer erscheinen. Daß ich mich überhaupt bedenke, von der ehrenvollen Einladung Gebrauch zu machen, werden Sie erklärlich finden, da eine derartige Stellung doch jedenfalls sehr ändernd in meine bisherige Lebensweise eingreift. So nehme ich mir also die Freiheit, Ihnen hier gleich einiges zu notieren, über das ich Ihre gütige Auskunft wünschte. Vor allem möchte ich wissen, wie lange und wie sehr ich überhaupt gebunden bin durch die Akademie. Nach den Statuten gehen die Übungen bis zum August, das tun sie aber in Wirklichkeit wohl nicht? Bleibt, wie bisher, ein Vize-Chormeister beschäftigt, und kann ich sonach, falls ich wünsche, eine oder mehrere Wochen verreisen und diesem derweilen die Übungen übertragen?
Dann wünsche ich zu wissen, wie stark derzeit die Zahl der singenden Mitglieder der Akademie ist, und zwar nach den Stimmen (Sopran, Alt, Tenor, Baß); ferner, wie stark die Männer etwa im letzten Winter bei den gewöhnlichen Proben vertreten waren. Damit hängt die Frage zusammen, ob jetzt bis zum Wiederanfang wohl dafür getan wird, neue Mitglieder zu gewinnen, und wer etwa die Prüfung und Aufnahme derselben übernimmt. Sehr lieb wäre es mir, wenn ich durch Ihre Güte die bisherige Tätigkeit der Akademie übersehen könnte, etwa durch Übersendung der Programme, so daß ich sehe, was geleistet, und also, was zu leisten ist. Wäre es möglich, mir vom Herbeckschen Singverein dasselbe zu verschaffen, so wäre mir das freilich außerordentlich angenehm. (Schon der zu wählenden neuen Werke wegen.) Schließlich spreche ich ungern auch über den Geldpunkt. Doch indem ich bedenke, daß die Beschäftigung mit der Akademie mich vielfach hindern wird, anderweitig danach umzuschauen, so will es doch überlegt sein. Vielleicht wäre es das einfachste, wenn ich Sie bäte, die außerordentlichen Einnahmen des bisherigen Chormeisters, wovon ich auch durch Sie höre, in einer Weise festzustellen, daß das Ganze [74] ein genügender fixer Gehalt für mich würde. Doch ich fürchte, ich mißbrauche Ihre Geduld nur zu sehr. Es ist eben ein besonderer Entschluß, seine Freiheit das erstemal wegzugeben. Jedoch, was von Wien kommt, klingt eben dem Musiker noch eins so schön, und was dorthin ruft, lockt noch eins so stark. Möchten Sie damit, wie ich dringend bitte, meine Weitläufigkeit gütigst entschuldigen.
Mit ausgezeichneter Hochachtung ergebenster
Johannes Brahms.«
Gleichzeitig mit diesem Schreiben, in welchem die Absicht, den Antrag anzunehmen, aufrechterhalten wird, ging von Hamburg ein zweites an Gänsbacher ab, das noch mehr als das vorige erkennen läßt, wie wenig Brahms mit der Sachlage vertraut war. »Lieber Freund,« heißt es unter demselben Datum, »ich hätte meinen Brief an das Komitee keinesfalls fortgeschickt, ohne Ihnen eine Koda desselben zu schreiben. Jetzt muß ich alles an Sie schicken und um gütige Besorgung bitten. Ich wohne nämlich zwei Stunden von hier in Blankenese, habe heute hier geschrieben und eben den Brief des Komitees, somit auch die Adresse draußen gelassen. Ich hoffe stark, Sie gehören soweit zum Komitee, daß Sie meinen Brief und meine Wünsche mitlesen und vielleicht auch mit antworten. Ich habe keine bestimmte Summe genannt, da ich die gebotene (420 fl.) zu niedrig fand. Auf 600 fl. muß ich doch mindestens rechnen können.16 Ferner rechne ich stark darauf, die früheren Programme der Akademie ansehen zu können, und wüßte gern, was etwa von besonderen Sachen neu wäre. Das Weihnachts-Oratorium von Bach ist wohl bei Ihnen (in Wien) aufgeführt?
Vielleicht wäre es nicht unnützlich, wenn man außer den gewöhnlichen Übungen, abwechselnd jede Woche Männer- und Damen-Chor versammelte. An diesen Abenden natürlich hauptsächlich Werke für Männer- oder Frauenstimmen sänge und nur nötigenfalls, für ein Konzert etwa, an Werken für gemischten Chor übte. Man zöge vielleicht die Männer dadurch einigermaßen an [75] und könnte sie entschädigen für die gewöhnlichen Übungen und zugleich der Akademie sehr nützen ...
Hat die Akademie in ihrer Bibliothek noch viel Unbenutztes? und was etwa? vielleicht größere Sammlungen älterer geistlicher Sachen – Proske?17 Ich hoffe überhaupt sicher, ich darf Ihre Güte weiter genießen, und Sie finden bisweilen ein Viertelstündchen, mir zu schreiben. Etwas langsam geht die Korrespondenz, weil ich eben weit wohne und unregelmäßig zur Stadt komme oder Zusendung verlange.
Genieren Sie sich nicht, meine 30 fl. einfach liegen zu lassen oder zurückzuschicken. Ich packte sie so in Gedanken ein. Dr. Enderes wird mir doch eben kein eigentliches Recht auf Veröffentlichung übertragen können, und ich bezahle schließlich nur die Handschrift, und zufällig müßte Spina wohl guter Laune sein, wenn er dafür herausrückte.
Grüßen Sie Dr. Schneider, Hanslick herzlich und alle, die sich meiner freundlich erinnern. Mit bestem Gruß Ihr Johs. Brahms.«
Der Brief hat folgendes ergötzliche Postskript:
»An das – an ein –
An ein verehrliches – an ein geehrtes
An ein hochachtbares – von – von – zu – –
Ich weiß wirklich nicht, ob auch draußen –? Höflichkeit hingehört, innen habe ich soviel als möglich angebracht. Also möge das Kuvert nicht mit zu den Akten gelegt und gütig entschuldigt werden.«
Zur Ergänzung der Präliminarien, welche die Wiener Stellung vorbereiteten, muß hier noch ein dritter, an Hanslick gerichteter Brief aus derselben Zeit mitgeteilt werden, dessen interessanter Schluß zudem wichtig ist für die damalige künstlerische Anschauung des Komponisten. Im ganzen möchte er sie gern mit der Hanslickschen Ästhetik in Übereinstimmung setzen, wenn er auch in vielen wichtigen Punkten sehr erheblich von ihr abwich. Hanslick hatte den musikalischen Beweisführer seiner Vorträge zu seiner Berufung beglückwünscht und die neueste Auflage seines Buches »Vom Musikalisch-Schönen« verehrt. Brahms antwortet ihm:
[76] »Mein lieber Freund! Du wirst Dich wundern, daß die froheste, dankbarste Erwiderung nicht eiliger kommt als Deine und so mancher freundliche Brief zu mir. Ich komme mir aber vor wie ein unverdient Gelobter und möchte mich lieber eine Weile verkriechen. Habe ich doch beim Empfange der telegraphischen Depesche (durch Flatz, der doch stets den Auftakt haben muß!) entschieden mit so ehrender Aufforderung zufrieden sein wollen und die Götter nicht weiter versuchen.
Viel gewisser will ich jedoch jetzt annehmen und kommen. Und da weiter bei mir nichts in Frage kommt als, ob ich eben den Mut habe ›Ja‹ zu sagen, so soll's eben passieren. Hätte ich abgelehnt, meine Gründe wären nur fremd für die Akademie und für Euch überhaupt gewesen.
Großen Dank muß ich Dir noch sagen für Dein vortreffliches Buch (vom Musikalisch-Schönen), dem ich genußreichste Stunden, Aufklärung, ja förmlich Beruhigung verdanke. Jede Seite ladet ein, auf das Gesagte weiter fortzubauen, die schönsten Durchführungen zu versuchen, und da hierbei ja, wie Du sagst, die Motive die Hauptsache sind, so verdankt man Dir immer den doppelten Genuß. Für den aber, der seine Sache so versteht, gibt's überall zu tun in unserer Kunst und Wissenschaft, und will ich wünschen, uns werde bald über anderes so schöne Belehrung.« ...
Eine Stelle in dem Briefe (vom 30. Mai) an Gänsbacher bedarf noch der Erklärung und Ergänzung. Die dreißig Gulden, die Brahms »so in Gedanken« einpackte, waren für ein Manuskript von Franz Schubert bestimmt. Die Söhne des verstorbenen Hofrat Karl Enderes, der noch von seiner Mutter her mehrere Handschriften Schuberts, darunter die »Zwanzig Ländler« und den »Wanderer«, besaß, wollten den Nachlaß verkaufen, und Brahms, der in Wien ein ebenso leidenschaftlicher wie glücklicher Schubert-Sammler geworden war, dachte durch Vermittelung Gänsbachers, dessen Schüler die beiden Söhne des Hofrats waren, in den Besitz der Autographen zu kommen. Das gelang ihm denn auch mit einer Zahlung von weiteren zwanzig Gulden, und er wurde um billiges Geld der vielbeneidete Eigentümer jener Kostbarkeiten. Schubertsche Handschriften wurden in Wien damals [77] nicht sonderlich geschätzt, gleichgültig, ob sie schon Gedrucktes oder noch Ungedrucktes enthielten. Ja, Brahms konnte sich rühmen, von Spina, dem Hauptverleger Schuberts, als »Zuwag« (so nennen die Wiener Fleischhauer die Knochen) ein Schubertsches Manuskript erhalten zu haben, das mehr wert war als das Honorar und die Kompositionen (wie er sagt), für die er jenes empfing. Das beschämende Beispiel des edlen Schumann, der die großeC-dur-Symphonie von Wien zu Mendelssohn nach Leipzig mitnahm, um sie wenigstens zur Aufführung zu bringen, hatte nicht lange nachgewirkt. Als Herbeck 1863 die Lazarus-Kantate und den Chor »Der Entfernten« herausbrachte, und Brahms ihm als Pionier Schuberts mit Feuereifer assistierte, wurde die allgemeine Aufmerksamkeit neuerdings auf den Halbvergessenen und die erstaunliche Fülle seiner unveröffentlichten Werke hingelenkt, und es begann eine Art von Schubert, Renaissance. Dem Programm des Gesellschaftskonzerts vom 27. März 1863 war eine von Herbeck verfaßte Notiz beigedruckt, in der beklagt wird, daß diese wundervolle Passionsmusik Schuberts, eben jene Osterkantate, bis jetzt nur als ein freilich unschätzbares und umfangreiches Fragment vorliege. Der ohne Zweifel vorhanden gewesene Schluß des zweiten Teiles, sowie die dritte Handlung wären bis jetzt trotz eifriger Nachforschungen nicht zu ermitteln gewesen. »Die heutige erste Aufführung wird der Gesellschaft der Musikfreunde ermöglicht durch Überlassung einer Abschrift der ersten Handlung und durch die von ihr käuflich erworbene Originalpartitur der zweiten Handlung, welche aber im letzten Teile des Chors: ›Sanft und still schläft unser Freund‹ abbricht. Glücklicherweise wurde in den Papieren eines in der Nähe Wiens befindlichen Fragners vulgo Greißlers noch ein Bogen der Originalpartitur gefunden, welcher den Abschluß des erwähnten Chors enthält und in den Besitz des Unterzeichneten kam.« Herbecks Sohn und Biograph, der diese damals sehr plausibel klingende Geschichte nacherzählt, bemerkt dazu: »Von wem diese Abschrift beigestellt wurde, ist nicht gesagt.« Sollte er nicht gewußt oder vergessen haben, daß sie von Brahms herrührte? Das Original lag bei Spina, und Brahms hatte sich die Mühe nicht verdrießen lassen, die Partitur abzuschreiben, von der jeder Takt ihn mit Wonne erfüllte. Seiner fleißigen Hände [78] Werk befindet sich heute im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde, und zwischen den ersten Blättern der Abschrift liegt als Lesezeichen Herbecks Programm mit der Räubergeschichte von dem Wiener Greißler, die Brahms brevi manu mit der Randbemerkung »Alles nicht wahr« abfertigt. Weiter hatte er darüber nichts zu sagen, desto mehr aber mit Verlegern zu unterhandeln und korrespondieren, um die Werke seines geliebten Schubert unter Dach und Fach zu bringen, bevor sie in alle Winde davonflatterten.
»Die schönsten Stunden hier,« schrieb er an Rieter-Biedermann aus Wien, »verdanke ich ungedruckten Werken von Schubert, deren ich eine ganze Anzahl im Manuskript zu Hause habe. So genußvoll und erfreuend aber ihre Betrachtung ist, so traurig ist fast alles, was sonst daranhängt. So z.B. habe ich viele Sachen hier im Manuskript, die Spina oder Schneider gehören, und von denen es nichts weiter als eben das Manuskript gibt, keine einzige Kopie! und die Sachen werden bei Spina so wenig als bei mir in einem feuerfesten Schrank aufbewahrt. Zu unglaublich billigem Preis kam neulich noch ein ganzer Stoß ungedruckter Sachen zum Verkauf, den zum Glück noch die Gesellschaft der Musikfreunde erwarb. Wieviel Sachen sind zerstreut, da und dort bei Privatleuten, die entweder ihren Schatz wie Drachen hüten oder sorglos verschwinden lassen.« Am 15. Mai dann meldet er demselben Adressaten aus Hamburg: »Wegen Schubert und einer möglichen Verknüpfung des schönen Namens mit dem Ihren habe ich vielfach gesprochen mit Besitzern Schubertscher Handschriften. Nun findet sich jedoch in dem Kontrakt, den Spina mit Ferdinand Schubert gemacht hat, die Klausel, daß ihm das Verlagsrecht gehöre von allen Schubertschen Werken, die jetzt in seinem Besitz sind, und die sich irgendwann und irgendwo finden mögen! Dies soll vor Gericht nicht durchzuführen sein, wie mir Fachleute sagen, und Spina selbst die Unhaltbarkeit des Kontraktes belächeln. Der Besitz des Manuskripts allein gibt aber doch auch kein Recht zur Herausgabe? Und so müßten Sie vor allem selbst wissen, wie weit Sie vor Spina Rücksicht nehmen. Der Schwestersohn von Schubert ist ein Doktor der Rechte: Eduard Schneider, Wien, Josefstadt, Schlösselgasse Nr. 2. Dieser besitzt sehr viel Handschriften (6 Symphonien usw.) und ist sehr geneigt, [79] mit Ihnen zu korrespondieren. Ich habe ihm oft von Ihnen gesprochen, und haben Sie Lust, so schreiben Sie nur an ihn. Er ist sehr liebenswürdig und musikalisch und hat das uneigennützigste Interesse für die Sache. Ein andrer Doktor der Rechte, Enderes, hat z.B. ein Dutzend reizender Tänze, die er ohne weiteres (doch vielleicht für kleineres Honorar) zum Druck überläßt. Da ist nur von Ihrer Seite Spina zu bedenken. Wie dies denn überhaupt das Hauptbedenken ist. Eine Anfrage bei ihm halte ich für sehr unnütz. Er hält es für eine Art Ehre, der Schubert-Verleger zu sein, nimmt auch wohl alles an und legt es zu den übrigen Sachen in den Schrank. Nun aber versteht sich, lieber Herr, daß ich dies alles nur Ihnen und ganz im Vertrauen sage. Gehen Sie vor in der Sache, so höre ich vielleicht davon. Es interessiert mich höchlichst. Eine nach der ersten Ausgabe revidierte Ausgabe der Müllerlieder z.B. wäre eine wohl praktische und nützliche Sache. Es ist nämlich fast jedes Lied später mehr oder weniger verunstaltet. Vielleicht könnten Sie für 186718 derlei vorbereiten.«
Auf die inzwischen in sein Eigentum übergegangenen Walzer kommt Brahms im Dezember wieder zurück, und als ehrlicher Makler verlangt er nicht mehr dafür, als was sie ihn selbst gekostet haben: 50 Gulden. »Vor allem stehen zwölf Walzer auf einem Blatt in Reih' und Glied, die ganz allerliebste Gesichter haben.«
Daß Schuberts große Messe in Es 1865 bei Rieter-Biedermann in Partitur und Klavierauszug herausgegeben wurde, ist außer des Verlegers Verdienst das seines treuen Beraters. Rieter hätte auch die Walzer gern genommen. Als aber Brahms deswegen bei Spina anklopfte, setzte sich dieser aufs hohe Pferd, »sprach von Gesamtausgabe und was alles – das leider in seinem Munde wenig zu bedeuten hat«. Die »20 Ländler« und viele andere Schubertiana sind dann bei Gotthard in Wien erschienen, nachdem dieser sich in Wien selbständig gemacht und sein »Bureau de musique« am Kohlmarkt eröffnet hatte (1868).
[80] Von Schuberts »Lazarus« war Brahms so entzückt, daß er noch besonders einzelne Stücke aus der Partitur ausschrieb, um Freunde an seiner Wonne teilnehmen zu lassen. »Das sind nicht etwa hervorragende Stellen,« bedeutet er Dietrich, »durchaus nicht; ganz beliebig schrieb ich hier den Anfang und das Ende des ersten Teiles. So ist die Musik durchweg, die Arie des Simon gar! O könnte ich das Ganze schicken, du würdest entzückt sein von solcher Lieblichkeit!«19 An denselben, dank seiner Oldenburger Stellung, in Oratorien- und Gemischten-Chor-Angelegenheiten erfahrenen Freund wendet er sich auch bei dem Wechsel seiner Lebensverhältnisse mit der Bitte, ihm »doch einiges dahin Schlagende« mitzuteilen. Er bekennt, daß er eigentlich nichts zu fragen, aber doch enorme Scheu habe, gerade in Wien sein Talent in dieser Sache zu versuchen. Dietrich soll ihm »ein recht praktisches Oratorium empfehlen, womit ein Neuling einigermaßen sicher debütieren kann«. Wieder denkt er an das Weihnachts-Oratorium, daneben an Händels »Alexanderfest«, und wüßte gern, wie »der erfahrene Herr Hofkapellmeister« sich bei der Einteilung und Instrumentation jener Werke geholfen habe. Es war denn doch kein Spaß, über Nacht Chormeister der Wiener Singakademie geworden zu sein, und in jedem Fall eine andere und schwierigere Sache, als den lustigen Hamburger Frauenchor oder den noch anspruchsloseren Detmolder Gesangszirkel intra muros zu dirigieren!
[81] Solche und andere Sorgen überschlichen ihn während der Komposition des »Rinaldo«; aber sie verflogen bei den Klängen seiner frischen Musik, und er erübrigte vor seiner definitiven Abreise von Blankenese noch einige Tage der Ruhe, die er den wiederversöhnten Eltern schenkte. Das unverhoffte Glück des Sohnes, den sie nun für einen gemachten Mann hielten, war der festeste Kitt für die dem Zerfall entgegengehende Familie, und Johannes konnte mit dem frohen Bewußtsein scheiden, nicht nur das Gute gewollt, sondern auch vollbracht zu haben.20 Einige Wochen der Erholung, die er nach den Aufregungen und Anstrengungen des Frühsommers nötig brauchte, sollten seiner Freundin Klara Schumann gewidmet sein, die gewiß das erste Anrecht darauf besaß, auf das genaueste über die Erlebnisse des ihr ziemlich weit aus den Augen, niemals aber aus dem Herzen gerückten Freundes unterrichtet zu werden. Sie hatte sich in Baden-Baden ein kleines, inder Lichtentaler Allee Nr. 14 (heute Lichtentalerstraße Nr. 22) gelegenes Haus gekauft, um fortan auch während des Sommers nicht müßig zu sein, sondern die Annehmlichkeit eines ihrer Gesundheit zuträglichen Landaufenthalts mit ihrem Berufszwecke zu verbinden und junge Talente, die ihre Studien nicht unterbrechen wollten, dort weiter zu unterrichten. Brahms in ihrer neuen Häuslichkeit zu empfangen, war einer ihrer ersten Wünsche, und der Freund erfüllte ihn um so lieber, als ihm das Badische Land von ihrem [82] früheren gemeinschaftlichen Ausfluge her in freundlicher Erinnerung stand. Er glaubte in ein Idyll zu kommen, und bemerkte vielleicht zuerst gar nicht, daß er in ein Epos oder Drama mit welthistorischem Hintergrunde hineingeraten war, in welchem er freilich keine handelnde Person, sondern nur den interessierten Zuschauer vorstellte. Aber dieses Drama oder Epos, das vor dem Ausbruche des deutsch-französischen Krieges während der Feldzüge von 1864 und 1866 Jahr um Jahr fortspielte bis zu der furchtbaren Schlußkatastrophe, die am 2. September 1870 dem verschlagenen Lenker der europäischen Politik den Untergang bereitete, – dieses von [83] einem Dämon der Vergeltung ersonnene Heldengedicht verbarg sich hinter der Maske des unschuldigsten Idylls; seine Akteure bliesen am Olbache, wie die Oos auch genannt wird, die Schalmei und überboten einander in Versicherungen ihrer friedfertigen Absichten.
Zwei Jahrzehnte hindurch, von 1850–1870, war der Kurort Baden-Baden die politische Küche und die Sommerresidenz der vornehmen Welt Europas. Alles, was Rang und Namen hatte in Staat, Kunst und Wissenschaft, strömte aus Frankreich, Rußland, England und Italien nach dem einladenden, weithingestreckten Wiesentale, aus welchem die Stadt zu einer lieblichen, von waldreichen Hügeln und Bergen umgebenen Anhöhe hinansteigt. Unter dem zweiten Kaiserreiche waren es die Spielpächter Benazet und Dupressoir, welche, von Napoleon begünstigt, die alte Markgrafenstadt in den luxuriösen Vorort von Paris, die romantische Natur ihrer Umgebung in die wahren Champs-Elysées umwandelte. Seit dem denkwürdigen Fürstenkongreß, der im Juni 1860 die regierenden Häupter Süd- und Norddeutschlands mit dem Prinzregenten von Preußen und Napoleon dort versammelt sah, war der Ruf des zum Allerwelts-Rendezvousplatze vorgerückten Kurortes durch alle Länder gedrungen, und es gehörte zum guten Ton, auf den Promenaden, in den Konversations- und Lesezimmern, Theatern und Konzerthallen, Restaurants, Tanz- und Spielsälen Baden-Badens die Hochsaison zuzubringen. Die eleganten Häuser längs der Hauptstraße öffneten wie im Faubourg St. Germain und am Newskij-Prospekt ihre Türen zu den Salons distinguierter Damen; eine ganze Künstlerkolonie wuchs in reizenden Villen und wohlgepflegten Gartenanlagen an den Ufern der munteren Oos empor, und das anregende Leben, das sich unter der kurfähig gewordenen Bohème entwickelte, lief dem der vornehmen Welt womöglich den Rang ab. Jedes Haus und jede Villa schmückte sich am Empfangstage festlich für die kleinere oder größere Schar von ständigen Besuchern und flüchtigen Passanten, die alle gewiß sein konnten, wohl aufgenommen zu werden, unterhaltende Gesellschaft zu finden und ausgezeichneten Menschen zu begegnen. Im großen und ganzen herrschte überall derselbe leichte und freie, jedoch keineswegs frivole [84] Ton, dieselbe Ungezwungenheit der Umgangsformen, dieselbe Freizügigkeit des Verkehrs und dasselbe verbindliche Entgegenkommen, das die Verschiedenheiten von Rang und Stand aufhob und eine Art von Republik des Vergnügens herstellte.
Zu den Häusern, in denen Brahms einsprach, nachdem er das Weltbad auf Jahre hinaus zu seiner ständigen Sommerresidenz gewählt hatte, gehörten außer dem Schumannschen die der Sängerin Viardot-Garcia, des Dichters Turgénjew,21 der Pianisten Rubinstein und Rosenhain,22 der schöngeistigen »femme politique« Frau von Mouchanoff-Kalergis23 und des Grafen Flemming. Bei dem Aristokraten hätte er die Bekanntschaft des Herrn v. Bismarck-Schönhausen machen können, des neuen preußischen Ministerpräsidenten, der zum Grausen der Liberalen während der Konfliktszeit ohne Budget auf dem Posten blieb. Brahms war, wie damals alle Welt, über die Schleswig-Holsteinische Politik des »anmaßenden Junkers« entrüstet und wich ihm in weitem Bogen aus, sehr zu seinem späteren Verdrusse. Er hat es Joachim schwer verdacht, daß der Freund, klüger als er, mit dem »Kerl, der ihm verteufelt gut gefiel«, verkehrte. (So erzählte Brahms 1883 Frau v. Beckerath.) Auch mit[85] Richard Pohl, der kurz vor Brahms' Ankunft von Weimar nach Baden-Baden übergesiedelt war, um die Redaktion des Badeblatis zu übernehmen, kam Brahms auf guten Fuß. Hoplit hatte sein schweres Rüstzeug, an dem er nie viel zu tragen hatte, weislich in den Winkel gestellt. Als »doktrinärer Reformator« des dortigen Musiktreibens gegen »den absichtlichen Kultus des brillanten Virtuosentums und des herrschenden Modegeschmacks« Front zu machen, hätte, wie er selbst bekennt, »keinen anderen Effekt als den der Lächerlichkeit« gehabt. So ließ er fünf gerade sein, sah durch seine, auf alle möglichen Schreibarten eingerichteten Finger, machte den musizierenden Lockvögeln des grünen Tisches, denen er am liebsten den Hals umgedreht hätte, die gebührende Reverenz und ging sogar soweit in seiner heiteren Unverschämtheit, daß er sich gelegentlich als Entdecker von Brahms aufspielte, den er, wie wir wissen, nach Kräften bekämpft hatte. »Der Humor ist die Hauptsache,« schreibt Schumann in seinem letzten, an Richard Pohl gerichteten Briefe (vom Februar 1854).24 Ebenso dachte Brahms und schlug lächelnd in die Hand seines ehemaligen Gegners ein, die dieser ihm herzlich entgegenstreckte. Auch ihm »war Richard Pohl lieber als der Hoplit« (Schumann).
Von einem der Künstlerhäuser, dem der Sängerin Pauline Viardot-Garcia, ist uns eine anschauliche Skizze erhalten Sie rührt von Ludwig Pietsch, dem trefflichen Sittenmaler und langjährigen Chronikeur der »Vossischen Zeitung« her. Dort lesen wir in einer Korrespondenz des Jahres 1864: »Auf allen freien Höhen wie in den heimlichen umbuschten Talwinkeln Baden-Badens sieht man fort und fort neue Villen und Chalets entstehen, die sich [86] russische und englische, deutsche und französische Familien, Künstler und reiche oder hochgestellte Private dort behufs bleibenden Aufenthalts errichten. Ein solches Chalet, groß und ausgedehnt, von Garten, Bäumen und Gebüsch umgeben, zeigt sich uns schon von weither, wenn wir in jenes breite Wiesental an der Südseite der Lichtentaler Allee einbiegen, dem der besonders eigentümlich geformte, steile und mächtige Waldbergrücken zur Linken seine charakteristische Physiognomie gibt. Es ist die Wohnstätte eines selten schönen und völligen Menschenglücks, und dies Glück ist der Gewinnst des reichsten, tüchtigsten, der hohen Kunst und allen edlen Geistesinteressen gewidmeten Lebens. Hier gründete die größte dramatische Sängerin unserer Zeit sich und ihrer Familie eine neue Heimat, als sie der unerträglich gewordenen vergifteten Luft des kaiserlichen Frankreich für immer den Rücken wandte.25 Hierher pilgern aus allen Ländern die jungen, sangesbegabten Damen, um in der hohen Schule der großen Meisterin die rechten künstlerischen Weihen zu erwerben, und auch berühmte heroische Sänger verschmähen es nicht, hier dieselbe Lehre zu suchen. Hier schafft und arbeitet sie selbst studierend und komponierend unermüdet weiter und singt auch wohl die eigenen Lieder und die Gesänge der Meister mit derselben hinreißenden Gewalt vergeistigter Schönheit und kunstdurchgebildeten Ausdrucks, die uns vor siebzehn, vor sechzehn und noch vor sechs Jahren von der Bühne, zuerst der alten italienischen, dann der königlich deutschen Oper in Berlin entzückte. Hier erinnert eine erlesene kleine Galerie von Meisterwerken der spanischen und niederländischen Malerei an die edle Liebhaberei und die trefflichen kritischen und kunstgeschichtlichen Studien des Besitzers. Hier an den Wänden des Salons erzählen zahlreiche Handzeichnungen Ary Scheffers, manches Bildnis George Sands, von der künstlerischen Hand ihrer geliebten ›Consuelo‹ selbst entworfen, von der treuen Freundschaft, welche den großen Maler und die Dichterin mit der Herrin des Hauses verband. Hier findet der Deutsche wie der Russe, der [87] Spanier und Italiener, wie der Engländer und Franzose nicht nur die reine Sprache seiner Heimat, sondern auch das tiefere Erkennen ihres Geistes, die begeisterte Liebe und das volle Verständnis seiner nationalen Kunst und deren hoher Meister. Aber dem deutschen Genius flammt hier doch der Hauptaltar als dem obersten Gott. Wie eine heilige Lade steht dort der kostbare Schrein, der Mozarts Handschrift der Don Juan-Partitur umschließt. Und wenn das nächtliche Dunkel oder der phantastische Schimmer des Mondlichts auf Wald und Gebirge ringsum liegt, mischt sich in das weiche Säuseln des Abendwindes, der leise mit dem vollen Rebenlaub um die offenen Fenster dieses Saales spielt, am häufigsten der eherne Klang der machtvollen, ewigen Rhythmen Sebastian Bachs, die erhabene Klage Glucks, der Zaubergesang Beethovens mit seiner süßen, überwältigenden Schwermut und seiner triumphierenden Pracht, oder die geheimnisvollen Wundertöne Robert Schumannscher Romantik.«
Sollten die Erwecker dieser Klänge nicht Klara Schumann und Johannes Brahms gewesen sein, die manchen, der Kunst geweihten Abend bei Viardots verbrachten? An den großen Repräsentationstagen, welche in der, dem Chalet gegenüberliegenden »Kunsthalle« stattfanden, sah das Haus Gäste bei sich, denen Brahms scheu und respektvoll aus dem Wege ging, wie das preußische Herrscherpaar, die Großfürstin Helene Pawlowna, den Großherzog und die Großherzogin von Baden, den Fürsten Karl Egon von Fürstenberg, den Grafen Bismarck u.a. Auch bei Anton Rubinstein hätte er die illusterste Gesellschaft treffen können, wenn es ihm darum zu tun gewesen wäre. Der große Meister des Pianofortespieles wies alle noch so glänzenden Anerbietungen der Badedirektoren und Impresarien ab, die ihn zum öffentlichen lukrativen Konzertieren verleiten wollten; er mochte nicht »Konzertreisender« sein in der Zeit seiner sommerlichen Villeggiatur. Dafür aber veranstaltete er mit fürstlicher Freigebigkeit jeden Sonntagvormittag hinter den Glaswänden seines altmodischen Gartenhauses musikalische Matineen und spielte sich dabei in sein ungeheures Repertoire ein. Geladen war jeder, der kommen wollte. Da wird Brahms, dem Rubinstein sein Haus, solange er [88] nicht anwesend war, zur freien Verfügung stellte26, selten gefehlt haben; der Altan vor der Villa erlaubte ihm, sich unter die minder bevorzugten Zuhörer zu mischen. Ein Albumblatt Rubinsteins, das dieser Brahms am 16. August 1864 in Baden-Baden dedizierte, ist ein dokumentarisches Zeugnis dafür, daß nicht immer unfreundliche Beziehungen zwischen beiden bestanden. Unter eine Notenzeile eines frisch komponierten Werkes schrieb der Künstler mit Anspielung auf seine öffentlichen »Privatmatineen«: »Anton Rubinstein, nicht Konzertreisender« (die beiden Worte sind dreimal dick unterstrichen), »aber doch eine schöne Gegend, wenn auch die Welt rund ist und sich an der Spielbank sehr dreht.«27
Rubinstein, auch in anderer Beziehung ein leidenschaftlicher »Spieler«, konnte stundenlang am grünen Tische sitzen und hoch pointieren, während Brahms nur immer auf Augenblicke den Spielsaal betrat und sein Glück an der Roulette mit den zulässig niedrigsten Beträgen versuchte, die er in der Regel verlor. Er kannte seine Schwäche für das Hazardspiel und kaufte sich auf gute Art von ihr los, ohne auch nur ein einziges Mal die Summe zu überschreiten, die er für sei nen Verlust bestimmt hatte. Levi, der ihn von 1864 an oft auf solchen, invita fortuna unternommenen Glücksabstechern begleiten mußte, erzählt, daß Brahms als Zweiunddreißigjähriger noch so fabelhaft jung aussah, daß ihm einmal von dem Huissier der Eintritt in den Saal verweigert wurde, weil er ihm noch nicht das gesetzliche Alter (achtzehn Jahre) erreicht zu haben schien.28
[89] Um von der Fülle und Mannigfaltigkeit der in Baden-Baden dargebotenen Kunstgenüsse einen Begriff zu bekommen, genügt es, den Vergnügungskalender einer einzigen Saison zu durchblättern. Im Juni 1863 fand jeden Dienstag eine Soiree für Kammermusik statt. Im Juli gab es Konzerte des von Vincenz Lachner geleiteten Mannheimer Theaterorchesters, in welchen u. a die Schumann und Viardot mitwirkten, und Solistenkonzerte der Hauser, Kellermann, Ferand, Coßmann Pruckner, Lebrun, Perelli, Jean Becker, Jacquard. Im August Vorstellungen des Karlsruher Hofschauspiels und der Pariser italienischen Oper. Am 8. August 1862 war das neue Theater mit der von Berlioz für diese Gelegenheit komponierten Oper »Beatrice und Benedikt« unter seiner eigenen Direktion eröffnet worden. Die Viardot sang dort den »Orpheus« und andere ihrer Favoritpartien. Ihr folgten Madame Lablache, Alard und Jaëll mit Konzerten nach. Im September wechselten die Comédie française und die Karlsruher Oper miteinander ab – In geschlossenen Konzerten ließ Brahms sich nur ausnahmsweise blicken, dagegen war er ein häufiger Besucher der im Freien gegebenen Kiosk- und Promenadenkonzerte, und bei den von Johann Strauß und seiner Kapelle veranstalteten fehlte er niemals.
Es könnte als ein Widerspruch des Charakters erscheinen und befremden, daß Brahms, nachdem er Baden-Baden bei seinem ersten Aufenthalte daselbst hinlänglich kennen gelernt hatte, immer wieder dorthin zurückkehrte, anstatt sich einen ruhigeren und anspruchsloseren Ort für die Arbeit an den großen Werken aufzusuchen, die ihn in den nächsten Jahren beschäftigten. Aber wir dürfen zweierlei wichtige Umstande nicht vergessen, die hierbei in [90] Betracht kommen: die Eigentümlichkeit seiner Produktionsweise und seine Liebhaberei für allerlei Menschenvolk im Zusammenhange oder im Gegensatze zu der natürlichen Umgebung, in der es sich befindet. Die Jahreszeit seiner Konzeption war der Frühling, ihre Tageszeit der frühe Morgen. Mit der Natur erwachten die Triebe seines Schaffens, mit der Sonne gingen seine Ideen auf. Von Jugend an ein Frühaufsteher, war er mit seinem Tagewerk meist schon fertig, ehe andere damit begannen. Seine schwärmerische Liebe zur Natur wurde von ihr dadurch erwidert, daß sie seine von tausend Gegenständen befruchtete, leicht erregbare Phantasie nährte, bildete und gesund erhielt. Beim Spazierengehen strömten ihm von Himmel und Erde, Luft und Wasser, Tälern und Bergen, Bäumen und Blumen, Menschen und Tieren unaufhörlich frische Kräfte zu. Er ließ seine Gedanken reisen und trug sie aus, aber war es für ihn gleichgültig, wo der geheimnisvolle Prozeß der Befruchtung stattfand, so war es um so wichtiger, wo er die Fülle des empfangenen Stoffes formte und ihrer Bürde sich entledigte. Die Not macht erfinderisch, der Überfluß wählerisch. Er brauchte sich keine Maschinen für sein Talent zu konstruieren, um es in Schwung zu setzen, aber er suchte sich den Platz aus, wo er die Kinder seines Geistes zur Welt brachte, und gründete sich, wie der Vogel, sein Nest, wo es ihm am zweckdienlichsten schien. Sein Instinkt, auf den er sich verlassen konnte, lehrte ihn immer das Richtige. Wie er sich das »Geschenk von oben«, den künstlerischen Einfall, durch den Fleiß, den er daran wendete, zu verdienen trachtete, so eroberte er sich das Terrain, das ihm der Zufall schenkte, und das ihm wohlgefiel, indem er es durchackerte und bebaute. Seine Ernten hingen, noch mehr als die des Landmannes, von den Bedingungen des Bodens ab, auf den sie ausgesät waren. Die Ähnlichkeit der Brahmsschen Naturanlage mit der Beethovens tritt auch hier wieder deutlich erkennbar hervor. Beethovens beständige Wohnungsnöte, der häufige und plötzliche Wechsel seines Domizils, die hastig seltsamen Kreuz- und Quersprünge seiner ländlichen Irrfahrten entstammten denselben Beweggründen. Nur war Brahms glücklicher, weil er praktischer und klüger war als sein übel beratener, von widrigen Schicksalen verfolgter Vorgänger; kein grausames Leiden entfernte ihn vom Umgange [91] mit seinesgleichen, und das über ihm waltende, in die Tiefen seiner Natur hinabreichende Gesetz kam ihm deutlicher zum Bewußtsein als dem in die Einsamkeiten seines geistigen Wirkens gebannten Titanen.
In Baden-Baden fand der vom verträumten, unweltlichen Jünglinge zum verständnisklaren, hellsichtigen Weltmann fortschreitende Tondichter, was er gebrauchte, um die hohen Aufgaben, die seiner harrten, zu vollenden. Der offene, kleine internationale Kurort war die erwünschte Ergänzung des großen, in sich geschlossenen Wien. Weiter in seinem Horizont als die heitere Phäakenstadt an der Donau, erlaubte er eine gedrängtere Übersicht expansiver Lebenselemente und bot sich als geeignete schnelle Vorbereitungsschule für den unvermeidlichen Verkehr mit dem Publikum an, zu dem sich der Leiter eines öffentlichen großstädtischen Kunstinstituts wohl oder übel verstehen mußte. »In jedem Augenblick mühelos alle Genüsse einer verfeinerten Kultur erlangen und sich ebenso jederzeit und augenblicklich in die tiefste und reizendste Wald- und Gebirgseinsamkeit vergraben zu können« (L. Pietsch a.a.O.), bildete den Hauptreiz des paradiesischen Aufenthaltes, den keiner intensiver und mit höherem Genusse empfand als Brahms. Die Natur stand hier wie ein wohlgeordneter Tisch für ihn gedeckt, er brauchte nur zuzulangen. In den zivilisierten Wäldern ringsum, wo kein erstickendes Unterholz, kein abgefallenes dürres Laub geduldet wurde, wuchsen die Bäume schlank und frei in den Himmel. »Kommen Sie doch nach Baden,« schreibt Turgénjew an seinen Freund Flaubert, »da sind die herrlichsten Bäume, die ich je gesehen, und hoch oben auf den Bergen. Das ist kräftig und jung und poetisch und anmutig zugleich, das tut dem Auge und der Seele wohl. Wenn man so am Fuße eines dieser Riesen sitzt, glaubt man etwas von seinem Safte in sich zu spüren, und das ist gut und gesund.« Das ist die Heimat des Requiems, Schicksals- und Triumphliedes und der Rhapsodie (»Harzreise im Winter«). Kein tiefer einschneidender, auffälligerer Kontrast läßt sich denken, als der Unterschied zwischen dem windschiefen, gebrechlichen Häuschen, in dem jene erhabenen Meisterwerke teilweise niedergeschrieben worden sind, und den prachtschimmernden Luxusstätten ihrer nicht allzufernen Nachbarschaft.
[92] Bei seinen ersten Besuchen in Baden-Baden wohnte Brahms noch im Gasthof »Zum Bären«, wo er auch zu Mittag speiste, wenn er nicht bei Klara Schumann oder anderswo eingeladen war. Regelmäßig aber trank er um 4 Uhr nachmittags den Kaffee bei ihr mit. Sie wurde des Wiedersehens mit dem in Wien zu Ansehen und Stellung gekommenen Freunde von Herzen froh und konnte ihm mit Stolz berichten, daß sie noch vor seiner Wiener Reise mehrere seiner Klavierwerke, darunter die Händel-Variationen, den Parisern, allerdings nur in Privatzirkeln, vorgespielt hatte. Somit gab sie den ersten Anstoß zu dem Brahmskultus, der seit 1875 in Paris auch öffentlich betrieben wurde. Zeugnis dessen ist die von Hugues Imbert verfaßte, in seinen »Profils de Musiciens« enthaltene Monographie über Brahms, die 1888 in der Librairie Fischbacher und Sagot erschien.29
Im August hatte Brahms das Programm für den ersten Winterfeldzug »seiner« Wiener Singakademie bereits entworfen, und die Zeitungen kündigten es an: »Requiem für Mignon« und »Des Sängers Fluch« von Schumann; Händels Pastorale »Acis und Galathea«; die Kantate »Ich hatte viel Bekümmernis« und das »Weihnachtsoratorium« von Seb. Bach.30 In den letzten Tagen des Monats verließ er Baden-Baden, mit der festen Absicht, zu den Ferien wieder dorthin zurückzukehren, und trat seinen neuen Posten am 28. September in Wien mit der ersten Vereinsprobe an, nachdem er sich an Ort und Stelle hinlänglich auf ihn vorbereitet hatte.
[93] 1 Die Vermählung fand am 10. Juni in der Schloßkirche zu Hannover statt, unter Assistenz des Königspaares, der Prinzessinnen und einer zahlreichen Versammlung von Gästen.
2 »In der Bewunderung der Altistin Fräulein Weiß,« schreibt Joachim in demselben, im vorigen Kapitel zitierten Briefe an Lallemant, »treffen wir wieder einmal recht zusammen, lieber Avé. Ich meine, man hörte es der Stimme schon an, eine wie reine, tiefe Natur in dem Mädchen wohnt, das seit dem achtzehnten Jahre den Vater verloren hat, und später, Mutter und Schwester am Totenbett pflegend, unberührt von jeder Spur des Theatertreibens, in der weltlichen Kaiserstadt geblieben ist. Da ist die warme Kunstliebe einmal wieder recht eine Wundergabe vom Himmel gewesen« ...
3 Siege Brahms I, 414, 444, 475 f., 478.
4 Der Musikforscher Sektionsrat Max v. Tarnóczu in Wien wies in einer sinnreichen Abhandlung nach, daß keine der drei Schreibarten des Themas zureicht, um es phraseologisch festzulegen, und knüpft daran die zutreffende Bemerkung: »Wenn wir uns nun fragen, warum weder der Schöpfer noch sein mit seinem Wesen so vertrauter Biograph die aufscheinend so einfache Aufgabe der Phrasierung lösen konnte, finden wir dafür nur eine Antwort: Weil das Thema kein totes Gebilde ist, weil es in jeder Note lebt, nicht dem Verstande, sondern dem Herzen entsprungen, und weil phrasieren in diesem Falle sezieren hieße.«
5 Man hat es dem Verfasser zum Vorwurf gemacht, daß er bei der Schilderung musikalischer Kunstwerke häufig »poetisiere«, ja, man hat gar einen Widerspruch mit seinen sonstigen Prinzipien daraus herleiten wollen, als ob er, der erklärte Gegner der Programmusik, hier in denselben Fehler verfalle, den er an andern tadle. Dem gegenüber sei folgendes bemerkt. Die Programmusik beraubt mit ihren detaillierten Gebrauchsanweisungen die Kunst der Töne ihres schönsten Vorrechtes, die Verkündigerin des unbestimmten innersten Lebensgefühles zu sein, indem sie ihr zumutet, etwas Bestimmtes auszudrücken, was allein die Poesie vermag. Sie knechtet überdies die Phantasie des Zuhörers, welche von der absoluten Musik befreit und angetrieben wird, sich alles mögliche vorzustellen, und bleibt ihr den Lohn für ihre Dienste schuldig. Während nun das vom Musiker aufgestellte Programm diesen zu allem verpflichtet, was er nicht leisten kann, entbindet ihn die Erklärung des Interpreten jeder Verantwortlichkeit. Dieser gibt sie nicht im Namen des Musikers ab, sondern vertritt sie mit seinem eigenen als eine unter vielen annehmbaren Möglichkeiten, den verborgenen allgemeinen Sinn eines Tonwerkes zu deuten.
6 Peter Cornelius, der die Vorgeschichte des Werkes nicht kannte, erwähnt es in einem Briefe an Karl Riedel, nachdem er erfahren hatte, daß es in Leipzig mit seinen Weihnachtsliedern zusammen aufgeführt worden war: »Du glaubst nicht, wie sympathisch es mir war, dem f-moll-Quintett von Brahms vorauszugehen. Ich habe das Werk in Wien, ich möchte fast sagen, entstehen sehen. Brahms spielte es zuerst aus dem Manuskript für zwei Flügel mit Tausig: Ich liebe das Werk sehr, besonders den ersten Satz und das liebliche As dur-Andantino des zweiten.« – Hermann Levi aber berichtet: »Aus der f-moll-Sonate ein Quintett zu machen, hatte ich Brahms geraten. Er schrieb die Partitur im Sommer 1865 in Baden-Baden und brachte sie mir nach Karlsruhe. Wir schnitten dieselbe in drei Teile auseinander, und Brahms, David und ich schrieben während eines Tages und der darauf folgenden Nacht (in der wir uns durch schwarzen Kaffee wach erhielten) die Stimmen aus, so daß das Stück am folgenden Tage probiert werden konnte. (NB. nur die Streichinstrumente – den Klavierpart spielte Brahms nach einer Bleistiftskizze, die er sich machte.)« In der Jahreszahl irrt Levi. Interessant aber und charakteristisch für Brahms ist es, daß er Levi, der die Sonate für das Original hielt, in der Meinung beließ, auf seinen Rat die Umarbeitung vorgenommen zu haben, wie er ihm auch kein Sterbenswort von dem früheren Streichquintett sagte, um ihm den Spaß nicht zu verderben.
7 Vgl. S. 47.
8 In einem an Hermann Levi gerichteten Briefe (vom 23. Juni 1899) schreibt die Frau Landgräfin: »Ich bin durch Klara Schumann im Sommer 1864 in Baden-Baden-Lichtental mit Brahms bekanntgemacht worden, und mir wurde die völlig unverdiente, aber hoch beglückende Gunst zuteil, zuerst damals dort in Klara Schumanns Hause, dann in dem meinigen, sowie später zu Wiesbaden, im Residenzschlosse Philippsruhe bei Hanau und auf meinem Witwensitz zu Frankfurt a.M. mit Brahms vielfach musizieren, ja sogar vierhändig spielen zu dürfen. Sein Klavierquintett op. 34f-moll wurde mir von ihm, in doppelter Form, gewidmet; auch schenkte er mir dasselbe im Manuskript als ›Sonate für zwei Pianoforte‹, wie er's ursprünglich komponiert und alsbald nach seiner Entstehung (gerade in jenem Sommer 64) mit Klara Schumann mir vorgespielt hatte. Durch besonderen Glückszufall erwarb ich kurz danach Mozarts g-moll-Symphonie im Originalmanuskript, brachte sie Brahms dar und konnte ihm hiermit eine wirkliche, seiner würdige Freude verursachen. – Seit gedachten, längst entschwundenen schönen Zeiten hat der musikalische Verkehr mit Meister Brahms fortbestanden. Bis in sein letztes Lebensjahr besuchte er mich bei seiner jedesmaligen Anwesenheit zu Frankfurt; er wohnte bei Klara Schumann, wo ich meist seine Kammermusik wundervoll aufführen hörte. Öfters kam er zu mir an der Seite meines ältesten Sohnes, des Landgrafen Alexander, welchem er gleichfalls gütiges musikalisches Interesse widmete. – Daß er mir Glücklichen seinf-moll-Prachtwerk dedizierte, seine wohlwollende Nachsicht und freundschaftlichen Gesinnungen stets bewies und bewahrte, bleibt mein Stolz und Lichtpunkt bis ans Ende meiner Tage.«
9 »Brahms in Hamburg«, S. 46.
10 Vgl. I S. 152, 176, 227, 248, 319, 323 f., 330, 367, 438.
11 »Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter« I Nr. 175 und 176.
12 Wie er später über »Tristan« dachte, verrät seine Äußerung über eine in Wagnerkreisen verpönte Kritik des Werkes (in den »Opernabenden« des Verfassers): »Da unterschreib' ich jedes Wort!«
13 Der mit – th gezeichnete Aufsatz, dem obiger Passus entnommen ist, steht in der, seit 1868 von Chrysander redigierten »Allgemeinen Musikalischen Zeitung« IV S. 77. Daß er von dem berühmten Gelehrten herrührt, bezeugt der weiter unten mitgeteilte Brief von Brahms an Simrock.
14 Der »Wiener Männergesangverein«, an den Brahms von Anfang an dachte, war von dem Feste, das er am 11. Oktober 1868 zur Jubelfeier seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens veranstaltete, so stark in Anspruch genommen worden, daß er vorläufig an kein Orchesterkonzert gehen konnte. So kam das Werk zu den Akademikern. »Sie singen höchst lustig den Rinaldo, und die Übungen mit dem jungen frischen Volk sind ganz reizend.« (Brahms an Simrock 6. 12. 68.)
15 Aus dieser Tatsache mag der von Deiters verbreitete Mythus entstanden sein, Brahms habe 1868 in Bonn den fünften Satz seines Requiems komponiert.
16 Die 600 Gulden, welche Brahms als Jahresgehalt bewilligt wurden, sind eine sprechende Illustration der engen Verhältnisse.
17 Karl Proskes »Musica divina«, ein bedeutendes Sammelwerk älterer religiöser Musik.
18 In diesem Jahre erlosch nach der irrigen Berechnung von Brahms das Autorrecht.
19 Auch fernerhin nahm sich Brahms der von Schubert hinterlassenen Werke eifrigst an und suchte sie nach Kräften vor jeder Verunglimpfung zu schützen. Als Paul Mendelssohn 1868 das Manuskript einer unvollendeten E-dur-Symphonie von Schubert, die durch Ferdinand Schubert an Felix Mendelssohn gekommen war, an George Grove nach London schickte, fürchtete Brahms eine schlechte Ergänzung und überstürzte Aufführung des Werkes. Da nur die Introduktion und die Hälfte des ersten Satzes vollständig, von Schubert instrumentiert, vorlag, die ganze Partitur aber skizziert vorhanden war, so zwar, daß in jedem Takte Noten standen, »was denn ein lieblich trauriger Anblick ist, wie ich von der Sakuntala und anderm aus Erfahrung weiß«, so möchte wohl, wie Brahms meinte, mancher Lust verspüren, die Partitur voll zu schreiben, etwa Costa oder Benedict. Er wandte sich deshalb gleich an den mit Paul Mendelssohn befreundeten Joachim, damit dieser »eine beschwichtigende Hand darauf lege« und verhindere, »daß Unzucht damit getrieben werde, und sich einiges Recht darauf zu verschaffen suchen«.
20 Um dieselbe Zeit erhielt Brahms die erste korporative Auszeichnung: er wurde in Hannover zum Mitgliede und Ritter vom »Schwarzen Katzenorden« ernannt. Dieser am 1. Januar 1863 gestiftete spaßhafte Orden, machte sich, laut seines Statuts, zur Aufgabe »ausgezeichnete Individuen zu einer ausgezeichneten Gesellschaft zu vereinigen, die sich eines katzenhaften Betragens zu befleißigen hat«. Zu den Mitgliedern gehörten: Bernhard Schatz als Oberkater, Luise Scholz und Ursi Joachim (Spitzname für Frau Amalie) als Oberkatzen; außerdem Josef Joachim, Bjönstjerne Björnson, Otto Brinkmann, Franz Wüllner, Albert Tietrich, Julius Stockhausen, Moriz v. Schwind, Carl v. Perfall, Jakob Moleschott und Otto Julius Grimm. Klara Schumann und Hermann Levi wurden 1865 ebenfalls aufgenommen. Die Anregung zur Gründung der fidelen Gesellschaft mag Schwinds humoristische Zeichnung »Le chat noir, grandes variations de concert, dédié à Mr. Joseph Joachim« gegeben haben. Die Siegel und Diplome des Ordens zeigten einen schwarzen, auf einer Tonne sitzenden Kater. – Berichtigend hierzu schreibt mir Bernhard Scholz am 4. April 1908: »Unser scherzhafter Orden von der Schwarzen Katze entstand nicht infolge von Schwinds Zeichnung, sondern diese ist eine Folge von der Gründung des Ordens. Der verdankt seinen Ursprung dem Glauben, welcher auf dem besten Faß im Keller eine schwarze Katze sitzen läßt. Frau Joachim, damals noch Frl. Weiß, verbrachte einen Sommer mit mir und meiner Frau am Rhein: sie wohnte in Biebrich und besuchte uns täglich auf der ›Hammermühle‹. (Vgl. Verklungene Weisen, Erinnerungen von Bernh. Scholz, 1911.) Das war in den Jahren, als der liebe Gott uns Rheinländern eine Fülle der herrlichsten Gaben schenkte (Jahrgänge 1857, 58, 59, 61, 62 usw.) und wir genossen diese auf der Hammermühle und im Rheingau in vollem Maße. In glücklicher weinseliger Stunde beschlossen wir, Frl. Weiß, meine Frau und ich, die Gründung des Ordens von der Schwarzen Katze, in den wir nach und nach uns liebe und dafür geeignete Personen aufnehmen wollten. Der erste war Joachim, der immer scherzhaft daran erinnerte, daß er als gemeiner Kater der Oberkatze Weiß und dann Frau Joachim subordiniert sei. Wir wählten dann auch Moriz v. Schwind in den Orden, und er revanchierte sich, uns Musikern gegenüber, durch die Zeichnung der schwarzen Katzen, welche zugleich als Noten über dem Notenpapier dienen. So ist's!« Warum dann aber der französische Titel auf der von dem Wiener Kunstverlag Miethke und Wawra in den Handel gebrachten Photographie des Schwindschen Bilderscherzes? Man denkt unwillkürlich an Paris, an Heines Jungkaterverein für Poesie-Musik und das Café der Künstler-Bohème auf dem Montmartre Anton Bettelheim, der Kenner der französischen Literatur, will nur von dem einen modernenChat-Noir wissen, das Jules Lemaître in seinen »Impressions« bespricht – es florierte zehn Jahre nach Schwinds Tode! Vielleicht reicht der Stammbaum der »Schwarzen Katze« doch noch höher hinauf als zur rheinischen Kellerkatze der »Hammermühle«, die vor dem Verdacht eines »Moulin Rouge« nun auch nicht mehr sicher ist, und dem Chat-Noir der Md. Rodolphe Salis.
21 Der russische Dichter war 1882 von Paris nach Baden-Baden gekommen und nahm seit 1863 dort seinen dauernden Aufenthalt. Er wohnte bis 1868 in einer Privatwohnung und bezog dann eine eigene Villa in der Nähe seiner Freundin Viardot. Viele seiner besten Erzählungen sind dort entstanden, auch der in Baden-Baden spielende berühmte Roman »Rauch« oder »Dunst«. (Vgl. die Monographie von Wilhelm Haape.)
22 Jakob Rosenhain (1813–1894), Pianist und Komponist, besaß eine prächtige Villa in der Lichtentalerstraße. Er ist derselbe Rosenhain, mit dessen »Adagio und Rondo aus dem A-dur-Konzert« der fünfzehnjährige Brahms sein erstes eigenes Konzert (am 21. September 1848 in Hamburg) eröffnet hat.
23 Marie Mouchanoff-Kalergis, geb. Gräfin Nesselrode, die von Dichtern verherrlichte, »durch Geist, Genie, Schönheit und Herzensgüte ausgezeichnete Freundin von Kaisern und Königinnen, der Liebling der europäischen Höfe, der glänzende Mittelpunkt aristokratischer Kreise, die Beschützerin von Kunst und Künstlern, selbst Virtuosin und Poetin am Klavier«, war in Baden-Baden seit 1856 die Seele der vornehmen Badegesellschaft. Wagner, den sie mit bedeutenden Geldbeträgen unterstützte, hat ihr sein »Judentum in der Musik« gewidmet, Liszt im Tempelherrenhause zu Weimar nach ihrem Tode (1874) ein Requiem für sie abgehalten. In ihren, von La Mara herausgegebenen Briefen kommt der Name Brahms öfters vor: »Brahms fait toujours ma consolation«, »Brahms embellit ma vie«, und im September 1866 schreibt sie: »Brahms passe un mois ici avant de retourner à Vienne. Je l'ai eu à dîner hier. C'est une nature intéressante par sa simplicité originale et sauvage. Dans un autre genre que Wagner, le premier compositeur de l'époque«.
24 Im Schumann-Heft der Zeitschrift »Die Musik« (V 20) teilt F. Gustav Jansen die »derbe, aber wohlwollende« Abfertigung mit, die Schumann dem »ältesten Wagnerianer« angedeihen ließ.
25 Nach dem Tage von Sedan schlugen die deutschfreundlichen Gefühle der Viardots plötzlich um, und sie verließen Baden und Deutschland, um ihre Tage in Paris und Bougival zu beschließen.
26 Nur im Sommer 1864, als er noch keine ständige Wohnung hatte, machte Brahms für kurze Zeit von dem Anerbieten Gebrauch.
27 Wohl infolge ihrer Annäherung führte Rubinstein 1864 den ersten Satz (!) der BrahmsschenD-dur-Serenade in den Winterkonzerten der Russischen Musikgesellschaft zu Petersburg auf.
28 Die Leidenschaft für das Hazardspiel war, einer interessanten Mitteilung der Frau Christine Höhnel in Itzehoe zufolge, auf Brahms von seinem Onkel Peter Höft Hinrich übergegangen (vgl. I S. 3), demselben Vaterbruder, dem Johannes auch in seiner Liebhaberei für alte Bücher und Kupferstiche nachgeraten war. Das traurige Schicksal Peter Höft Hinrichs aber mag dem Neffen zur Warnung gedient haben. »Mein Großvater«, schreibt Frau Höhnel »der Bruder des Vaters von Johannes, hatte ein schönes Besitztum in der Nähe von Heide, die Schanze genannt. Dieser Besitz war mit einem Gehölz von großen alten Eichen und Buchen umgeben. Wie meine Mutter Magdalena Susanna geb. Brahms, die älteste Tochter Peter Höft Hinrichs, uns oft erzählte, hat sie die ersten Jahre ihrer Ehe dort glücklich und in Frieden verlebt. Dann aber wurde der Großvater ein Orfer des Spielteufels. Er verlor sein Geld, seine Bäume, die nach und nach gefällt und verkauft wurden, endlich auch Hof und Haus. Als er in einer einzigen Nacht in Friedrichstadt a.d. Eider, wohin er zum Jahrmarkt gefahren war, das Letzte verspielt hatte, was er noch besaß, stürzte er sich mit Pferd und Wagen in die Eider, um sich zu ertränken. Er wurde gerettet, und seine Spielgenossen, die ihm hundert Taler schenkten, geleiteten in heim, wo er mit Hilfe der Verwandten seinen Antiquitätenhandel eröffnete.«
29 Vgl. I 325.
30 Schumanns Ballade und das Händelsche Pastorale wurden vom Programm gestrichen und durch andere Stücke ersetzt.
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