IX.

[383] In der Direktion der Wiener Gesellschaftskonzerte folgte ein Interimistikum dem anderen. Anton Rubinstein, der als gefeierter Pianist sich in Wien vieler Sympathien erfreute und durch seine mehrjährige Leitung der Petersburger Russischen Musikgesellschaft hinreichende Garantien für das Amt zu bieten schien, hatte sich nach Hellmesbergers Rücktritt nur für ein Jahr verpflichten lassen, nach dessen Verlauf beide Teile zufrieden waren, daß sie ihre Verbindlichkeiten lösen konnten. Noch ehe Rubinstein seinen Entschluß verlautbarte, aus seiner Stellung zu scheiden, die ihm bei mangelndem Eifer für die Sache nicht zu viel Arbeit und noch weniger Vergnügen gemacht haben mag, wurde wieder mit Brahms verhandelt. »Die Direktorstelle hier«, schreibt er von Wien an Levi, »habe ich so gut wie angenommen – ich sehe kein Loch zum Entschlüpfen. Schreibe mir nur einige Worte.« Das Datum dieses Briefes läßt sich ungefähr bestimmen durch einen anderen, an Dr. Standthartner gerichteten, auf welchem wenigstens Jahr und Monat von dem zeitlos lebenden, säumigen und vergeßlichen Schreiber vermerkt worden sind: »Dezember 1871.« Da heißt es: »Mit dem Inhalt Ihres geehrten Schreibens vom 27. November im allgemeinen durchaus einverstanden, verzögerten sich gleichwohl diese Zeilen, was ich recht sehr zu entschuldigen bitte. Einige Bedenken, die mich beschäftigten, meinte ich Ihnen mitteilen zu sollen; sie erschienen mir schließlich nicht wichtig genug und erledigen sich wohl gelegentlich in mündlichem Gespräch mit Herren aus Ihrer Mitte. So darf ich es mir heute wohl genügen lassen, die Hoffnung und meine Freude darüber auszusprechen, im nächsten Jahre meine Kräfte Ihrem Institut widmen zu können«1. Derselbe Dr. Standthartner, der in guter Absicht die [383] Bekanntschaft Wagners mit Brahms eingeleitet hatte, war auch als Direktionsmitglied der Wiener »Gesellschaft der Musikfreunde« der Mittelsmann zwischen dem von ihm hochgeschätzten Brahms und dessen zuständiger Behörde in spe.

Es muß auffallen, daß Brahms, der noch im Jahre vorher über seinen Mangel an Beschäftigung klagte und sich bereit zeigte, irgend einen unbedeutenden Posten in einer kleinen Stadt anzunehmen, jetzt, da ihm einer der angesehensten in der Musikmetropolepar excellence in sichere Aussicht gerückt wurde, die Lust daran völlig verloren zu haben schien. »Er sehe kein Loch zum Entschlüpfen«, – das kann er in dem Augenblick schreiben, in welchem seinem lange genährten heißen Herzenswunsche endlich die ersehnte, kaum mehr gehoffte Erfüllung winkt! Er läßt die Direktion und deren Delegierte auf Antwort warten, und als er sich entschließt sie zu geben, tut er es in einigen kühlen, beinahe gleichgültigen Worten, die bemerkenswert von dem warmen, ausführlichen Brief abstechen, mit dem er einst den Ruf der Wiener Singakademie begrüßt hatte2; wie er auch zu Simrock äußert, er werde wohl im nächsten Winter anfangen »die Würde zu schleppen«. War er im Lauf des verflossenen Dezenniums so stolz geworden, oder hatten ihn seine jüngsten Erfolge so verwöhnt, daß er den Blasierten und Herablassenden spielen, daß er sich bitten lassen und den Glauben erwecken wollte, ihm liege nichts an der viel beneideten, hervorragenden Stellung?

Um Brahms und seine Handlungsweise richtig zu verstehen, muß man bedenken, daß ihm nach den Erfahrungen, die er inzwischen mit einigen Vorstandsmitgliedern der »Gesellschaft« gemacht hatte, die Lust, ein näheres Verhältnis mit ihr einzugehen, stark verleidet worden war. Der ihm früher bewiesene Mangel an Vertrauen mußte ihn verletzen. Hellmesberger und Rubinstein, denen beiden er sich als Dirigent überlegen fühlte, wurden ihm vorgezogen, und erst als beide nicht einschlugen, griff man wieder auf ihn zurück. Wer sagte ihm denn, daß nicht auch er nur als Helfer in der Not berufen wurde, wer bürgte ihm dafür, daß man nicht, wenn das erste, von ihm geleitete Konzert vielleicht [384] die Erwartungen des Direktoriums enttäuschen sollte, nach einem neuen Kandidaten ausschauen würde? Auch mußte es ihm peinlich sein, von Zwischenträgern als heimlicher Aspirant der von Rubinstein besetzten Stelle ausgespielt zu werden, wovon gar keine Rede sein konnte, da Rubinstein mehr als einmal erklärt hatte, daß er nicht länger als eine Saison bleiben wolle. Ein Übriges dazu hatte wohl noch die unliebsame Erinnerung an den Liszt-Rummel vom April 1869 getan, den die »Gesellschaft« bei der Aufführung der »Heiligen Elisabeth« veranstaltet und mit dem großartigen Huldigungsschreiben besiegelt hatte3, in welchem die von Brahms sehr gering eingeschätzte »Legende von der Heiligen Elisabeth« ein epochemachendes Tonwerk genannt und deren Komponist auf eine Stufe mit Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert erhoben worden war.

Trotz seines »auf gelegentliche« mündliche Aussprache verweisenden Schreibens wurde Brahms, auch nachdem jene Konferenz stattgefunden hatte, noch längere Zeit im Ungewissen erhalten, bis er im September des Jahres sein Ultimatum stellte und dann endlich sein Dekret empfing. Am 1. August sandte er »An die löbliche Direktion der Gesellschaft der Musikfreunde, Wien Kolowratring, im eigenen Gebäude«, folgendes rekommandierte Schreiben:


»Eilig.

1. August 72.


Geehrteste Herren!


Seit meiner Abreise von Wien (Ende April) erwarte ich vergebens, daß mir das, worüber wir in mündlichen Besprechungen uns geeinigt hatten, schriftlich zukommen werde, umsomehr, da ein mir früher vorgelegter Kontrakt nicht unterschrieben und durch jene Besprechungen auch durchaus umgestoßen wurde.

Im Juni und wiederholt im Juli erkundigte ich mich ebenso vergebens bei Herrn Dr. Standthartner nach dem Verlauf dieser Sache. Ich wiederhole heute meine Bitte um möglichste Beschleunigung derselben, und sollte sie nicht im Laufe dieses Monats erledigt sein, so muß ich freilich annehmen, es[385] sei der Direktion nicht möglich unter den besprochenen Bedingungen mir ein Dekret auszufertigen.


Mit ausgezeichneter Hochachtung

sehr ergeben

J. Brahms.

Lichtental bei Baden-Baden.«


Auf die Rückseite dieses Briefes schrieb der Präsident der Gesellschaft Dr. Egger am 6. August: »Soviel mir erinnerlich, ist eine frühere Anfrage durch Zellner dahin beantwortet worden, daß die gewechselten Briefe die Stelle von Kontrakten vertreten, daß aber auf besonderes Verlangen gestempelter Kontrakt nachfolgen würde.

Diese Zuschrift scheint Br. nicht erhalten zu haben. Ersuche kurz zu antworten, daß es so sei, und wenn Br. wünscht, ein auch von ihm zu unterfertigender Vertrag (dann versteht sich in duplo) ausgefertigt werden wird.«

Am 15. August wendet sich Brahms wieder an Dr. Standthartner:

»Mit großer Teilnahme höre ich, wie schwere Zeit Sie durchlebt, und hoffe von Herzen, sie möge denn durchlebt, Ihr Sohn Ihnen erhalten sein. – Ich finde es nicht gehörig, unter diesen Umständen an Sie diese Zeilen zu richten, aber falls Sie nicht in der Stimmung sind, sich weiter mit deren Inhalt zu beschäftigen, bitte ich auch nur, Sie möchten sie an die Ihnen geeignet erscheinende Adresse weiter befördern.

Aber nicht nur dies, sondern auch die vermutlich ungenügende Antwort bitte ich zu entschuldigen. Ich fühle mich so wenig Geschäftsmann, daß ich eben durchaus gern gesehen hätte, wenn das betreffende Dokument von den betreffenden Geschäftsführern der Direktion mir vorgelegt wäre. Nur um die Sache möglichst zu fördern, nenne ich hier einige Punkte, deren Aufnahme und Feststellung mir nötig scheint:

Die Zahl der Konzerte ist auf sechs festgestellt (die mögliche Wiederholung eines Konzertes ungerechnet4.

[386] Meine Tätigkeit schließt also (Ende April) und ist weiteres, namentlich Konzerte zur Zeit der Ausstellung, durchaus freier und neuer Übereinkunft überlassen.

Der Beginn meiner Tätigkeit wird gerechnet von .... (sie begann faktisch Anfang Mai).

Mein Gehalt sei 3000 Gulden und sei nicht abhängig vom Ertrag der Konzerte.

Er sei ..... (in welchen Terminen zu zahlen).

In dem früher erwähnten Schreiben ist beiden Teilen eine dreimonatliche Kündigung freigestellt. (Wird ein Jahr von Mai zu Mai gerechnet, so würde ich heute schon kündigen und es im günstigen Falle auf eine Neuwahl ankommen lassen.)

Im selben Schreiben stand, daß Programm und Mitwirkende von mir vorgeschlagen und von der Direktion zu genehmigen sind. Daß ohne meine Zustimmung kein Werk anzusetzen, kein Künstler einzuladen sei, ist vielleicht nicht nötig zu sagen.

Ich weiß nicht mehr, aber ich weiß auch nicht, was ich etwa vermisse, wenn dies und Übriges nun hübsch geschäftsmäßig, in Artikel gebracht, vor mir liegt.

Also nochmals, entschuldigen Sie alles mögliche, empfehlen Sie mich herzlichst Ihrer Familie und lassen Sie mich recht bald hören, daß die Sorge ganz aus Ihrem Hause gewichen ist.


Mit ausgezeichneter Hochachtung sehr ergeben

J. Brahms.«


Nicht allein der Brief und sein Inhalt, sondern auch die Art seiner Abfassung und Beförderung charakterisiert den Schreiber. Unter allen Briefen, die er abfassen mußte, waren Brahms Geschäftsbriefe die unangenehmsten, obwohl er, wie wir öfters wahrzunehmen Gelegenheit hatten, ein ganz guter Geschäftsmann sein konnte. Er korrespondierte ungern mit Leuten, die er nicht persönlich kannte, oder mit solchen, denen zu mißtrauen er Grund zu haben glaubte. Er wendet sich also nicht an den Vorsitzenden der Gesellschaft, Dr. Egger, auch nicht an den Sekretär L.A. Zellner, sondern an ein Vorstandsmitglied, von dessen wohlwollender Gesinnung er überzeugt sein durfte, und er benutzt dafür einen traurigen Zwischenfall, der ihn unter allen Umständen gezwungen haben würde, dem Hause [387] Standthartner seine Teilnahme zu bezeigen. Der Freundschaftsbrief deklariert sich ganz offen als Geschäftsbrief, nachdem der Schreiber, seiner Meinung nach, mit der Bitte um Entschuldigung als Muster von Artigkeit jedem etwaigen Vorwurfe die Spitze abgebrochen hatte. Dem Adressaten kann er ruhig zu verstehen geben, daß er ohne genaue Kenntnis des von ihm revidierten und geänderten Vertrages den entscheidenden Schritt nicht tun werde. Vor allem liegt ihm daran, einige Hauptpunkte rechtsgiltig festzulegen. Dazu gehört die genaue zeitliche Umgrenzung seiner Amtspflichten. Er braucht den Sommer für die produktive Tätigkeit seiner Muse, und will auch vom Frühling, der Zeit ihrer Empfängnis und Befruchtung, möglichst viel heimbringen. Wer könnte ihm das verdenken? Da er aber immerhin ältere Tonwerke, die in keiner handlichen Bearbeitung vorlagen, für den Konzertgebrauch erst einrichten mußte, so datiert er den Beginn seiner Tätigkeit auch nicht vom 1. Oktober, sondern vom 1. Mai an. Somit hat er sein Amt bereits mit den Ferien übernommen und will es, da beiden Teilen das Recht der dreimonatlichen Kündigung zusteht, sofort de jure wieder aufsagen, bevor er es de facto noch angetreten hat, um sich seiner erst recht zu versichern. Einen anderen sehr wesentlichen Hauptpunkt: die Garantie ungehemmter Aktionsfreiheit, innerhalb des künstlerischen Dienstes, behandelt Brahms scheinbar en bagatelle und hält es »vielleicht für unnötig zu sagen«, daß ihm niemand über seine Nase hinweg ein Werk oder einen Künstler ins Programm setzen dürfe. Aber er sagt es doch, und zwar nachdrücklicher, als er es auf direktem Wege sagen könnte. Sobald die des Sommers wegen verzögerte Zustimmung der Direktion bei Brahms eingetroffen war, schreibt er:


»September 1872.


Geehrteste Herren!


Ich beeile mich, Ihnen den Empfang Ihres geehrten Schreibens und des Dekretes anzuzeigen. Es versteht sich, daß mein letztes Telegramm dadurch ungültig wird, und ich die Ehre habe, mich Ihren artistischen Direktor zu nennen.

Ich wartete mit Ungeduld auf dies Schreiben, da ich ungern aufhörte, mich um die nötigen Vorbereitungen zu bekümmern. [388] Herrn Dr. R.... erwidere ich einstweilen, daß die Übungen des Singvereins am 1. Oktober beginnen können. Die nötigen Musikalien sind hoffentlich nach meinen Anordnungen beschafft.

Die letzte Aufstellung des (einfachen) Chors unter Rubinstein ist mir recht.

Verzeihen Sie die Eile und Kürze und genehmigen Sie die Versicherung ausgezeichneter Hochachtung


Ihres sehr ergebenen

J. Brahms.«


Der von Brahms namentlich erwähnte Dr. R.... hätte sich schon auf Grund des obigen Schreibens darüber beschweren können, daß er von dem neuen artistischen Direktor der »Gesellschaft« nicht mit dem gebührenden Respekt behandelt würde. Denn dieses langjährige verdienstvolle Mitglied des Singvereins wachte ziemlich eifersüchtig über die Ehren, die ihm als Bassist, Chorist, Solist und Vorstand von Vereins wegen zukamen. Von Anfang an gegen Brahms eingenommen, wurde er bald dessen offener Opponent, erschwerte ihm durch seine Nörgeleien und Rabulistereien den Verkehr mit den Mitgliedern und trat auch im Direktorium der Gesellschaft, in dem er als Vorstand des Singvereins Sitz und Stimme hatte, gegen ihn auf. Einen Bundesgenossen fand er in dem Dichter und »Ritter« S.H. von Mosenthal, der mit ihm im Rate der Direktion saß. Als vielbewunderter Vertreter einer geschickten künstlerischen Mache, die ihn zum beliebten Gelegenheitsdichter, gewandten Librettisten und erfolgreichen Kulissendramatiker befähigte, zugleich aber auch den eitlen Reklame- und Ordensjäger in ihm großzog, hatte Mosenthal einen instinktiven Widerwillen vor dem schlichten Genius eines Brahms, und seine Abneigung steigerte sich zur rachsüchtigen Feindseligkeit, als Brahms, der ewig auf einen brauchbaren Operntext fahndete, seine ihm unter der Hand angetragene Mitarbeiterschaft scherzend ablehnte, ohne zu wissen, daß er den dahinter steckenden »Dichter der inneren Stadt«, wie der Satiriker Daniel Spitzer Mosenthal kurzweg zu charakterisieren pflegte, in seiner Poeteneitelkeit gekränkt hatte.

[389] Überhaupt verdarb es sich Brahms in Wien mit Vielen durch seinen männlichen geraden Gerechtigkeitssinn, seine kindliche Wahrheitsliebe. Wenn er dann ausnahmsweise einmal besonders höflich und rücksichtsvoll vorzugehen gedachte, um mehr oder weniger berechtigte Empfindlichkeiten zu schonen, so konnte er mit Sicherheit auf irgend einen unglücklichen Zufall rechnen, der seine besten Absichten vereitelte, oder auf ein faux pas seiner eigenen Ungeschicklichkeit, mit dem die Natur den versuchten Verrat rächte, auf eine Kontrebille, die das Spiel verdarb, indem sie ihm den falschen Ball in den Weg schickte oder anspielen hieß. So wurde auch Rubinstein, mit dem sich Brahms in Baden-Baden so gut vertragen hatte, sein geschworener unversöhnlicher Feind. In seiner Eigenschaft als Dirigent der Gesellschaftskonzerte hatte er seiner Sympathie für Brahms dadurch öffentlichen Ausdruck gegeben, daß er das »Schicksalslied« in das Programm des vierten Konzerts aufnahm. Soweit aber war die Freundschaft nicht gegangen, daß er sich und die Musiker mit dem Werke in sorgfältig abgehaltenen Vorproben vertraut gemacht hätte. Wie Rubinstein spielte, so dirigierte er auch, ohne gründliche Vorbereitung, alles von der Eingebung des entscheidenden Augenblickes erwartend. Mit einer derartigen Improvisation war dem »Schicksalsliede« nun ganz gewiß nicht gedient. Das Publikum merkte der schlechten Aufführung den Mangel an seelischem Ausdruck, die Willkür der Tempi und die Unsicherheit der Einsätze nicht an; überwältigt von der Schönheit der Komposition, brach es in jubelnden Beifall aus und bestärkte den Dirigenten in der Meinung, daß er sich sein gut Teil an dem Erfolge beimessen dürfe. Der seiner hörende, vielleicht auch von Brahms unterrichtete Hanslick schrieb: »Die Wirkung wird sich ohne Zweifel noch steigern bei einer zweiten, hoffentlich vollkommeneren Aufführung; denn der Dirigent übereilte den Allegrosatz so sehr, daß Text und Musik undeutlich wurden.« Brahms sagte Rubinstein kein böses Wort, aber er gewann es auch nicht über sich, ihm ein freundliches zu sagen. Rubinstein mag das Schweigen für ein Zeichen zustimmenden Einverständnisses genommen haben. Aufgefordert, die Leitung des nächsten Niederrheinischen Musikfestes zu übernehmen, hatte er Brahms schon vorher die Ehre erwiesen, dessen »Triumphlied« zusammen [390] mit Händels Cäcilien-Öde und Beethovens erster Symphonie auf das Programm des ersten Tages zu setzen: am zweiten wollte er sein Oratorium »Der Turm zu Babel« herausbringen.

Brahms schrieb darüber an Levi: »Rubinstein dirigiert das Musikfest in Düsseldorf. Er wollte jedenfalls ein Stück von mir machen, und jetzt ist ihm dies recht. Selbst zu dirigieren bin ich freilich von niemanden eingeladen, und das Komitee hat mir auch weiter gar nichts direkt geschrieben. Da es ein ungedrucktes Werk angeht, so rede ich vielleicht noch ein Wort, einstweilen hält mich die Rücksicht gegen Rubinstein ab.« Einige Tage später, nach dem Gesellschaftskonzert, referiert Brahms dem Karlsruher Freunde: »Mein Schicksalslied ging hier Sonntag [21. Januar 1872] recht schlecht. Rubinstein ist ein mäßiger Dirigent, und er bot mir die Leitung nicht an, folglich ließ ich das Ding laufen. Dafür aber werde ich mir Düsseldorf und Triumphlied noch eins überlegen.« Weit richtiger und klüger wäre es gewesen, wenn Brahms, weniger rücksichtsvoll gegen Rubinstein, diesem reinen Wein eingeschenkt oder den Wunsch ausgesprochen hätte, sein »Triumphlied« in Düsseldorf selbst zu dirigieren. Aber er schwieg, wie gewöhnlich, und meldete dann im Februar von Hamburg aus: »Durch meine Reise jetzt hat sich das Verhältnis zu Düsseldorf verschlimmert. Ich fürchte, recht dumm auszuschauen, da ich erst durch Rubinstein alles gelten und einfach in Ordnung sein lasse – hinterher aber mit Bedenken und Bedingungen komme!« Für dumm wurde Brahms von Rubinstein gewiß nicht angesehen, eher für duckmäuserisch und hinterlistig. Als Gehring, der von Brahms ein Zufallswort über die Angelegenheit erfahren hatte, dies sofort in der »Deutschen Zeitung« an die große Glocke hing, und die Düsseldorfer ihrer Nichtachtung wegen abkanzelte5, mußte Rubinstein die auch ihn empfindlich berührende polemische Notiz natürlich auf die Urheberschaft von Brahms zurückführen, und das Ärgernis war fertig. Allgeyer, mit dem Brahms damals in Angelegenheiten Feuerbachs korrespondierte, wurde dann [391] von ihm gebeten, er möge Levi mitteilen, daß die Düsseldorfer Angelegenheit einen übeln Verlauf nehme. Rubinstein wolle, wenn Brahms sein »Triumphlied« dirigiere, auch nur seinen »Turm zu Babel« dirigieren und von der Leitung des Festes zurücktreten. Zwar sähe Brahms die Logik davon nicht recht ein; da jedoch das Komitee Rubinstein halten müsse, so sei er (Brahms) mit seinem Stücke durchgefallen – was ihm übrigens keine Schmerzen mache. Daß es ihm aber leid tat, sich mit Rubinstein entzweit zu haben, steht ebenso fest, wie die Gleichgiltigkeit seines notgedrungenen Verzichts zweifelhaft erscheint. Noch viele Jahre später, als der Klaviervirtuose Rubinstein mit seinem historischen Heptameron reiste und seinen Riesen-Zyklus von Konzerten auch in Wien absolvierte, wobei er von Brahms und dessen Werken nicht die geringste Notiz nahm, hätte er sich ganz gern mit dem zürnenden Titanen des Klaviers wieder versöhnt, und war ergrimmt darüber, daß ihn Epstein und Brüll, bei denen Rubinstein als Tischgast erschien, nicht ebenfalls gebeten hatten. »Ob ich gekommen wäre«, erklärte er in gereiztem Tone »ist eine andere Sache, die mich allein angeht; aber wenn sie Rubinstein einluden, hätten sie mich auch einladen müssen.« Wohl auch ohne die Düsseldorfer Affäre wäre es zwischen beiden früher oder später zum Bruche gekommen. Wenn man in Bülows Briefen die von dem Impresario B. Ullmann verbürgte Äußerung Rubinsteins liest: »Si j'avais voulu courtiser la presse, on n'entendrait pas parler ni de Wagner ni de Brahms«6, so wird man einsehen, daß ein dauerndes Freundschaftsverhältnis zwischen ihnen unmöglich war.

Die Winterreise nach Hamburg, von der Brahms in einem der oben zitierten, an Levis Adresse gerichteten Briefe spricht, entsprang einem sehr traurigen Beweggrunde. Aus der Heimat waren beunruhigende Nachrichten über das Befinden des Vaters eingelaufen. Bis 1869 hatte Johann Jakob noch seinen »Kunterbaß« im Orchester der »Philharmonischen« gestrichen und sich erst nach langem Sträuben von Johannes überreden lassen, das geliebte Instrument in den Winkel zu stellen. Auf Kosten seines Sohnes und von dem wirtschaftlichen Verdienst seiner Frau zu [392] leben, ging dem tätigen, seinem Beruf mit Liebe ergebenen Manne gegen den Strich. Als dann verlautete, daß dem Alten das Treppensteigen sauer würde, was bei seinen Jahren begreiflich war, und sich am Anschar-Platze in der Nähe der alten Wohnung ein zwar weit teureres, aber bequemeres Logis darbot, bestand Johannes auf dem sofortigen Umzuge der Eltern. Frau Karoline vermietete seit dem Herbst 1871 ihre Zimmer also nicht mehr im vierten Stock der Nr. 5, sondern in der zweiten Etage des Eckhauses Nr. 1. Sie lebte dort mit ihrem guten Alten allein, seitdem ihr einziger Sohn aus erster Ehe, der Uhrmachergeselle Fritz Schnack, nach Rußland auf die Wanderschaft und in Petersburg auf Kondition gegangen war. Da wurde ihr im Januar 1872 plötzlich von dort gemeldet, daß Fritz schwerkrank im Spital liege; er hatte sich bei einem Sturz aus dem Wagen eine Verletzung des Rückgrates zugezogen. Resolut, wie Frau Karoline war, begab sie sich sofort auf die Reise und brachte ihren armen Liebling mehr tot als lebendig nach Hamburg zurück. Der von Vater Brahms herbeigeholte Arzt fand den Zustand des Patienten zwar höchst bedenklich, erklärte aber zur großen schmerzlichen Überraschung der Mutter, daß ihr Mann, der bis dahin für gesund gegolten hatte, an einer weit gefährlicheren Krankheit leide. Auf Anordnung des Doktors gleich zu Bett gelegt, verfiel der Patient, nicht weniger erschrocken als seine Umgebung, zusehends von Tag zu Tage. Frau Karoline, die aus einem ins andere Zimmer, von einem zum anderen Krankenlager gehen mußte, befand sich in großer Angst. Von der Bösartigkeit des Leidens unterrichtet, das ihren Gatten dem Tode überlieferte – es war Leberkrebs, dieselbe Krankheit, der auch Johannes Brahms fünfundzwanzig Jahre später erliegen sollte – zögerte Frau Karoline nicht, den Tatbestand nach Wien zu melden. Johannes ließ alles im Stich, was ihn in Wien zurückhalten wollte, und eilte nach Hause.

»Ich bin«, schrieb er am 2. Februar an Allgeyer »seit gestern Abend hier in Hamburg. Sehr schlimme Nachrichten über das Befinden meines Vaters riefen mich. Ich scheine ihn sehr bald verlieren zu sollen; der Arzt wenigstens gibt durchaus keine Hoffnung, und sein Aussehen ist recht schlimm. Mir hat unterwegs die Phantasie so traurige Bilder vorgeführt, daß ich eigentlich [393] fast beruhigt war, ihn noch am Leben zu finden und, wie es scheint, nicht gerade sehr von Schmerzen geplagt zu sehen. Wie sehr hätte ich ihm ein längeres Alter gewünscht, er genoß es so glücklich, nachdem er redlich geschafft und gelitten hat – wie es dem Menschen gegeben ist. Die arme, brave Frau, meine Stiefmutter, scheint ein trauriges Schicksal erleiden zu sollen: im Nebenzimmer liegt außerdem ihr einziger Sohn erster Ehe, für den der Arzt das Schlimmste befürchtet. Für heute nichts weiter. Meine Adresse ist Anscharplatz 5, ich weiß nicht für wie lange. – Mein Vater läßt Dich grüßen.«

In ähnlicher Weise schreibt er an andere Freunde und Freundinnen, die den Vater kannten, und bei denen er ein Interesse für ihn voraussetzte. Er ist »sehr zufrieden« und »freut sich sehr«, rechtzeitig gekommen zu sein.

»Mein Vater ist sehr schwach, leidet aber zum Glück nicht Schmerzen, sondern liegt fortwährend in leisem Schlummer. Doch hört er gern, sobald man zu ihm spricht, und plaudert auch gern und wohlgelaunt ein wenig mit. So konnte ich ihm von Ihnen und manchen Freunden erzählen, und wir bereden auch, daß den Sommer Karlsbad sehr nützlich sein würde. Jedenfalls bin ich ihm ein großer Trost und gar meiner zweiten Mutter ... Mein Vater ist übrigens erst 66 Jahr. Der Tod käme wirklich zu früh, ist doch sein Leben schwer gewesen, eitel Mühe und Arbeit. Wie glückliches Alter hat er gekostet, er verdient es, auszuleben.« (An Frau Dr. Ebner.) Derselben Freundin meldet er den Tod des Vaters mit folgenden Worten: »Nur kurz will ich Ihnen mitteilen, daß mein Vater am Sonntag gestorben ist;7 nachdem er am Donnerstag heißen Abschied von uns nahm, schwanden seine Kräfte durchaus, und ist er dann zum Glück sanft und schmerzlos verschieden.« – »Der Vater sah im Tod so freundlich aus, wie selten, wie nur in behaglichsten Augenblicken.« (An Levi.)

Wie erschütternd und erhebend sind diese Äußerungen in ihrer großartigen Einfachheit und ihrer durch Selbstbeherrschung erkämpften Ruhe! – Sie finden ihr Seitenstück in den Briefen Lessings, welche die Anzeige vom Tode seiner Frau und seines Söhnchens enthalten.

[394] Frau Karoline und Herr Schnack konnten noch fast dreißig Jahre später nicht aufhören, das liebevolle Benehmen ihres angebeteten Stiefsohnes und -bruders zu preisen, wenn sie auf diese unvergeßliche Zeit zu sprechen kamen, und in den Tränen, die sie dem Andenken ihres Johannes weihten, zitterte ein Strahl freudigen Stolzes, daß sie es waren, auf welche der des Vaters beraubte Sohn seine Liebe und Dankbarkeit übertrug.

Während der zehn Tage und Nächte, welche von der Ankunft des Sohnes bis zum Tode des Vaters vergingen, wich Johannes nicht vom Bette des Kranken; er zerstreute und erheiterte ihn mit Erinnerungen an alte Hamburger Zeiten und ihre neueren gemeinsamen Reiseabenteuer, oder täuschte ihm eine noch schönere Zukunft vor, die er zur Seligkeit des Sterbenden mit den buntesten und heitersten Plänen in dessen Lieblingsfarben ausmalte. Am Totenbette des Vaters söhnte sich Brahms auch mit seinem Bruder Fritz Friedrich aus, der, nach seiner Rückkehr aus Süd-Amerika – er hatte sich in den Jahren 1868/69 in Carcas (Venezuela) ein hübsches Sümmchen verdient – ein gesuchter Klavierlehrer in Hamburg geworden war8. So gering das Vermögen des Vaters war, – die Mutter erbte ungefähr dreitausend Mark, so viele Umstände und Verdrießlichkeiten verursachte die Regelung des Nachlasses, die Johannes in seine Hand genommen hatte. Selbstverständlich verzichtete er auf irgendwelche Wertgegenstände zu gunsten der Mutter und Schwester, der er außerdem noch ein paar hundert Mark aus eigenen Mitteln auszahlte, und nahm nur den Lehr- und Bürgerbrief des Vaters und ein Bild als Andenken mit. Außerdem bestritt er sämtliche aus dem Todesfall erwachsenen Kosten und ordnete an, daß alles Mögliche für die Wiederherstellung seines Stiefbruders getan würde. Als dieser sich allmählich erholte, schickte er ihn, und zwar acht Jahre hinter einander, mit der Mutter jeden Sommer drei bis vier Monate aufs Land, nach dem seiner reinen, von Wäldern und Wiesen gewürzten Luft wegen berühmten Pinneberg in Holstein. Er würde es gern gesehen haben, wenn Frau Karoline ihr Zimmervermietungsgeschäft aufgegeben hätte und gleich nach [395] Pinneberg gezogen wäre. Aber dazu war die rechtschaffene, arbeitslustige Frau erst zu bewegen, als sie um zehn Jahr älter geworden war. 1882 folgte sie ihrem Sohne, dem Brahms in Pinneberg ein Häuschen mit einem blanken Uhrmacherladen eingerichtet hatte, dorthin nach. So erfüllte der treue Johannes ein Versprechen, das er dem Vater nicht mehr halten konnte, an der Frau, die mit ihm um den Hingeschiedenen trauerte, und vergalt das Gute, das sie dem geliebten Vater in den fünf Jahren ihrer Ehe getan hatte, tausendfältig ihr und ihrem Kinde. Dennoch war er weit entfernt von dem Gedanken, sich durch seine edle Handlungsweise etwa von einer ihm unbequemen Verpflichtung losgekauft zu haben. Was anderen eine Last gewesen wäre, war ihm eine Lust; die Zinsen, die seine Wohltaten trugen, dünkten ihm höher und köstlicher als die Prozente eines auf materiellen Nutzen angelegten Kapitals. Er hatte die größte Freude daran, daß er die beiden armen Menschen, welche er für wert erkannte, die Seinigen zu nennen, mit Geschenken überhäufen konnte, schalt, daß sie zu wenig verbrauchten, ermutigte sie zu Reisen und anderen kostspieligen Vergnügungen und bedachte sie auch in seinem Testament mit ansehnlichen Legaten. Ebenso unterstützte er seine Schwester Elise, die im Oktober 1871, durchaus gegen des Bruders Willen, einen betagten, mit sechs Kindern gesegneten Witwer, den Uhrmacher Grund, geheiratet hatte, bis zu ihrem, am 11. Juni 1892 erfolgten Tode. Zur Hochzeit hatte er ihr hundert Taler geschickt, mit der Bemerkung, daß er dieses Geschenk alljährlich erneuern werde, ließ ihr dann aber das Dreifache in Monatsraten zukommen.

Von all dem durfte bei Brahms' Lebzeiten nichts verlauten. Erst nach seinem Tode bekamen die stumm geborenen Wohltaten Zunge und Sprache und verkündigten das Lob des herrlichen Menschen9.

[396] Am 22. Februar war Brahms wieder in Wien, wie wir einer unter diesem Datum an Rieter abgegangenen Bestellung entnehmen, die er unmittelbar nach seiner Ankunft gemacht haben muß: »Lieber Herr R. Seien Sie doch so gut, sofort eine Orgelstimme zu meinem Deutschen Requiem an Kapellmeister Wüllner in München zu schicken. Weiteres nächstens und besten Gruß.« Wüllner, ein in jeder Art von chorischer Musik unerreichter Musterdirigent, hatte das Werk mit der größten Liebe einstudiert und brachte es am 24. März in einer Odeonsakademie zur Aufführung. Die Soli wurden von Frau Possart und Herrn Nicklitschek, Mitgliedern der Münchner Hofoper, gesungen. Wie wenig vertraut das Münchener Publikum mit Brahms damals war, ist der wohlwollenden Notiz zu entnehmen, welche Fr. Stetter, das Musikorakel Isar-Athens für die »Allgemeine musikalische Zeitung« über das Ereignis verfaßte. »Das Schaffen dieses talentvollen Schülers von Robert Schumann« heißt es, »ist hier bisher öffentlich nur durch ein Sextett und einige mehrstimmige Lieder sehr mangelhaft bekannt geworden, und drückt Referent die Hoffnung aus, eine wiederholte Vorführung des Werkes werde das Verständnis des Publikums und dessen Anerkennung bedeutend steigern.« Woher sollte auch das richtige Verständnis für Brahms bei den Münchnern kommen, die sich nur für Wagner und Lachner ereiferten, da nicht einmal tonangebende und wirklich gebildete Musiker sich über das Werk und seinen Meister orientieren konnten! Cornelius, der an seine Schwester schrieb: »Den Leuten zum hundertsten Male mit allen schönen und reichen Mitteln der Kunst vorzusingen, wie das Mittelalter sich den Tod gedacht hat, das könnte mich doch nicht reizen«, stand mit dieser sonderbaren Meinung in München nicht allein. Da hätte nur Levi helfen und durchgreifen können. Er hatte einen Ruf nach München erhalten, wo er sich mit Wüllner in die [397] Agenden eines ersten Hofkapellmeisters teilen sollte, und war im Begriffe, ihm zu folgen.

Für seinen Abschied von Karlsruhe bereitete das Großherzogliche Hoforchester, das Levi acht Jahre hindurch musterhaft und zur allgemeinen Zufriedenheit geleitet hatte, ein großes Konzert vor. Außer dem Philharmonischen Verein waren Klara Schumann und Julius Stockhausen zur Mitwirkung herangezogen worden. Brahms aber wurde als Zuhörer erwartet, um der ersten vollständigen Aufführung seines »Triumphliedes« beizuwohnen. Das Konzert fand am 5. Juni im Karlsruher Hoftheater statt, und das »Triumphlied« wurde zu einem Liede des Triumphes für Brahms und seinen dirigierenden Freund Levi. Stockhausen ließ es sich nicht nehmen, das kurze Solo zu singen, und dies um so weniger, als er Gelegenheit hatte, sich und das Publikum mit einer Händelschen Arie und den von Brahms instrumentierten Schubertschen Liedern »Greisengesang«, »Memnon« und »Geheimes« schadlos zu halten. Frau Schumann spielte das Klavierkonzert ihres Gatten und ein paar Solostücke, darunter die von Brahms für Klavier gesetzte Gavotte aus Glucks »Paris und Helena«. Eröffnet wurde die musikalische Abschiedsfeier mit Beethovens achter Symphonie; den Schluß machte das »Triumphlied«. Wir besitzen ein klassisches Referat über die denkwürdige Aufführung. Es rührt von einem Ohrenzeugen her, der, obwohl durch Privatinteressen beteiligt, doch über jeden Verdacht der Schönfärberei erhaben ist: von Brahms selbst. Billroth hatte das »Triumphlied« in den verschiedenen Stadien seiner Entwicklung kennen gelernt und sich darüber in einer für Brahms sehr ehrenvollen Weise ausgesprochen. Er wollte nach Düsseldorf zum Rheinischen Musikfest reisen, um das Werk zu hören. Nachdem sich die dortige Aufführung zerschlagen hatte, war er von dem Komponisten eingeladen worden, dem Konzert in Karlsruhe beizuwohnen. Billroth konnte der Einladung nicht folgen, übersandte aber Brahms einen silbernen Pokal, aus dem er, wie er sagte, dem Freunde gern, am liebsten in Elsässer Weine nach dem Konzert zugetrunken hätte. Darauf antwortete ihm Brahms:

»Lieber Freund, ich kann mir kein Genügen tun, wenn ich versuche, Ihnen zu schreiben und zu danken. Es müßte ein [398] Beschreiben werden, mit welchen Gefühlen ich etwa den Postzettel in der Hand hielt, oder wie Frau Schumanns edles Gesicht strahlte, oder wie wir bei Levi zusammensaßen und über Männer Ihrer Art ganz feierlich sprachen. Es ist Ihnen so natürlich, das Besondere zu tun, daß Sie die Wirkung nicht denken und sich darüber verwundern würden.

Der Becher ist an jenem Abend und hernach wie oft gefüllt – wenn ich ihn in der Hand hielt, habe ich nur aufs Herzlichste an Sie denken können. Man kann einen Dank nicht mit Trompeten und Pauken begleiten, im Gegenteil, so viel wärmer, so viel leiser wird er, und so glauben Sie nur einfach, daß Sie mich und die Freunde nicht mehr überraschen, rühren und erfreuen konnten.

Daß Sie das Konzert nicht gehört, muß ich hinterher sehr beklagen. Sie haben nicht leicht ein vornehmeres und schöneres gehört. Ich habe wohl kaum je so sehr den Eindruck gehabt, daß jeder übervoll seine Schuldigkeit tue. Jeder sang und spielte, als ob von ihm allein das Ganze abhinge, wie es denn ja sein muß, soll etwas vortrefflich werden. Aber das war diesmal fast lustig zu sehen und zu hören. So werde ich auch mein Lied, das doch auf größere Massen berechnet ist10, doch nicht leicht mit mehr Vergnügen hören. Die Leute haben es wirklich gemacht, wie unsere Soldaten in Frankreich, wo ja auch tausend an ihrem Platz so gut wie sonst ihrer hunderttausend, das Beste leisteten. Das Stück trat einem so vortrefflich, kühn und lebendig entgegen, ich konnte mich kaum verwundern, daß es derart zündete – aber einer zweiten Aufführung werde ich vorsichtig aus dem Wege gehen.

Nun aber, mein lieber Freund, höre ich auf, denn ich bin in Versuchung wieder vom Pokal anzufangen. So guten Einfall hätte ich fürs Triumphlied haben sollen, so guter ist keiner darin ....«

Seine Reise nach Karlsruhe hatte Brahms schon Ende April von Wien aus über Nürnberg, Würzburg und Stuttgart angetreten. In Nürnberg war ein Rasttag der deutschen Kunst – und besonders Peter Vischer, – in Würzburg ein zweiter dem Besuche [399] seines Spezialdichters Daumer gewidmet worden, dem er sich tief verpflichtet fühlte. Zur Ergänzung von früher Gesagtem11 diene die Bemerkung, die Brahms gegen Simrock fallen ließ, es könnte selbst ein Verlegerherz rühren von dem alten Herrn zu hören. »Ich habe ihm nun versprochen zu schicken, was ich von ihm komponiert – die Ansicht ist wohl alles, woran er sich erfreuen wird. Rieter hat seine Sachen geschickt, aber Sie haben das Beste.« (Er meint die »Liebeslieder«.) In Stuttgart, wo er länger verweilte, habe er jeden Tag, sagt Brahms, »was Besonderes« mit Stockhausen musiziert. Dem Verleger zur Beruhigung teilt er mit, der Sänger habe in seinem Stuttgarter Konzert, das er am 1. Mai gab, einiges aus Simrocks »ausgezeichnetem Verlage« vorgetragen, was ihm, Brahms, großen Genuß verschafft hätte. »In der Tat«, fährt er scherzend fort, »die gebildete Welt muß es Ihnen Dank wissen, daß Sie ihr die vortrefflichen Werke (des ergebenst Unterzeichneten) zum Gemeingut machen. Welche Verdienste erwerben Sie sich, welches Denkmal setzen Sie sich. Ha, ha, wer lacht da?« – Weniger harmlos und scherzhaft gemeint ist die beißende Bemerkung, Simrock werde wohl für England ein anderes Titelblatt zu dem im Stiche befindlichen »Triumphliede« anfertigen lassen, damit das schöne neutrale Gefühl nicht beleidigt werde. »Vielleicht wäre eine Kanone mit einem Hindu vor der Mündung sympathischer.«

Brahms, der in Baden-Baden noch niemals konzertiert hatte, ließ sich für ein Honorar von tausend Franks engagieren und wirkte in der elften Matinée für klassische Instrumentalmusik mit, die am 29. August stattfand. Er war als Virtuose (mit Schumannsa-moll-Konzert), Komponist und Dirigent (mit seiner A-dur-Serenade) in einer Person angekündigt, und befriedigte das massenhaft herbeigeströmte Publikum in jeder von diesen Eigenschaften vollkommen. Richard Pohl, der vom Stabstrompeter der Leipziger Zukunftsmusik zum Tam-Tam-Schläger der Badener Kurverwaltung herabgekommen war, ließ einen riesigen Reklameartikel über Brahms im »Bade-Blatt« erscheinen, den er zum Wiederabdruck an das, 1870 von E.W. Fritzsch in Leipzig gegründete »Musikalische[400] Wochenblatt« beförderte. Wir möchten das scheinheilige Gesicht des neudeutschen Musikästhetikers beobachtet haben, das er schnitt, als er, ohne mit der Wimper zu zucken, den zweifellos wahren Satz niederschrieb: »An Widersachern hat es ihm (Brahms) von Anfang an nicht gefehlt, – dies war aber gerade der beste Beweis für seine künstlerische Bedeutung, und so ist er von Jahr zu Jahr mit einer Selbständigkeit und Konsequenz auf seinen Bahnen weitergeschritten, welcher selbst seine Gegner (von dem nie aussterbenden großen Stamme der Philister) ihre Hochachtung schließlich nicht versagen konnten.« Also sprach damals der öffentliche Pohl, der Oberoffiziosus des »Bade-Blattes«, wenn er als spät bekehrter Paulus dem früher verachteten und verlästerten Messias seine Aposteldienste unter die Nase reiben wollte. Privatim hatte er noch immer eine andere Meinung, die er für die seinige halten mochte, obwohl sie ihm vor zwan zig Jahren von Brendel und Liszt eingegeben worden war. Frau Luise Pohl, die in der Frankfurter Zeitung vom 14. April 1907 mit »Brahms-Erinnerungen« das Gedenken an alte Baden-Badener Zeiten wieder aufleben ließ, erzählt dort von einer Abendgesellschaft in ihrem Hause, bei welcher Bülow mit Sarasate, Coßmann und Krasselt das Brahmssche »Klavier-Quartett« – es war das in c-moll op. 60 – spielte. Nach dem Spiel habe Bülow zu Pohl gesagt: »Pohl, Du bist stehen geblieben«, worauf ihr Gatte entgegnet habe: »Und Du, mein Freund, bist zurückgegangen!«

Mag man die äußerst bedenklichen Verdienste, die sich Pohl als Schriftsteller um Brahms erworben hat, so hoch oder niedrig anschlagen, wie man will und kann – einen großen Gefallen hat er ihm jedenfalls erwiesen, freilich ohne es zu beabsichtigen und zu ahnen, einen zufälligen Gelegenheitsdienst erster Klasse, der seine unüberlegten Torheiten und bewußten Ränke wettmacht: er hat Brahms mit Bülow zusammengeführt, und zwar auf einem Terrain und zu einer Zeit, wie sie günstiger kaum hätten gedacht werden können.

Unter den Bäumen der Lichtentaler Allee, wo sonst die männlichen und weiblichen Kreaturen des Franzosenkaisers zwischen den eleganten Vertretern aller Nationen promenierten, wären sie noch wenige Jahre vorher im Getümmel einander ausgewichen. [401] Jetzt aber ließ sich sogar der abgelegene Lichtentaler Hügel nicht mehr unbemerkt umgehen, und es wäre ein offenkundiger Affront gewesen, wenn ein Hans von Bülow, der bei Richard Pohl vorsprach, einen Meister wie Johannes Brahms nicht begrüßt haben würde, nachdem er im Hause des gemeinsamen Bekannten vergnügte Stunden mit ihm verlebt hatte.

Hans und Johannes traten einander näher bei dem Diner, mit welchem der seit 1870 verwitwete Richard Pohl seine Verlobung mit der liebenswürdigen und aufgeweckten Luise Eyth, einem Bruderkinde seiner ersten Frau Johanna und Tochter des großherzoglichen Garteninspektors in Baden-Baden, feierte, und ein dritter Hannes: Johann Strauß hielt ihre Hände fest, wie er ihre Herzen längst gefangen hielt. Brahms und Bülow haben sich bei Pohl in Strauß gefunden. Ihre Schwärmerei für den Wiener Tanzpoeten war der erste Punkt, in dem ihre künstlerischen Neigungen zusammentrafen, und er blieb nicht lange der einzige12.

Bülow hatte einige Zeit vorher die furchtbarste Krise seines Lebens überwunden, an der jeder andere, der nicht neben dem überreizten Feingefühl des großen Künstlers dessen fabelhafte Willensstärke und zähe Widerstandsfähigkeit besaß, zu grunde gegangen wäre. Nun fing er gerade an, sich von dem physischen und moralischen Zusammenbruche, in den er durch seine kindliche Vertrauensseligkeit und seinen männlichen Edelsinn geraten war, zu erholen. Zwar wagte er noch immer nicht, die Segnungen seiner Rekonvaleszenz zu genießen, weil ihm dies sein maßloser Stolz und sein heroisches Pflichtgefühl verwehrten, sondern er betrieb seine innere und äußere Wiederherstellung mit einer Art von ingrimmigem Trotz, mit Bußübungen einer gegen sich selbst wütenden Raserei, die einen Schwächeren abermals aufgerieben [402] hätten. Aber er war als ein von schwerer Krankheit Genesender desto empfänglicher für die großen Schönheiten der Welt und die kleinen Annehmlichkeiten des Daseins, welche nicht unbeachtet an seinen frisch erschlossenen Sinnen vorübergehen konnten. Nach den grauen Schattenjahren seiner Florentiner Selbstverbannung brachten ihm die sonnigen Ruhetage, die er sich in den Tälern des tannenduftigen Schwarzwaldes vergönnte, einen erwünschten Waffenstillstand, und er rastete auf seinem mit lebensgefährlichen Monstre-Konzerten umstellten Kriegspfade, der ihm den Weg in die Freiheit erkämpfen sollte, wie ein Held, der ein wenig skeptisch und spöttisch auf allzu leicht errungene Siege zurückblickt und sich nach neuen Abenteuern und Strapazen sehnt. Da trat die wangenrote, blonde, blauäugige Muse wieder auf ihn zu, die ihm schon einmal in urvordenklichen Zeiten begegnet war.

Diesmal trug sie noch die schimmernde Rüstung der Pallas Athene, welche sie angelegt hatte, als sie ihr »Triumphlied« wider den Erbfeind sang, und schien willens, sich jeden Augenblick in den getreuen Mentor zu verwandeln, in dessen Gestalt sie schon manchem Laertiaden die richtige Straße gewiesen hat. Freundlicher und verheißungsvoller als jemals zuvor lächelte sie den Verstörten an, der bei den verblassenden Idolen der französisch-romantischen Schule vergebens Trost und Frieden suchte, und wenn er die holdselige Erscheinung auch noch nicht ihrem ganzen Werte nach schätzen und würdigen konnte, so ließ sie ihn doch in ahnungsvoller Seele vorempfinden, was sie ihm einmal sein und bedeuten würde. Nach und nach sank der verhüllende und verschönernde Schleier von den Wahn- und Mißgebilden einer krankhaft exaltierten Phantasie, welche in der gewaltsamen Vermengung heterogener Elemente und Stilarten das Heil der Musik, ja der Kunst überhaupt erkennen wollte, – der Zauber verflog allmählich mit dem Nimbus, der die Häupter seiner Partei umstrahlt hatte, und die Natur blickte hier wie dort ernüchternd und abschreckend hervor. Wie wohl mußte es Bülow tun, als er, nachdem er so bittere Erfahrungen mit Menschen hatte machen müssen, die er für seine nächsten Freunde hielt, in dem charakterfesten, geraden und zuverlässigen Brahms dieselbe ihm verwandte kandide Natur wiederfand, die ihn vor achtzehn Jahren bei ihrer ersten Begegnung [403] in Hannover sofort gewonnen hatte und auch festgehalten haben würde, wenn eben nicht mächtigere konträre Einflüsse dies verhindert hätten13.

Welche Vorteile für Brahms aber aus der Annäherung Bülows erwuchsen, läßt sich gar nicht berechnen, da Bülow in der Folge mit derselben, jeden Widerstand über den Haufen rennenden, fortreißenden und überzeugenden Impetuosität für Brahms und dessen Werke eintrat, mit der er einst der »Zukunftsmusik« und deren Göttern gedient hatte. Daß es dabei ohne empfindliche Reibungen, Rückfälle und Rückschläge nicht abging, und der Streiter in der Hitze des Gefechtes auch den eigenen Freund verletzte, soll nicht verschwiegen werden. Aber die Popularisierung der Brahmsschen Musik wäre kaum so schnell und so gleichmäßig fortgeschritten, wenn Bülow ihr nicht auf die Beine geholfen hätte. Und er begann seine erfolgreiche Propaganda nicht erst als Dirigent der Meininger Hofkapelle, wie mancher glaubt, sondern lange vorher. Ihre ersten Anfänge und Vorbereitungen sind auf den Hochsommer 1872 und die mit Brahms in Baden-Baden verlebten Stunden zurückzuführen, denen sich andere in Wien anschlossen, wo Bülow im November vier Konzerte gab14. Von dieser Zeit an kommen abfällige Bemerkungen über Brahms in Bülows Briefen, wie sie noch Ende der Sechzigerjahre ihm gelegentlich aus der hitzigen und spitzigen Feder liefen, nicht mehr vor. Dagegen erscheint der Name des vormals Geschmähten immer häufiger auf den Konzertprogrammen des die Welt in Kreuz- und Querzügen durcheilenden Ahasverus des Klaviers. Im November 1872 hat Bülow im ersten seiner Wiener Konzerte das es-moll-Scherzo, die Händelvariationen und zwei der Balladen [404] aus op. 10 gespielt, dieselben Stücke dann auf seiner Tournée in Würzburg, Frankfurt a.M., Köln, Koblenz, Mannheim, Karlsruhe wiederholt, und sich bei Brahms mit den gedruckten Belegen seiner missionären Tätigkeit ausgewiesen. Den Konzerten, die Bülow noch im September in Baden-Baden gab, konnte Brahms nicht mehr beiwohnen, da er Mitte dieses Monats von seinem letzten längeren Lichtentaler Sommeraufenthalt nach Wien abreiste.

Er wollte eigentlich vorher noch in die Schweiz gehen, aber vielerlei, darunter eine Menge von Besuchen, hatte ihn immer wieder zurückgehalten. Reinthaler war wieder dagewesen, seine Freundin Ottilie Ebner ebenfalls, und Simrock hatte gar mit Familie einen sechswöchentlichen Aufenthalt in Baden-Baden genommen. Nun galt es für den Winter in Wien vorzusorgen. Vor ihm waren die bei Rieter bestellten Stimmen zum Dettinger Te Deum und zu »Saul« dort eingetroffen. Der gleichen Sorge ist zum Teil der Abschiedsbrief gewidmet, den er, nicht mehr von Lichtental, sondern schon von Wien aus, an Hermann Levi richtete.

Der neue Münchener Hofkapellmeister hatte die freie Zeit, die ihm zwischen Karlsruhe und München gehörte, zu einer italienischen Reise benutzt, kam Anfang Oktober noch einmal nach Karlsruhe zurück und trat am 15. Oktober sein Amt in München an. Brahms, der die Rückkehr des Freundes nicht mehr abwarten konnte, schrieb ihm:

»Lieber Freund, ein p.p.c. will ich doch noch in Karlsruhe abgeben, und Dich bitten, unsere Freunde – und Freundinnen wirklich recht von Herzen zu grüßen. Für Dich freilich wird (und darf) der Abschied nicht gar so energisch sein, die Weihnachtstage wirst Du doch im gewohnten Kreise zubringen15 – aber ob und wann ich die gute Residenz und die netteren Menschen darin wiedersehe!? Wann geht denn Allgeyer nach München?16 Laßt mich nicht ganz außen sein und bleiben!

Deine italienischen Wanderungen habe ich unaufhörlich in [405] Gedanken mitgemacht, und jedesmal, wenn ich mein Komitee witterte, mit verstärktem Neidgefühl. Ich habe Dir nicht dorthin geschrieben, auch nicht an Homann17, weil's doch wohl zu spät gewesen wäre. Aber ich will ja die Oper nicht aufführen, sondern nur Einzelnes singen lassen! So genügte mir für den Gebrauch denn der mitgenommene Text.

Bekümmere und interessiere Dich doch um die Denkmäler der Tonkunst. Der fünfte Band, Te Deum von Urio, wird Dich erstaunlich amüsieren! Auf den ersten zwei Seiten gleich Saul und Te Deum von Händel, ungemein frappant. Überhaupt, bekümmere Dich um Chrysanders Tätigkeit, das ist doch ein ordentlicher Kerl! Ich schämte mich die Jahrbücher nicht zu haben – zwei Exemplare lieh ich von Stockhausen und Joachim, beide waren unaufgeschnitten! Da hörte ich auf mich zu schämen, und jetzt habe ich sie auch18.

Doch Du wirst gerade Zeit und Lust zum Plaudern haben. Hilf also weiter den weinenden Frauenzimmern packen, die Hauptperson wirst Du nicht dabei sein.

Noch einmal grüße herzlich und laß von München öfter hören!«

Nicht in der besten Laune, sondern mit Seufzen begann Brahms seine Tätigkeit als artistischer Direktor der »Gesellschaft der Musikfreunde«. Die lange hingezogenen Präliminarien waren, wie er an Frau Ebner, die ihn umsonst in der lieblichen Öd19 erwartete, schreibt, daran schuld, das so viel Nötiges versäumt und aufgeschoben wurde. Nun konnte er seine Kopisten nicht loslassen und mußte in der Stube hocken, anstatt sich im Grünen zu ergehen. Aber wenn er auch seufzte und klagte, er freute sich doch auf seine Chorübungen, Orchesterproben und Konzerte, und saß nicht ungern in der hellen geräumigen Vorderstube seiner neuen Wohnung, die er um die Jahreswende 1871/72 [406] bezogen hatte. Als Brahms nämlich zu bemerken glaubte, daß man mit seinem Engagement bei der Gesellschaft der Musikfreunde Ernst machte, war er wieder auf die Suche nach einem passenden Quartier gegangen und hatte auf der Wieden in der Karlsgasse Nr. 4 gefunden, was seinen bescheidenen Anforderungen entsprach. Es waren zwei, durch eine Glastür mit einander verbundene Räume, ein Vorder-und ein Hinterzimmer, im dritten Stocke eines alten, verwohnten Wiener Zinshauses, ohne jeden Komfort, mit wackeligem, schadhaftem Gerümpel notdürftig möbliert, wie sie in Wien zu tausenden an alleinstehende kleine Beamte, Studenten oder junge Kaufleute vermietet werden. Und solche logierten auch in den übrigen Teilen der acht Fenster breiten Etage, meist als Pensionäre einer Familie Vogl, die von dem Vermietungsgeschäft lebte, wie einst die Brahmsschen Eltern in Hamburg. Der neue Zimmerherr, der die Freiheit, auswärts im Gasthause zu speisen, nicht aufgeben mochte, entschädigte Vogls mit einem höheren Zins: er zahlte pro Monat fünfunddreißig Gulden! Soviel hatte sich Brahms noch keine Wohnung kosten lassen; er wußte, was er seiner Würde als artistischer Direktor der »Gesellschaft« schuldig war. Über den Trödel seines Hausrates sah er hinweg – sehr möglich, daß er ihn überhaupt kaum bemerkte. Auch genierte es ihn nicht, daß er, um in sein Zimmer zu gelangen, einen zwei Fenster langen schmalen Gang passieren mußte, der an der Küche vorüberführte. Da die Küche ihr Licht von den Außenfenstern des Hauses empfing, so standen ihre Fenster nach dem Gang zu gewöhnlich offen, und jeder, der Brahms besuchte, mußte wohl oder übel erfahren, was dort vorging. Ein anderer Übelstand der Wohnung war, daß man zuerst ins Schlafzimmer des Meisters eintrat, in dem er sich tags über nicht aufhielt, so daß niemand wissen konnte, ob er gerade zum Empfange bereit war. Gefragt wurde er nur in seltenen Ausnahmefällen. Jeder, der Fräulein Ludovika Vogl oder dem Küchenmädchen unverdächtig schien, fand ohne vorherige Anmeldung Einlaß. Auf vornehmen Besuch war Brahms nicht eingerichtet, und doch sprachen in den fünfundzwanzig Jahren, die er dort wohnte, hohe und allerhöchste Herrschaften, große Herren und elegante Damen genug bei ihm vor, ohne an den Eigentümlichkeiten[407] und Hindernissen seiner Behausung Anstoß zu nehmen. Die Wohnung in der Karlsgasse Nr. 4 ist dieselbe, welche unzählige Male beschrieben worden ist. Brahms hat sie mit keiner anderen mehr gewechselt und ist darin gestorben. Ihre Zimmer haben historische Berühmtheit erlangt, und es verlohnt wohl der Mühe, sich ein wenig näher in ihnen umzuschauen; denn in ihrem Mangel und Überfluß spiegelt sich getreu das Wesen ihres Inhabers ab20.

Ehe die Einrichtung den Zustand erhielt, in welchem sie Brahms hinterließ, waren durchgreifende Veränderungen mit ihr vorgegangen. Die Familie Vogl starb in der ersten Hälfte der Siebzigerjahre bis auf Fräulein Ludovika aus. Als sich Brahms 1877 den Hauptteil seiner Bibliothek, die bis dahin noch immer in Hamburg auf dem Dachboden bei der Stiefmutter in Kisten verpackt stand, nach Wien kommen ließ, trat Fräulein Vogl ihrem Untermieter noch ein drittes zweifenstriges Gassenzimmer ab, das jetzt zum Schlafraum gemacht wurde, während Bücher und Noten anfangs im Hofzimmer aufgestellt worden waren. Auf diese Art gedachte Brahms seinen Gästen ein würdigeres Entrée zu bereiten, räumte dann aber alles wieder um, da sich die Anordnung praktisch nicht bewährte, und er weder seine Nachbarschaft stören, noch von dem Lärm auf der Straße gestört sein wollte. Die glattgehobelten, braun angestrichenen Repositorien, eine altmodische Servante und Robert Schumanns Flügel waren so ziemlich das Einzige, was Brahms damals von eigenen Einrichtungsstücken besaß. Erst 1887, als sein altes Fräulein starb, und Frau Celestine Truxa, die Witwe des publizistischen Schriftstellers Dr. Leo Robert Truxa, die Stelle der Hauswirtin einnahm, erhielt die Wohnung ein freundlicheres Ansehen. Von den Luxusmöbeln, mit denen Frau Truxa die Zimmer ihres Mieters hätte ausstaffieren können, wollte Brahms allerdings nichts wissen. Sie mußte sie verlaufen und [408] einfachere anschaffen, die seinen Gewohnheiten besser entsprachen. Alle drei Gelasse erhielten frisch getünchte Wände, die ein und dasselbe, durch die Schablone gepinselte Muster in verschiedenen matten Farben aufwiesen; auf den gewichsten, alten rissigen Parkettböden lagen mit Ausnahme zweier Läufer, die Brahms von Freunden aufgenötigt wurden, keine Teppiche.

Wenige Bilder hingen an den Wänden: im Schlafzimmer »Der Friedensschluß zu Münster« (Stich vor der Schrift nach dem Gemälde von Barthel van der Helft), über dem Bett ein Porträt Sebastian Bachs (die Rohrbachsche Lithographie); im Musikzimmer über einem, von Brahms niemals benutzten braunen Ledersofa (Schlafdivan) Steinlas Stich nach Rafaels Sixtinischer Madonna, daneben links, ebenfalls in Kupfer gestochen, Ingres' Cherubini – die Muse mit dem Lorbeer hatte sich auf den Wunsch des Besitzers, der »dieses Frauenzimmer« nicht »mochte«, hinter einem auf Papier gezeichneten, über das Glas gelegten Vorhang verstecken müssen, – rechts unter der Büste Beethovens (nach der Kleinschen Maske) eine von Klinger radierte Landschaft Böcklins, davor eine Bronzetafel mit Bismarcks Kopf; neben der Schlafzimmertür rechts über einem angeblich von Haydn herstammenden Tafelklavier Rafael Morghens Stich nach Guido Renis »Apollo im Sonnenwagen«, links Hogarths »Händel« (ein Turnersches Schabkunstblatt) und der Knabe Mendelssohn am Klavier. Über dem Schreibtisch am zweiten Fenster lächelte Lionardos »Monna Lisa« (von Calamatta gestochen) auf den ungeduldigen Briefschreiber herab, unter ihr befand sich ein Stich des Rietschelschen Doppelmedaillons »Robert und Klara Schumann« mit Dedikation; im Bibliothekzimmer, wo die Längswand und ihre in die Nebenwohnung führende Tür mit Bücher- und Notenregalen verstellt war, gab es nur am Fensterpfeiler Platz für eine photographische Reproduktion der »Apokalyptischen Reiter« von Cornelius. In diesem wie im Schlafzimmer deuteten ganz kurze, kaum die Oberfenster bedeckende durchsichtige Lambrequins die Absicht an, irgend etwas zum Schmucke der nüchternen Maueröffnungen zu tun. Die längeren Tüllgardinen im Musikzimmer waren so dünn, daß auch sie das Tageslicht voll hereinfluten ließen. Zwischen den beiden Fenstern, von denen man zur kupfergrünen[409] Kuppel und den merkwürdigen Säulen der Karlskirche hinübersah – eine Aussicht, die Brahms sehr liebte – befand sich der ihm von Streicher ins Haus gestellte Konzertflügel, nachdem Brahms das Klavier Schumanns dem Museum der »Gesellschaft« verehrt hatte. Der stets geschlossene Deckel des Klaviers diente Brahms als Auslegetisch. Dort wurden Uhr, Schlüssel, Augengläser, Portemonnaie, Zigarrenetuis, Kalender, Notizbücher und Schreibtäfelchen deponiert. Über dem Klavier zwischen den Fenstern hing ein Spiegel – für Brahms das unnötigste Möbel der Welt, da er prinzipiell niemals in einen solchen hineinsah und von seiner Kurzsichtigkeit in diesem Grundsatz unterstützt wurde. Er besah sich lieber inwendig, komponierte auch vor dem Spiegel so wenig wie am Klavier, sondern überließ dieses selbstgefällige, dilettantenmäßige Vergnügen denen, die es verstehen, interessante Posen einzunehmen und sich möglichst effektvoll in Szene zu setzen.

Auf dem Tisch vor dem Sofa, das, wie der daneben lehnende geschnitzte Schaukelstuhl (ein Geburtstagsgeschenk), nur von seinen Gästen benutzt wurde, während er selbst ihnen immer auf einem gewöhnlichen Rohrstuhl oder am Klavier gegenübersaß, mußte Tag und Nacht die Kaffeemaschine mit Service und der irdene Tabaksbehälter in Bereitschaft stehen. Er kochte sich sein Lieblingsgetränk selbst, wie er auch seine aus verschiedenen Tabakssorten gemischten Zigaretten eigenhändig drehte. Die Mitte des Bibliothekzimmers nahm ein altmodisches Mahagoni-Stehpult ein, an welchem er las oder auch Noten schrieb. Welche Schätze an kostbaren Büchern, Stichen, Zeichnungen und Handschriften in der Bibliothek aufgestapelt waren, läßt sich bei seinen früh erwachten antiquarischen Neigungen und dem tatkräftigen Willen seiner Freunde, sie zu unterstützen, leicht denken. Die eigenhändige Partitur der Mozartschen g-moll-Symphonie brauchte sich der Gesellschaft, in die sie kam, nicht zu schämen21. Doch sammelte er nur Objekte, an die sich ein persönliches oder sachliches Interesse [410] für ihn knüpfte. Bücher, die ihm von Autoren dediziert wurden, ohne ihn fesseln zu können, wanderten in den Glasschrank des Schlafzimmers, zu dessen bei Tage wie bei Nacht und zu jeder Jahreszeit geöffneten Fenstern der Wipfel eines riesigen Nußbaumes vom Hofe hereingrüßte. Sowohl die Vorder-wie die Hinteraussicht mögen Brahms mitbestimmt haben, das Haus in der Karlsgasse zu beziehen und nicht wieder zu verlassen. Auch sonst empfahl es sich im Jahre 1872 durch seine günstige Lage. Brahms brauchte, wenn er ausging, nur um die Ecke zu biegen, um in die anmutigen Parkanlagen zu kommen, welche sich damals reicher und üppiger als nach der nivellierenden Überwölbung des Wienflusses an dessen grünbebuschtem Ufer hinzogen22. Nur leise hinsickerndes Gewässer trennte die gemütliche Vorstadt Wieden von dem elegantesten und geräuschvollsten Teile des ersten Bezirks. Links führte die mit Statuen besetzte, zierliche Elisabetbrücke von der Wiedener Hauptstraße zum Opernring, rechts die Schwarzenbergbrücke von der Karlskirche und dem Palais Schwarzenberg zum Kolowratring. Dort geht es über die Kärntnerstraße zum Stefansplatz und Graben, hier an der Wien entlang zum Stadtpark und weiter in den Prater. Dort erhebt sich seit 1869 die Hofoper, hier seit 1870 das Musikvereinsgebäude (Gesellschaft der Musikfreunde) und in dem zweiten dieser beiden, der Pflege der vornehmen Musik gewidmeten Monumentalbauten sollte sich jetzt das ebenso ersehnte wie verwünschte, erhoffte wie gefürchtete, gern aufgesuchte wie ängstlich gemiedene Feld für die Tätigkeit des neuen Gesellschaftsdirigenten eröffnen.

Brahms hatte es leichter als neun Jahre vorher in der »Wiener Singakademie« und doch auch wieder nicht so leicht wie damals. Wohl befehligte er jetzt dieselben Truppen, welche ihm früher durch ihre Überlegenheit eine Niederlage nach der anderen beigebracht hatten, und durfte auf die reicheren Hilfsmittel rechnen, die seiner wohldisziplinierten Schar zur Verfügung standen. Aber der abtrünnige erste Führer dieser schlagkräftigen sieggewohnten [411] Armee konnte ihm gefährlicher durch seine Abwesenheit werden, als er ihm durch seine Gegenwart gewesen war. Nur zu leicht konnte das Andenken an den unvergeßlichen Herbeck trotz des zweijährigen Interims wieder aufgefrischt und gegen Brahms ausgespielt werden. Jeden falls war es bei weitem bequemer, von der »Singakademie« auf Händen getragen zu werden, als im Schoße der »Gesellschaft« zu ruhen. Alles kam darauf an, daß Brahms sein Selbstvertrauen behielt und nicht mit diesem die Freude an der Sache einbüßte. Billroth, der nicht nur als Arzt ein großer Menschenkenner war, stellte dem Freunde die richtige Prognose, als er im Oktober an Lübke schrieb: »Brahms wird nun also die Musikvereinskonzerte dirigieren; er bereitet Händels ›Te Deum‹ und ›Saul‹ vor, zwei Bachsche Kantaten, sein ›Triumphlied‹ usw. Vorläufig ist er ganz Feuer bei Leitung des Gesangvereins und ist immer entzückt über die Stimmen und das musikalische Talent des Chors. Sind die Erfolge günstig, so wird er, glaube ich, aushalten; ein Mißerfolg kann genügen, ihn so zu deprimieren, daß er die Lust verliert.«

Von entscheidender Bedeutung war naturgemäß das erste Konzert. Außer den, immer am Montag stattfindenden Übungen des Singvereins hatte Brahms noch mehrere Proben ohne und mit Orchester abgehalten, die auch von den Sängern besser als sonst frequentiert wurden. Viele verwöhnte »Herren vom Chor«, welche auf ihre musikalische Sicherheit und Unentbehrlichkeit inner- und außerhalb des Vereins pochten, hätten am liebsten nie gewöhnlich, gar nicht geübt, sondern bei der Aufführung vom Blatte gesungen. Aber ihre Neugierde war diesmal größer als ihre Indolenz, und sie stellten sich wenigstens zur Generalprobe ziemlich vollzählig ein. Es hatten sich fabelhafte Gerüchte über die mit den Damen vorgenommenen Exerzitien verbreitet. Bei ihnen, die zwar gefügiger, aber womöglich noch anspruchsvoller als die Herren waren, wußte sich der neue Dirigent in gewaltigen Respekt zu setzen durch die für Wien und den Singverein unerhörte Maßregel, schwierige Chorstellen partieweise immer von einem halben Dutzend Sängerinnen so lange üben zu lassen, bis sie fest saßen. Die Damen bestanden die ihnen anfangs horrend erscheinende Belastungsprobe ihrer Geduld höchst ehrenvoll, nachdem [412] sie eingesehen hatten, daß mit dem Dirigenten nicht zu spaßen war, und sein karges Lob schmeckte ihnen nach dem vielen Zuckerbrot, mit dem sie von seinen Vorgängern gefüttert worden waren, nicht übel. Bald sogar schworen sie, nachdem ihr Eifer durch die Schwierigkeiten Bachscher Kantaten geweckt worden war, und sie sich von der Zweckmäßigkeit des allergründlichsten Detailstudiums überzeugt hatten, nicht höher als bei ihrem Sankt Johannes, was dann freilich wieder Eifersüchteleien von seiten der Herren zur Folge hatte. War Brahms mit seinem Chor besonders zufrieden, so spielte er den Herren und Damen am Schlusse der Übung noch eine halbe Stunde lang auf dem Klavier vor, wobei er durch sein Phantasieren über vorher gesungene Melodien alles in Erstaunen und Entzücken versetzt haben soll.23

Am Tage vor seinem ersten Konzert konnte Brahms an Allgeyer schreiben, der Chor habe »fleißig und lustig« geübt, so daß er erwartete, er werde gut singen. Seine Erwartung sollte nicht getäuscht werden.

Am Sonntag, den 10. November 1872, »präzise 1/21 Uhr« erschien Brahms zum ersten Male als Leiter des Singvereins und Dirigent der Gesellschaftskonzerte auf dem Riesenpodium des großen Musikvereinssaales angesichts eines Chores von dreihundert Mitgliedern und eines über hundert Mann starken Orchesters. Es war nicht mehr das, aus verschiedenen Elementen zusammengewürfelte, »Gesellschafts-Orchester«, in welchem früher auch Dilettanten mitwirkten, sondern das Hofopern-Orchester, die Mustertruppe der »Philharmoniker«, mit Josef Hellmesberger als Violindirigenten und Konzertmeister an der Spitze. Brahms hatte auf dieser Neuerung bestanden, und die Direktion hatte nachgeben müssen. Auf der Orgelbank vor dem neuen Ladegastschen Werke, das bei dieser Gelegenheit zum ersten Male erklang, saß der Hoforganist Rudolf Bibl und spielte den von Brahms ausgeführten Basso continuo. Die Soli im »Dettinger Te Deum« sangen Rosa Girzick, Dr. Kraus und Pirk, und Frau Wilt, von Epstein begleitet, Mozarts Kon zert-Arie mit Klavier und Orchester »Ch'io mi scordi di te?« Der Singverein tat sich in zwei alten a capella-Chören [413] von J. Eccard und H. Isaack noch besonders hervor, und das Orchester glänzte mit Schubert's, von Joachim instrumentiertem »Grand Duo« für Pianoforte zu vier Händen24. – So hatte Brahms für alle Mitwirkenden gesorgt und auch das Publikum nicht vergessen, das sich Händels »Te Deum« gefallen ließ und von den beiden, ganz à la Stockhausen und Wüllner einstudierten, sein nuancierten Vokalchören so entzückt war, daß diese am Freitag darauf in dem Orgelkonzert.- der eigentlichen, von der »Gesellschaft« zu Ehren des Instruments veranstalteten Einweihungsfeier – wiederholt werden mußten. Dieses Orgelkonzert verdient deshalb noch einer besonderen Erwähnung, weil in ihm der von Herbeck nach Wien gezogene und zum »Orgelprofessor« des Konservatoriums beförderte Anton Bruckner, der später von der Wagner-Partei als Symphoniker gegen Brahms ausgerufen und auf den Schild erhoben wurde, zum ersten und letztenmale in einem Konzert mit seinem verhaßten Gegner zusammen vor die Öffentlichkeit trat25.

Wie aus dem Programm des in Rede stehenden Gesellschaftskonzerts zu ersehen ist, trat der neue Dirigent nicht als Revolutionär auf. Er ließ die Orchestermusik neben der Chormusik fortbestehen, womit er, nebenbei gesagt, auch sich selbst einen Gefallen tat, betrachtete sie aber doch nicht als gleichberechtigten Faktor. Seine Konzerte näherten sich überhaupt nicht den beliebten »Akademien«, welche der Genußsucht und Gedankenlosigkeit der großen Masse mit einem Potpourri ungleichartiger musikalischer [414] Genüsse schmeichelten, sondern strebten mit stark betontem künstlerischen Charakter eine Einheitlichkeit des musikalischen Geschmackes an, die sich auch bei einem gemischten Programm erreichen läßt. Werke, die unter dem Niveau des seiner Ansicht nach Zulässigen zurückblieben, führte er nicht auf; selbst was heute wie ein kleiner, alten Freunden und guten Bekannten erwiesener Liebesdienst aussieht, wäre gewiß nicht zugelassen worden, wenn es nicht, wie Rheinbergers Vorspiel zur Oper »Die sieben Raben«, Albert Dietrichs Violin-Konzert und Hillers Ouverture zu »Demetrius« ein persönliches künstlerisches Gesicht gehabt hätte. Diese drei Stücke sind aber auch die einzigen, die sich in den Augen der Nachwelt dem Verdacht aussetzen, sie verdankten nicht der künstlerischen Überzeugung des Dirigenten allein ihre Anwesenheit in den Gesellschaftskonzerten. Auf einen Zeitraum von drei Jahren und eine Reihe von achtzehn Konzerten verteilt, fallen sie kaum in Betracht. Von den Oratorien und Kantaten seiner Freunde findet sich nichts auf den Programmen, desto mehr von denen der beiden Großmeister Bach und Händel. Seit der durch Händels »Samson« beglaubigten Gründung der »Gesellschaft der Musikfreunde« (1814) bis zu Brahms' Amtsantritt ist etwa ein Dutzend derartiger Werke von Händel und Bach in den Gesellschaftskonzerten zu hören gewesen. Ihnen stehen bei Brahms vier Händelsche Oratorien, ebensoviel Bachsche Kantaten und die Matthäus-Passion gegenüber, so daß er in drei Jahren beinah so viel von jener klassischen Musik aufgeführt hat, wie seine Vorgänger in achtundfünfzig. Händels »Te Deum«, »Saul«, »Alexanderfest« und »Salomo«, Bachs Kantaten »Christ lag in Todesbanden«, »Liebster Gott, wann werd' ich sterben«, »Nun ist das Heil und die Kraft«, »O ewiges Feuer« waren so gut wie lauter Novitäten für Wien. Dazu kamen noch Werke wie Cherubinis Requiem, Beethovens Missa solemnis, Mozarts »Davidde penitente« und »Venite populi«, Stücke aus Schuberts, As-dur-Messe, Mendelssohns »Walpurgisnacht« Schumanns »Manfred-Musik« und Ballade »Des Sängers Fluch«, endlich Bruchs »Odysseus«, mit dem Brahms seine Dirigententätigkeit am 18. April 1875 abschloß. Von eigenen Kompositionen führte er außer ein paar kleineren Chorliedern das [415] »Triumphlied«, »Schicksalslied«, die »Rhapsodie« und das »Deutsche Requiem« auf (mit der Wiederholung dieses Werkes entsprach er einem allgemeinen Wunsch), das »Triumphlied« als Novum, die beiden anderen Stücke zur eigenen Genugtuung, weil er den Wienern zeigen wollte, wie sie eigentlich gemeint waren.

Nach dieser vorläufigen Übersicht über Brahms' Direktionsführung, der im einzelnen noch manches nachzutragen sein wird, kehren wir zu seinem glücklichen Debut zurück. Ein erstes »außerordentliches« Konzert, das dem ersten »ordentlichen« am 8. Dezember nachfolgte, nahm, obwohl es nicht gerade stark besucht war, einen ebenso glänzenden Verlauf und befestigte den Dirigenten in seinem schnell errungenen Ansehen. Samuel de Lange, der ausgezeichnete Organist an der St. Lorenzkirche zu Rotterdam, half der gekränkten Orgel zu ihrem Rechte mit einem Händelschen Konzert und einer Bachschen Fuge. Amalie Joachim, die mit Klara Schumann in Wien konzertierte, sang die Szene der Gluckschen Alceste: »Wo bin ich, unglückliche Alceste«. Das von Brahms aus dem Dunkel hervorgezogene Mozartsche Offertorium »Venite populi« für achtstimmigen Chor, Orchester und Orgel von 177626, bildete eine besondere Zierde des Programms, und das »Triumphlied« krönte am Schlusse das Ganze. In vier Übungsabenden und zwei Proben hatte der Chor das Werk bewältigen gelernt, und es erklang zum ersten Male in der Fülle und Pracht eines stark besetzten, ihm angemessenen Chors. Die österreichische Zensur, die an dem heiligen Texte keinen Anstoß nahm, ließ es ruhig passieren. Sie würde dem Verherrlicher der deutschen Siege gewiß den Mund verboten haben, wenn er für seinenCantus firmus anstatt des Chorals »Nun danket alle Gott« die »Wacht am Rhein« gewählt hätte, welche damals in Österreich für staatsgefährlich galt. Vielleicht auch wußte die Behörde so wenig von der Bedeutung des Liedes wie das Wiener Publikum, das sich an dem Glanz des herrlichen Klanges berauschte, ohne sich zu einer besonderen Kundgebung seiner deutschen Sympathien hinreißen zu lassen.

[416] Weniger glücklich fiel das zweite »ordentliche« Gesellschaftskonzert aus. Über ihm stand ein ähnlicher böser Stern wie über dem zweiten Akademiekonzert vom 6. Januar 1864, traurigen Andenkens. Mit einer Programmänderung nahm das Unheil seinen Anfang. Ferdinand Hiller war nach Wien gekommen, um seine Demetrius-Ouvertüre persönlich zu dirigieren, aber sein Werk, bezw. die Stimmen dazu, folgte ihm nicht nach. Er mußte auf seine alte d-moll-Konzertouverture zurückgreifen und sie dann zweimal anfangen, weil die Pauke zu früh einsetzte. Auch Brahms sah sich genötigt, in der Schumannschen Ballade »Des Sängers Fluch« abzuklopfen; der Harfenist hatte falsch umgeblättert und fand sich nicht mehr zurecht. Die Gesangssolisten ließen gleichfalls manches zu wünschen übrig, und nur der Chor tat in Mendelssohns »Walpurgisnacht« seine volle Schuldigkeit. Dagegen bewegte sich der Erfolg bei dem zweiten außerordentlichen Konzert (Händels »Saul« mit Frau Dustmann, Frau Gomperz-Bettelheim, den Herren Walter, Pirk und Scaria) und den letzten beiden ordentlichen Konzerten in aufsteigender Linie. Zu dem großen Händelschen Oratorium, das schon seit der Knabenzeit eines seiner Lieblingswerke war27, hätte Brahms gern Frau Joachim wieder in Wien gehabt. Seine Einladung faßte er in folgender humoristischen, auf »Saul« anspielenden Form ab: »David aber fragte Gott und sprach: ›Soll ich hinaufziehen wider die Philister, und willst du sie in meine Hand geben?‹ Der Herr aber sprach zu ihm: Ziehe hinauf, ich habe sie in deine Hand gegeben. Und nun können Sie sich weiter in den Büchern der Chronika Rats erholen, und werden finden, daß der Herr, wie Nottebohm, immer dafür ist. Mich aber verlangt sehr zu wissen, ob David auch diesmal Lust hat und gewiß zu kommen denkt. Seine leisen Worte der Geneigtheit beruhigen mich nicht mehr. Seien Sie gütig und schreiben Sie ein recht deutliches ›ja‹ für mich und Dessoff. Ferner aber ist Ihnen bekannt, daß David die Philisterbande immer bedenklich ausgeraubt hat. Wie denken Sie es nun damit zu halten? – Was kriegen Sie? lautet das bei einem Musikdirektor. Darauf brauche ich wieder eine deutliche Antwort.«

[417] Frau Joachim hätte außerdem das Alt-Solo in der »Rhapsodie« singen sollen und zwar unter Dessoff im Philharmonischen Konzert. Zwischen beiden, durch eine Woche getrennten Konzerten wäre Zeit für ein eigenes Konzert gewesen, und Brahms wollte sie zum Gesange begleiten »falls kein besserer oder anderer etc. da wäre.« Vielleicht, meint Brahms, wollte Barth28 die Gelegenheit benutzen nach Wien zu kommen? Auch Georg Henschel, der damals gerade flügge gewordene Schüler Adolf Schulzes, wäre ihm unter Umständen als Saul recht. Frau Joachim schien mit Freuden bereit der Einladung zu folgen, mußte aber dann zu ihrem Bedauern absagen.

Die beiden letzten ordentlichen Konzerte brachten außer zwei Bachschen Kantaten eine Fülle schöner und seltener Musik, u.a. einen ungedruckten Chor aus Beethovens »Weihe des Hauses« (mit Sopran und Violinsolo), »Ellens zweiter Gesang« von Schubert in Brahmsscher Bearbeitung für Sopransolo, Frauenchor und Instrumente, und Cherubinis »Requiem«. Billroth resumiert in einem Brief an Lübke: »Brahms ist als Musikdirektor hier äußerst tätig; er hat unvergleichlich schöne Aufführungen zustande gebracht und findet bei allen, die es gut mit der Kunst meinen, vollste Anerkennung. Sein ›Triumphlied‹ ist hier mit Orgel und kolossalem Chor zu einer wunderbaren Wirkung gekommen, es gehören große Massen dazu, es ist monumentale Musik .... Im letzten Konzert wagte Brahms eine der schwersten, noch nie aufgeführten Kantaten von Bach nach Text von Luther (die Osterkantate) ›Christ lag in Todesbanden‹29. Es war verdammt herbe Musik, doch stellenweise von erhabener Wirkung. Die Wiener nahmen aus den Händen eines Dirigenten, den sie so achten wie Brahms, auch das mit liebenswürdiger Empfänglichkeit an. Zwei darauf folgende Volkslieder a capella veranlaßten dann freilich einen Beifallssturm, [418] der die Besorgnis des Hauseinsturzes rege machte. Der alte König von Hannover war halb toll vor musikalischem Rausch30. Ich möchte wohl, daß Sie so etwas mal hier hörten; man wird ganz betrunken von der Schönheit der Klangwirkung dieses Chors, dessen An- und Abschwellen, forte undpiano wie von Einer Stimme vorgetragen wirkt. Brahms leitete das, wie Renz ein Schulpferd .....«31

Das vierte Gesellschaftskonzert, das Sonntag den 6. April 1873 stattfand und die Osterwoche einleitete, wurde am Kardienstag wiederholt. Wenn schon Billroth, der Freund, Glaubensgenosse und Landsmann von Brahms, die Bachsche Musik verdammt herbe fand, so kann man sich denken, wie wenig erbaut das Wiener Publikum im Grunde davon war, und mit welchem Eifer die andersgläubigen Gegner über den Norddeutschen und Protestanten schalten, der es wagte, die Bachsche Kantate »Liebster Gott, wann werd' ich sterben?« und das Cherubinische Requiem auf Ein Programm zu setzen und aus beiden Stücken Ein Konzert zu machen. Hanslick sprach gewiß das Unbehagen Vieler aus, als er seine abfälligen Bemerkungen mit den Worten schloß: »Es fehlt in Wien nicht an einem Publikum, das die ernste Schönheit der Musik verehrt und aufsucht, aber hier so wenig wie anderswo pflegt man Konzerte eigens zu dem Zweck zu besuchen, um sich nach einander erst protestantisch und dann katholisch begraben zu lassen.« Ähnliche Sticheleien bekam Brahms genug zu hören, trotz oder vielleicht auch wegen seines wachsenden Ansehens, so daß es nicht an kleinen Reibereien fehlte32.

Einen schärferen Konflikt drohte die Frage herauf zu beschwören, in welcher Weise das musikalische Wien von der Wiener Weltausstellung Notiz nehmen sollte. Für die Eröffnungswochen [419] wurden Konzerte größeren Stils geplant. In einer der vielen Vorstandssitzungen, die deswegen abgehalten wurden, wies Brahms darauf hin, daß es für die Mitwirkung des Singvereins durchaus wünschenswert, ja nötig sei, sich auf die Wiederholung des im Winter Einstudierten zu beschränken, und stellte das »Te Deum« oder den »Saul« Händels zur Disposition. Auch von einer Reprise des »Triumphliedes« war die Rede. Man hatte ihm zugestimmt, und er durfte glauben, mit seiner Meinung durchgedrungen zu sein. Hinterdrein aber wurde über seinen Kopf hinweg der Beschluß gefaßt, von den in Verbindung mit dem Männergesangverein und den Philharmonikern geplanten »drei Musikfesten« sollten sich zwei ausschließlich auf Kompositionen Beethovens und Schuberts beschränken, und zwar sollte das Beethovenfest von Dessoff, das Schubertfest von Brahms dirigiert werden. Dazu mochte er nicht die Hand bieten. Auf eine schriftliche Mitteilung Standhartners erwiderte er, ebenfalls brieflich, er bekenne, daß er es überhaupt bedenklich finde, ohne äußere Veranlassung ein ganzes Konzert mit Werken eines Meisters zu füllen. Im vorliegenden Falle komme der besondere Nachteil hinzu, daß es sehr wenig Sachen von Schubert gäbe, welche für eine derartige Aufführung größeren Stils geeignet seien. Er verweist auf das Register der in Pohls »Gesellschaft der Musikfreunde«33 verzeichneten Schubertschen Kompositionen, die in den Gesellschaftskonzerten aufgeführt worden sind. Nähme er als selbstverständlich an, daß Arrangements ausgeschlossen seien, so finde sich speziell für gemischten Chor kaum ein Werk, für das die Berechtigung oder Nötigung einer derartigen Vorführung vorhanden wäre. Falls es also bei dem ihm mitgeteilten Plan bleibe, so bitte er über die Leitung des Schubert-Konzertes anderweitig verfügen zu wollen. »Schließlich« schreibt er, »kann ich eine Bemerkung und einen Wunsch nicht unterdrücken. Wie mir Herr Dr. R. mitteilt, habe ich jene fragliche Sitzung durchaus nicht versäumt, sie nur so zeitig verlassen, daß ich Vorschlag, Beratung und Beschluß des in Rede Stehenden versäumte. Nun nimmt meine anderweitige [420] Tätigkeit für die Konzerte, namentlich die Redaktion älterer Werke, Korrektur der Kopien usw. meine Zeit so ganz außerordentlich in Anspruch, daß der Wunsch begreiflich scheint, jene Sitzungen öfter versäumen zu dürfen, um so mehr, da der Gegenstand der Tagesordnung mich selten angeht, mir aber stets vorher unbekannt ist.«

Das war deutlich, verfehlte aber insofern seinen Zweck, als das »Schubert-Fest« ruhig am 4. Mai abgehalten wurde, natürlich ohne Brahms. Dessoff dirigierte den instrumentalen Teil (die unvollendeteh-moll-Symphonie und zwei von Liszt instrumentierte Märsche). Eduard Kremser, der zweite Chormeister des Männergesangvereins, ein paar vom Singverein vorgetragene geistliche Chöre; das große gesprochene Wort führte Mosenthal mit seinem Prolog, das kleine gesungene Bertha Ehnn und Gustav Walter mit einem halben Dutzend Lieder. Müßige Köpfe kombinierten sofort, wenn auch unrichtig, Kremser werde Brahms in der Direktion vom Herbst an ablösen. Brahms aber entzog sich dem öffentlichen Geschwätz und Privatklatsch, indem er sich durch weitere Ausflüge, die ihn bis nach Graz führten, unsichtbar für die Wiener machte, bis er nach vielen Kreuz- und Querzügen Mitte Mai Wien und die Weltausstellung mit ihren Empfängen, Festivitäten und Monstre-Konzerten definitiv ihrem Schicksal überließ, das bald in so furchtbarer Weise mit Cholera und »Krach« über beide hereinbrach. Gern hätte er den Maler Anselm Feuerbach noch erwartet, der ihn bei seinem vorjährigen kurzen Wiener Präsentationsbesuch nicht mehr angetroffen hatte; jener aber zögerte so lange, daß Brahms seine Sehnsucht nach Ruhe und Einsamkeit nicht mehr beherrschen konnte und abreiste.

Inzwischen war der geniale Freund auf Betreiben Rudolf von Eitelbergers, des einflußreichen, wahrhaft produktiven Kunstgelehrten und Schöpfers des »Österreichischen Museums« als Professor und Vorstand der Meisterklasse für Historienmalerei an die Kaiserliche Akademie der bildenden Künste berufen worden. Sehr wahrscheinlicher Weise hat Brahms hierbei die Hand im Spiele gehabt. Hofrat v. Eitelberger und dessen Assistent, der ebenso ideal gesinnte wie menschenfreundliche, gelehrte Bruno Bucher, speisten, als Brahms im Geroldschen Hause wohnte, öfters mit [421] ihm beim »Stroblkopf«, einem renommierten Wirtshause in der Wollzeile, und verkehrten überdies in einer Künstlerkneipe, in welcher auch Brahms zeitweise vorsprach. Allerdings erwähnt Allgeyer in seiner Feuerbach-Biographie nichts davon; aber er braucht es bei der unglaublichen Zurückhaltung seines Freundes Brahms auch niemals gehört zu haben. Wie leidenschaftlich Brahms sich für Feuerbach interessierte, wissen wir, und wie er, nach seiner Art, Propaganda für den Künstler zu machen bestrebt war, erfahren wir aus den Bilderbestellungen, mit denen er Allgeyer während des Jahres 1872 überhäufte, aus dem Eifer, mit dem er den federgewandten Feuerbach-Schwärmer antrieb, das große Publikum über die exklusive Kunst seines Auserwählten zu unterrichten, aus der Mühe, die er sich gab, Allgeyers Aufsätze bei vielgelesenen Zeitschriften anzubringen34. Alle seine Wiener Freunde mußten sich die photographischen Blätter anschaffen, auf denen Allgeyer die Hauptwerke Feuerbachs reproduzierte, und denen, die sie nicht beim Kunsthändler kaufen wollten oder konnten, schenkte er sie. So suchte er in Wien das Terrain für den Künstler vorzubereiten, ihm den Aufenthalt daselbst behaglich zu machen. Seine Fürsorge hat etwas Rührendes, und sie ergreift uns um so mehr, als sie durchaus keinen Dank erhielt, auf den sie auch gewiß nicht rechnete, sondern im Gegenteil zu Mißverständnissen führte, welche Feuerbach und Brahms zeitweilig entzweiten. Brahms' treu gemeinte, auf eigene Erfahrungen gestützte Warnungen, welche die allzu große Siegessicherheit des für Wiener Verhältnisse und Persönlichkeiten anfangs blind eingenommenen Künstlers erschüttern und ihn verhindern sollten, die Leute durch einseitiges Hervorkehren seines weltfremden, schroffen Idealismus herauszufordern, galten dem empfindlichen Stolze Feuerbachs für versteckte, indirekt geäußerte Zweifel an seinen Fähigkeiten35.

[422] Ebensowenig dankte Feuerbach es Brahms, daß dieser, wiederum in bester Absicht, ihn in eine Tischgesellschaft unbarmherziger Spötter einführte, welche das alte Wiener Recht, sich über andere lustig zu machen, um so skrupelloser ausübten, als sie sich selbst nicht im geringsten schonten. Ein fataler Unterschied war nur der, daß die fremden Opfer ihrer satirischen Laune auf öffentlichem Markt abgeschlachtet wurden, während ihre eigenen Schwächen zur Erheiterung des Stammtisches innerhalb des geschlossenen Kreises dienten, so daß einer den andern mehr liebkoste als geißelte, auch wenn sie alle einander auslachten. Erst allmählich fand sich der Künstler in dem eigentümlichen, ihm neuen Milieu zurecht. Obwohl kein Ansehen der Person an dem großen runden Tische galt, der während der Siebziger- und Achtzigerjahre in einer gemütlichen Ecke der Gauseschen Pilsener-Bierhalle in der Johannesgasse für seine stadtbekannten Abendgäste gedeckt stand, und jeder die Freiheit hatte, irgend ein scherz- oder ernsthaftes Gesprächsthema aufzuwerfen, gaben doch die hervorragenden Tagesschriftsteller Ludwig Speidel, Hugo Wittmann und Daniel Spitzer den Ton an. Ihr Ruf hatte sich mit der großen Zeitung, der sie ihre geistigen Kräfte widmeten, mit der »Neuen freien Presse,« über die ganze Welt verbreitet, und sie erfreuten sich in Wien einer Verehrung, wie sie nur in der Stadt der Caféhäuser und Tagesblätter gedeihen kann. Um sie scharten sich der geist- und humorvolle Publizist Wilhelm Singer, der joviale Musikschriftsteller Eduard Schelle, der beredte, vielseitig gebildete Ästhetiker Josef Bayer, der Maler-Feuilletonist Johannes Ziegler – »Johannes der Säufer« genannt – und der flotte Episodist Anton Edlinger, der als Jüngster »der Säugling« hieß – lauter schreib-, streit- und trinklustiges Federvolk, das wahrlich nicht von der Hand in den Mund, von heute auf morgen zu leben, und als Stegreifritterschaft vom Geist auf kritische Wegelagerei auszugehen [423] brauchte, um noch mehr zu erbeuten als das, was Speidel die »Unsterblichkeit eines Tages« genannt hat. Aber sie begnügten sich gern mit diesem vergänglichen, leichten Ruhm des Feuilletonisten, genossen ihn gleichsam mit jedem schäumenden Bierkruge frisch vom Fasse und blickten, schelmischen Übermutes voll, auf die feierlichen Ewigkeitsaspiranten, welche, des Brauches unkundig, ihnen von außen herzukamen, in der trügerischen Hoffnung, sich bei ihnen in Respekt zu setzen und eine gedruckte Anweisung auf Unsterblichkeit, wenn auch nur in der bescheidenen Form einer Reklamenotiz, herauszuschlagen. Wehe dem Unglücklichen, der eine Überlegenheitsmiene aufsteckte oder mit zurechtgelegter Pose um ihren Beifall buhlte oder durch irgend ein verdächtiges Zeichen merken ließ, daß er sich für etwas Besonderes hielt! Er wurde mit guten und schlechten Witzen, die nicht immer die feinsten waren, zugedeckt, abgetan und ausgelacht36. Wenn ein solcher dann etwa bei den älteren Kollegen der Tafelrunde Schutz suchte oder seine Entrüstung aussprach, kam er bei diesen durchaus an die Unrechten und konnte es erleben, daß sie ihm ein vernichtendes Beispiel gegenseitiger Frozzelei gaben37.

[424] Brahms ließ es sich lachend gefallen, von dem Direktor der Albertina, dem Dürer-Biographen Moritz Thausing, »Vizemeister« angeredet zu werden (der »Meister« war Wagner). Dafür erklärte Brahms jeden Abend um 11 Uhr, er müsse noch in den Wagnerverein, worunter er ein Nachtcafé mit Damenbedienung an der Elisabetbrücke verstand. Dorthin war ihm Gustav Nottebohm gewöhnlich vorangegangen, um die Wirkung der unzähligen »Pfiffs« (Achtel) roten Tiroler Weins, die er bei Gause getrunken hatte, mit einem starken »Schwarzen« unschädlich zu machen. Wenn der gewöhnlich sehr schweigsame Musikgelehrte einen Fremden am Tische traf, der ihm nicht gefiel – und es gab sehr wenig Menschen, die Gnade vor seinen Augen fanden – so drehte er ihm ostensibel den Rücken, blickte über die Achsel zurück und sagte: »Was will dieser Mann« indem er auf das Wort »Mann« einen Akzent wegwerfender Verachtung legte. Unendliches Gelächter erregte Nottebohm, als er der Gesellschaft eines Abends höchst ernsthaft die anstößigen Texte Mozart'scher Scherzkanons mit der Frage vorlegte, ob er sie nicht drucken lassen sollte – eine Gewissensfrage, die natürlich mit einstimmigem Ja beantwortet wurde. [425] Und noch größer war dann das Gaudium, als Ludwig Nohl den gelehrten Herausgeber jener »Unflätereien« fürchterlich abkanzelte, obwohl die schlimmsten Stellen durch Punkte .... bezeichnet waren, und Nottebohm seiner Entrüstung über den hypokritischen Landsmann – beide stammten von der »roten Erde« ab – mit den Worten Luft machte: »Dieser Nohl, wer ist er denn? Ein Mann! Es gibt auch Windbeutel in Westfalen.«

Übrigens wurde am Stammtische bei Gause nicht bloß gezecht, gespottet und gescherzt, sondern auch eifrig debattiert, philosophiert, politisiert und kritisiert. Namhafte Männer der Wissenschaft, wie die Universitätsprofessoren Erich Schmidt und Jakob Schipper, gehörten mit zu der fröhlichen Tafelrunde, an welcher als sporadische Gäste von Zeit zu Zeit auch der Romanschriftsteller Robert Byr, die Dichter Alfred Meißner und Martin Greif zusprachen. Der Gefährlichste auf der Bank der Spötter aber war der »Wiener Spaziergänger« Daniel Spitzer, Österreichs größter Satiriker, der meistens den stillen Beobachter spielte und nur manchmal durch einen seiner zündenden Geistesblitze verriet, daß er auch noch ein anderer sein konnte als der höchst liebenswürdige, noble und gutmütige Mensch, der er im Grunde seines weichen, mit Dornen bewehrten Herzens war. Von allen, die bei Gause mit Brahms über ein Jahrzehnt hindurch an manchem lieben Abend ihr »Krügel Pilsener« tranken, stand er ihm am nächsten und kam auch außerhalb des Wirtshauses bei Faber, Billroth und anderen Freunden gern mit ihm zusammen38. Auf den Maskenbällen [426] im Sophiensaale und den Opernredouten, die Brahms am liebsten mit Billroth besuchte, war Spitzer gewöhnlich der dritte Mann. Und gerade er war es, der den empfindlichen Feuerbach mit dem Stachel seiner Satire verletzte. Am 8. Februar 1874 war einer der »Wiener Spaziergänge« in der »Neuen Freien Presse« erschienen, der zur Hälfte Feuerbach gewidmet ist und einige sarkastische, nach Spitzerschen Begriffen ziemlich harmlose Bemerkungen über die »Amazonenschlacht« enthielt. Offenbar schlugen die Lachen erregenden Ausfälle dem Fasse den Boden aus. Denn an eben jenem Tage deutete Feuerbach der Mutter an, daß er sein Entlassungsgesuch beim Ministerium einreichen wolle, was er dann bei ruhigerer Erwägung unterließ39. Das Verhalten gegen Feuerbach war auch einer der Hauptgründe, deretwegen Brahms mit Speidel, dem Bundesgenossen Herbecks und Hellmesbergers, persönlich zusammengeriet, und dann für immer auseinander kam. Nach Feuerbachs Tode hatte Speidel eines seiner prächtigsten Feuilletons über den unglücklichen Künstler geschrieben und wurde dazu von allen Gästen des Stammtisches lebhaft beglückwünscht. »Und Sie sagen gar nichts?« wandte sich einer an Brahms, der schweigend mit gerunzelter Stirn dasaß. Speidel sah ihn erwartungsvoll an. Da fuhr Brahms mit jäher Heftigkeit los, das Spin Speidel so spitz wie möglich in seinem Hamburger Dialekt hervorstoßend, in den er immer verfiel, wenn er erregt war: »Ja, Herr Speidel, hätten Sie doch eines der vielen schönen Worte von dem Lebendigen geschrieben, die Sie über den Toten verloren haben! Jetzt kann er sich bei Ihnen dafür nicht mehr bedanken!«

[427] Speidel kam noch einmal (1891) in der »Neuen Freien Presse« auf Feuerbach, im Zusammenhange mit der Gause-Gesellschaft, zurück, und beschrieb in dem Aufsatze »Anselm Feuerbach als Humorist« jenes Karikaturenblatt, auf welchem Feuerbach sieben Mitglieder der Tafelrunde verewigte, unter dem Titel: »Die Plejaden. Neue Ausgrabungen in Pompeji, 1876. Mosaikboden in der Casa des Lätitius Asinius, gefunden von Prof. Zucurtius. Berlin«40.

Fußnoten

[428] 1 Diese und andere an die Direktion der »Gesellschaft der Musikfreunde« in Wien gerichteten Briefe liegen in deren Archiv und sind dem Verfasser in dankenswerter Weise zur Veröffentlichung überlassen worden.


2 Bd. II, S. 73.


3 Bd. II, S. 327 f.


4 Während der Saison fanden gewöhnlich vier ordentliche, im Abonnement gegebene, und zwei außerordentliche, außer Abonnement gegebene Konzerte statt.


5 »Zufällig war Gehring bei mir«, schreibt Brahms an Levi, »als ich Deinen und den betreffenden Düsseldorfer Brief bekam – Du siehst beiliegend die Folgen, und wie vorsichtig man mit Zeitungsschreibern sein muß!«


6 Hans von Bülow, Briefe V 413.


7 Johann Jakob Brahms starb am 11. Februar 1872.


8 Vgl. Bd. I, S. 47, 406; Bd. II. 143.


9 Ein besonders charakteristischer Zug des Meisters, der hierher gehört, ist uns in einem Briefe des Herrn Schnack an Frau Truxa überliefert; er kann nicht besser geschildert werden als mit den schlichten Worten des Schreibers; »Im Dezember 1884 kam Johannes nach Hamburg, um seine vierte Symphonie zu dirigieren. Damals wohnten wir schon in Pinneberg, und Johannes logierte in Mosers Hotel. Denken Sie sich, was tut Johannes? Er schreibt an uns, da er nicht Zeit hat nach Pinneberg zu kommen (er mußte die Proben leiten), so solle Mutter während der ganzen Zeit, wo er in Hamburg war, bei ihm im Hotel wohnen, Zimmer an Zimmer, welches Mutter auch getan hat. Denken Sie sich an: der große Meister geniert sich nicht, seine Stiefmutter, die einfache Frau, neben sich wohnen zu haben. Liebe Frau Truxa, Sie glauben natürlich, was ich schreibe, weil Sie Johannes ja ebensogut kennen, wie wir. Mancher wird es gar nicht glauben.«


10 Nach Gehrings Bericht zählte der Chor nur 150 Mitglieder.


11 Bd. II, S. 136 ff.


12 »Meine Station in Baden-Baden«, schreibt Bülow am 13. September (von Wiesbaden) an seine Mutter, »hat sich weit über Absicht verlängert. Das schöne Wetter, das angenehme Ensemble-Musizieren mit dem alten trefflichen Freund Coßmann, der mir immer noch der sympathischste Violoncellist bleibt – vor allem aber der charmante Zauberer Johann Strauß, dessen Kompositionen, von ihm selbst mit so einziger Grazie und rhythmischer Feinfühligkeit dirigiert, mir einen der erquickendsten Musikgenüsse gewährt haben, dessen ich mich seit langer Zeit entsinne.« Bülow's Briefe Bd. V, S. 26.


13 »Seine ehelichen Erlebnisse«, sagte Brahms von Bülow zu Wendt, »haben ihn unglücklich gemacht. Aber auch das Verhältnis zu Liszt. Für den hat er die größte Pietät gehabt, aus seinen Kompositionen zu machen gesucht, was sich machen ließ; kam aber allmählich doch dahinter, daß eigentlich gar nichts daran ist. Er hat mir einmal gesagt: ›Ich muß immer so vielgeschäftig und aufgeregt sein, um mich zu zerstreuen. Denn ich habe so Schweres durchlebt, daß mich die Erinnerung daran umbringen könnte‹«.


14 »Mein letztes Wiener Konzert weihte einen neuen Saal (Bösendorfer) ein, der sich über alles Erwarten akustisch so glänzend bewährt hat, wie optisch.« Bülow's Briefe Bd. V, S. 38.


15 Bei Levis Schwester, Frau Mombert, mit der Brahms viel verkehrte. Sie war lungenkrank und lebte in Karlsruhe, bis sie im Juli 1873 ihrem Leiden erlag.


16 Allgeyer folgte Levi bald nach und wohnte bis zu seinem Tode (1900) in München.


17 Souffleur und Notenschreiber der Karlsruher Oper. Es handelt sich um Cherubinis »Medea«.


18 Chrysanders »Denkmäler der Tonkunst«, die Vorläufer der seit 1892 erscheinenden »Denkmäler deutscher Tonkunst«; – die »Jahrbücher für Musikwissenschaft« von 1863 und 1867.


19 Vgl. Bd. II, 106.


20 Zum Führer dient uns dabei das Victor von Miller'sche »Brahms-Bilderbuch«, das auf sechs Doppeltafeln und neun Textseiten eine detailierte Schilderung der hier in Frage kommenden Objekte enthält. Das Haus in der Karlsgasse steht nicht mehr. In dem von der Wiener Brahmsgesellschaft gegründeten Brahms-Museum aber soll der käuflich erworbene Hausrat genau nach Maß und Ordnung seines ehemaligen Zustandes wieder aufgestellt werden.


21 Vgl. Bd. II, S. 61 f. Näheres über den Inhalt der Brahms'schen Sammlungen in dem »Brahms-Bilderbuche« und im Musikbuch aus Österreich v. J. 1904 (»Die Bibliothek Brahms, dargestellt von Dr. E. Mandyczewski«).


22 Auf dem Karlsplatze, in der Nähe des alten Promenadenwegs, den Brahms, wenn er in Wien war, von 1872–1897 täglich passieren mußte, steht seit dem 7. Mai 1908 das von Rudolf Weyr in weißem Marmor ausgeführte Brahms-Denkmal.


23 Nach einer Mitteilung Emil Sutors.


24 Schon Robert Schumann hat auf die Symphonie aufmerksam gemacht, die in dem Klavierstück schlummert. Joachim wollte auf das Titelblatt seiner Orchestrierung die Widmung setzen lassen: »Frau Schumann widmet diese Bearbeitung des Schubert'schen Duos (op. 140 dedié à Mademoiselle Clara Wieck) Josef Joachim.« Die eingeklammerte französische Dedikation stammt aus dem Jahre 1838 und rührte von dem ersten Verleger, Schlesinger, her. Frau Schumann besaß das Schubertsche Autograph.


25 Der Eindruck, welchen die beinahe halbstündige »Improvisation des Herrn Bruckner« nicht bloß auf Brahms, sondern auf andere ehrliche Musiker machte, muß kein sonderlich günstiger gewesen sein. Franz Pyllemann, der Referent der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« meint, was die Kraft und Schönheit der Erfindung anbelangt, so habe man wohl mehr von einem so vielberühmten Meister erwarten dürfen als die genaue Bekanntschaft mit gewissen neudeutschen musikalischen Neuerungen.


26 Brahms fand das Manuskript bei dem in Wien lebenden Ludwig R. v. Köchel, dem Verfasser des chronologisch-thematischen Verzeichnisses sämtlicher Tonwerke W.A. Mozarts, und überwies es Gotthard zum Verlage.


27 Bd. I, S. 477.


28 Karl Heinrich Barth, bedeutender Pianist und Klavierpädagoge, Schüler Bülows, Bronsarts und Tausigs, seit 1871 Professor an der Berliner Hochschule.


29 Auf dem Programm ließ Brahms die Choralmelodie abdrucken mit der Anmerkung: »Sämtlichen Sätzen dieser Kantate liegt auch die Melodie des Lutherschen Liedes durchaus zu Grunde. Die Mitteilung an dieser Stelle dürfte deshalb von manchem Hörer willkommen geheißen werden.«


30 Der musikliebende König Georg V. von Hannover hatte nach der Katastrophe von 1866 seine Hofhaltung nach Hietzing bei Wien verlegt und war ein eifriger Konzertbesucher.


31 A.a.O. S. 162 f.


32 In einer Vorstandssitzung oder Probe des Singvereins hatte Dr. R. die Taktlosigkeit, Brahms bei der Kritik seiner Programme zu verstehen zu geben, er habe schon einen Gesangverein (die »Wiener Singakademie«) auf dem Gewissen.


33 C.F. Pohl: »Die Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaats und ihr Konservatorium«. S. 86 f. u. 102.


34 Bd. II, S. 145 ff. und 175 ff.


35 »Eitelberger hat neulich«, schreibt Brahms im November 1872 an Levi, »eine Vorlesung über den ›Verfall der großen Kunst‹ gehalten, die Allgeyer auch nicht gerade hätte hören dürfen. Er hat natürlich nicht den Mut gehabt (oder auch nicht den Gedanken) Feuerbach zu nennen. Dagegen Cornelius, Rahl und – einen Maler, der nicht dahin gehörte, aber doch gerade im Saal war!« Vermutlich zielt Brahms auf den Historienmaler Eduard von Engerth, den damaligen Direktor der Kaiserlichen Gemäldegalerie und Kurator des Österreichischen Museums in Wien. Ein Beispiel für den Geist der Wiener Liebenswürdigkeit mit deren Licht- und Schattenseiten. Daß Brahms die Situation Feuerbachs von Anfang an ziemlich richtig beurteilte und die Gefahren, die dem Freunde drohten, voraussah, sollte dieser zu seinem Schaden bald genug erfahren.


36 Ein aus Deutschland zugereister Komponist, dessen struppiger Borstenkopf an einen Eber erinnerte, war einmal so unvorsichtig, in pathetischem Tone zu erzählen, daß ihm zwei Damen bei der Feier seines Geburtstages, als er am Klavier saß, von hinten einen Lorbeerkranz aufgesetzt hätten. Speidel sagte dazu ganz gelassen: »Sie hätten Ihnen noch eine Zitrone ins Maul stecken sollen«.


37 Zur Illustration des burschikosen Tones, der bei diesen Konvivien herrschte – Brahms führte den Verfasser dort im April 1877 ein – mögen einige, dem Studentenliede vom »Wirtshaus an der Lahn« nachgebildete Strophen dienen, welche bei vorgerückter Nachtzeit, wenn sich die andern Gäste längst verlaufen hatten, am Stammtische gesungen wurden. Jedes Mitglied der Gesellschaft wurde mit wenigstens einer solchen Strophe festgenagelt und säumte nicht, gleiches mit gleichem zu vergelten.


Speidel:


Bei Gause saß ein schwerer Gast,

Der schimpft' und trank, von Wut erfaßt,

Nach jedem Wort ein Seidel;

Er meint', auf einen groben Klotz

Gehört ein gröb'rer Speidel.


Nottebohm:


Bei Gause trank auch Nottebohm,

Der wollte eines Tags nach Rom

Und kam nur bis Venedig;

Ein alter Cyprer macht ihn dort

Der Weiterreise ledig.


Thausing:


Bei Gause lag ein dünner Schlauch;

Gefüllt mit Bier und Weisheit auch

Doziert' er Kunstgeschichte,

Wenn er total be–geistert war,

Macht' er sogar Gedichte.


Brahms:


Bei Gause sang Johannes Brahms,

Und was er Gutes fand, er nahm's

Ins Reich der lust'gen Geister;

Doch weil's schon einen Meister gab,

So ward er Vizemeister.


38 Brahms hat sich eigens einmal an den Buchhändler Engelmann in Leipzig, den Bruder seines Freundes Th.W. Engelmann, gewendet, um Spitzer einen besseren Verleger zu verschaffen. – Die Redensart: »Ich war leider nie verheiratet und bin es Gott sei Dank noch immer nicht«, die Brahms gern im Munde führte, war ein von Spitzer annektiertes Bonmot. – Als Spitzer, von seiner langen, qualvollen letzten Krankheit ereilt, im Rudolfinum immer wieder operiert werden mußte, ging Brahms mit mir hinaus, um ihn zu besuchen. Ein Bild des Jammers saß er, mit einem Korkstöpsel zwischen den Zähnen, auf dem Divan und streckte uns seine mageren Arme zum Gruß entgegen. Brahms traten die Tränen in die Augen, aber er überwand seine Weichheit und schnarrte den Kranken an: »Na, Spitzer, wieder wohlauf? Wie geht's?« – Spitzer lächelte schmerzlich und brachte mühsam die Worte hervor: »Sie sehen es ja, brillant.« Er deutete auf sein verbundenes Gesicht: »Eine Vorsichtsmaßregel der obersten Behörde: die Satire mit dem Maulkorbe. Ich werde niemand mehr beißen.« Kurz vor seinem Tode erzählte er mir in Meran, daß Brahms noch einmal, fast unmittelbar vor der Abreise wiedergekommen sei und ihm mehrere tausend Gulden habe aufdrängen wollen, mit der Bemerkung, er könne auch später über seine Kasse verfügen. »Ich brauchte das Geld nicht so nötig, wie Brahms glaubte«, fügte er hinzu, »aber es hat mich doch gefreut. Und diesen Menschen habe ich für einen der größten Egoisten gehalten!«


39 Der Aufsatz steht unter dem Titel »Gründer und Amazonen« in der dritten Sammlung der »Wiener Spaziergänge« S. 25 ff.


40 Vgl. Bd. II, S. 182.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 2, 3. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1912, S. 383-429.
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