III.

[94] Noch um die Mitte der Fünfzigerjahre gab es in Wien keinen ständigen öffentlichen Verein für gemischten Chorgesang. In dieser merkwürdigen Tatsache und deren Folgen ist der Grund zu suchen für das bald enthusiastisch zustimmende, bald kühl ablehnende Verhalten des Wiener Publikums, der Oratorienmusik und dem strengen A capella-Gesange gegenüber. Noch jeder mußte darunter leiden, der es sich zur Aufgabe stellte, einem ebenso fest eingewurzelten wie oft beklagten Übel abzuhelfen. Wohl fehlte es in Wien niemals an Liebhabern jener ernsten, aus Norddeutschland importierten Musikgattung; aber sie waren nicht zahlreich, nicht energisch und vor allem nicht mächtig genug, um mit ihrem guten Willen durchzudringen. Denn der obenerwähnte Grund ist auf eine noch tiefer liegende Ursache zurückzuführen, auf den Gegensatz zwischen dem protestantischen Norden und dem katholischen Süden.

Ohne Bach und Händel, die beiden Hauptträger des Oratoriums, hängt das ganze Gebäude des öffentlichen Chorgesanges in der Luft, und dieses gewaltige Pfeilerpaar ruht auf dem Fundament des evangelischen Glaubens. Kirchenchoral und Bibelwort sind die Voraussetzungen ihrer Kunst. Händel und Bach werden ihre höchsten Wirkungen immer nur bei einem Publikum erreichen, das fähig ist, in den Gesang der Gemeinde einzustimmen, das von Kindheit an sich mit den Gestalten der biblischen Geschichte vertraut gemacht, ihre Handlungen gutgeheißen, ihren Aussprüchen andächtig gelauscht hat. Entscheidend für den Grad des Eindrucks ist eine gewisse naive Empfänglichkeit des Auditoriums, ein unverlierbarer als frommes Gedenken an eine einfachere, liebevollere Welt aus der Jugendzeit bewahrter Schatz. Wer allein durch das Medium der künstlerischen Form, des musikalischen Ausdrucks an die alttestamentarischen Dramen Händels, an die Passionen und [94] Kantaten Bachs herankommt, mag nur allzuleicht einem Gefühl unberatener Hilflosigkeit verfallen, das in altkluge Zweifelsucht übergeht und zur Opposition reizt. Und ohne eine solche, vom Kultus des evangelischen Gottesdienstes erweckte und gelehrte Singeselligkeit und Bibelfreudigkeit läßt sich auch eine Vereinigung gleichgestimmter Seelen und Kehlen nicht recht denken, die im Dienste einer halb supranaturalistischen, nicht vorwiegend sinnlichen Kunstübung ihr Genügen findet. Der praktikable Weg zur weltlichen Chorlyrik und ihrer in drei Jahrhunderten aufgehäuften Literatur geht durch dieselbe, von den Großmeistern des Oratoriums gehütete Pforte, und wenn sich in Wien deren Tür auch manchmal an hohen Festtagen geräuschvoll in den Angeln bewegte, so blieb sie doch dann wieder um so länger und fester verschlossen, und die mit offenen Augen und Ohren angestaunten Herrlichkeiten gerieten in Vergessenheit.

Dreißig Jahre hindurch, nachdem der Adel mit der Aufführung Händelscher Oratorien in den Palästen der Auersperg, Eszterházy, Kaunitz, Lobkowitz, Schwarzenberg seine ketzerischmusikalische Lust gebüßt hatte, blieben die beiden Haydnschen Kantaten »Schöpfung« und »Jahreszeiten« (der eiserne Bestand der »Tonkünstler-Sozietät«) das Um und Auf der Wiener Oratorienmusik. Andere größere Vokalwerke, welche die 1812 gegründete »Gesellschaft der Musikfreunde« in ihren Konzerten aufführte, hatten im Jahre 1858 die Zahl zwanzig nicht überschritten, und die Reproduktionen zeichneten sich in Ermangelung eines geschulten Chores nicht gerade durch Korrektheit aus Was für die Pflege des Oratoriums in Wien getan worden war, beschränkte sich entweder, wie die von Mozart geförderten Bestrebungen van Swietens, auf Privatzirkel, oder erschien in der Form außerordentlicher Musikfeste, deren Teilnehmer sich rebus bene sive male gestis ebenso schnell wieder zerstreuten, wie sie sich zusammengefunden hatten. Es verdient bemerkt zu werden, daß die Gründer eines ebenfalls privatim wirkenden, 1854 bestehenden »Bachvereins«, eine Frau Dr. Mauthner und der mit Schumann befreundete Professor Josef Fischhof, Juden waren. Von diesem bescheidenen Bachverein in partibus infidelium wurde die Matthäus-Passion, zum erstenmal in Wien, am Klavier durchgesungen, und [95] aus eben diesem Bachverein entwickelte sich dann vier Jahre darauf die »Wiener Singakademie«, welche am 15. April 1862 die erste öffentliche Aufführung des großartigsten aller Chorwerke durchsetzte – vierunddreißig Jahre nach der Mendelssohnschen in Berlin!1 Eine besonders blamable Behandlung, die Schumanns »Paradies und Peri« am 1. Mai 1858 von den zu zwei Chorübungen zusammengetrommelten Sängern und Sängerinnen im Gesellschaftskonzerte erfahren hatte, soll den unmittelbaren Anstoß gegeben haben, daß der Chormeister der Gesellschaft, Stegmayer, der von Uneingeweihten dafür verantwortlich gemacht wurde, aus eigener Initiative an die Gründung eines neuen Chorinstitutes herantrat. Er fühlte sich in seinem Künstlerstolze gekränkt, weil der von ihm veranlaßte oder gebilligte Statutenentwurf eines Direktionsmitgliedes, nach welchem der Chor als integrierender Teil der Gesellschaft angesehen werden sollte, nicht durchgedrungen war.2 So wurde nach dem Vorbilde der Berliner Singakademie von 1791 die Wiener von 1858 ins Leben gerufen, viel zu spät, um lange Versäumtes einholen zu können, und viel zu früh, um bei der teils einseitigen, teils verwahrlosten öffentlichen Musikpflege überhaupt auf dauernde Teilnahme rechnen zu dürfen. Gleichwohl nahm der junge Verein den kräftigsten und hoffnungsvollsten Aufschwung. War er doch etwas Neues und entsprach einem augenblicklichen, mit Ungestüm gestellten allgemeinen Verlangen! Hundert der besseren Gesellschaft angehörige Dilettanten beiderlei Geschlechts kamen allwöchentlich zu den von Stegmayer geleiteten Chorübungen zusammen und bereiteten sich mit Lust und Liebe auf ihr erstes Konzert vor, dem ganz Wien gespannt entgegensah. Einen solchen angeblichen Eingriff in ihre alten Rechte wollte sich die Gesellschaft der Musikfreunde natürlich nicht gefallen lassen. In aller Eile erfüllte sie nicht nur den zuvor abschlägig beschiedenen Wunsch ihres Direktionsmitgliedes, änderte die Statuten und schuf ihren bisher von Fall zu Fall beschäftigt gewesenen gelockerten Chor in einen festen Verband um, sondern gewährte ihm zugleich, um ihm die größtmögliche Bewegungsfreiheit [96] zu geben, das Recht einer selbständigen Körperschaft und bestellte Herbeck zum Dirigenten des neuen »Singvereins«, wie die Zweigstiftung der Gesellschaft genannt wurde.

Auf eine so günstige Gelegenheit, sein Feldherrntalent zu zeigen, hatte der ehrgeizige bisherige Chormeister des Wiener Männergesangvereins nur gewartet. Er exerzierte seine Truppen so schnell und so trefflich ein, daß er der Singakademie mit einer glänzenden Aufführung des Händelschen »Judas Makkabäus« am 7. November 1858 zuvorkommen konnte. Mit ihrem ersten Konzert hinkte diese dann um volle drei Wochen später hinterdrein. Aber sie hatte ein sehr reichhaltiges und interessantes Programm ausgewählt, das ausschließlich a capella-Chöre enthielt, und bei dem sorgfältig vorbereitenden Studium Stegmayers war ihr ein großer moralischer Erfolg sicher.

Zwischen beiden Vereinen begann sofort nach ihrem Entstehen ein Rivalitätsstreit, der von seiten des Singvereins nicht immer mit idealen Mitteln und in wenig loyaler Weise geführt wurde. Daß die Gesellschaft der Musikfreunde ihren Chor auf alle mögliche Weise begünstigte, war ihr nicht zu verargen. Übungssaal und Bibliothek standen ihm gratis zu Gebote. Von der Akademie, welche sich das teuere Studienmaterial erst anschaffen mußte – wohlfeile Volksausgaben der Klassiker existierten damals noch nicht – ließ sie sich eine sehr hohe Miete bezahlen. Auch dagegen war schließlich nichts einzuwenden. Erst als sie, von der Wahrnehmung erbost, daß ihre Hemmungen und Bedrückungen das Wachstum der jungen Pflanze beförderten, anstatt es zurückzuhalten, dem Baume die Axt an die Wurzel legte, wurden Stimmen scharfen Tadels in der Öffentlichkeit laut. Es erregte allgemeinen Unwillen, daß sie ihren Saal, der sogar an Taschenspieler vermietet wurde, den Übungen der Akademie unter nichtigen Vorwänden verschloß und lieber auf eine Jahreseinnahme verzichtete, von der zwei Konservatoriums-Professoren hätten honoriert werden können, als daß sie der verhaßten Nebenbuhlerin einen Gefallen erwiesen hätte. Die Lokalfrage war tatsächlich eine Lebensfrage für die Singakademie. Unter ihren Mitgliedern befanden sich viele Damen von Adel, die sich weigerten, in einem Gasthause zu singen. Die Direktion der Gesellschaft mußte also, [97] wenn sie nicht von dem Sturme der Entrüstung, der sich gegen sie erhob, hinweggefegt werden wollte, einlenken, und der Akademie wurde der Saal wieder eingeräumt (1861). Aber es half der Gemaßregelten nichts mehr. Konnte das erste Konzert von 1858 als Sieg ausgebeutet werden, so bedeutete schon das von 1859 eine Niederlage, ohne daß Programm und Aufführung sich verschlechtert gehabt hätten.3 Das Publikum war bereits für den Singverein gewonnen und bevorzugte in Herbeck den begabteren Dirigenten und die interessantere Persönlichkeit. Die Aufführung der Matthäus-Passion war wie ein letztes Aufflackern der Flamme vor dem Erlöschen, und die Wiederholung des Werkes unter Hellmesberger, der den von Ärger und Krankheit aufgeriebenen Stegmayer vertrat, fand nur noch geringe Teilnahme. Als vollends Händels »Messias« im Jubiläumskonzerte der Gesellschaft dem Singverein einen Triumph bereitete, fragte man kaum mehr nach der Akademie, und Gerüchte ihrer nahe bevorstehenden Auflösung durchschwirrten die Luft.

So lagen die Dinge, als Brahms den umflorten, dürren Dirigentenstab ergriff, in der Hoffnung, er werde unter seiner Hand frisch ergrünen und Früchte tragen. Es hatte ihn nicht beirrt, daß diese Hoffnung schon vor seinem Erscheinen nur von der Hälfte der Mitglieder geteilt wurde – möglicherweise hat er erst nach dem Antritt seines Amtes erfahren, wie es bei der Wahl [98] zugegangen war. Wäre er genau über die vierjährige Leidensgeschichte des Vereins unterrichtet gewesen, so hätte er von vornherein darauf gefaßt sein müssen, den alten, mit einem faulen Frieden beendeten Kampf wieder aufzunehmen. Hanslick hatte den Friedenstraktat dadurch zu schaffen geglaubt, daß er jedem der beiden Vereine ein gesondertes Feld der Tätigkeit zuwies, und andere pflichteten ihm darin bei. Als Exekutivorgan der Gesellschaft sollte der Singverein das Oratorium mit Orchesterbegleitung, die mittellosere Singakademie den A capella-Gesang anbauen, wodurch etwaigen Reibereien die Spitze abgebrochen worden wäre, so daß beide Vereine einträchtiglich nebeneinander fortbestehen könnten. Dieses Abwägen der Gerechtsame zweier gemischter Chorvereine sieht nur so aus wie eine der großen Musikkapitale Wien unwürdige Krähwinkelei. Die Möglichkeit einer strikten Abgrenzung der Produktionsgebiete zugegeben, wäre damit nur die leider zu sehr berechtigte Ansicht ausgesprochen, daß zwei Chorvereine auf einmal in Wien anno 1863 schwerer zu ertragen waren als das vielbeklagte Fehlen eines einzigen. Jedenfalls war einer von beiden zu viel, und dieser eine konnte, den gegebenen Voraussetzungen gemäß, nur die unglückliche Singakademie sein.

Daß die aus ihrem dumpfen Pessimismus aufgerüttelten Mitglieder anders kalkulierten, ist menschlich und entspricht allen Vereinstraditionen. Die anfänglich Widerstrebenden fügten sich der höheren Einsicht des Vorstandes, der das Beste von der Zukunft erwartete, und Brahms wurde als »Retter« der Singakademie mit Jubel begrüßt. Eifer und gehobene Stimmung hielten so lange vor, wie die Teilnahme des Publikums es erlaubte, und das Bild, das der Zustand des Konzertinstitutes im Laufe der letzten Jahre entrollt hatte, wiederholte sich in verkürztem Maßstabe während einer einzigen Saison: nach einem heißen, frohen Anfang eine laue verdrossene Fortsetzung und ein kaltes, künstlich erhitztes Ende. Das »Programm zu dem Konzerte der Wiener Singakademie unter Leitung des Chormeisters, Herrn Johannes Brahms«, das am 15. November 1863 im grossen Redoutensaal stattfand, brachte in vier Nummern lauter ältere Musik, die für Wien neu war: Bachs großartige achtsätzige Kantate »Ich hatte viel Bekümmernis« eröffnete, Schumanns liebliches [99] »Requiem für Mignon« beschloß das Konzert. Dazwischen wurden Beethovens »Opferlied« und drei deutsche Volkslieder gesungen; ein viertes folgte als Zugabe und Dank für den tobenden Beifall, der nach »Ich fahr' dahin« losbrach. Daß drei der Lieder von Brahms für vierstimmigen Chor gesetzt waren, verrät der Zettel mit keiner Silbe. Auch über die Mitwirkenden schweigt er sich aus, als sollte den Zuhörern zu verstehen gegeben werden: hier handelt es sich um die Sache, nicht um die Person. Die Soli wurden von Marie Wilt, Ottilie Hauer, Frau Ferrari, Frau Flatz, Herrn Panzer und Herrn Dalfy gesungen. An der Orgel saß der treffliche Hoforganist Rudolf Bibl und spielte den von Brahms ausgeführten Continuo der Bachschen Kantate. Alles ging nach Wunsch von statten, und die Kritik stimmte in die Lobeserhebungen des Publikums ein. Hanslick bewillkommnete den Verein und seinen Dirigenten mit folgenden Worten: »Die Singakademie war in den letzten Jahren unleugbar zurückgegangen; die Unsicherheit, ja Mittelmäßigkeit ihrer Leistungen, ließ sich mit der Anerkennung ihrer ernsten, würdigen Richtung nicht mehr beschönigen. Daß eine ungenügende Leitung der Hauptgrund dieses Sinkens war, blieb kein Geheimnis. Indem die Gesellschaft Brahms an das verwaiste Pult berief, hatte sie den heilsamsten Entschluß gefaßt, der in ihrem Falle sich denken läßt. Eine jugendliche Kraft, die mit ihrer unverbrauchten Frische eine seltene Ruhe und Reise verbindet, ein ebenso hochbegabter Tondichter als verständnisvoller Dirigent ist nun ihr Führer. Hoffen wir, daß die Mühsal des Dirigententums, daß all die kleinen Stacheln einer öffentlichen Tätigkeit einen Künstler nicht entmutigen werden, der, seiner ganzen Natur nach, sie tiefer als mancher andere empfinden mag. Dann können wir der Singakademie zu ihren kommenden Tagen gratulieren, wie wir jetzt schon Wien zu dem Besitz einer so bedeutenden und so durchaus reinen Künstlernatur Glück wünschen.« Und noch eine Hoffnung spricht der wohlwollende kritische Freund des Künstlers am Schlusse seines Referats aus: die Bescheidenheit des Dirigenten werde die Singakademie in Zukunft nicht ganz des Komponisten berauben.

Hanslicks Hoffnungen und Wünsche waren auch die seines jungen Freundes. Aber sie sollten sich nicht erfüllen. Nachweisbare [100] direkte Anregungen zur Komposition hat er von seiner ersten kurzen Dirigententätigkeit in Wien nicht empfangen. Das vierstimmige Arrangement seiner am Rhein und in Westfalen gesammelten alten Volkslieder, die zum Teil schon vom Hamburger Frauenchor gesungen worden, sind der einzige Ertrag jener Tage. Und auch sie hätte er kaum so bald herausgegeben, wenn ihn nicht der Anklang, den sie in Wien fanden, noch mehr aber sein Geldmangel dazu angetrieben haben würden. Wie er seinem Schweizer Verleger Rieter am 18. Februar 1864 mitteilt, »fristet sein Geldbeutel seit geraumer Zeit ein elendes Dasein«, und es ist ihm erwünscht, daß Rieter nach den Volksliedern fragt. Er wird auch von Spina, der ihm mehr bezahlt, als er »draußen im Reich oder in Ihrer Republik« bekommen kann, um die Lieder gedrängt, die er in zwei Konzerten aufgeführt hat. »Ich brauche nicht auseinanderzusetzen, weshalb ich trotzdem usw. Ich schachere nicht mit meinen Sachen. Doch läßt mich oben erwähnter Zustand meiner Finanzen bedenken, daß die Volkslieder eben ein sonderlicher Anlaß sind, ihm abzuhelfen, und so frage ich denn, ob Sie viel Vertrauen zu dem Erfolg derselben haben?« Im Mai ist er wieder besser bei Kasse und meint, es sei ihm lieb, daß er die Lieder noch zurückhalten könne: »Ich kann nicht genugtun für die Sache und möchte fast mich entschließen, einmal ein Jahr zu opfern und energisch nach allem suchen, was mich anlockt.« Einstweilen wolle er zehn davon zusammentun, sie für vierstimmigen gemischten Chor und zugleich einstimmig mit Pianofortebegleitung geben, in zwei Heften.

Brahms hatte also schon damals die Absicht, die er erst dreißig Jahre später ausführte, seine Volkslieder auch für eine Singstimme und Klavier zu setzen. Aber gerade diese vierstimmigen ließ er unberührt, bis auf das einzige »In stiller Nacht«, das ihn zu einer besonders kunstvollen Klavierstimme reizte. »Volkslieder mit Pianofortebegleitung herauszugeben,« schreibt er, »kann immer gelegentlich geschehen, wahrscheinlich jedoch andere.« Von den 1864 ohne Opuszahl erschienenen wurde der auf drei Strophen reduzierte »Englische Jäger« schon als Nr. 4 nach eigener Melodie den »Marienliedern« op. 22 einverleibt. Von der Pianofortebegleitung, die Brahms zuerst als besondere Neuerung hervorhob, [101] kam er später wieder ab, erweiterte aber die Zahl der Lieder auf zweimal sieben und ließ durchblicken, daß er dem Verleger jetzt gleich (am 18. September 1864) von Baden-Baden aus (solange hielt er die Lieder doch zurück!) noch zwei oder drei solche Hefte geben könne. Daraus scheint hervorzugehen, daß er von den neunundvierzig Volksliedern, die er 1891 bei Simrock herausgab, über ein Drittel schon damals, und zwar für vierstimmigen gemischten Chor, fertiggemacht hatte, und Friedrich Hegar hätte ihnen dann nur wieder zu ihrer ursprünglichen Fassung verholfen, als er 1877 Bearbeitungen der einstimmigen Volkslieder für drei Frauenstimmen mit Pianofortebegleitung und für Männerchor a capella erscheinen ließ. Auch eine Anmerkung für den Dirigenten wurde geplant, die ihn vermutlich bestimmen sollte, den möglichst freien Vortrag dem Wechsel und Inhalt der einzelnen Strophen anzupassen. Denn Brahms findet ein Avis, das auf die Rückseite des Titels kommen könnte, angemessen. Er möchte den Dirigenten auf den Text aufmerksam machen und hält es immer für das Wichtigste, daß dieser deutlich in der Partitur steht, möge deshalb manches Lied auch zweimal ausgestochen werden müssen.

Im zweiten Konzert der Singakademie, das am 6. Januar 1864 abermals im großen Redoutensaale stattfand, gelangten fast lauter a capella-Chöre zur Aufführung. Eine Schlußanzeige des früheren Programms hatte ausdrücklich darauf hingewiesen. Es fehlte an Geld, um ein Orchester zu engagieren, und man machte nur aus der Not eine Tugend, indem man den unbegleiteten Chorgesang, der allerdings die feinsten Schattierungen des Vortrags gestattet, aber auch die geringsten Versehen der Sänger unbarmherzig bloßstellt, für eine besondere Lockspeise gelten ließ. Das Publikum biß nicht an. Nach Neujahr war es an leichtere und angenehmere Zerstreuungen gewöhnt, als es sich von einem Konzert versprechen durfte, das wie eine Bußübung aussah und mit den Versen begann: »Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.« Außer der achtstimmigen Mendelssohnschen Motette brachte es das zweichörige »Triumphlied des Christen aufs Osterfest« von Johann Eccard, »Sauli Bekehrung« von Heinrich Schütz, ein Benedictus von Gabrieli, das fünfstimmige »Salve Regina« von Rovetta und auch noch Beethovens »Elegischen Gesang« – soviel [102] Jammer, Not, Klagen, Ächzen, Seufzen und Stöhnen war keine Ouvertüre für den Wiener Karneval.4 Darüber halfen auch die Volkslieder nicht hinweg, von denen nur das dritte (»Bei nächtlicher Weil«) gefiel. Der »schreckliche« Bach behielt das letzte Wort. Mit der Motette »Liebster Gott, wann werd' ich sterben« hatte er seinen finsteren Riesenschatten über die Volkslieder vorausgeworfen, und die Mißstimmung des gelichteten Auditoriums übertrug sich schnell auf die verzagten Mitglieder des Chores, die matt und ohne inneren Anteil sangen.

Auch sonst waltete ein Unglücksstern über dem Konzert. Von den erhofften außerordentlichen Übungen war nicht weiter die Rede gewesen, da die Mitglieder sich nicht einmal zu den ordentlichen einfanden. So kam es, daß der Chor im Benedictus von Gabrieli umwarf, und das Stück von vorn begonnen werden mußte. Bei dem Schützschen »Saulus« hatte Brahms ein Arrangement machen müssen, weil einzelne der begleitenden Instrumente nicht zu beschaffen waren, ebenso bei Beethovens »Elegischem Gesange«. Der Begleiter (Horn) sah gern zu tief ins Glas, hatte die Generalprobe versäumt und kam in jeder Beziehung unsicher zur Aufführung, so daß er schon die ersten Takte verfehlte und aufhören mußte. Der Chor sang das Stück ohne Begleitung zu Ende. Diesmal hatte es Brahms wirklich niemand recht gemacht, auch den Vertretern der öffentlichen Meinung nicht. Zellner nennt Brahms geradezu einen Pedanten, weil er den Geist nicht nur der alten, sondern aller Zeit, jedoch vor allem den Geist der Musik überhaupt verkenne, hofft übrigens, »Herr Brahms werde in diesen Bemerkungen nichts anderes erblicken als freundschaftliche Winke, im Interesse eines jungen Dirigenten«. Im »Fremdenblatt« erteilt ihm Ludwig Speidel5, der von der »Wiener Zeitung« zu dem, vom Baron Gustav Heine, dem Bruder Heinrich Heines, herausgegebenen Journal übergetreten war, den wohlgemeinten Rat, [103] sich vor »jener traumhaften Beschaulichkeit« zu hüten, »die dem schaffenden Künstler so natürlich sei.« Sein Nachfolger bei der »Wiener Zeitung«, ein gewisser Rudolf Hirsch, ein Affe Speidels, blies mißtönend in dasselbe Horn.

Damit war für die Kaffeehausliteraten und ihren Anhang das Signal zu einer regelrechten Brahms-Hetze gegeben. Sie wuchs mit den Jahren und den steigenden Erfolgen des Komponisten zu immer größeren Dimensionen an und wurde, verstärkt durch das Geschrei aller, die Ursache hatten, sich über den im Panzer seiner Manneswürde unangreifbaren Künstler zu ärgern, ihm gewiß noch schwerere unverdiente Niederlagen beigebracht haben, wenn nicht die besseren Elemente des Publikums jederzeit die Oberhand behalten hätten. Brahms bewahrte sich seinen gesunden Holsteiner Humor und seinen unerschütterlichen Glauben an die Gutmütigkeit des liebenswürdigen Wienervolkes.6

Verhängnisvoll für ihn wurde vorläufig die leise aufglimmende Gegnerschaft Herbecks, die von der Sache auf die Person überzuspringen und wenigstens auf der einen Seite einen leidenschaftlichen Brand zu entzünden drohte. Als Dirigent war ihm Herbeck nach Wiener Begriffen so sehr überlegen, daß er ihn nicht zu fürchten brauchte; aber er hatte auch die Ambition, ein hervorragender Komponist zu sein, und das war bei ihm die schwächere, also empfindlichere Stelle. Der Singakademie, die für ihr drittes Konzert zum Palmsonntag das Weihnachtsoratorium angekündigt hatte, lief Herbeck den Rang ab, indem er am Kardienstage glorreich die Johannes-Passion im Gesellschaftskonzert herausbrachte und, Bach gegen Bach, die Akademie gleichsam mit deren eigener Waffe traf. Der Sieg war ihm dadurch noch wesentlich erleichtert worden, daß die Qualität auch dieser Aufführung mancherlei zu wünschen übrigließ, in Folge derselben Unzukömmlichkeiten, [104] die das zweite Konzert gefährdeten. Auf allen Punkten sah sich die Singakademie vom Singverein geschlagen und wieder in die unhaltbare Position zurückgedrängt, die sie eingenommen hatte, ehe ihr »Retter« erschienen war. Konnte sie nicht mit ihrem Dirigenten siegen, so wollte sie wenigstens mit ihrem Komponisten einen ehrenvollen Rückzug antreten unter der Deckung eines großen Brahms-Abends. Er fand am 17. April 1864 im Saale der Gesellschaft der Musikfreunde unter den Tuchlauben statt. Sämtliche Musikstücke, die zur Aufführung kamen, waren »Kompositionen des Chormeisters Herrn Johannes Brahms«. Außer Marie Wilt und F. Prihoda, Ida Flatz und Dr. Panzer – die letzten beiden hatten auch im »Weihnachtsoratorium« gesungen – wirkten das durch die Professoren Schlesinger und Kupfer verstärkte Quartett Hellmesberger und Karl Tausig mit. Der Chor der Singakademie sang die Motette »Es ist das Heil uns kommen her«, op. 29 Nr. 1, »Vineta«, op. 42 Nr. 2, »Ave Maria«, op. 12, »Ruf zur Maria«, »Marias Kirchgang« aus den Marienliedern, op. 22 und das Volkslied »In stiller Nacht«, hier »Klage« betitelt. Die Solisten trugen das »Wechsellied zum Tanze« und »Neckereien« aus op. 31 vor. Hellmesberger und Genossen spielten dasB-dur-Sextett, und Tausig mit Brahms die »Sonate für zwei Klaviere« (das f-moll-Quintett in der ersten Bearbeitung). »Der Erfolg war im ganzen ein glücklicher,« berichtet die »Allgemeine musikalische Zeitung«. »Die reizenden Gesangsquartette wurden mit rauschendem Beifall aufgenommen, auch zwei, Marienlieder (fanden Anklang.« Voilà tout. Wie schon oben (im zweiten Kapitel) gesagt wurde, vermochten sich die Zuhörer, welche ohnehin einer solchen erdrückenden Fülle von Novitäten nicht gewachsen waren, mit der Sonate nicht zu befreunden, und von dem Sextett gefielen ihnen nur die Mittelsätze. Sie stachen sich an den Dornen der Rosen, die sie zu ersticken drohten, und viele deuteten den redlichen Eifer der Singakademie, die sich etwas auf ihren Chormeister zugute tun wollte, zu einer Arroganz des Komponisten um, der sich herausnahm, ein verehrliches Publikum einen ganzen Abend hindurch mit seiner Musik zu unterhalten. Der Widerwille, mit dem Brahms in der Folge nach Kräften jeden Brahms-Abend abwehrte, datiert von jenem 17. April.

[105] Die beiden Gesangsquartette waren bereits am 11. Januar in einer musikalischen Abendunterhaltung der Singakademie aufgeführt worden, das »Wechsellied zum Tanze« in Wiederholung der Premiere vom 18. Dezember 1863 (Ernst-Konzert). Das Streichsextett war als Novität am 27. Dezember bei Hellmesberger erschienen und hatte mäßigen Beifall gefunden. Selbständige Klavierkonzerte hatte Brahms seit seinen beiden Entree-Abenden nicht wieder gegeben. Er wirkte, außer in den früher erwähnten Konzerten noch bei Hellmesberger (6. Dezember 1863) und bei Julie v. Asten (12. Januar 1864) mit und verhalf dem Wiener Publikum dort zur Bekanntschaft einer Sonate inc-moll für Klavier und Violine von Phil. Em. Bach, hier zu der seiner Variationen über ein Thema von Schumann, op. 23, die er mit der Konzertgeberin vierhändig spielte. Wer ihn sonst hören wollte, mußte sich ins »Deutsche Haus«, Singerstraße Nr. 7, bemühen.

Dort im vierten Stock der siebenten Stiege hatte er seit der Rückkehr von Hamburg sein Quartier aufgeschlagen, und dort empfing er jeden Sonntag, nach dem Beispiele Anton Rubinsteins in Baden Baden, Gäste, denen er vorspielte, was sie von ihm verlangten. Die ehemalige weitläufige Komturei des deutschen Ritterordens ist musikgeschichtlich dadurch merkwürdig, daß der Erzbischof Hieronymus von Salzburg im Jahre 1781 darin wohnte und seine »Musiken« gab, bei welchen der junge Mozart aufwarten mußte, wofür er dann in der Anticamera des Erzbischofs am 8. Juni 1781 vom Grafen Arco jenen berühmten Fußtritt erhielt, der ihn an die Luft und in die ersehnte Freiheit hinausbeförderte. Wenn Brahms des skandalösen Vorfalles gedachte, mag er sich über den Wechsel der Zeiten gefreut und sich als Freiherr seiner Kunst gefühlt haben, mit der er nur denen »aufzuwarten« brauchte, die ihm zu Gesichte standen. Seine Freunde und Schülerinnen besuchten ihn hier, und er fühlte sich wohl im Deutschen Hause. Auch seine Bedienerin, ein richtiges Wiener »Stubenmadl«, gefiel ihm, und er rühmte ihren Zartsinn als Beispiel für die anmutige Liebenswürdigkeit des österreichischen Volkes. Nachdem sie das Haus verlassen hatte, fand er einmal zwischen den Notenzeilen einer Partiturhandschrift ihren Namen [106] und ein Datum hingekritzelt, das ihn an den Tag ihres Abschieds erinnern sollte.

Einer seiner Freundinnen, Frau Dr. Ottilie Ebner, geborenen Hauer, die wir als Mitglied der Singakademie kennen gelernt haben, verdanken wir die Mitteilung, daß Brahms hier an der Fortsetzung seiner Magelonen-Gesänge arbeitete, die im Mai 1862 bis auf sechs Nummern gediehen waren, aber erst am 17. Juni 1869 druckfertig vorlagen. Brahms, der große Verehrung für ihren Vater hatte – Dr. Hauer in Od bei Gutenstein war ein persönlicher Freund Schuberts und stand dem unglücklichen Ferdinand Raimund in den letzten qualvollen Stunden seines Lebens bei – war mit den Leistungen »seiner« Sängerin so zufrieden, daß er oft unaufgefordert zu ihr kam, um mit ihr zu musizieren. »Er brachte,« schreibt Frau Dr. Ebner, »Manuskripte von Liedern mit, die er mit mir durchnahm. ›Finden Sie nicht‹, fragte er einmal ganz ängstlich ›daß diese Lieder unbequem zu singen sind?‹ Es waren die Magelonen-Gesänge, an denen er gerade komponierte. Auch den ganzen Schubert nahmen wir durch, ein Lieblingslied von ihm war ›Delphine‹ (aus ›Lacrimas‹). Sobald ich müde vom vielen Singen war, spielte er mir vor, meist Bach, den ich am wenigsten kannte, und als besonderen Lohn das Intermezzo aus seinem g-moll-Quartett, das ich besonders gern hatte.« Die Sängerin Frau Dr. Neuda-Bernstein, die um dieselbe Zeit seinen Klavierunterricht genoß, nachdem sie als zehnjähriges Mädchen ein Jahr lang bei Tausig gelernt hatte, berichtet: »Bei einer Klavierstunde, die mir Tausig gab, befand sich Brahms im Nebenzimmer, ohne daß ich es ahnte. Tausig, der von Wien fort mußte und mich Brahms übergeben wollte, verschwieg es, um mir meine Unbefangenheit zu erhalten. Ich spielte Chopins e-moll-Konzert. Brahms trat herein und lobte mein Spiel. Als ich ihn aber besuchte und ihm vorspielte, erging es mir übel. ›Sie haben ja eiserne Finger,‹ sagte er, ›da ist alles hart, das muß aber alles weich sein. Sehen Sie, so‹ – er zeigte mir seine biegsamen, weichen Finger und setzte sich aus Klavier. Ich war wie vernichtet; seine Art zu spielen war das gerade Gegenteil von dem, was ich bisher gelernt hatte. Da er mich abweisen wollte, bat ihn meine Mutter, es wenigstens einige Stunden mit mir zu versuchen. [107] Etwas zögernd ging er darauf ein. Seine Worte hatten wie ein Wunder auf mich gewirkt. Schon nach der zweiten Stunde klopfte mir Brahms vergnügt auf die Schulter und sagte: ›Ich behalte Sie. Nee, das ist zu nett, wie haben Sie es nur angefangen?‹ Meistens ging ich in Begleitung der Mutter zu ihm, zuweilen kam er zu uns. Er wohnte im Deutschen Ordenshaus im vierten Stock. Wenn man eintrat, kam man in ein kleines Zimmer, dessen Wände mit rohen, bis zur Decke reichenden Bücher- und Notengestellen bekleidet waren. Im zweiten Zimmer befand sich das Klavier. Ein drittes kleines Kabinett diente ihm zum Schlafzimmer. Er wollte nichts für den Unterricht gezahlt nehmen, und meine Mutter, die Kenntnis von seinen engen Verhältnissen hatte, mußte ihm das Honorar (drei Gulden für die Stunde) förmlich aufdringen. Außer Nottebohm, bei dem ich auf seine Empfehlung Harmonielehre studierte, traf ich bei Brahms öfters Herrn Flatz. Zu meiner Mutter klagte er darüber, daß er so wenig Freunde unter den Musikern in Wien habe. Er war meist traurig und düster.«

Eine andere Schülerin erhielt Brahms in der sechzehnjährigen Tochter des Hannoverschen Gesandten Freiherrn von Stockhausen, einem ebenso schönen wie genialen Mädchen, das als Frau von Herzogenberg eine bedeutende Rolle in seinem Leben spielen sollte. Er studierte ihr u.a. Schumanns »Kreisleriana« ein. Aber schon nach wenigen Besuchen erklärte der gewöhnlich sehr schweigsame, schüchterne und scheue Lehrer, er sehe sich genötigt, den Unterricht abzubrechen. Er wollte Epstein die Schülerin nicht abspenstig machen, trotzdem dieser erklärte, daß er im Interesse beider Teile auf Elisabet verzichte, ohne die Spur einer Kränkung darüber zu empfinden.7 Auch ihren künftigen Bräutigam und Gatten lernte Brahms durch Dessoff kennen, bei dem Herzogenberg als Schüler des Wiener Konservatoriums seine theoretischen Studien eben beendet hatte. Brahms nahm sich des um zehn Jahre Jüngeren mit vieler Liebe an und vermittelte, indem er ihn an Rieter empfahl, die fruchtbare Verbindung des [108] Komponisten mit dessen treuem Verleger. »Hier ist ein junger Mann,« schreibt er am 16. März 1864 an Rieter, »Herr Heinrich Freiherr von Herzogenberg, von dem ich recht artige Lieder gesehen, und der den lebhaften Wunsch hat, sich gedruckt zu sehen. Vor Ihrer Firma, wie sich von selbst versteht, die größte Achtung habend, wünscht er, daß ich bei Ihnen anfrage ... Ich sah eine ziemliche Anzahl Lieder, jedoch ziemlich verschieden von Wett, die meisten recht leicht auszuführen und einige von recht einfach gefühltem Ausdruck« ... Von eigenen Arbeiten wandte er dem Verleger eine Ausgabe zweier bisher ungedruckter Violinsonaten Phil. Em. Bachs8 zu, die er von Hamburg mitgebracht hatte. Daß auf der Wiener Hofbibliothek eine Abschrift gerade dieser beiden, in c- und h-moll vorhanden sei, von denen er die erste mit Hellmesberger spielte, wisse außer ihm nur Nottebohm. Gern würde er eine Revision davon machen und sie mit den Wiener Kopien vergleichen. Sollte er noch mehr Sonaten von ähnlicher Schönheit finden, so würde er sie dem Verleger schicken. Aber, so gern er's Rieter zu Gefallen täte, könne er sich doch nicht entschließen, die Mode mitzumachen und seinen Namen auf eine Sache zu setzen, zu der er so eigentlich gar nichts tue. (Als ob die kritische Revision nebst Aussetzung des bezifferten Basses nichts wäre!) Für weitere Antiqua-Novitäten werde Nottebohm sorgen, der sich viel und eindringlich mit derlei Sachen beschäftige.

Auch bei dem, »zu seiner und vielleicht auch Rieters Überraschung« endlich fertig gewordenen vierhändigen Arrangement des d-moll-Konzerts wünschte er ungenannt zu bleiben: »Ich habe bei der Arbeit nur an Sie gedacht und dürfte, denke ich, prahlen, wie praktisch und geradezu leicht spielbar das Arrangement ist. Wieder jedoch habe ich die Bitte, Sie nennen meinen Namen nicht als Bearbeiter! Es ist schließlich eine bloße Schreiberei, und sieht nicht schön aus, wenn der Meister selbst aus seinem Werk so ein unförmliches Monstrum fabrizieren kann, wie das notwendig ein vierhändiges Konzert ist. Ferner habe ich auch zu oft Ihren statt meinen Vorteil bedacht und es fürs Spielen und nicht (wie es jetzt stark Mode) zum Lesen gemacht.«

[109] Mit Gustav Nottebohm, der bald das A und O in allen musikgeschichtlichen, -theoretischen und -kritischen Angelegenheiten für ihn wurde, war Brahms in intime Fühlung gekommen, soweit dies bei einem Sonderling von Nottebohms Art überhaupt geschehen konnte. Zwar hatte der Schüler Mendelssohns und Schumanns weder als Pianist noch Komponist mehr die ehrgeizigen Bestrebungen seiner Jugend – er war zur Zeit, als Brahms nach Wien kam, schon ein mittlerer Vierziger – gab aber doch gern dies und jenes Stück seiner großen Lehrer zum besten und spielte ebenso gern seine (sehr gediegenen) Variationen über ein Thema von Bach vierhändig, eine Liebhaberei, die Brahms mit ihm teilte. Nur wenn er eine gewisse Schumannsche Novellette vortragen wollte, zog ihm Brahms den Sessel unter den Beinen weg und setzte sich aufs Klavier. Von Brahms ließ sich Nottebohm alles gefallen, und das war auch die einzige Art, wie er ihm seine Zuneigung und seinen Respekt zu erkennen gab.9 Andererseits fand Brahms soviel an ihm zu schätzen, daß er die kleinen und großen Fehler seines Charakters, sein bis zum Hochmut verstiegenes, abweisendes Selbstgefühl, seinen in harte Gefühllosigkeit ausartenden starren Gerechtigkeitssinn, seine mit Blindheit und Taubheit geschlagene Heimatsliebe, seine zur Pedanterie hinneigende Gewissenhaftigkeit und seine vielleicht gar zu übertriebene Sparsamkeit nicht nur [110] ertrug, sondern als berechtigte Eigentümlichkeiten dieses besonderen und einzigen Menschen gelten ließ. Noch in der teils lächerlichen, teils erschreckenden Übertreibung, in der sie bei Nottebohm auftraten, gefielen ihm die Tugenden, welche alle er selbst besaß, und wenn er sie in dem Zerrspiegel bei seinem wunderlichen Freunde wiedererkannte, so dienten sie ihm möglicherweise als Zuchtmittel seines eigenen Charakters. Der Mann, der einen Kellner Betrüger nannte, weil er ihm aus Versehen zwei Kreuzer zu wenig herausgab, der einen Postboten um sein Amt brachte, weil dieser die Briefe, anstatt vier steile Treppen hoch zu steigen, beim Hausmeister niederlegte, der einen weithergereisten, talentvollen Schüler Knall und Fall verabschiedete, weil der Lerneifrige in seiner Ungeduld nach dem Pensum der nächsten Stunde fragte – dieser engherzige, kleinliche und grausame Vertreter eines abstrakten Moralbegriffes setzte die höchste Ehre darein, nicht nur sich selbst, sondern auch anderen zu dem Rechte zu verhelfen, das ihnen durch Gewalt und bösen Willen, Dummheit und Kurzsichtigkeit oder durch die laxe Führung und den gedankenlosen Schlendrian des gemeinen Lebens vorenthalten und verkümmert wurde. Wie er es dem alten Frankenkönig Karl, »den man mit Unrecht ›den Großen‹ nennt,« nicht vergessen konnte, daß er vor tausend und etlichen Jahren seinen Sachsenbrüdern von der roten Erde – Nottebohm war geborener Westfale – die Freiheit nahm und einen fremden Glauben aufzwang, so haßte er auch die modernen Missionare der Intoleranz, die Pfaffen und deren Beschützer, das Partei- und Kliquenwesen in Kunst und Wissenschaft. Aber mit der selbstlosesten Liebe und opferwilligsten Entsagung versenkte er sich in das Studium der musikalischen Klassiker, vor allem Beethovens und Schuberts, reinigte sie von entstellenden Fehlern und Fälschungen und bereicherte die Wissenschaft mit thematischen Katalogen ihrer Werke, die wir noch heute als Muster philologischer Genauigkeit und Gründlichkeit bewundern. Wer sich in Kürze einen Begriff von Nottebohms Methode und dem Scharfsinn, mit welchem er sie anwandte, verschaffen will, lese den letzten Aufsatz in seinen ersten »Beethoveniana«, wo er das Buch Seyfrieds über Beethovens Studien im Generalbaß und Kontrapunkt in Fetzen reißt, um es in einen Rechenschaftsbericht geschichtlicher [111] Wahrheit umzuwandeln – ein Meisterstück zerstörender und wiederaufbauender scharfsinniger Kritik.10

Über seinen neuen Bekanntschaften vergaß Brahms nicht seiner alten Freunde, und der Briefwechsel mit dem glücklich zum Ehemann avancierten Joachim rostete zwar ein wenig ein, wurde aber doch immer wieder aufgefrischt. Eine von Joachim für den September 1863 in München vorgeschlagene Zusammenkunft mit dem jungen Paare war nicht zu ermöglichen, und Brahms mußte sich damit begnügen, daß er Frau Joachim seine Sympathien durch die Dedikation der Duette op. 28, die von Frau Flatz und Herrn Förchtgott zuerst in Wien gesungen wurden, zu erkennen gab. Zwar meinte er, er möchte doch eigentlich dem schwachen Zeuge nicht einen so schönen und geliebten Namen voransetzen, und es müßte nach Hochzeit und Hochzeitsreise klingen, wenn es angeboten werden dürfe, schickt sie aber doch im Januar 1864 als verspäteten Weihnachtsgruß nach Hannover. Er schämt sich des dünnen, gehaltlosen, bei Spina erschienenen Heftchens; indessen lasse sich kein doppelter Kontrapunkt mehr darin anbringen, und in seiner Tasche langweilten sich nur wenige einsame Guldenzettel, also möge sie zufrieden sein, bis es besser werde: »Die Rolle kommt extra und bringt weiter nischt, als bekannte Duetten, gehauen und gestochen mehr von Spina als von mir.« Um der Ebbe in seinen Finanzen abzuhelfen, wurden für den März mehrere Konzerte mit Joachims geplant, auch hätte Frau Amalie das Solo im »Weihnachtsoratorium« singen sollen. Die Idee zerschlug sich aber, weil Frau Joachim nicht mehr reisefähig war. Gleichwohl frohlockt der arme Brahms und bekennt, daß eitel Jubel erscholl, als die Absage kam: »Ich kann die Konzerte so wenig leiden, daß ich nicht einmal mich auf Dein Kommen freuen konnte, der Du welche mitbringen wolltest.« Er spielt auf ein neues Violinkonzert Joachims an, das er ungern entbehrt. »Dies schöne Wien liegt doch gar zu fern; ich kann kaum daran denken, wenn ich mich denn einmal [112] von ihm verabschieden kann.« Er dankt für den lustigen Katzenorden (siehe das vorige Kapitel!) und verspricht aufs lustigste mitspinnen zu helfen und die beste Laune zu haben, wenn er erst – vielleicht im Frühjahr – wieder nordwärts steuere. Sehr beunruhigt wird er von der Erkrankung Dietrichs, der damals vorübergehend eine Nervenheilanstalt aufsuchen mußte. Ihm kommt es viel einfacher vor, daß einem der Verstand einmal davongeht, als daß man ihn wieder fängt, wenn er einmal davon ist. »Bester Jussuff,« ruft er aus, »liebere Freunde und bessere Musikanten gibt's hier nicht! Auch nicht einer von denen, die ich immerfort entbehre, wird mir ersetzt! Und so wird mir denn auch der Entschluß schwer, für das nächste Jahr mich wieder zu binden. So manche Freude mir auch die Akademie macht, gibt's doch genug, daß man's überlegt. Wundere Dich nächstens nicht zu sehr und zu unangenehm, wenn Dir ein Brahms-Programm vorkommt! Die Akademie muß ein Konzert geben, mir blieb keine Wahl, als eben auf die Bitte des Komitees einzugehen. Das Konzert soll Geld bringen und in zwei bis drei Wochen studiert sein. Ehe ich als bloßer Kapellmeister mich prostituiere und das Publikum mit einer langen Reihe von Chören langweile, lasse ich's lieber als Komponist über mich ergehen; wer hineingeht, weiß ja, welchen Spaß er mitmachen soll. Anfang Mai werde ich wohl nicht nach dem Norden kommen, aber es zieht mich nach Muttern und nach manchem.« In demselben Sinne schrieb er an den wieder genesenen Freund Dietrich.

Aus allen diesen Äußerungen läßt sich erkennen, wie unbehaglich Brahms sich in seiner Stellung fühlte. Nach längerem Hin- und Herschwanken entschied er sich dafür, sie aufzugeben, und auch die schmeichelhafte Tatsache, daß er von den Mitgliedern der Singakademie, diesmal einstimmig, auf drei Jahre wieder zum Dirigenten gewählt wurde, änderte nichts an seinen Entschlüssen. »Sie wissen wohl noch nicht,« schreibt er an Selmar Bagge in Leipzig, »daß ich meine Chormeister-Stellung aufgegeben habe? Erzählen Sie auch in der Zeitung nicht eher davon, als bis es in Wien öffentlich gesagt ist – d.h. bis das Komitee mit seinen Einrichtungen fertig ist. Dagegen brauche ich Ihnen, der die Verhältnisse kennt, nicht die Gründe auseinanderzusetzen.«

[113] Seltsam ist, daß Brahms in seinen Briefen an Joachim und Dietrich weder seine Beziehungen zu Tausig und Cornelius, mit denen er gerade im Frühjahr 1864 viel verkehrte, noch die daraus sich ergebende Begegnung mit Richard Wagner erwähnt. Cornelius verzeichnet in seinem, leider nur sehr summarisch und unregelmäßig geführten Tagebuche, daß er 1863 außer »bewegten, schönen Tagen mit Wagner« auch mancherlei Zusammenkünfte mit Brahms gehabt habe, daß Brahms den »Barbier von Bagdad« lobe und sich für den »Cid«, an dem Cornelius seit Jahren komponierte, und den Tausig Brahms vorspielte, bei Dessoff verwende, daß »der berühmte junge Komponist sich manchmal zu ihm verliere« usw. Ein gerades herzliches Wort hat er für Brahms nicht übrig. Nach seinen Äußerungen zu urteilen, scheint er von Anfang an gegen ihn eingenommen gewesen zu sein. Möglicherweise war er auf Brahms eifersüchtig, weil sein geliebter Carlo, den er einmal »einen ausgebrannten Vulkan« nennt, sich gar zu viel mit ihm beschäftigte. Cornelius, sensitiv und launenhaft wie ein Weib, hatte am schwersten unter seiner übertriebenen Empfindlichkeit zu leiden. Das Barometer seiner Gefühle deutete selten auf beständiges Wetter, schnellte bald hoch empor und sank ebenso bald wieder tief herab. Da er viel zu gern auf die trügerischen Stimmen seines Innern horchte, um deutlich hören zu können, was die äußeren zu ihm sprachen, vernahm er nur die Dissonanz zwischen beiden und vergaß sie aufzulösen. An Brahms' Geburtstage machten die Drei einen mehrtägigen Ausflug nach Preßburg. Tausig hatte dort eine zarte Bekanntschaft im kunstfreundlichen Hause des Postdirektors Vrabély, dessen Töchter Seraphine und Stephanie gefeierte Schönheiten waren und für ausgezeichnete Klavierspielerinnen galten. Die eine, auch schriftstellerisch beanlagte, Stephanie (spätere Gräfin Wurmbrand-Stuppach), wurde Schülerin von Brahms, die andere, Seraphine, verheiratete sich am 8. November 1864 mit Tausig. Brahms und Cornelius fungierten als Trauzeugen. Nach dem Dejeuner spielten der junge Ehemann und Brahms auf zwei Klavieren Straußsche Walzer den Damen zum Tanze auf. Schon bei der Hochzeit oder doch bald nachher trat eine Entfremdung zwischen Cornelius und Brahms ein. Im Dezember vermerkt Cornelius in seinem Tagebuche, offenbar in sehr [114] gereizter Stimmung: »Mit einem bin ich jetzt ganz entschieden fertig; das ist Herr Johannes Brahms. Er ist ein ganz eigensüchtiger, selbstschätzender Mensch. Ich habe ihn schon dies Jahr nicht mehr aufgesucht, er kam zu mir. Er möge den Pfad seiner Berühmtheit wandeln. Ich will ihn fürder nicht stören und nicht begleiten.«

Von dem Abend, den er mit Brahms und Tausig in Penzing bei Wagner verbrachte, hat Cornelius, der fast täglich um 6 Uhr hinauswanderte und bis 101/2 Uhr dort blieb, nichts aufgezeichnet. Ihm war die Begegnung offenbar nicht so interessant wie der Nachwelt, die, von Wagner und den Wortführern seiner Sache belehrt, daß sie in Brahms und Wagner Antipoden, in ihrer Musik feindliche Pole der Kunst zu sehen habe, sehr erstaunt war, als die erste Kunde davon in die Öffentlichkeit drang. An Frühergesagtes anknüpfend, sei daran erinnert, daß Wagner und Brahms im Herbst 1862 und 1863 kurz nach einander in Wien eintrafen: Wagner 1862, um seinen »Tristan« einzustudieren, der für den März in der Hofoper angesetzt war, 1863, nachdem dies fehlgeschlagen, um eine von ihm geplante Reorganisation der Hofoper womöglich in eigene Hand zu bekommen und seine »Meistersinger« zu vollenden; Brahms 1862, um Stadt und Land kennen zu lernen und die Berufung nach Hamburg abzuwarten, 1863, um die Leitung der Singakademie zu übernehmen. Beide Male gerieten sie in ihren öffentlichen Produktionen dicht an einander. Am 1. Januar 1863 gab Wagner sein zweites Konzert im »Theater an der Wien«, am 6. Januar Brahms sein zweites Konzert im Saale der »Gesellschaft der Musikfreunde«; am 27. Dezember 1862 mittags dirigierte Wagner in Tausigs Konzert Freischütz-Ouvertüre, Vorspiel und Schluß zu »Tristan«, das Schusterlied und die Ouvertüre zu den »Meistersingern«, wenige Stunden darauf debutierte Brahms mit seinem B-dur-Sextett bei Hellmesberger. Das Unglück wollte es, daß Hanslick die neuen Wunder eben dieses musikalischen Festtages in eine gewagte Parallele brachte, die nicht zu Gunsten des im Konzertsaal übel placierten Musikdramatikers ausfallen konnte. »Nach den Wagnerschen Stücken«, sagte er, »genossen wir mit doppelter Freude eine neue Komposition von Brahms, welche am selben [115] Tag in Hellmesbergers Quartett-Soiree vorgeführt wurde. Es ist dies ein Sextett für zwei Violinen, zwei Bratschen und zwei Violoncells. Wir zählen diese Komposition nicht nur zu den besten von Brahms, sondern überhaupt zu dem Schönsten, was die neuere Kammermusik hervorgebracht hat.« Nach einem motivierten Lobe des Stückes fährt er fort: »Solche Kompositionen sind in ihrer liebenswürdigen Bescheidenheit eigentlich die beste Kritik und Replik auf die Großtaten der Zukunftsmusik«. Brahms ist eben durch und durch Musiker, während man von Wagner und Liszt sagen könnte, was Plutarch von Damon, dem Musiklehrer des Perikles, berichtet: »Er war ein Sophist ersten Ranges und scheint sich hinter den Namen der Musik versteckt zu haben.«

Diese einseitige, mit den bedrängten Umständen des von den Ereignissen in die Enge getriebenen Berichterstatters zu entschuldigende Kritik mußte Wagner verletzen und in der irrigen Meinung bestärken, daß der Mitunterzeichner des Protestes von 1860 sich im geheimen Einverständnisse mit Hanslick befunden habe. Cornelius und Tausig klärten ihn darüber auf, daß jene bekannte, zwar geharnischte, aber durchaus sachliche und leidenschaftslose Erklärung nur durch eine Indiskretion in die Öffentlichkeit gekommen war, daß sich Brahms mit der ihr gegebenen Fassung keineswegs völlig einverstanden wußte, und daß der Protest weniger ihn, Wagner, als die symphonischen Dichter, vor allem aber Liszt treffen sollte. Die beiderseitigen Freunde, zu denen sich noch der für Brahms warm eingenommene Primararzt Dr. Josef Standthartner als Intimus von Cornelius und Wagner gesellte, dachten etwas Gutes zu tun, als sie auf eine persönliche Begegnung mit Brahms hinarbeiteten. Diese kam im Landhause eines Baron v. Rochow in Penzing bei Schönbrunn am 6. Februar 1864 zustande. Wagner hatte die Villa gemietet und in äußerst kostspieliger Weise für seinen Geschmack einrichten lassen, obwohl er, wie gewöhnlich, kein Geld, sondern nur Schulden hatte. Zwei Tapezierer mußten unausgesetzt wochenlang daran arbeiten, um seine extravaganten Bedürfnisse und Launen alle zu befriedigen. Er schwelgte damals in Samt und Seide und besann sich täglich auf eine andere Farbenzusammenstellung, ein neues Muster, eine gefälligere Anordnung. Am 7 Februar schrieb Wagner an Dr. Standthartner: [116] »Liebster Freund! Wohl fürchte ich, daß Du jetzt große Not im eigenen Hause hast. Dennoch bitte ich Dich – und deshalb gerade Dich – sobald Du Zeit und Laune dafür hast, die Verabredung mit Brahms und Tausig wegen eines Abends bei mir treffen zu wollen. Ich würde Dich dann bitten, den beiden Porges und Peter (Cornelius) es ebenfalls sagen lassen zu wollen. Jeder Tag ist mir recht, und es ist mir lieb, wenn ich bald einmal einer solchen Zerstreuung teilhaftig werden kann« ... Und am Besuchstage drängt er nochmals: »Guten Morgen, Liebster! Darf ich für heute Abend auf Gäste rechnen? Wenn ja, so hätte ich auch gern die Porgesen11 dabei.« Gustav Schönaich, der Stiefsohn Standthartners, der diese beiden Wagnerschen Zettel zuerst publizierte12, berichtet als Augen- und Ohrenzeuge jenes Abends: »Die ganze Gesellschaft war bester Laune, und Wagner zeichnete den dreißig Jahre jüngeren [muß heißen: zwanzig] Kunstgenossen besonders aus. Er forderte Brahms sogleich auf zu musizieren, und dieser spielte zunächst einige Stücke von Seb. Bach, unter diesen die damals von ihm gerne produzierte Orgel-Tokkata in F-dur. Dann spielte er über ausdrücklichen Wunsch Wagners seine Variationen über ein Thema von Händel, deren Lob jener bereits durch uns vernommen hatte. Sein Spiel trug an diesem Abend jenen genialen, großartig plastischen Charakter, der am meisten dann hervortrat, wenn Brahms unter Musikern oder in einem ihm sympathischen Privatzirkel spielte, und der sich vor der großen Öffentlichkeit, die ihn stets mit Unbehagen erfüllte, nur abgeschwächt zeigte. Es ist mir noch in frischester Erinnerung, mit welch ungeheuchelter Wärme Wagner, dem das Lob eines Werkes, das ihm nicht zusagte, zu jeder Zeit unmöglich war [siehe die Epistel über Liszts symphonische Dichtungen und den noch überschwänglicheren Panegyrikus auf Meyerbeer!]13, den jungen [117] Komponisten mit Anerkennung überschüttete, und wie überzeugend er über alle Details der Komposition sprach. ›Man sieht,‹ sagte er zum Schlusse, ›was sich in den alten Formen noch leisten läßt, wenn einer kommt, der versteht, sie zu behandeln.‹«

Sehr richtig. Und eben dasselbe läßt sich auch an Wagner beobachten. Denn auch dieser Meister ist keineswegs vom Himmel gefallen, sondern lernte von anderen Meistern und versuchte anfangs auf den Überlieferungen eines Gluck und Weber, Meyerbeer und Marschner fortzubauen. Ja, selbst da noch, wo er mit der Tradition brach, erneuerte und vermengte er nur die alten, im Geiste des Menschen beruhenden Grundformen der Musik und Poesie, ob immer zum Heile und zum bleibenden Gewinn der beiden Künste, bleibe dahingestellt! In seiner Wertschätzung und Anerkennung des Komponisten Brahms freilich hat Wagner, ganz wie einst bei Mendelssohn, Meyerbeer und Schumann, sich leider sehr geändert, und zwar immer mehr zu ungunsten des von ihm Beurteilten, je größer die Fortschritte waren, die Brahms in seiner Kunst machte, und je weiter sich sein Ruhm ausbreitete, den er ehrlich und einzig aus eigener Kraft erwarb, ohne höhere Protektion und ohne die Mithilfe einer fanatisierten, planmäßig eingerichteten Partei.

»Das sehr gute Verhältnis der beiden Männer,« schreibt unser Gewährsmann weiter, »welche sich in ihren Zielen kaum berührten, wäre niemals gestört worden, wenn der sinnlose Parteieifer gewisser Anhänger nicht beide zu einander in eine schiefe Stellung gebracht hätte.« Richard Heuberger ist derselben Ansicht und meint, es sei »tief« zu bedauern, daß die Wege der beiden Meister, persönlich wenigstens, auseinanderführten.14 Ohne Zweifel würde Brahms von dem freundschaftlichen Verkehr mit einer so bedeutenden geistigen und künstlerischen Potenz wie Wagner vielerlei Anregung empfangen haben; das Verhältnis wäre aber immer ein einseitiges, für den unabhängigen und ganz anders organisierten Menschen und Künstler Brahms ein geradezu unerträgliches gewesen, da Wagner keine Gleichordnung geduldet und von Brahms auch nichts zu erwarten gehabt hätte. Seine Neugierde war befriedigt, seine »Zerstreuung« hatte er gehabt – [118] was sollte, was konnte ihm der schlichte Musikant, der »hölzerne Johannes«, über den er spöttelte, noch sein? Er war ihm gerade gut genug gewesen, ihn und seine Gäste einen Abend lang zu unterhalten. Um so schlimmer für Brahms, wenn er mehr sein wollte als ein Einlageblättchen im Lebensbuche des Bayreuther Beherrschers aller Gläubigen, eine Fußnote zum Texte seiner. Vor- und Mitwelt überragenden Größe. Man sehe nur in Wagners Schriften nach, mit welcher Gereiztheit, Erbitterung und Gehässigkeit, die sich bis zu persönlichen Schmähungen und gänzlich aus der Luft gegriffenen Insinuationen niedrigster Art steigert, er gegen seinen Gast von 1864 losgeht! Besonders lehrreich ist in dieser Beziehung ein ausführlicher Passus in dem Pamphlet »Über das Dirigieren«, der von den »Stillen im Lande« und ihrem »Muckertum« handelt. Die Tendenz dieser »widerlichen Sekte« sei, »dem Anreizenden und Verführerischen auf das angelegentlichste nachzutrachten, um an der schließlichen Abwehr desselben die Widerstandskraft gegen Reiz und Verführung zu üben«. Der »eigentliche Skandal der Sache« aber wäre »aus der Aufdeckung des Geheimnisses der Höchsteingeweihten hervorgegangen«, bei denen sich die angekündigte Tendenz dahin umkehrte, »daß der Widerstand gegen den Reiz nur den schließlich einzig erzielten Genuß zu steigern hatte«. – Mit der eines Talmudisten würdigen, spitzfindigen Exegese sollte Brahms getroffen werden. Zwar wird er als Oberhaupt jener widerlichen Sekte nicht direkt namhaft gemacht, aber der »Wächter der musikalischen Keuschheit«, der Kunst-»Eunuche«, dem das Philistertum »gern die Bewachung des immerhin bedenklichen Einflusses der Musik auf die Familie anvertraue, da man sicher zu sein glauben dürfe, von dieser Seite nichts Bedenkliches aufkommen zu sehen«, kann kein anderer sein. Wagner nennt ihn im Zusammenhange mit »diesen Leuten« und nennt hier nur ihn. Es gehört zum Wesen seiner eigentümlichen Angriffsweise, daß er immer in dem Augenblick, in welchem er salutierend den vergifteten Degen vor dem Gegner zu senken scheint, ihm sicher den ersten, auf das Herz zielenden Stoß versetzt. Er hätte versucht, alle großen ihm überlegenen Dichter und Musiker umzubringen, wenn er sie nicht durch den Panzer ihrer Unsterblichkeit gegen seine heimtückischen Ausfälle geschützt [119] gewußt hätte. »Herr Johannes Brahms,« beginnt Wagner artig und verbindlich, »war so freundlich, mir einmal ein Stück mit ernsten Variationen von sich vorzuspielen, aus dem ich ersah, daß er keinen Spaß versteht, und welches mich ganz vortrefflich dünkte. Ich hörte ihn auch in einem Konzerte anderweitige Kompositionen auf dem Klavier spielen, was mich allerdings weniger erfreute.« (Man erinnere sich, daß das Konzert, in welchem Wagner die f-moll-Sonate und mehrere Lieder von Brahms hörte, seiner Einladung vorangegangen war!)15 Wagner tadelt die »Sprödigkeit und Hölzernheit« seines Vortrages und sagt weiter: »Alles zusammen konstatierte jedoch eine ganz respektable Erscheinung, von der man nur einzig auf natürlichem Wege nicht zu begreifen vermag, wie sie, wenn nicht zu der des Heilandes, doch wenigstens zu der des geliebtesten Jüngers desselben gemacht werden konnte; es müßte denn sein, daß ein affektierter Enthusiasmus für mittelalterliche Schnitzereien in jenen steifen Holzfiguren das Ideal der Kirchenheiligkeit zu erkennen uns verleitet hätte.« Und nun folgt zur Charakteristik dieser Heiligkeit die Auseinandersetzung über die Muckerei und die unteren und oberen Grade der Schule. »Die ›Liebeslieder-Walzer‹ des heiligen Johannes, so albern sich schon der Titel ausnimmt,16 könnten noch in die Kategorie der Übungen der unteren Grade gesetzt werden: die inbrünstige Sehnsucht nach der ›Oper‹ jedoch, in welche schließlich alle religiöse Andacht der Enthaltsamen sich verliert, zeichnet unverkennbar die höheren und[120] höchsten Grade aus. Könnte es hier ein einziges Mal zu einer wirklich glücklichen Umarmung (!) der ›Oper‹ kommen, so stünde zu vermuten, daß die ganze Schule gesprengt wäre.«

Was geschah denn in den fünf Jahren, die seit dem Abend in Penzing bis zu der Abfassung der Wagnerschen Schmähschrift verflossen waren, was hatte sich der mit Auszeichnung aufgenommene, »mit Anerkennung überschüttete« Komponist zu Schulden kommen lassen, daß Wagner in dieser Art gegen ihn verfuhr? Wir wissen es nicht, niemand weiß es. Oder doch: er hatte, wie schon angedeutet, die Prophezeiung Schumanns erfüllt und war, anstatt der gnädig gelobte Autor der Händel-Variationen zu bleiben, der Sänger des Deutschen Requiems geworden, von dem das Gerücht ging, daß er demnächst mit einer Oper hervortreten würde. Aus diesem und keinem andern Grunde wurde ihm sein linkisches Benehmen, seine scheue Schweigsamkeit, der seine und hohe Ton seiner noch immer knabenhaften Stimme als muckerisches Wesen und beschämendes natürliches Gebrechen ausgelegt, wurde ihm sein armseliges Klavierlehrertum und seine kindlich reine Pietät gegen die Ahnherren und Vorbilder seiner Kunst höhnisch vorgerückt, wurde er öffentlich insultiert, verdächtigt, entwürdigt, und das alles von dem Manne, dem er nicht einmal im Freundesgespräch unter vier Augen etwas Übles nachzusagen, sondern gegen unberichtigte Angriffe in Schutz zu nehmen und zu verteidigen pflegte!17

Nein, Wagner und Brahms paßten nicht zueinander, und ihre Wege hätten sich früher oder später getrennt, wenn sie nicht schon durch Wagners Flucht aus Wien (am 23. März) geschieden worden wären. Einmal aber sind sie doch noch zusammen gekommen, wenn auch nur schriftlich.

[121] Sowohl bei Weißheimer wie bei Cornelius ist von einem Wagner-Manuskripte die Rede, welches das von Wagner 1861 für die Pariser Balletthabitués nachkomponierte, unmittelbar aus der Ouvertüre in den Venusberg des »Tannhäuser« übergehende Bacchanal enthielt. Es war in zwei Exemplaren vorhanden, im Original und einer Kopie. Weißheimer hatte die Kopie, Tausig das Original von Wagner »zur Aufbewahrung« bekommen. Tausig, der die Handschrift als Geschenk betrachtete, vielleicht auch als Gegengabe für schwere Opfer, schenkte sie weiter an Brahms, der sie als liebes Andenken an Tausig und Wagner aufhob. Im Januar 1865 forderte Wagner von Weißheimer sein Eigentum zurück, und dieser schickte es ihm, »schweren Herzens«, weil er die Pariser Tannhäuser-Szenen, die ihm gar nicht in die Oper hineinzupassen schienen, erst hatte zurückgeben wollen, »wenn sie kein Unheil mehr anrichten könnten«. Im September desselben Jahres schreibt Cornelius zuerst an Brahms, dann an Tausig, Frau Cosima wolle das angeblich ihm (Cornelius) anvertraute, von Tausig an Brahms weiter geschenkte Manuskript zurückhaben. Ob vielleicht Wagner es ihm (Tausig) geschenkt, vergessend, daß er ihm (Cornelius) es früher gegeben hatte? Eine verwickelte Sache! Brahms, der sich lange nicht rührte, antwortete endlich Cornelius: »Sie wissen jedenfalls, daß ich, eben das Wagnersche Manuskript betreffend, außer Ihrem auch mehrere Briefe von Frau von Bülow bekam. Nun zählt jeder dieser Briefe in so auffallender Weise neue Gründe der Herausgabe auf, daß ich schließlich die unangenehme Empfindung hatte, man wünsche eben nur das Manuskript aus meinen Händen. Kam nun noch die eigene delikate Frage dazu, daß es Tausig verschenkt hatte. Ich an seiner Statt wollte mir's verbitten Geschenktes auf diese Weise [122] herauszugeben.« Er wünscht schließlich, da die meisten Gründe unmaßgebend geworden wären, das Manuskript möge ihm in Frieden gegönnt sein. Das blieb es denn auch ein Jahrzehnt hindurch. Im Juni 1875 aber erhielt Brahms plötzlich folgendes Schreiben:


»Geehrtester Herr Brahms!


Ich ersuche Sie, mein Manuskript der von mir umgearbeiteten zweiten Szene des Tannhäuser, dessen ich zu der Herausgabe einer Neubearbeitung der Partitur bedarf, mir zuzuschicken. Zwar ist mir berichtet worden, daß Sie, vermöge einer Schenkung durch Peter Cornelius an Sie, Eigentumsansprüche an dieses Manuskript erheben; doch glaube ich dieser Meldung keine Folge geben zu dürfen, da Cornelius, dem ich dieses Manuskript eben nur gelassen, keineswegs geschenkt hatte, unmöglich desselben sich an einen Dritten entäußern konnte, welches nie getan zu haben, er mir auf das teuerste versichert hat.

Vermutlich ist es meinerseits sehr unnötig, Sie an dieses Verhältnis zu erinnern, und es wird keinerlei weiterer Auseinandersetzung bedürfen, Sie zu bestimmen, dieses Manuskript, welches Ihnen nur als Kuriosität von Wert sein kann, während es meinem Sohne als teures Andenken verbleiben könnte, gern und freundlich mir zurückzustellen.


Mit größter Hochachtung Ihr ergebenster

Richard Wagner.«

Bayreuth, 6. Juni 1875.


Brahms erwiderte darauf:


»Juni 1875.


Hochgeehrtester Herr,


Wenn ich gleich sage, daß ich Ihnen das fragliche Manuskript ›gern und freundlich‹ zurückstelle, so muß ich mir doch wohl trotzdem erlauben, einige Worte beizufügen.

Ihre Frau Gemahlin ging mich schon vor Jahren um die Rückgabe jenes Manuskripts an; mich sollte jedoch damals so vielerlei dazu veranlassen, daß ich schließlich nur das eine empfinden konnte: Es sei mir eben der Besitz Ihrer Handschrift nicht gegönnt. Leider muß ich dem Sinne Ihres Briefes wohl Gewalt antun, will ich etwas anderes herauslesen, und damals wie jetzt hätte ich einem einfachen Wunsch von Ihnen jedenfalls lieber das Opfer gebracht.

[123] Ihrem Sohn kann doch – gegenüber der großen Summe Ihrer Arbeiten – der Besitz dieser Szene nicht so wertvoll sein wie mir, der ich, ohne eigentlich Sammler zu sein, doch gern Handschriften, die mir wert sind, bewahre. ›Kuriositäten‹ sammle ich nicht.

Die Auseinandersetzungen über unsere verstorbenen Freunde18 und den Besitzanspruch, den ich ihnen zu verdanken meine, mag ich nicht fortsetzen. Jenen möchte doch wohl jedenfalls lieber und leichter gewesen sein, mir einfach die etwaige Übereilung einzugestehen.

Ich meine fast, mir gegenüber die Verpflichtung zu haben, eingehender Ihrem Schreiben und nachträglich denen Ihrer Frau Gemahlin zu erwidern – doch muß ich wohl fürchten, Mißdeutungen in keinem Fall entgehen zu können, denn, wenn Sie erlauben, das Sprichwort vom Kirschenessen ist wohl nicht leicht besser angewandt als bei unsereinem Ihnen gegenüber. Möglicherweise ist es Ihnen nun ganz angenehm, wenn ich nicht mehr glauben darf, Ihnen etwas geschenkt zu haben. Für diesen Fall nun sage ich, daß, wenn Sie meiner Handschriftensammlung einen Schatz rauben, es mich sehr erfreuen würde, wenn meine Bibliothek durch eines mehr Ihrer Werke, etwa die Meistersinger bereichert würde.

Daß Sie Ihre Meinung ändern, darf ich wohl nicht hoffen, und so schreibe ich heute noch nach Wien, um mir die Mappe, welche Ihr Manuskript enthält, kommen zu lassen. Ich ersuche recht dringend, mir seiner Zeit den Empfang freundlichst durch einige Worte anzeigen zu wollen.


In ausgezeichneter Hochachtung und Verehrung

sehr ergebener

Joh. Brahms.«


Ziegelhausen bei Heidelberg.


Levi, der zugegen war, als der Brief ankam, erzählt, Wagner sei in große Wut über ihn geraten und habe ausgerufen: »Wenn mir so ein Advokat schreibt – meinetwegen. Aber ein Künstler!?« Er wollte nicht einsehen, daß Brahms sich von der ihm imputierten Schuld, widerrechtlich fremdes Eigentum behalten zu haben, [124] reinigen mußte, und nicht zugeben, daß jener seinen unanfechtbaren Standpunkt in durchaus würdiger Weise verteidigte. Was ihn am meisten aufgebracht haben mag, wird der Passus mit dem Sprichwort gewesen sein, der einzige Stachel, den der Brief enthält. Brahms erinnert leise an sein Kirschenessen in Wien-Penzing, bei dem er die Kerne ins Gesicht geworfen bekam. Aber Wagners Zorn legte sich, und er dankte Brahms mit folgenden Zeilen:


»Geehrtester Herr Brahms!


Ich danke Ihnen sehr für das soeben zurückerhaltene Manuskript, welches sich allerdings, da es seinerzeit in der Pariser Kopie sehr übel hergerichtet wurde, durch äußere Anmut nicht auszeichnet, mir aber – außer allen empfindsamen Gründen – deswegen von Wert ist, weil es vollständiger ist als die damals von Cornelius mit einem großen Strich versehene Abschrift.

Es tut mir nun leid, Ihnen statt der gewünschten Meistersingerpartitur (welche mir, nach wiederholter Nachlieferung von Schott, gänzlich wiederum ausgegangen ist) nichts Besseres als ein Exemplar der Partitur des Rheingold anbieten zu können; Ohne Ihre Zustimmung zu erwarten, sende ich Ihnen dieses heute zu, weil es sich dadurch auszeichnet, daß es das Prachtexemplar ist, welches Schott seiner Zeit auf der Wiener Weltausstellung prangen ließ. Man hat mir manchmal sagen lassen, daß meine Musiken Theaterdekorationen seien19: das Rheingold wird stark unter diesem Vorwurf zu leiden haben. Indessen dürfte es vielleicht nicht uninteressant sein, im Verfolgen der weiteren Partituren des Ringes des Nibelungen wahrzunehmen, daß ich aus den hier aufgepflanzten Theaterkulissen allerhand musikalisch Thematisches zu bilden verstand. In diesem Sinne dürfte vielleicht gerade das Rheingold eine freundliche Beachtung bei Ihnen finden.


Hochachtungsvollst grüßt Sie Ihr

sehr ergebener und verpflichteter

Richard Wagner.«

Bayreuth, 26. Juni 1875.


[125] Zeichnete sich das Tannhäuser-Autograph, nach Wagners eigener Aussage, nicht durch äußere Anmut aus, so gehören die beiden an Brahms gerichteten Briefe, zumal der zweite, minder heftige, zu den schönsten und zierlichsten Wagner Handschriften. Wer sie einmal bei Brahms gesehen, wird sich mit Vergnügen an die kalligraphisch gezirkelten, schnurgerade gereihten, abgerundeten Lettern erinnern. Wagner gab sich grade hier besondere Mühe, sich möglichst vorteilhaft zu präsentieren. Er hatte ursprünglich sogar die Absicht (nach Levis Bericht) eine Partiturseite abzuschreiben und für Brahms einzulegen, »damit er sehe, daß ich auch heute noch eine ganz gute Handschrift habe«, ließ es aber bei der schriftlichen Widmung bewenden: »Herrn Johannes Brahms als wohlkonditionierter Ersatz für ein garstiges Manuskript, Bayreuth, 27. Juni 1875, Richard Wagner.«20 Auch den gediegenen Musiker hätte er gern gezeigt, und deshalb glaubt er den Empfänger der Rheingold-Partitur auf die Thematik der Nibelungen aufmerksam machen zu müssen. O, er könnte, wenn es darauf ankäme, auch so jemand sein, der noch bessere Kontrapunkte zu setzen versteht, als sie im Vorspiel zu den »Meistersingern« vorkommen! Aus alledem leuchtet ein verhaltener Respekt hervor, den der »Kopist Beethovens«, den man »bald in der Larve des Bänkelsängers, bald mit der Halleluja-Perücke Händels, bald als jüdischen Csardas Aufspieler, bald wieder als grundgediegenen Symphonisten, in eine Numero Zehn verkleidet, antreffen kann«,21 seinem mächtigen und gefährlichen Widersacher denn doch abgenötigt zu haben scheint.

Brahms quittierte über den Empfang von Partitur und Brief mit folgenden sehr merkwürdigen, diplomatischen Zeilen:


»Juni 1875.


Verehrtester Herr,


Sie haben mir durch Ihre Sendung eine so außerordentliche Freude gemacht, daß ich nicht unterlassen kann, Ihnen dies mit wenig Worten zu sagen, und wie von Herzen dankbar ich Ihnen bin für das prachtvolle Geschenk, das ich [126] Ihrer Güte verdanke. Den besten und richtigsten Dank sage ich freilich täglich dem Werk selbst – es liegt nicht ungenützt bei mir. Vielleicht reizt dieser Teil anfangs weniger zu dem eingehenden Studium, das Ihr ganzes großes Werk verlangt: dieses Rheingold aber ging noch besonders durch Ihre Hand, und da mag die Walküre ihre Schönheit hell leuchten lassen, daß sie den zufälligen Vorteil überstrahle. Doch verzeihen Sie solche Bemerkung! Näher liegt wohl die Ursache, daß wir schwer einem Teil gerecht werden, daß uns über ihn hinaus und das Ganze zu sehen verlangt. Bei diesem Werke gar bescheiden wir uns gern noch mehr und länger.

Wir haben ja den, wohl ergreifenden, doch eigentümlichen Genuß – wie etwa die Römer beim Ausgraben einer riesigen Statue – Ihr eines Werk sich teilweise erheben und ins Leben treten zu sehen. Bei Ihrem undankbarern Geschäft, unserem Erstaunen und Widerspruch zuzusehen, hilft dann freilich einzig das sichere Gefühl in der Brust und eine immer allgemeiner und größer werdende Achtung, welche Ihrem großartigen Schaffen folgt.

Ich wiederhole meinen besten Dank und bin in ausgezeichnetster Verehrung

Ihr

sehr ergebener

Johs. Brahms.«


Mit der Erledigung des immerhin peinlichen Zwischenfalles konnte Brahms zufrieden sein. Über seine persönlichen Beziehungen zu Wagner hatte er schon früher ein Kreuz gemacht, und es gelüstete ihn nicht, den unterbrochenen Verkehr mit ihm fortzusetzen. Daß er es lebhaft bedauerte, niemals in Bayreuth gewesen zu sein, und daß er einmal (1882) nahe daran war, hinzukommen, ist bekannt. Im Sommer 1882 schreibt er an Bülow: »Daß ich aber mit Bayreuth so gar nicht zum Entschluß kommen kann, ist doch wohl ein Zeichen, daß das ›Ja‹ nicht heraus will. Ich brauche kaum zu sagen, daß ich die Wagnerianer fürchte, und daß diese mir die Freude am besten Wagner verderben könnten. Ich weiß noch nicht, was ich tue, und ob ich nicht meinen Bart benutze, mit dem ich noch[127] immer so hübsch anonym herumlaufe.« Die von Wagner in den »Bayreuther Blättern« gegen ihn fortgesetzten Invektiven erschütterten den Gleichmut seiner Seele nicht, und er bewahrte der mächtigen, die Welt in den Angeln bewegenden Persönlichkeit des Meisters immer ein respektvolles Andenken, das sich auch darin ausdrückte, daß er einer der ersten war, der den Lorbeer auf den Sarg des Toten niederlegte.22

Fußnoten

[128] 1 Eduard Hanslick: »Geschichte des Wiener Konzertwesens«.


2 C.F. Pohl: »Denkschrift aus Anlaß des 25 jährigen Bestehens des Singvereins«.


3 »Ein innerer gefährlicher Feind,« heißt es in der »Ostdeutschen Post«, »gesellte sich zu den äußeren Drangsalen: die Apathie. Ein freundlicher Stern leuchtete dem Beginn ihrer Bahn. Tüchtige musikalische Kräfte, ein Anhang aus den besten Gesellschaftskreisen schlossen sich ihr an. Der Reiz der Neuheit, wohl auch eine heilsame Abwechselung der ernst-erhabenen Muse mit Werken weltlicheren Charakters (Schumanns ›Rose‹) belebten den Eifer der Mitglieder. Auch mancher Erfolg ermunterte zu fernerem Streben. Da glaubte die Akademie für ihre profane Anwandlung Buße tun zu müssen, und zog sich immer mehr auf ihre Spezialität, den strengen Stil, zurück. Diesem Sühnungsakte wurde nicht der allseitige Beifall ihrer Mitglieder zuteil. In ihrer Mehrzahl fanden sie es ermüdend, sich fortwährend in die Anschauung der Vergangenheit zu versenken. Überdies machten sie die Entdeckung, welche Ausdauer und Sorgfalt das Genre zu seiner Vollendung erfordere. Die Unzufriedenheit steigerte sich bis zu offener Desertion. (Die Tenöre!) Schwankende Einsätze der dünnen Chöre und Mangel im Vortrage sind die Folgen der inneren Zerfahrenheit« usw.


4 Der Dichter Mosenthal, mit dem Brahms verkehrte, zog ihn dann damit auf, daß er scherzte: »Wenn Brahms einmal recht lustig ist, singt er: Das Grab ist meine Freude.«


5 Ludwig Speidel, der nachmals berühmte Burgtheaterkritiker der »Neuen freien Presse«, hatte seine Laufbahn in Wien als Feuilletonist und Musikreferent begonnen.


6 Nach dem zweifelhaften Erfolge seiner vierten Symphonie, die bei ihrer ersten Aufführung in Wien kühl aufgenommen, ja fast abgelehnt wurde, fragte ihn jemand, warum er nicht lieber eine der Hauptstädte Deutschlands zum Aufenthaltsorte wählte, wo ihm dergleichen doch nicht widerfahren wäre. Da antwortete er halb scherzhaft: »So? Glauben Sie? Wo anders hälten sie mich längst totgeschlagen; hier werde ich doch wenigstens toleriert.«


7 Vgl. »Johannes Brahms im Briefwechsel mit Heinrich und Elisabet von Herzogenberg«, herausgegeben von Max Kalbeck, XIII.


8 Die Sonaten sind bei Rieter-Biedermann erschienen.


9 Nottebohm, der öfters mit Brahms und anderen in den Prater ging, um dort zu Abend zu essen, pflegte sich regelmäßig unterwegs bei einem bestimmten ambulierenden Salami- und Käsehändler für wenige Kreuzer sein Nachtmahl einzukaufen. Eines Abends erhielt er seine Portion, in altes, mit krauser, anscheinend Beethovenscher Notenschrift bedecktes Papier eingewickelt. Seine Aufregung bemeisternd, trat er zur nächsten Laterne, faltete das Blatt auseinander, besah es prüfend durch die Brille, glättete und schob es, ohne ein Wort zu sagen, in die Tasche. Den Käse behielt er in der Hand und aß davon im Weitergehen, indem er die andern versicherte, er habe heute außergewöhnlichen Hunger. Auch ließ er niemals etwas von seinem Funde verlauten. Die von Brahms vorher unterrichtete Gesellschaft hatte sich umsonst auf eine komische Szene gefreut. Denn das rätselhafte Blatt enthielt eine Variation des neuesten Wiener Couplets und war vorher von Brahms dem Salamimann zugesteckt worden, mit der Weisung, den Käse für den Herrn Professor darin einzupacken.


10 Daß Nottebohms, in musikalischen Zeitschriften verstreute Aufsätze gesammelt und, soweit sie Beethoven betreffen, in den »Beethoveniana« und »Zweiten Beethoveniana« 1872 und 1887 in Buchform her ausgegeben wurden – die zweiten von Eusebius Mandyezewski, dem würdigen Schüler Nottebohms, nach dem Tode seines großen Lehrers – haben wir Brahms zu verdanken, der die Schriften Rieter-Biedermann dringend empfahl.


11 Heinrich Porges, einer der eifrigsten Wagner-Apostel, und Frau waren aus München zu Besuch nach Wien gekommen.


12 »Reichswehr« vom 4. April 1897.


13 Wagners Lobschrift auf Meyerbeer, die in seinen »Gesammelten Schriften und Dichtungen« fehlt, ist von uns erst auszugsweise in der »Presse«, vom 3. April 1888, dann in extenso im »Neuen Wiener Tagblatt« vom 31. Oktober 1902 mitgeteilt worden.


14 Beilage zur »Münchener Allgemeinen Zeitung« vom 24. Mai 1901.


15 Bei Weißheimer, der Wagner einen Teil seines väterlichen Vermögens zum Opfer brachte, lesen wir (a.a.O.) eine köstliche Geschichte. Der Meister gab ihm den überzeugendsten Gegenbeweis erkenntlicher Freundschaft dadurch, daß er versprach, er werde im Vorspiel zum dritten Akte der »Meistersinger« irgendwie seiner gedenken. Weißheimer muß »zu seiner Schande« gestehen, daß er nie dahinter kommen konnte, welche Stelle Wagner gemeint habe. Er erkannte sich nicht wieder, und Wagner war nicht mehr für ihn zu sprechen. – Ob er bei einer andern Stelle der »Meistersinger« etwa an Brahms dachte? Jeder erkennt in der schönen Melodie: »Dem Vogel, der heut sang« den Anfang des Des-dur-Teils aus derf-moll-Sonate von Brahms wieder. (Vgl. I 217.) Wir wollen sie für eine unbewußte Reminiszenz an den 6. Januar 1863 betrachten und in Ehren halten.


16 In Wahrheit lautet der von Wagner verdrehte Titel: »Liebeslieder. Walzer für das Pianoforte« usw.


17 In seinen »Erinnerungen an Joh. Brahms« (»Die Gegenwart« 1897, Nr. 46, S. 307) schreibt Klaus Groth: »Wenn Brahms durch den Haß Wagners und seiner Anhänger, den sie direkt und indirekt ihm empfindlich genug offenbarten (den sie noch nach seinem Tode nicht verbergen mochten), ihm, der sie durch kein Wort, keine Äußerung, durch nichts je gereizt hatte, als dadurch, daß er, unbekümmert um ihren Beifall oder ihr Mißfallen schweigsam ein unsterbliches Musikwerk nach dem andern schuf, und der Mit-oder Nachwelt übergab, bescheiden in all seinen Ansprüchen an das Leben, ohne Neid gegen jeden Erfolg seiner Mitstrebenden – wenn, wie gesagt, Brahms darüber so gereizt gewesen wäre, daß er sich und seinem gerechten Zorn mitunter, wenigstens gegen vertraute Freunde, wie mich, auch nur in abfälligen Äußerungen Luft gemacht hätte, so müßte ihm jedermann dazu das Recht zugesichert haben. Er hat es aber nicht getan. Er hat sich über Wagner nie abfällig geäußert. Als wir einmal eine etwas mißfällige Kritik über Wagner in einer Zeitung lasen, sagte mir Brahms: ›Und für jede solche Äußerung hält man mich als den eigentlichen Urheber, und ich kenne Wagner besser als sie alle!‹ Wir hatten übrigens beide keine Veranlassung, unsere Ansichten über die Wagnersche Musik auszutauschen, denn wir wußten jeder vom andern, wie er darüber dachte.«


18 Tausig † 17. Juli 1871, Cornelius † 26. Oktober 1874.


19 Nach dem Wiener Konzert vom Jahre 1882 hatte Hanslick von Wagners Nibelungen-Fragmenten geschrieben, sie enthielten nur potenzierte Deklamation oder musikalische Dekorationsmalerei.


20 Zwei in Brahms' Autographensammlung befindliche Notenblätter Wagners mit Fragmenten aus »Tristan« sind ein Geschenk Tausigs.


21 Wagner a.a.O. X, 194 ff.


22 Zur Ergänzung und Bestätigung des oben beleuchteten eigentümlichen Verhältnisses zwischen Brahms und Wagner möge hier auch der Dankbrief eine Stelle finden, den Frau Cosima Wagner nach dem ihr von Wien aus offiziell angezeigten Tode Johannes Brahms' an Hans Richter abschickte:


»Bayreuth 7. April 1897.


Mein teurer und hochgeschätzter Freund!


Die Herren von der Gesellschaft der Musikfreunde haben meinen Kindern und mir die Ehre erwiesen, uns von dem Hinscheiden Johannes Brahms' die Nachricht zukommen zu lassen. Ich wüßte keinen Besseren und Befugteren, als den treuen Freund unseres Hauses, um die Vermittelung unseres Dankes für diese ausgezeichnete Aufmerksamkeit zu übernehmen. Und so trage ich sie Dir auf. Mein langjähriges Fernsein von dem ganzen Konzertleben hat mich in völliger Unbekanntschaft mit den Kompositionen des Dahingeschiedenen erhalten. Mit einzigster Ausnahme eines Kammermusikstückes kam, durch die Eigentümlichkeit meines Lebens, keine seiner zu so großem Ansehen und Ruf gelangten Arbeiten mir zu Gehör. Auch persönlich hatte ich nur eine flüchtige Begegnung mit ihm, in der Direktionsloge in Wien, wo er die Freundlichkeit hatte, sich mir vorstellen zu lassen. Aber es ist mir nicht unbekannt geblieben, wie vornehm seine Gesinnung und Haltung in Betreff unserer Kunst gewesen ist, und daß seine Intelligenz zu bedeutend war, um das zu verkennen, was ihm vielleicht ferne lag, und sein Charakter zu edel, um Feindseligkeiten aufkommen zu lassen. Und dies ist wahrlich genügend, um ernste Teilnahme zu empfinden. Ich bitte Dich, ihr den Ausdruck zu geben.


Cosima Wagner m.p


Dieses freimütige Zeugnis wiegt einen Kranz auf.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 2, 3. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1912, S. 94-129.
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