III.

[120] Im November 1888 nahm der Herzog von Meiningen mit seiner Gemahlin abermals die Rückreise von Berchtesgaden über Wien, und wiederum wurde Brahms eingeladen, das Christfest bei Hofe mit zu feiern. Einer in Budapest getroffenen Vereinbarung zufolge sollte er am 22. Dezember im Quartett Hubay mit dessen Primarius die noch immer nicht veröffentlichte dritte Violinsonate aus dem Manuskript spielen,1 und als sich auch Joachim und Hausmann für Weihnachten in Wien ansagten, um das dort noch unbekannte Doppelkonzert hören zu lassen, mußte Brahms auf die Meininger Bescherung verzichten. Sein erstes Klavierkonzert, von d'Albert gespielt, war ihm dort zugedacht, und gerade dies Stück mit ihm zu machen, wäre ihm, wie er sagte, eine ganz besondere Freude gewesen. Nun mußte er sich mit seinem Doppelkonzert begnügen, das am 3. Januar 1889 mit den Berlinern in Meiningen Ersatz für d'Albert und dasd-moll-Konzert leistete. Es wurde dort mit Jubel begrüßt, während es in Wien nur einen Achtungserfolg errang. Der Philharmonische Sonntag fiel auf den 23. Dezember, und dieser Umstand trug wenig dazu bei, dem ohnehin nicht gerade entgegenkommenden Werk eine wärmere Aufnahme zu sichern. Alles schien präokkupiert von den süßen Sorgen der Liebe, und weder der Dirigent noch die beiden Solisten konnten herzliche Teilnahme in dem dezimierten und zerstreuten Publikum erwecken. Die Kritik [120] verhielt sich kühl, wenn nicht absprechend – die meinige leider mit inbegriffen!

Von Meiningen reiste Brahms nach Frankfurt a.M. Er wollte bei Klara Schumann nachholen, was er im Oktober versäumt, und gutmachen, was er, mehr nach der Meinung seiner alten Freundin als nach der eigenen, verschuldet hatte. Es war ihr eine mit körperlichem Leid erkaufte Wonne gewesen, ihrer heftigen Arm- und Schulterschmerzen ungeachtet, dem Publikum der Heermannschen Quartettsoireen das volle Verständnis für Brahms' neues Trio zu erschließen, unter dessen Zauber sie noch immer stand.2 Aber nur ihrem stummen Freunde, der ihr kein verletzendes Wort zurückgab für ihre gutgemeinten Vorwürfe, nur ihrem Tagebuche vertraut sie ihr Empfinden an, wie sie, als alles ihr zujubelte und für den zündenden Beweis ihrer höchsten Begeisterung dankte, sich nach dem Einen sehnte, von dem und für den sie gespielt hatte: »Ich möchte, er hätte das Stuck gehört; ich weiß, niemand spielt es so wie ich.« Die Zeit ihrer wechselseitigen Blumengrüße, da sie das »Erinnerungsbüchlein« mit den nun solange schon verdorrten lebendigen Interfolien und Blüten angelegt, fiel ihr ins Gedächtnis.3 Gern hätte sie Brahms einen ihrer Lorbeerzweige geschickt. Aber sie bezweifelt, ob er den Gruß dem Herbarium ihrer frommen Liebe, das bis zum Tode in seinem Besitz blieb, noch einverleibt hätte. Enthielt er ihr doch die Schätze seines Geistes vor, auf die sie das erste Anrecht zu haben glaubte, um sie an andere, an Billroth, an Frau v. Herzogenberg, an Hermine Spies zu verstreuen! Zu ihrem sechzigjährigen Künstlerjubiläum, das im Oktober festlich begangen wurde, war Brahms nicht nach Frankfurt gekommen. »Ich muß schon an die vielen Menschen, die vielen Festessen und gar Reden denken, wenn mir, soweit davon, dennoch der Gedanke an Dich behaglich sein soll. Dies alles entbehrte ich gern; höchst ungern aber, ein stiller Zuschauer und Zuhörer sein, und als das Beste: hernach Dich und Deine Gedanken begleiten zu können, statt sie hier allein und stumm herum zu tragen. Du aber, Beste der Frauen und Künstlerinnen, freue Dich alles Schönen [121] und Guten, das Du morgen erlebst, und denke selig an alles Schöne und Gute, das Dir und Deinem Mann soviel Liebe verschafft hat ...«4 Ein solcher Gruß läßt wohl einiges an Deutlichkeit, an Herzlichkeit aber gewiß nichts zu wünschen übrig, und Frau Schumann muß dies auch gefühlt haben. Sonst hätte sie die fünfzehntausend Mark, die Johannes ihr vor dem Feste schickte, zur Deckung unvorhergesehener Ausgaben, welche sie beunruhigten, ebenso abgelehnt wie die zehntausend, die er ihr schon im Sommer offerierte.

»Ich traue nie einem neuen Stück zu, daß es jemandem gefallen könnte.« Mit diesem Ausspruch entschuldigt sich Brahms, als ihm Frau Klara eine seiner Unterlassungssünden zu Gemüte führt, da sie glaubt, er wolle sie bei der Violinsonate in d übergehen. Sie hatte sie nicht selbst vornehmen können – ihr Rheumatismus verbot es ihr – nun bekam sie sie von Brahms und Heermann in ihrem Musikzimmer zu hören. Er spielte sie, wie sie sich das Stück gedacht hatte, »nur das Adagio langsamer«. Da Hörerin und Spieler gleich gut aufgelegt waren, fand Frau Schumann diesmal nichts an Brahms' Klavierspiel zu bemängeln, und auch über ihr krankes Gehör hatte die Ärmste nicht zu klagen, das sie oft außerstande setzte, schnell aufeinanderfolgende Harmonien zu unterscheiden, so daß sie ganz andere Töne hörte, als angeschlagen wurden. Als dann Brahms gar mit ihr den Schülern Stücke zu vier Händen vortrug: ungarische Tänze und die Es-dur-Variationen über Schumanns letzten Gedanken, war alles eitel Freude und Wohlgefallen.

Das gute Einvernehmen hielt eine Weile vor und wurde auch nicht gestört, als Brahms zu Klaras siebzigstem Geburtstage, den die Künstlerin 1889 in Baden-Baden feierte, erst post festum eine Woche später, am 20. September eintreffen konnte. Brachte er ihr doch viel neue Musik von sich mit: die Gedenksprüche, einige Motetten und, ein recht eigentliches Geburtstagsgeschenk für sie, sein altes H-dur-Trio vom Jahre 1854 in der neuen Bearbeitung! Und als er ihr in Baden-Baden den Thuner Freund Widmann zuführte, konnte er sich von Herzen daran freuen, daß[122] »die herrliche Frau einen so schönen Eindruck auf ihn gemacht hatte«, und ausrufen: »Frau Schumann wiederzusehen, ist schon der Mühe wert!« Man lese nur nach, was Widmann in seinen Brahms-Erinnerungen davon schreibt (S. 96ff.)! Dort steht auch der beherzigenswerte Ausspruch verzeichnet, der den Mann und Künstler in seiner himmlischen Liebe zu Klara so treffend charakterisiert: »Wenn Sie etwas schreiben, so fragen Sie sich immer, ob eine Frau wie die Schumann mit Wohlgefallen ihren Blick darauf könnte ruhen lassen. Und wenn Sie das bezweifeln müssen, so streichen Sie es aus.« Dies und anderes dem Ähnliches wollen wir uns vergegenwärtigen, wenn wir, der Zeit vorauseilend, von dem schweren Zerwürfnis berichten, das das gelockerte Freundschaftsverhältnis völlig aufzulösen drohte.

Bei der Revision der kritischen Schumann-Ausgabe hatte sich Brahms in die erste Fassung der d-moll-Symphonie vertieft und verliebt. Er besaß die Partitur in der Originalhandschrift und wurde nicht müde, den schimmernden Silberglanz und die durchsichtige Klarheit ihrer Instrumentation zu bewundern. Ihm war zumute wie einem, der unter dick übermalter blinder Schwarte ein altes Meisterbild hervorleuchten sieht, das, von allen entstellenden Flecken gereinigt, in holder, ursprünglicher Schönheit zum wahren Leben ersteht. Diese vierte, als op. 120 erschienene Symphonie war eigentlich Schumanns zweite. Sie stammt aus der Blüte seines jungen Meister- und Eheglückes her, wurde aber von ihm zurückgelegt, da sie bei der Probe nicht klingen wollte. In Düsseldorf holte Schumann die Symphonie wieder hervor und richtete sie für die Ansprüche seines starken, durch Präzision und Wohllaut nicht gerade ausgezeichneten Orchesters her. Aus dem leichten Seidengewand, das die seine Gestalt der romantischen Grazie umschloß und sich jeder ihrer Bewegungen anschmiegte, wurde eine unbeholfene, schwere Rüstung. Mit dem ihm eigenen leidenschaftlichen, hartnäckigen Eifer betrieb Brahms die Rehabilitation seines gekränkten Lieblings. Er hatte 1886 Kopien anfertigen lassen, anfangs wohl nur zum Privatstudium und seinem besonderen Vergnügen. Mandyezewski schrieb die Partituren »schön und fleißig zusammen«, und Brahms schickte sie an Herzogenberg und Joachim. Schon damals, als er die beiden Fassungen in [123] handgreiflicher Plastik einander gegenüber gestellt sah, wollte er, daß die Symphonie, die Schumann »bescheiden, aber doch wohl ganz unrichtig« Skizze genannt habe, nach der ersten Fassung gedruckt und aufgeführt würde. Die Berliner Freunde schienen von der Richtigkeit der Sache, die Brahms zu der seinigen machte, durchdrungen zu sein, und Joachim wollte die Symphonie mit dem Hochschulorchester probieren. Aber es blieb vorerst beim guten Willen. Ihr Interesse, räsonierte Brahms 1888, sei nicht so weit (bis zur Probe) gekommen. Desto eifriger drängte er zur Herausgabe der Partitur und trieb Wüllner an, »einige Mühe daran zu wenden, damit niemand mit Recht irgend etwas entbehre usw.« Bei dem Gedanken, Wüllner könne die alte Lesart einfach für den Bücherschrank als Kuriosität drucken lassen, erschrecke er. Der Freund solle ihn der Symphonie wegen entweder beruhigen oder die Doppelpartitur »bescheiden« in die Karlsgasse in seinen Kasten zurückgehen lassen. Brahms wird also doch einige Änderungen der Instrumentierung für nötig befunden haben. Da er aber sich selbst in dieser Beziehung weniger zutraute als dem gewiegten Bearbeiter klassischer Musikwerke, der z.B. Webers »Oberon« mit stilgerechten Rezitativen versehen hat, welche klingen, als hätten sie immer dazu gehört, so bestand er auf seinem Willen und berichtete im November 1889 an Frau Schumann, daß Wüllner neulich (vor den »Faustszenen«) die Symphonie in der er sten Instrumentierung aufgeführt habe und daran denke, an Härtels darüber zu schreiben. »Wenn diese nun eine Herausgabe beabsichtigten, wäre Dir das recht? Und wäre Dir in diesem Falle auch recht, daß Wüllner dies besorgte? Er ist ein ganz vortrefflicher Redakteur, wie er oft (auch in der großen Bach-Ausgabe) bewiesen hat.« Wüllner verdiente sich dieses Lob in diesem Falle von neuem, da er eigentlich nichts änderte, sondern nur Stellen, die unentschieden und zweifelhaft waren, zurechtlegte.

Da Frau Schumann diese Anfrage, wie alle früheren in derselben Angelegenheit ihr zugekommenen Vorstellungen, unbeantwortet ließ, so dachte Brahms, der an ihrem Einverständnis überhaupt nicht zweifelte, wie der Lateiner: »qui tacet, consentit« und erteilte Wüllner Vollmacht: es sei ihm alles recht, auch mit Härtels könne er machen, was er wolle, wenn er die Sorge der [124] Herausgabe übernehme. Nur Eines setze er als unerläßliche Bedingung voraus, daß Wüllner ganz mit ihm übereinstimme, was Wichtigkeit und Wert der Lesart betreffe. Mündlich wurde dann noch des näheren und weiteren zwischen ihnen verhandelt, und die Sache gedieh zu beiderseitiger Zufriedenheit. Keineswegs jedoch zu der Klara Schumanns. Als sie in den »Signalen« die Notiz las, daß Wüllner jene »Reliquie«, die er von Brahms erhalten, veröffentlichen werde, sprach sie, wie Litzmann (a.a.O.) schreibt, dem Freunde ihr »peinliches Befremden« darüber aus. Sie muß ihm in der Tat die peinlichsten Dinge gesagt, die unverzeihlichsten Vorwürfe gemacht haben – der Inhalt ihres Briefes wird leider unterdrückt – sonst wäre die ihr von Brahms erteilte Zurechtweisung kaum erfolgt, die dem Schmerz eines tiefverwundeten Gemütes Ausdruck gibt. Es beruhige ihn, schreibt er, daß sie nur vom Geschäftlichen spreche! Und so sage er denn, daß jene Publikation wohl für niemand, also auch nicht für Frau Schumann, ein Geschäft sein konnte. Ob Wüllner für seine sehr großen Mühen ein (jedenfalls schmales) Honorar bekommen, wisse er nicht. Er, Brahms, habe nur recht bedeutende Kosten für Kopiaturen gehabt, werde sich aber vermutlich ein Exemplar kaufen müssen, wenn er eins haben wolle. – Wäre es seine Art gewesen, die Undankbarkeit der ihn grundlos verdächtigenden Freundin mit einer Unzartheit zu erwidern, so hätte er sie nur an das fürstliche Geschenk zu erinnern brauchen, das er ihr vor Jahr und Tag gemacht hatte. Und eine solche Strafe hätte Frau Schumann wohl verdient, wäre sie eben nicht die Frau gewesen, die Brahms Zeit seines Lebens, und mit Recht, vor allen anderen verehrte. Er durfte die kleinlichen Eigenheiten ihrer sonst großen Seele, unter denen er, seit er ihrer halb mütterlichen Fürsorge entwachsen war, bei zunehmenden Jahren immer mehr zu leiden hatte, ihrem Alter und ihren Gewohnheiten zuschreiben, wenn er in ihnen nicht ein väterliches Erbe Friedrich Wiecks erkennen wollte. Als sie aber in ihrem nächsten, leider nicht unterdrückten, Briefe Front und Methode des Angriffs wechselte, sich auf die ahnungslos Hintergangene, moralisch Geschädigte, böswillig Gekränkte hinausspielte, als sie den Freund noch im Freunde zu treffen suchte und beide als eine Art von Gesinnungslumpen hinstellte, verlor Brahms seine mühsam bewahrte [125] Fassung und Geduld. Ihm die Ehre des rechtlich denkenden Menschen abzusprechen, hatte noch niemand gewagt. Und so schrieb er der Freundin am 16. Oktober 1891 den unsäglich traurigen Scheidebrief, in den man hineinschaut wie in die von Rauch und Feuer verheerten schwarzen Wände eines abgebrannten Hauses. Doch die Stätte der Liebe wurde von dem Baumeister so vieles Guten und Schönen, von dem treuen Johannes, binnen Jahr und Tag wieder aufgerichtet. Die Trübung des lieben und edeln Frauenbildes war nur eine vorübergehende, und den letzten abbrechenden Zeilen des Briefes folgten zu Weihnachten 1892 freundliche, wiederanknüpfende Worte.

Am 14. Januar 1889 war Brahms wieder in Wien. Nach der lauen Aufnahme seines Doppelkonzerts, die ihm nicht weiter weh tat, konnte er sich mit desto vollerem Behagen dem Gefühl hingeben, ein Liebling der Wiener zu sein. Gustav Walters Liederabende riefen es ihm, falls er es vergessen hätte, ins Gedächtnis zurück. Allerdings reichte da ein Liebling dem andern zu enthusiastischen Erfolgen die Hand, und mit dem Sänger teilte sich der Komponist in den üppigen Lorbeer der Walterschen Liederabende. Einem Brahms-Abend von 1887 (mit Marie Baumayer) war 1888 ein gemischter Liederabend gefolgt, an welchem der gefeierte Tenor drei neue Lieder des befreundeten Meisters: »Schwalbe, sag' mir an«, »Ständchen« und »Wie Melodien zieht es« aus dem Manuskripte gesungen hatte, und nun folgte am 26. Januar 1889 wieder ein von Brahms inspirierter Abend (mit Ludwig Rottenberg als Begleiter), der die früheren Manuskriptlieder wiederholte, »Auf dem See«, »Salamander«, »Immer leiser wird mein Schlummer«, »Meine Lieder« als Novitäten und zum Schlusse die ebenfalls neuen »Zigeunerlieder«, in der Besetzung: Minna Walter, Karoline Gomperz-Bettelheim, Gustav Walter und Ludwig Weiglein, brachte. Die unmittelbar zündende Wirkung der neuen Sologesänge, namentlich aber der Quartette, setzte alles in Flammen, und die Glut, die sich verbreitete, erwärmte noch das Publikum der drei großen Konzerte, die Josef Joachim im Februar veranstaltete. Zwei davon fanden im Musikverein statt, und Hanns Richter dirigierte die großartige Revue der Violinkonzerte Beethovens, Mendelssohns Joachims und Brahms', nach [126] welcher die beiden lebenden Meister aufs Podium gerufen wurden. An einem dazwischen geschobenen Kammermusikabende bei Bösendorfer musizierten die wiedervereinten Freunde zusammen und spielten außer kleineren Stücken von Tartini, Beethoven und Bach, nebst einigen Ungarischen Tänzen, die neue, Bülow gewidmete Brahmssche Violinsonate. Hellmesberger, der sich schon für die klassische Feier seiner dreihundertsten Quartett-Produktion (19. Dezember 1889) rüstete, ging diesmal leer aus. Der Orgelpunkt in derd-moll-Sonate erklärte seiner immer nervöser zitternden Bogenstange den Krieg. Noch bei derA-dur-Sonate und dem mit Anton Door gespieltenc-moll-Trio, den Brahms-Novitäten des vor- und vorvorjährigen Zyklus, hatte er seinen Mann gestellt.

Schneller als ihre Vorgänger wurde ein Teil der neuen Lieder Gemeingut der musikalischen Welt und gelangte allmählich zu einer, damals kaum geahnten ungeheuren Popularität. Allen voran das leidenschaftlich verblutende: »Immer leiser wird mein Schlummer«, das schalkhaft naive »Schwalbe, sag' mir an«, und das reizende, burschikos-romantische »Der Mond steht über dem Berge«. Mit andern vereint, gehören sie den drei Heften an, die als op. 105, 106 und 107 im Jahre 1889 bei Simrock erschienen. Von einigen war schon gelegentlich die Rede. Alle miteinander vervollständigen die reiche lyrische Ernte des Thuner Trienniums. Daß sie auf dem Boden des Berner Oberlandes gewachsen sind, konnten wir bei der Mehrzahl feststellen; ein oder zwei, drei ältere, im Wiener Prater oder anderswo gepflückt, wurden in den Strauß eingebunden, den Brahms im Juni 1888 dem Verleger zuschickte. Auswahl und Zusammenstellung machten ihm Mühe. Er hatte zwei Hefte, eines für tiefe, eines für hohe Stimme geordnet, als ihm die Vermehrung seines Materials ein drittes Heft abnötigte. Op. 106 mußte aufgelöst und mit Rücksicht auf 107 neu geordnet werden. Wir vermuten, daß die im letzten Thuner Sommer komponierten »Meine Lieder«, »Ständchen« und »Maienkätzchen« die späteren Eindringlinge waren, welche ein paar früher beiseite gelegte zum füllenden Sukkurs heranzogen. Musikalisch Schwaches kommt in keinem der drei Hefte vor; aber Sonderbares findet sich wohl hier und da.

[127] Von dem Liede »An die Stolze« (op. 107 Nr. 1) sagt die mit scharfer Kritik ins Zeug gehende Frau v. Herzogenberg, das habe der alte Flemming wohl ganz anders gemeint; Text und Musik brächten es zu keiner Einheit. In der Tat stößt uns das abstrakte Wesen der Singstimme ab, mit dem vielleicht der Eindruck des Altertümlichen erzielt werden sollte – bei Brahms wäre diese Art von Archaismus ein Ausnahmefall. Die fließende (eigentliche) Melodie des Stückes liegt in dem den Hauptsatz selbständig unterlaufenden Baß, der wie ein Violoncellsolo klingt. Ihm gegenüber hat der die Silben stechende Gesang etwas Trockenes, Steifes, künstlich Aufgesetztes. Ähnliches könnte man von dem »Salamander« (Nr. 2 desselben Heftes) sagen. Bei ihm irrt die muntere Gesangsmelodie von dem natürlichen Pfade ab, als ließe sie sich durch das Intrigenspiel des bösen Mädchens, das »den kühlen Teufel« ins Feuer wirst, zu seltsamen Seitensprüngen verleiten. Und auch hier wieder ein Geigenbaß. »Maienkätzchen« (nach Liliencron) hat etwas von der Knospenfrische der vom Saft schwellenden Weiden, und mehr als das Gedicht nimmt die Musik uns durch ihre Schlichtheit gefangen. Der Dichter erreicht die bescheidene Pointe mit der Antithese: jetzt stecke ich den ersten Gruß des Frühlings an meinen alten Hut, einst steckte ich ihn der Geliebten an ihren Hut. Mancher wünscht wohl die umgekehrte zeitliche Ordnung oder erwartet ein Epitheton ornans als Schmuck für den Hut der Geliebten. Der Kontrast wäre allerdings noch schlagender, aber doch sehr komisch, was er ja beileibe nicht sein soll. Brahms springt dem Dichter mit einer empfindsamen Verlängerung des Satzes bei und verhütete dadurch das Unglück etwaiger Mißverständnisse. Das Motiv des kurz präludierenden munteren Ritornells wird bei der zweiten Strophe herangezogen, die Phrase wiederholt, die Notenwerte des Abgesanges werden verdoppelt. In den beiden Mädchenliedern des Heftes, besonders in »Das Mädchen spricht«, tritt das begleitende Klavier stark hervor. Der Begleiter wirst sich zum Führer auf, und die Sängerin ist in mehr als einem Sinne die Angeführte, wenn sie sich nicht auf die Poesie des Vortrages versteht. Wir sagen »die Sängerin«, als vergäßen wir die bildhafte, zur dramatischen Szene hinstrebende Darstellung der Musik, deren Objektivität sich an kein Geschlecht bindet. Auch [128] der Sänger sei willkommen, der, wie Ludwig Wüllner, die Gabe hat, durch den Geist zu den Sinnen zu sprechen! Die drei Seiten des Schwalbenliedes wiegen die Partitur mancher Oper auf. Ohne die Grenzen des Liedes zu überschreiten und die Melodie zu verabschieden, bewegt sich der Komponist mit der denkbar größten Freiheit innerhalb seines Gebietes: rein durch die Macht der Phantasie hat er es ins Grenzenlose erweitert, hat die nicht mehr widerstrebenden Nachbarkünste der Malerei und Poesie in den lustigen Bereich herübergelockt. Es erscheint ein Stück lebendiger Natur, von der feinsten Musik, wie von einem gemeißelten Fensterrahmen zierlich eingefaßt. Drei Takte reichen hin, uns das sein Nest umflatternde und umzwitschernde Schwalbenpärchen vorzuzaubern; der vierte Takt des Vorspiels, durch eine Viertelpause von den andern getrennt und durch seine Melodienoten thematisch mit ihnen verbunden, schließt ebenfalls mit einer Pause, die nach dem Dominantseptakkord ihr Kolon hinsetzt: Aufgepaßt, jetzt kommt sie, die Heldin des kleinen Liedes, das Mädchen! Dieses Mädchen aber, wie die Überschrift befiehlt und verheißt, singt nicht, sondern spricht. Das Singen soll es den Schwalben überlassen. Da nun besagtes Mädchen kein unartiges Kind des prosaischen Naturalismus, sondern ein liebliches Töchterchen der poetischen Romantik ist, so singt es doch; nur klingt es so, als ob es spräche – die sich weiter fortpflanzenden Viertelpausen sorgen dafür. Zu den Melodien der singenden Schwalben und des sprechenden Mädchens gesellt sich eine dritte. Sie setzt forte mit der Oberstimme der Begleitung ein. Der jähe Wechsel der Harmonie und der entschiedene Einsatz sind Merkmale ihrer besonderen Wichtigkeit. Ihr hochgespannter Bogen ahmt den schießenden Flug des ans Haus gewöhnten Wandervogels nach:


3. Kapitel

und sie singt zugleich das Lob der Freizügigkeit, im Wandel von Sehnsucht in die Ferne und Freude an der Heimat. Zum offenen Fenster leuchtet, tausendfarbig die weite bunte Welt herein mit ihren zwischen Bergen und Meeren gelagerten Ansiedlungen [129] fremder Städte und Menschen, ein Abenteuer in der Glorie der aufgehenden Sonne. Das Schwalbenmännchen ist dem Nest entflogen, und das naive Mägdlein, in dem die Rätsel des Lebens rege geworden, faßt sich Mut zur Fortsetzung der an das zurückgebliebene Weibchen vorwitzig gerichteten Frage: »Schwalbe, sag' mir an, ist's dein alter Mann, mit dem du's Nest gebaut? ...« »Oder hast du« (Pause) »jüngst erst« (Pause) »dich ihm vertraut? ...« Schüchternheit, Scham, Neugier, Verwirrung, ja, Schuldbewußtsein der Unschuldigen kommen in der zweiten stockenden Hälfte der Frage so deutlich zum Ausdruck, als habe der Dichter (Otto Friedrich Gruppe) den Komponisten gebeten, ihn bornierten Lesern zu erklären. Das oben in Noten wiedergegebene Zwischenspiel, das die Frage halbiert, hat die Antwort bereits gebracht. Natürlich ist das Männchen ein anderer junger Mann; nach dem alten kräht kein Hahn, singt keine Schwalbe mehr. Brahms hat hier ein Seitenstück zu seiner »Therese«5 geschaffen; unsere koketten Sängerinnen singen lustig über die Geheimnisse beider Lieder hinweg. Wie hinter ganz idyllischen und friedlichen Schwindschen Bildern sich Abgründe öffnen, für den, der heimlich schaut, so liegen auch hier, »für den, der heimlich lauscht«, Untiefen der klingenden Seele verborgen.

Nach der andern Seite hin berührt sich das Schwalbenlied von op. 107 mit dem »Ständchen«, das an erster Stelle von op. 106 prangt. War jenes ein sonniges Capriccio à la Schwind, so ist dieses ein mondscheinduftiges Nachtstück à la Spitzweg. Ganz so visionär wie ein solches, täuscht es doch die lieblichste Realität vor. Die Klänge zu dem Mondscheinständchen des Kuglerschen Skizzenbuches holte Brahms aus der Erinnerung an seine Zigeunerreise mit Reményi und an die Göttinger akademischen Zeiten hervor. Das »anmutig bewegte« Ritornell der Einleitung, welches später, wie in einem kurzen Instrumental-Intermezzo, die von den drei Studenten der Schönsten dargebrachten Serenade vorführt, enthält die uns schon bekannte Zauberformel:


3. Kapitel

[130] jenen Schlüssel zur Vergangenheit, der schon in der »Akademischen Festouvertüre« seine Schuldigkeit getan hat.6 Mit aufmerksamem gutem Willen kann man auch, wie aus dem Allegro des G-dur-Sextetts, aus der Hauptmelodie des Liedes:


3. Kapitel

den Namen Agathe (Siebold) – von J.O. Grimm und Brahms »Gathe« genannt – herauslesen.7 Die »Schönste« trat dem Sänger des letzten Ständchens im Bilde seiner unvergessenen Jugendliebe entgegen, und die drei Studenten, die sich zu dem ersten, 1857 oder 1858, vereinigten, wären dann Joachim, Grimm und – »der blonde Geliebte« gewesen. Von dem alten Übermut der lustigen Kommilitonen geben die vielen frei angeschlagenen Tonarten Zeugnis: G, E, D, A, F, Es lösen einander ab, und mit einer kecken enharmonischen Verwechselung (Dis für Es) springt die Serenade über H nach der Haupttonart G zurück.

»Auf dem See« gehört wohl zu den oben erwähnten Einschiebseln und Füllnummern, und wie Elisabet von Herzogenberg unrecht hatte, das Schwalbenlied als »niedliches Klavierstückl« abzutun, so hatte sie recht, als sie dieses dritte der von Brahms komponierten vier Reinhold-Köstlinschen Lieder indirekt ein Duo für Klavier und Violine nannte: »Ich spiele es mit Amanda Röntgen, es klingt allerliebst für Geige.« Mit den gleichzeitig entstandenen Liedern »O Nachtigall« und »Auf dem Schiffe« kann es sich nicht messen; eher schlägt es zu dem »Wanderer« hinüber, der, wie wir wissen, quasi als Zwilling der »Nachtigall« zur Welt kam.8 Dieser Gesang eines dem Grabe »in langsam gehender Bewegung« zuwankenden Unglücklichen kann, seiner Natur nach, allerdings nicht auf viele Freunde rechnen, und mancher mag, wie der selige Mosenthal, spotten: »Wenn Brahms einmal recht lustig ist, singt er: Das Grab ist meine Freude.«9 Indessen [131] braucht sich nur ein großer Gesangstechniker, der ein noch größerer Poet ist, des zurückgesetzten Liedes anzunehmen, um des tiefsten Eindrucks sicher zu sein.

Sehr merkwürdig ist das nach dem Vorhalt und Halt auf Des-C einsetzende, die Schlußstrophe vorbereitende Zwischenspiel:


3. Kapitel

Als klänge ein Gruß aus der Erde herauf, die gefragt wird: »Hast du keinen Raum für mich?«, mit der Antwort: »Ja, hier im Grabe!« kündigt sich geisterhaft der zweite der »Ernsten Gesänge« an. Der noch ungeborene Vers: »Da lobte ich die Toten« klingt dumpf und leise an. Klaus Groths »Es hing der Reif im Lindenbaum« ist wohl mehr der pittoresken Winterlandschaft als der heinesierenden Schlußpointe wegen in Musik gesetzt. Brahms bewährt sich als Stimmungsmaler, kann aber eine, allerdings sachlich bedingte Eintönigkeit nicht vermeiden, die durch den ermüdenden Gang der Melodie in lauter Schleppjamben


3. Kapitel

noch gesteigert wird. Die Pointe aber hat die Spitze verloren. Anstatt kalt zu stechen, schmilzt sie erwärmt dahin wie ein Eiszapfen an der Sonne.

»Meine Lieder« ist vielleicht das schönste, gewiß das tiefste Lied der Sammlung. Es repräsentiert einen eigenen Typus, der bei Brahms nur ein paarmal vorkommt. Als halb ausgesprochenes Zitat begegnete uns das Lied schon im melodiebrodelnden Finale der zweiten Violinsonate. Gleich dem im ersten Satze derselben Sonate greifbarer hervortretenden »Wie Melodien zieht es« beschreibt der Text den Werdeprozeß des lyrischen Kunstwerkes; das Lied besingt sich selbst. Bei Adolf Frey, dem Dichter von »Meine Lieder«, ungleich poetischer als bei Klaus Groth, dem [132] Verfasser des anderen Literaturgedichts. Was keinem von beiden völlig glückte, den Gedankeninhalt in Empfindung aufzulösen, ist Brahms hier wie dort gelungen; der Sänger von Gottfried Kellers »Abendregen« und Rückerts »Mit vierzig Jahren« hat sich abermals bewährt. Er benahm der Grothschen Rechtfertigung des Reims, die jeder Poetik zur Ehre gereichen würde, den Schulgeschmack einfach dadurch, daß er ein Strophenlied aus ihr machte. In Frühlingsduft und Sonnenglanz eingehüllt, schwebt die Melo die dahin, das doktrinäre Wort wie Staub auf den Flügeln tragend, ein glänzender Sommerfalter. Gern hätte die Instrumentalmusik den schönen Schmetterling eingefangen: auch hier wieder spielt der Klavierbaß Violoncell, die Terzen des zweitaktigen Zwischenspiels blasen Klarinette, und die zur Sept aufsteigende Melodie der Singstimmen liegt nicht gerade bequem in der menschlichen Kehle. »Meine Lieder« dagegen sind für Gesang am Klavier geboren, und das Klavier hält, wie manchmal in Schumanns »Dichterliebe«, die Singstimme, die es anfangs bevormundet und niederdrückt, nur deshalb in Fesseln, um sie dann desto freier sich entfalten zu lassen. Bei der Resumtion des einmal wiederholten Schlußverses schweigen die über die Melodie hinausgreifenden Mittelstimmen: der Musiker darf dem Dichter das entscheidende Wort ruhig überlassen, nachdem er das tiefe Weh einer zu tönenden Bekenntnissen angeregten Seele enthüllt hat, welche an alles erinnert wird, was einstens war, nicht mehr ist und nimmer wieder sein wird.

Dieselbe Stimmung, nur objektiver erfaßt und zum Frieden weihevoller Versöhnung hinausgeführt, belebt die großartige Szene des düsteren Liedes »Auf dem Kirchhofe«. Wir wandeln im Schatten der in »Meine Lieder« aufgepflanzten Zypressen dahin, die uns eher nach Italien als nach dem uralten Friedhofe von Scherzligen führen möchten. Dort ist die Musik zu dem durch Abbreviaturen verhäßlichten Gedichte Detlev von Liliencrons entstanden. Nicht sowohl diese erzwungene, sich Goethisch gebärdende körperliche Gedrängtheit, als vielmehr eine nach Erlösung schmachtende vergewaltigte poetische Seele forderte den Komponisten zu seinem Rettungswerke heraus. Der gepeinigte Körper des Gedichts wurde der Folter entzogen, die Strophen vom spanischen Bocke [133] befreit und mit dem Balsam der Töne gelabt, bis das entflohene Leben zurückkehrte, und der Geist der Poesie wiedererwachte, so daß die Schönheit des Gedankens sich jedermann offenbaren konnte. Das in seiner knappen Tragik, einfachen Größe und erhabenen Trauer unvergleichliche Seelengemälde erscheint jetzt erst so, wie es der Dichter im Sinne gehabt haben mag. Durch melodische Dehnung verwandelte Brahms das Antitheton der äußerlichen Wortspielerei von »Gewesen« und »Genesen« in den Gegensatz konkreter Gefühle. Das »Wort Gewesen fror« nicht mehr, sondern der Mensch bebte, der es klagend aussprach:


3. Kapitel

Für das »Genesen« aber genügte die besänftigende Schlußkadenz:


3. Kapitel

nachdem die Musik mit dem Passionschoral »O Haupt voll Blut und Wunden« den herben Trost in einem Tau von Tränen aufgelöst hatte:


3. Kapitel

Mit der Reminiszenz tritt Dur ein, nach dem umwölkten c-moll eine sonnige Überraschung. – Brahms fragte mich, als er mir das Lied im Manuskript zeigte, ob ich den »Witz« am Schlusse bemerkt hätte, und verriet mir auch den Ort seiner Entstehung. Es wird nicht leicht eine passendere Illustration für diesen Psalm der Vergänglichkeit zu finden sein, als der das kleine gotische Kirchlein umgebende verwilderte Gottesacker am linken Ufer der Aare mit seinen eingesunkenen Grabhügeln, verwitterten Denksteinen und rostzerfressenen Kreuzen. Aus der Kirche tönt noch manchmal die Stimme eines französischen Predigers von der »Société Evangélique«, der an heiligen Zeiten von Genf zu seinen Glaubensgenossen herüberkommt: »Va t'en en paix«.

Dahin gehören die durch Gitter und Kreuze fahren den Windstöße – die stereotypen Arpeggien des Klaviers – die dem einsamen [134] Besucher den Regen ins Gesicht peitschen und himmlische und irdische Tränen miteinander vermischen, dahin der wehmütige Groll nutzloser Mühe, auf eine teure Inschrift vergebens fahnden zu müssen, die Angst, die verwitterten Zeichen – im Tonsymbol:


3. Kapitel

nicht lesen zu können, dahin endlich der vorwurfsvolle trotzige Schmerz, welcher, angesichts der verwahrlosten Ruhestätten, sich in der herzzerreißenden Klage Luft macht:


3. Kapitel

3. Kapitel

[135] An dieser Stelle durchbricht der persönliche Anteil, den der Schöpfer des gesungenen Liedes an seinem Gegenstand nimmt, die objektive Darstellung und schwingt sich auf einen vom Dichter kaum geahnten, jedenfalls nicht erreichten dramatischen Gipfel.

Was »Auf dem Kirchhofe« vor dem ihm ebenbürtigen »Immer leiser wird mein Schlummer« voraus hat – in der Ordnung von op. 105 folgt es ihm nach, wie das Begräbnis dem Tode – die gesammelte Kraft und Ruhe, holt das andere Lied mit der Expansion seiner Empfindung ein. Wir hören die letzten melodischen Seufzer einer unmerklich vom Leben sich befreienden Kranken, die nur noch von hoffnungslosem Liebesverlangen zurückgehalten wird; sie glaubt, nicht scheiden zu können, ohne noch einmal den Geliebten empfangen zu haben: »Willst du mich noch einmal sehen, komm, o komme bald!« – ein schmerzliches Gegenstück zu dem anderen »Komm bald«, von dem soviel auf den Seiten dieses Buches die Rede ist. Verhängnisvolles Zusammentreffen, daß Hermine Spies die erste war, die das Lied sang! Als sie, nach einjähriger Ehe, am 26. Februar 1893 starb, hatte schon Alice Barbi, der neue und schönste Stern Brahmsscher Gesangskunst, ihr Erbe angetreten, und ergreifender, als es Menschenohren früher und später hören sollten, klang das Todeslied von den »schöngereimten Lippen« der Italienerin.

Hanslick aber darf sich den Ruhmestitel zuschreiben, Brahms zur Komposition des berühmten Linggschen Gedichtes angetrieben zu haben.10 Brahms ließ sich lange bitten. Nicht, daß er gezögert hätte, dem guten Freunde einen persönlichen Gefallen zu tun, sondern das Metrum und andere Eigenheiten des Gedichts gebärdeten sich so widerspenstig, daß der Komponist an der Möglichkeit, die Verse in Musik zu setzen, verzweifelte. Zumal das Anakoluth in der zweiten Strophe wollte ihm unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstellen. Endlich aber half er sich damit, daß er die beiden Verse »Eh' die Maienlüfte wehen, eh' die Drossel singt im Wald« ebenso als Zwischenglied behandelte wie die korrespondierenden Zeilen der ersten, obwohl sie noch viel enger als jene zum Ausgang der Strophe gehören, und verwandelte die weiblichen [136] Reime »wehen« und »sehen« durch Elision des Schluß-E's in männliche. Die, eigentlich unstatthaften, Pausen nach »singt im Wald« und »Willst du mich« (jedesmal eine Halbe- und eine Viertelpause), hervorgerufen von der Analogie des als Strophenlied behandelten Gedichts, lassen sich, psycho-physiologisch, durch das Versagen der Stimme rechtfertigen, die dann vor dem völligen Verlöschen mit verzweifeltem Aufbieten der letzten Kraft noch einmal zu ihrem früheren Glanze sich erhebt, um endlich ersterbend zurückzusinken und für immer zu verstummen. Man soll das Gefühl haben, daß das Lied der (idealen) Sängerin, der redend eingeführten Heldin des Gedichtes, das Leben kostet. Anstatt des ersehnten Geliebten tritt der Tod bei der Kranken ein und erlöst sie von ihren körperlichen und seelischen Leiden. Die von Frau von Herzogenberg verpönte Folge von Quartsextakkorden11 diente als passendes Ausdrucksmittel für die fieberhafte Exaltation der Kranken; sie hätte nur dem Stümper angekreidet werden dürfen, nicht einem Meister, der damit eine wohl beabsichtigte schauerliche Wirkung hervorbrachte. Der Periodenbau des Liedes gehört zu den schwierigsten und kunstvollsten der Brahmsschen Lyrik: Gruppen von zwei, drei und fünf Takten wechseln ab, ohne daß fühlbar gegen die Symmetrie des Ganzen verstoßen würde. Auch hier glaubt man im Baß manchmal ein Violoncell zu vernehmen – die Lieder jener Jahre stehen im Zeichen Hausmanns. Von dem tiefen klarinettartigen Register des Mezzosoprans macht Brahms Gebrauch bei den, der Struktur wegen, eingeschobenen Textwiederholungen, die – ein genialer Einfall! – sich als ungewöhnlich wirksame Echoeffekte darstellen: »über mir« und »bleich und kalt«. Und hier kommt Hermine Spies zum Wort.

Das ausdrücklich »für eine tiefe Stimme« komponierte op. 105 – ein Seitenstück zu dem Stockhausen auf die Lippen gelegten Liederzyklus op. 86 – hätte von Brahms »seiner Sängerin« gewidmet werden können, wenn er sich und ihr den Spaß nicht mit der am Ende des Hefts aufmarschierenden Ballade »Verrat« verdorben hätte. Hier behauptet der Baßschlüssel sein unveräußerliches Recht, obgleich der Dialog des Gedichtes sich nach einer [137] Frauenstimme sehnt, und wäre es auch nur um Klarheit in den künstlich verdunkelten Vorgang der geschilderten Begebenheit zu bringen. Die Ballade erinnert von weitem an eine jener »Moritaten, gedruckt in diesem Jahr«, wie solche früher, als volkstümliches Gesamtkunstwerk im Kleinen, von wandernden Künstlerpaaren auf Jahrmärkten zur Schau gestellt und vertrieben wurden: das Weib zeigte mit einem langen spanischen Rohr auf der weithin sichtbaren, grell bemalten Leinwand die bluttriefenden Schauerszenen der Handlung, und kreischte dazu den erläuternden Text, während der Mann den »Gesang« auf dem Leierkasten begleitete. Daß der Zusammenhang mit dieser Kirmesliteratur, der es übrigens niemals an echt poetischen Beiträgen gefehlt hat, vom Dichter eher gesucht als vermieden worden war, gewann ihm das Herz des für alles Volkstümliche eingenommenen Komponisten. Brahms dachte an die Lust seiner Knabenjahre, an die Messen auf dem »Hamburger Dom«, als er sich herbeiließ, mit Straßengesang, Bildertafel und Drehorgel zu wetteifern. Um den beabsichtigten Effekt noch zu erhöhen, hing er den Strophen nicht vorgesehene Refrains an, indem er, nach dem Vorbilde von »Es reit't ein Herr und auch sein Knecht«, das Reimwort regelmäßig mit einem bekräftigenden »Ja« verband: »mein Schatz ist in der Ferne, ja Ferne« ... »ein Mann harrt auf der Heide, ja Heide« ... »dein Liebschaft will ich segnen, ja segnen« ... »zu einer Falschen Leide, ja Leide«. In Gemeinschaft mit der vierschrötigen, hanebüchenen, fast durchwegs von nachschlagenden Noten begleiteten Melodie könnte die Manier des Komponisten den Glauben erwecken, er habe eine Parodie im Sinne gehabt. Nichts lag ihm ferner.12 Man braucht sich nur liebevoll in das herbe Lied zu versenken, um zu sehen, mit welcher Kunst Brahms der Sprödigkeit des Textes schmeichelte, mit welcher Sorgfalt er darauf bedacht war, zu klären [138] und zu verdeutlichen. Der Vortrag erfordert Bassisten mit starkem und doch geschmeidigem Organ, wie Johannes Messchaert und Felix Kraus, die, ohne Übertreibung die Stimmen des Erzählers und seiner treulosen Geliebten charakteristisch zu färben imstande sind, ohne sich von der Tenorlage des es-moll-Satzes zur Einführung einer dritten (nicht vorgesehenen) Stimme verleiten zu lassen. Wo der Erzähler als Held der Ballade selbst in Aktion tritt, also in eben jener es- (eigentlich dis-) moll-Variation der h-moll-Strophe, treibt nur die natürliche Erregung seine Stimme in die Höhe, die nach dem Falle des Nebenbuhlers wieder in den ruhigen Ton gebändigter Leidenschaft zurückfällt.

Den Übergang vom tragischen Kunstliede (»Immer leiser«) zur idealisierten Jahrmarktsballade vermittelt die kurze »Klage«, ein lieblicher, zu einer ländlerischen Tanzweise frei erfundener Kontrapunkt, der in zwölf Takten eine ganze Geschichte erzählt. Mit einem anderen traurigen Liedchen im Walzertakte, dem »Mädchenlied«, das in op. 107 an fünfter und letzter Stelle steht, verabschiedete sich Brahms von den Verehrern seiner lyrischen Muse. Das nach Paul Heyse komponierte »Auf die Nacht in der Spinnstub'n« berührt uns mit eigener Wehmut; denn es bedeutet einen Abschied für immer. Außer den »Vier ernsten Gesängen«, die eine eigene Gattung für sich bilden, hat Brahms für eine Solostimme nichts mehr veröffentlicht. Zwischen Volkston und Kammerstil die Mitte einhaltend, singt das arme, ungeliebte Mädchen am Spinnrocken seine klagende Weise, die merklich von den fröhlichen Gesängen der andern Spinnerinnen absticht, ein Gretchen am Spinnrad ohne Faust, um das kein Mensch sich bekümmert. Sie könnte die immer in einen langgezogenen Seufzer ausgehende süße Melodie ewig wiederholen, man würde ihr gern zuhören und sich jedesmal auf das kurze Zwischenspiel des Klaviers freuen. Der Seufzer verlängert die achttaktige Melodie um einen Takt, das stockende Rädchen, welches mit dem in die Kadenz einfallenden Ritornell in Bewegung gesetzt wird, muß viermal angetrieben werden, ehe es der lässigen Spinnerin gehorcht:


3. Kapitel

[139] »Wofür soll ich spinnen? Ich weiß es nicht.«

Die Mehrzahl der neuen Brahmsschen Kompositionen wurde, sofern sie nicht einen zu großen und komplizierten Apparat erforderten, privatim in dem von ihm nach wie vor beschützten und geförderten Wiener Tonkünstlerverein aufgeführt, und als der Verein unter der Ägide Doors mit Musikabenden in die Öffentlichkeit trat, konnte er sich im April 1889 auf die kostbare Novität der fünf Gesänge für gemischten Chor (a capella) etwas zugute tun, die gleichzeitig mit den andern Vokalwerken als op. 104 erschienen. Der von Mandyczewski geleitete Musikverein des Hauses Artur und Bertha Faber hatte die Chöre schon ein Jahr vorher, bald nachdem bei Billroth die »Zigeunerlieder« gesungen worden waren, in einer musikalischen Soiree hören lassen. Nun bestanden sie, und der Fabersche Verein mit ihnen, glänzend vor dem großen Publikum, das in Wien wie anderwärts nur zu selten Gelegenheit hat, sich an solchen duftigen Blüten edelsten Kunstgesanges zu berauschen. Die Kunst des polyphonen Vokalsatzes ist ebenso rar geworden wie die Zuhörer, welche sie zu schätzen wissen. Viele, die bei Brahms, dem einzigen wahrhaft polyphonen Vokalkomponisten der Zeit, über Unklarheit und Schwerverständlichkeit klagten und noch klagen, dürften diese Mängel weniger in den Werken des Meisters als in ihrem eigenen unzureichenden, der Musik entfremdeten Auffassungsvermögen zu suchen haben.

Weder mit dem Bänkelsange der älteren Liedertafelei noch mit dem Massengeheul veristisch verseuchter Modechöre wünschen diese genial erfundenen, tiefsinnigen und beziehungsreichen, wohlklingenden, durchsichtig seinen und doch unzerreißbar festen Tongewebe verwechselt zu werden. Die beiden »Nachtwachen« – die »feierlich bewegte« zweite steht in ihrer Himmelsschönheit völlig isoliert da – und »Letztes Glück« sind dreistimmige Doppelchöre, welche den Sopran mit zwei Altstimmen und den Tenor mit [140] zwei Baßstimmen gegeneinander führen. Wie Ruf und Gegenruf, Frage und Antwort, Hall und Widerhall korrespondieren beide Gruppen und schließen sich an geeigneter Stelle mit mächtiger Wirkung zu sechsstimmigen Chören zusammen. Innerhalb des engen Satzgefüges breitet der Komponist durch die Mannigfaltigkeit und Freiheit seiner gebundenen Stimmführung – hier kein Widerspruch in der Sache! – einen überraschenden Reichtum von Tonbildern aus. Die Tiefe erscheint bei ihm als vertikale Länge, der Augenblick begreift die Ewigkeit in sich. Die regelmäßigen Zäsuren der Rückertschen Distichen (κατὰ τρίτον τροχαῖον) leisteten den kanonischen Imitationen der Musik Vorschub; aber auch der Dichter, dessen metrisches Gesetz unangetastet bleibt, zieht von der ungemein beweglichen formbildnerischen Phantasie des Komponisten Gewinn. In einer liebevoll auf die Vorzüge und Feinheiten des op. 104 eingehenden Kritik rechtfertigt Heinrich Schenker13 den ihm mehr homo-als polyphon scheinenden Charakter der ersten »Nachtwache« und bedenkt dabei die Spaltung des Chors mit leisem hypothetischem Tadel. Er meint, da das Gedicht sich auf ein einziges Individuum beziehe (was die chorische Form eigentlich ausschließe), dann aber Sopran und Tenor als Führer der Halbchöre als zwei Individuen hervorträten, so habe Brahms vielleicht über die Idee des Dichters hinaus an zwei Liebende gedacht, »die sich ihre gegenseitige Liebe zwar noch nicht gestanden, aber, fern von einander, ihre, vom Odem der Liebe geweckten Töne der Brust' einander widmen, als kreuzten sich die Töne und Seufzer in der Luft, die sie trennt.« Frau von Herzogenberg schreibt an Brahms von derselben ersten »Nachtwache«, sie würde einen mehr für sich gewinnen, wenn sie nicht einen so gefährlichen Nebenbuhler an der zweiten hätte, an der man sich den Geschmack für Minderwertiges sofort verderbe.14 Tadler und Tadlerin hätten recht, wenn die angebliche »Minderwertigkeit« nicht ebenso in der Natur des Gegenstandes begründet läge wie die Spaltung des einen Individuums in zwei, bei vorübergehender Homophonie.

[141] Um uns das Verständnis für die Brahmssche Auffassung der zweimal zwei Distichen-Paare zu erleichtern, möchten wir an die oben näher beschriebene Situation des Hauses erinnern, das er in Thun bewohnte, als er die Chöre komponierte. Es lag, wie wir wissen, am östlichen, rechten Ufer der Aare, dem Friedhofe von Scherzligen gegenüber und von ihm durch den breiten doppelarmigen Strom getrennt, der das »Inseli« mit dem Kleist-Idyll umspült. Denken wir uns den Einsamen, der, an den Pfosten der Altane gelehnt, die von einem Hauche der Liebe geweckten Töne seiner Brust in die schweigende Nacht über das Wasser hinübersendet, ob sich ihnen ein lauschendes Ohr, ein liebendes Herz öffnen werde, und, wenn keins sich öffnet, wünscht, es »trag' ein Nachtwind euch seufzend in meines zurück!« Ach, da drüben lebt niemand mehr, der den fremden Sänger verstände, und seine Lieben in der Heimat sind gleich jenen zu den Schatten hinabgestiegen! Schon die erste leise Botschaft wird ihm vom Nachtwind als »unbestellbar« wiedergebracht. Seine und des Windes Stimme sind die Führer des gespaltenen Chors, und ihnen gesellen sich hüben wie drüben lustige Gefährten hinzu, die erst selbständig hervortreten, dann wieder mehr dem Echo gleichen, das sich an beiden Ufern des Flusses vervielfacht. Aber der Chor hat die Hörner der Himmelsboten und -wächter erweckt. Sie lösen die irdischen Stimmen ab und rufen vom Diesseits und Jenseits über den Strom der Zeit einander zu:

»Ruh'n sie? rufet das Horn des Wächters drüben aus Westen,

Und aus Osten das Horn rufet entgegen: ›Sie ruh'n!‹«

Nicht Wind und Welle, nicht Hall und Widerhall vermochten das zagende Herz des Wachen zu beruhigen, erst in den »flüsternden Stimmen der Engel« glaubt er die begehrte Antwort seiner Lieben zu vernehmen, und wie sie ruhen, hüllt auch er in Frieden sich ein ... »Warte nur, balde ruhest du auch!«

Brahms hat, wie Schenker sagt, den Dichter »in eine verklärende Höhe gehoben«, und sich dabei den Anschein gegeben, als habe er nur dessen Willen vollstreckt. Derselbe Kenner bewundert es, wie Brahms eine neue Welt der Stimmung über der Welt der Wirklichkeit sich bewegen, und wie er dabei die Tonmalerei in den Hintergrund zurücktreten läßt. »Und das Wunderwerk«, [142] ruft der Kritiker aus, »hat nur einundzwanzig Takte!« Auch die andern drei Chöre, die an Kunst der Form und Reichtum der Erfindung jenen ersten beiden kaum nachstehen, beschäftigen sich mit ernsten und schmerzlichen Betrachtungen. Die schwermütige Trauer eines mattsonnigen Herbsttages, an welchem, während die toten Blätter leise von den Bäumen rieseln, mit den letzten Blumen dem Menschenherzen ein letztes hoffnungsloses Glück emporblühen will, hat im dritten Chor (»Letztes Glück«) ergreifenden Ausdruck gefunden. Wie bescheiden und dabei wie lebendig wirkt die Tonmalerei des den Blätterfall illustrierenden f-moll-Satzes! Die beiden Halbchöre stehen zueinander im Verhältnis des doppelten Kontrapunktes und tauschen bei der Wiederholung der ersten Verse die Plätze, als ziehe ein sinkendes Blatt das andere nach, als stimmte alles mit dem Mollakkorde der Natur überein. Zum Abschluß der Strophe, der das frühlingshafte Gefühl des liebevollen Herzens mit der umgebenden Natur in Gegensatz bringt, vereinigen sich die Stimmen. Wie gern wären sie von dem Wunder eines neuen Lenzes im Herbste überzeugt! Aber sie betonen, daß es nur Frühlingsträume sind, die wie sonnenglänzende Spinnweben sich an einzelne Blumen hängen. Nicht lange wird der Sonnenblick bei den späten Hagerosen verweilen, die er ins Leben gerufen, ein Nordsturm entblättert, ein Nachtfrost tötet sie. Wie mit jenen trügerischen Silberfäden knüpft die Musik den-As-dur-Mittelsatz an Hauptsatz und Wiederholung an – von dem letzten Glück fallen die Blätter ab wie von den Bäumen und Blumen. –

Nr. 4 (»Verlorene Jugend«), ein fünf-, und Nr. 5 (»Im Herbst«), ein vierstimmiger Chor, verraten in Form und Ausdruck, daß sie nicht gleichzeitig mit den »Nachtwachen« entstanden sind. Nr. 5 ist mindestens zwei Jahre früher als jene konzipiert worden und spielt in der Korrespondenz mit Herzogenbergs vom Januar 1887 an eine Rolle.15 Schon im November 1886 schickte Brahms den Chor an Spengel nach Hamburg, »mehr für Klaus Groth als für Sie. Wenn Sie ihn singen lassen mögen, so macht's ihm vielleicht eine kleine Freude.« »Verlorene Jugend« dürfte ungefähr [143] derselben Zeit wie »Letztes Glück« angehören.16 Brahms überraschte mich mit Zusendung der Noten am 15. August 1888 von Thun aus, mit der Bemerkung, für heute habe er an der Beilage genug geschrieben. Sie zeige mir, daß die Morgenmusik für meine Frau bereits fertig gewesen sei (um sie wieder in Thun zu empfangen). Mein Autorname stand über dem Manuskript, zum Zeichen, daß das Gedicht, dessen Worte fehlten, von mir war. »Den alten oder neuen Text können Sie ja unterlegen«, meinte er scherzend, mit einer Anspielung auf meine Neubearbeitungen von Opern und Volksliedern.17

»Verlorene Jugend« ist ein Muster der Form. Das zweiteilige Chorstück bringt im ersten Abschnitt über drei gemessen fortschreitenden Männerstimmen einen schnellbewegten Kanon zwischen Alt und Sopran und im zweiten eine einzige liedartige Apostrophe an die Jugend. Bei der Repetition wird die leitende Stimme des Kanons in den Baß gelegt. Der Schluß der homophonen Liedstrophe enthält in der aufsteigenden Phrase:


3. Kapitel

eine Reminiszenz an Schuberts »Kreuzzug«, als frage Brahms: wo sind die Tage meiner ersten knabenhaften Schubertschwärmerei geblieben? – Das zweite, sich schon mit der Überschrift »Im Herbst« zu der melancholischen Jahreszeit bekennende Lied, noch ernster und weihevoller als das erste, doch nicht so individuell in der Art, sich zu geben, nimmt nur die Stimmen des Vokalquartetts in Anspruch. Klaus Groth benützt die fallenden Blätter, nicht eben geschickt, zum Symbol des Herzens, das »zu trübem Weh herabsinkt«. Brahms mochte sich durch eine metrische Eigentümlichkeit zur Komposition des unfertigen Gedichtes gereizt gefühlt haben. »Es ist schwer anzufassen (schwer langweilig)«, schrieb er im September 1888 an Frau von Herzogenberg. Groth beginnt jede Halbstrophe seiner jambischen Sechszeiler mit einem Spondäus, der den Ton auf die erste Silbe legt: »Ernst ist der [144] Herbst«, »Still ist die Flur«, »Bleich ist der Tag« usw. Diese ausdrucksvolle metrische Unregelmäßigkeit, die zugleich eine syntaktische ist, war für Brahms der Anstoß zu einem ungemein sinnreichen und fruchtbaren Einfall. Sein Thema:


3. Kapitel

beginnt, wie ersichtlich, mit dem schweren Niederschlage der Thesis auf der punktierten halben Note. »Ernst ist der Herbst« – der Versanfang steht da wie eine weithin sichtbare Inschrift – ein Wahlspruch, ein Motto. Bei b aber wechselt der Rhythmus, das letzte Achtel des zweiten Taktes wird zur Arsis, zum Auftakt der folgenden Jamben: »und wenn die Blätter fallen«. Die Skala der Melodie geht abwärts, der Stern des Menschen steht in cadente domo. Sobald jedoch mit der zweiten Strophe, die »das Sein tief verschlossen ruhen« läßt, der Mollsatz beendet wird, und sich in einer Art harmonischer Farbendämmerung allmählich ein mildes, beruhigendes, versöhnendes und erhebendes C-dur vorbereitet, so daß der Mensch durch des Lebens und des Jahres Schluß etwas Unausgesprochenes, wie ein höheres Dasein ahnt, kehrt der Sopran die beiden langen Noten des Themas um:


3. Kapitel

Die Thesis verwandelt sich in die Arsis, der Stern steht in adscendente domo, und die Seele ist bereit, heiter aufwärts zu schweben. Auch hier läßt der Musiker den Dichter unter sich, wenn dieser ihn auch noch einmal zwingt, ins Tal der Tränen hinabzusteigen.

Der Chor ging zuerst aus a-moll, wurde aber nach der Wiener Probe mit Mandyczewski um eine kleine Terz nach c transponiert, weil er im allgemeinen zu tief lag. Dabei mußte auch die Schlußpartie, die ein hohes C vom Sopran verlangt hätte, abgeändert werden. Auch so noch stellen die schwierigen Modulationen die Treffsicherheit der Sänger auf eine harte Probe. Gesellschaften wie der Fabersche Hauschor, oder die Chorvereine [145] Spengels und Stockhausens, von der obersten Wüllnerschen Chorsingklasse gar nicht zu reden, haben sie rühmlich bestanden.

Im Mai 1889 bat Joachim, der Brahms zum sechsundfünfzigsten Geburtstage beglückwünschte, den Freund, ihn zum Ehrenmitglied des in Bonn gegründeten Vereines »Beethovenhaus« ernennen zu dürfen – Joachim führte das Präsidium – und bedankte sich, »daß er am 1. März so geduldig ausgehalten habe«. An diesem Tage nämlich feierte die Königl. Hochschule für Musik in Berlin das fünfzigjährige Künstlerjubiläum ihres Direktors mit einem solennen Konzert, und Brahms blieb bis zum letzten Ton im Saale sitzen, obwohl er die Nacht vorher von Wien nach Berlin unterwegs gewesen war, und am 2. März früh schon wieder Probe hatte. Das Angenehme seiner Freundespflicht mit dem Nützlichen eines Konzerts in der Berliner Philharmonie verbindend (oder umgekehrt!) verbrachte er eine höchst belebte Woche in der Reichshauptstadt. Zwar kostete die Zusage, das letzte Konzert der Saison, vor Bülows Abreise nach Amerika, durch seine Mitwirkung auszuzeichnen, ihn drei Orchesterproben; denn er teilte sich mit Bülow in die Leitung, spielte nicht nur sein d-moll-Konzert, sondern dirigierte auch seine »Akademische Festouvertüre«; den zweiten Teil des Konzerts bestritt Beethovens Neunte Symphonie. Aber es war dafür gesorgt, daß sich die von der Arbeit am Morgen ermatteten Lebensgeister bei der Unterhaltung am Abend wieder auffrischten. Brahms bereute es nicht, eine Einladung Simrocks abgelehnt und sein Standquartier im Askanischen Hof aufgeschlagen zu haben. Hier versammelten sich die Teilnehmer an der revolutionären literarischen Bewegung, welche damals, unter der Führung von Otto Brahm und Paul Schlenther, die Geister Jungdeutschlands ergriffen hatte. Das große Ereignis des Tages war die Première des Ibsenschen Dramas »Die Frau vom Meere«. Zu dem Festmahl, das bei dieser Gelegenheit am Abend vor der Aufführung im Askanischen Hofe stattfand, waren außer Ibsen und Professor Dr. Hoffary aus Kopenhagen, Theodor Fontane, Paul Lindau, Josef Kainz, Emanuel Reicher, Dr. Julius Elias, Schlenther und Brahm erschienen. Brahms kam mit Bülow und Wüllner aus dem Konzert, und als dann auch noch Erich Schmidt, schön wie der junge Alkibiades, zu der seltenen Tafelrunde stieß, war es, [146] wie Brahm, der authentische Berichterstatter der Szene, mit seinem freundlichen leisen Lachen hinzufügte, das reine Symposion des Platon. Bülow, in bester Laune, stellte dabei den »Nominativ« (Brahm) dem »Genitiv« (Brahms) vor – er hat den Witz öfters gemacht18 – und da er wußte, daß der Genitivus durchaus kein blindgläubiger Verehrer des norwegischen Dichters und seiner Richtung war, so sagte er während des Essens zu Ibsen und dessen Apostel gewendet: »Er ist jetzt dabei, die ›Wildente‹ mit gutem Appetit zu verspeisen, einen Flügel hat er schon angeknabbert.« Daß, nach so freundlicher Begegnung, der Agitator des Naturalismus daran dachte, den schwerwiegenden Namen des großen Musikers für den Aufruf zur Gründung der »Freien Bühne« zu gewinnen und ihn selbst zur Mitgliedschaft seines Vereins heranzuziehen, ist begreiflich. Aber was Otto Brahm bei Bülow nicht schwer wurde, mißlang ihm bei Brahms. Seine Zusendungen blieben unbeantwortet. Erst als die Wiener Zeitungen ankündigten, Brahm werde im Winter 89/90 einen Vortrag über die »Freie Bühne« halten, schrieb ihm Brahms:

»Also wird Freude sein im Himmel über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten! – Nun will ich zwar immer noch nicht unterschreiben, aber herzlich bereue ich, dies nicht seinerzeit gesagt zu haben. Daß Ihr damaliger Brief mich ernstlich interessierte und beschäftigte, werden Sie ohne weiteres glauben. Möchten Sie nun auch freundlich bedenken, daß ein guter Deutscher immer zu nörgeln hat. Wieviel lange Briefe schrieb ich Ihnen in Gedanken, es ist leider darüber nicht zum kleinsten gekommen.

Ein ganz äußerlicher Grund aber hielt mich zunächst ab, einfach zu unterschreiben: die stattliche Namenreihe, die Sie anführten, lauter Leute von Fach und in Berlin. Es erschien mir anmaßend, als einziger, ganz außerhalb Stehender, mich anzuschließen.

Die Ankündigung, daß Sie nach Wien kommen, gibt mir heute die Feder in die Hand. Es wäre gar freundlich, wenn Sie die nachträgliche Entschuldigung ein wenig gelten ließen.

Im Fall Ihnen die Stadt fremd ist und Ihnen ein Führer angenehm wäre, nennen Sie mir durch eine Karte Ihr Gasthaus [147] und verfügen durchaus über Ihren sehr und hochachtungsvoll ergebenen J. Brahms.«

Brahms hielt Wort, und Brahm wurde Gast an der Abendtafel im »Roten Igel«, an welcher zwar keine Symposien à la Platon gefeiert wurden, immerhin aber »ein paar nette Leute saßen, mit denen man ein vernünftiges Wort reden konnte« (Brahms). Auch Gerhart Hauptmann sprach dort zu, nachdem er Brahms in unserem Hause kennen gelernt hatte. Der offene, mitteilsame Dichter der aus dem Geiste der Musik geborenen Tragödien »Hannele« und »Die versunkene Glocke« war ihm sympathischer als der wortkarge, verschlossene, mit sich und dem Publikum Versteckens spielende Schöpfer der »Gespenster«, dessen Wiege Polyhymnia nicht geschaukelt. Im Mai 1891 wurden wir von Brahm um Beiträge für die Autographen-Verlosung angegangen, die bei einem Frühlingsfeste der »Freien Bühne« vorgenommen werden sollte. »Na, was haben Sie zuwege gebracht?« fragte mich Brahms, der die Gelegenheit für passend hielt, dem »scheußlichen Naturalismus« einen Denkzettel zu verabreichen. Ich zeigte ihm das Epigramm:


»Im Mondenscheine glänzt ein Haufen Mist,

Als ob er eitel Gold und Silber wäre.

Gemeines adelt nur der Humorist,

Beleuchtet er's aus seiner höhern Sphäre.«


»Da bin ich doch höflicher und noch gröber gewesen,« sagte er, »sehen Sie mal meine Kantate!« Auf einem Blättchen stand zu lesen und zu singen:


3. Kapitel

Mai 91, Wien.

J. Br.


Nicht mehr und nicht weniger, für den Wissenden mehr als genug. Der Literaturkundige – er braucht nicht einmal der »stattlichen Namenreihe« des Aufrufes anzugehören, den Brahms vor [148] lauter Bescheidenheit nicht unterzeichnen wollte – ergänzt die Stelle aus Goethes »Deutschem Parnaß« zunächst mit den Versen:


»Welch ein Lärmen, welch ein Schrei'n?

Ist es möglich, seh' ich recht?

Ein verwegenes Geschlecht

Dringt ins Heiligtum herein ...«


Es kommt dann noch deutlicher, noch klobiger, noch wuchtiger in dem wahrhaft olympischen Strafgericht, das der zürnende Dichter über die literarischen Revolutionäre seiner Zeit abhält, und der ahnungslose Gewinner, der diesen bedenklichen, einer geladenen Bombe gleichenden Haupttreffer der Berliner Frühlingslotterie zog, wird sich später im stillen Kämmerlein seinen Schaden besehen haben.

Von Berlin ging Brahms am 9. März nach Hamburg, hauptsächlich, um die Schwester, deren Gesundheit zu wünschen übrig ließ, aber auch Stiefmutter und -bruder in Pinneberg wiederzusehen. Fünf Tage später war er schon wieder in Wien und betrieb dort abermals mit Billroth und Exner das Projekt einer Reise nach Sizilien. Billroths Schüler Barbieri, ein geborener Italiener, wollte sich anschließen, und auch Widmann wurde wieder aufgefordert, teilzunehmen. Da Frau Schumann den Frühling in Florenz zuzubringen beschlossen hatte, so war ein Wiedersehen mit ihr in den Plan einbezogen worden. Widmann aber mußte in Familien- und anderen persönlichen Angelegenheiten nach Norddeutschland und war dann für Italien nicht mehr zu haben. Es scheint, daß Brahms zwischen dem 10. und 25. April heimlich auf eigene Faust eine kleine Fahrt nach Oberitalien unternommen und sich eine Woche am Comersee aufgehalten hat. Denn von dort aus schrieb er, etwa am 17. nach Ischl:

»Lieber Herr Brüll, möchten Sie wohl die große Freundlichkeit haben, bei einem kühlen Wetterchen nach meiner alten Wohnung zu pilgern und dort anzufragen, ob sie noch frei ist, und ob ich sie einmal wieder haben kann? Natürlich wie sonst alle vier Zimmerchen – auch mit der hübschesten Witwe kann ich nicht teilen! In dem Fall möchte ich Sie auch bitten, mich anzumelden, also für mich zu mieten.

[149] Dann muß ich aber bitten, mich vom Resultat zu unterrichten per Adr. Villa Carlotta, Lago di Como, wo ich doch wohl acht Tage bleibe. Hoffentlich legen Sie das Partitur-Papier ein ganzes Viertelstündchen beiseite und erzählen mir, wie es Ihnen und den Ihren geht, ob die Kellnerinnen bei Walter19 schon Dienst tun, ob Kalbeck gemietet hat – wieviel gibt es nicht von so schönem Ort zu erzählen! Hier aber ist es zu schön, als daß man anfangen könnte, zu erzählen; das muß ich mir für eine Plauderstunde in Ischl aufsparen ...«

Bei der Wahl seines Sommeraufenthaltes, die doch schon so gut wie entschieden war, geriet er in der Nähe der Schweiz noch einmal ins Schwanken. Das Schicksal sollte endgültig bestimmen: war das Häuschen in der Salzburgerstraße, in dem er vor sieben und neun Jahren gewohnt hatte, noch frei, so ging er nach Ischl; wäre es schon vermietet gewesen, so wäre er – auch nicht nach Thun gegangen. Denn er sehnte sich nicht sowohl nach Ischl hin, als von Thun weg. Mehrere Dinge hatten ihm die schönste aller Sommerfrischen, die ihn produktiv machte, wie kaum eine andere, verleidet. Auch darin sollten die drei Thuner Sommer den drei in Pörtschach verlebten parallel laufen, daß es hier wie dort die Menschen waren, die den anspruchslosen Gast aus dem Behagen seiner idyllischen Ruhe aufscheuchten und vertrieben. Der schmale ländliche Uferweg, der vom See über Hofstetten nach Thun führte, war verbreitert und in einen städtischen Quai umgepflastert worden, so daß die zudringlichen Fremden, zumal die verhaßten englischen Snobs, deren Einladungen und Zuschriften Brahms grundsätzlich keiner Antwort würdigte, unter seinen Fenstern stehen bleiben, ihn beobachten und belauschen konnten. Man denkt unwillkürlich an Beethoven, der aus ähnlichen Gründen von einer Wohnung zur andern irrte und aus dem Hause an der Penzinger Brücke auszog, weil sich das neugierige Volk versammelte, wenn er sich vor dem Spiegel rasierte. Aber auch die Einheimischen, die sich auf ihr Französisch in Sprache und Manieren etwas zugute taten, erwiderten seine unschuldigen Späße nicht mit der Liebenswürdigkeit, an die er von Österreich her gewöhnt war. Ja, sie [150] betrachteten den »Prussien«, den »l'ours allemand« mit mißtrauischen und feindseligen Blicken, seitdem das kraftvoll überschäumende Temperament des jungen deutschen Kaisers alle Feinde Deutschlands, die von dem unerwarteten Umschwunge der Verhältnisse zu profitieren hofften, in Bewegung gesetzt hatte.

Die Hexe Politik stellte sich auch zwischen den Redakteur des Berner »Bund« und dessen Sonntagsgast und drohte die Freunde für immer zu entzweien. Schon einige Male waren sie gesprächsweise hart aneinandergeraten, da der Sohn der Republik aus seiner antimonarchischen Gesinnung kein Hehl machte und die willkommene Gelegenheit, sich in ihr zu bekräftigen, mit Vergnügen ergriff, in der Meinung, daß ein so groß und frei denkender Geist wie Brahms kein nur dem »beschränkten Untertanenverstande« erlaubtes Vorurteil dulden werde. Als nun Widmann in Vertretung des politischen Redakteurs im »Bund« sich über einen ihm zu »waidmännisch« erscheinenden Ausdruck ausgelassen hatte, den Wilhelm II. in seiner Frankfurter Soldatenrede auf die Armee angewendet haben sollte, erhielt er am 20. August 1888 einen von Brahms im Zorn schmerzlicher Entrüstung geschriebenen Brief. Seinen fünf Seiten entnahm Widmann für die »Erinnerungen« nur die oft zitierte Stelle über das Bayreuther Festspielhaus, die, abgetrennt von ihrer Umgebung, den Anschein gewinnen könnte, als wäre Brahms ein begeisterter Liebhaber jenes »so ideal Gedachten und Geschaffenen« gewesen.20 Er war auch nicht nur in der Wut der »gute Wagnerianer«, welcher zu sein er sich in Scherz und Ernst rühmen durfte, insofern als er Wagners Werke aufs genaueste kannte, besser als unzählige Wagnerianer. Aber er kannte ebensogut ihre Schwächen wie ihre Vorzüge. Nicht sowohl zur Feststellung des wahren Sachverhalts, als vielmehr, um diesem allermenschlichsten Dokument unseres Helden das ihm zukommende Recht der Öffentlichkeit und einigen seiner hervorragendsten Werken, dem »Triumphlied«, derF-dur-Symphonie (wie wir sie zu verstehen suchten)21 und den »Deutschen, rest- und Gedenksprüchen« das nötige Relief zu geben, lassen wir das Schriftstück in seiner ganzen Ausdehnung, genau seinem Wortlaute nach, hier folgen:


[151] »Lieber Freund,


Als ich die kaiserliche Rede neulich las, blätterte ich still um und wünschte, es möge nicht gerade jedes Wort gesprochen oder genau wiedergegeben sein.

Ihre Auslassung darüber bedauere ich. Aber so übt man eben Kritik über alles, was aus Deutschland kommt; die Deutschen selbst aber gehen darin voran. Das ist in der Politik wie in der Kunst so. Wenn das Bayreuther Theater in Frankreich stände, brauchte es nicht so Großes wie die Wagnerschen Werke, damit Sie und Wendt und alle Welt hinpilgerten und sich für so ideal Gedachtes und Geschaffenes begeisterten. Hätte ein Gambetta oder Garibaldi über den Elsaß gesprochen, wie jetzt der junge Kaiser, es würde sehr allgemein in den Blättern etwa so lauten:

›Das sind keine Worte, das sind lebendige Flammen, die nicht zu löschen sind! Das sind Waffen, denen nicht zu widerstehen! Zurück mit dem Elsaß, nicht bloß das Recht, auch solche Begeisterung verlangt und erzwingt es.‹

Selbst die ›Norddeutsche Allgemeine Zeitung‹22 wagt es nicht, an diesen Worten zu mäkeln. Sie sind ja kein Staatsakt, auch nicht etwa vor dem Denkmal öffentlich gesprochen. Ein junger Mann von noch nicht dreißig Jahren sprach sie, das Glas Wein in der Hand. Der Wortlaut steht nicht sicher, nur der Sinn, und hinter diesem steht unter allen Umständen das ganze Volk. Das eine einzige Wort aber, das uns stören möchte, wir haben es nicht sprechen hören und kennen den Zusammenhang nicht genau; aber den einfachen Sinn des Satzes entstellt es nicht, nur wegwünschen möchte der seiner Empfindende das unbedachte, ja unschickliche Wort. Aber auch der ›Norddeut schen Allgemeinen‹ kann es ja ganz unmöglich einfallen, es aufbauschen und darüber aufbrausen zu wollen. Es erinnert uns an manches scharfe Wort, das dem großen Napoleon oder dem großen Louis XIV. zugeschrieben wird. Wenn wir aber an jene großen edlen Menschen denken und ihre Lage in Rußland oder der Pfalz, so klingen uns solche Worte anders, und unsere Gedanken und Betrachtungen werden nicht zur Kritik.

[152] Wollte aber ein Dichter uns diese großen edlen Menschen und Helden schildern, so hätte er wohl andre ihrer Worte und Taten auszuwählen oder, wie eindringlich und ergreifend! ihren Zustand zu schildern, daß jene harten Worte am rechten Platz ständen! Jedenfalls aber, wie viel schöner dieser unzerstörbare Enthusiasmus als die heuchlerische Art, mit der gewisse andre Helden von Schlachtfeldern sprachen, oder die muckerische, mit der sie Gottes Hilfe priesen!

Zurück also mit dem Elsaß und auch gleich mit Hannover und Hessen!


Ja, lieber Freund, so ist es. Sie gönnen Achtung und Verehrung dem einzelnen großen Menschen – nicht auch einem Geschlecht wie den Hohenzollern mit Friedrich II. und Wilhelm I.? Sie haben Achtung vor jedem Jüngling, der wohlvorbereitet einem weit gesteckten Ziele zustrebt – nicht aber vor dem blutjungen, neuen Kaiser des deutschen Volkes, der gewiß ernst und würdig für sein hohes und schweres Amt sich bereitete, und der noch alle möglichen Hoffnungen erfüllen kann.

Ich möchte ihn nicht zu Beginn der großen weiten Laufbahn begrüßt haben, wie Sie, und dreist geschildert, ohne eine Spur von Achtung und Sympathie – auf Grund und mit dem Beweis eines einzigen flüchtigen und unsicheren Wortes.

In dieser Sache nun können Sie mich keines andern überzeugen. Ein wenig beschämen würde es mich, wenn Sie mir irgendein kleines Artikelchen mitteilen könnten, in dem Sie irgend einem Wort oder Unternehmen Bismarcks oder Wilhelm des Ersten, vor seiner Erfüllung, zugestimmt hätten!?

Und so umgekehrt mit Gambetta usw.!?


Im übrigen bestens Ihr J.B.«


Widmann fühlte sich verletzt, nicht mit Unrecht, obwohl er gerade die schärfste Spitze nicht fühlte, welche sich ihm in der später als »wertvoller Ausspruch des einen deutschen Meisters über den andern« ausgezogenen Stelle des Briefes entgegenstreckte, sondern meinte, Brahms habe die Werke Wagners für etwas Großes gehalten, »auf das Deutschland stolz sein sollte«. Schon [153] früher23 wurde flüchtig angedeutet, wie dieses bedingte Lob Wagners zu nehmen sei. Brahms, der aus verschiedenen Gründen niemals nach Bayreuth gepilgert war, wirst in zornigem Eifer Widmann, Wendt e tutti quanti in einen Topf, sobald er die Freunde oder ihrer einen der von ihm gründlich verachteten Ausländerei, einer Kardinaluntugend der Deutschen, bezichtigen zu müssen glaubt.24 Sie würden, davon sei er überzeugt (trotz ihrer Stellung gegen Wagner), sofort ins Festspielhaus laufen und entzückt wieder herauskommen, wenn das Theater nicht in Bayreuth, sondern in Paris stände; es brauchte, was dort aufgeführt würde, nicht einmal », so Großes, so ideal Gedachtes und Geschaffenes« zu sein wie die Wagnerschen Werke – Eigenschaften, die ihnen kein Narr aberkennen wird. Ob aber Deutschland, das sich für jeden noch so geringwertigen Pariser Modeexport begeisterte, Ursache habe, auch auf Wagner, sein Festspielhaus und seine Werke, stolz zu sein, wird von Brahms gar nicht untersucht.

Gottfried Keller, von Widmann als Schiedsrichter in der streitigen Sache angerufen, versöhnte durch einen wahrhaft salomonischen Urteilsspruch die beiden politischen Kampfhähne, indem er den Dogmatiker der Republik beschwichtigte und mit seinem unverwüstlichen Welthumor von dem »Sohne freier Städte« redete, der, nach den ungeheuren Veränderungen der politischen Lage », nach achtzehn kurzen Jahren so pathetisch am Kaiser und dessen Hause hänge, wie es zur alten, großen Zeit kaum je der [154] Fall war«. Vielleicht kannte er die burschikosen Männerchöre des ehemaligen Großdeutschen oder war von Brahms selbst beim Glase Wein auf der »Meise« über die schwarz-rot-goldene Tendenz dieses op. 41 belehrt worden.25 Obwohl also das Kriegsbeil begraben war, und Brahms bald nur noch mit wohlgemeinten, wenn auch ungeschickten Späßen an den nicht mehr berührten Zankapfel erinnerte – er redete den Freund brieflich öfters mit »Republikaner« oder »Freier Schweizer« an – blieb doch auf beiden Seiten ein Rest von Mißstimmung zurück, und Brahms fühlte, daß er, wie er längst nicht mehr in Hamburg oder Berlin, sondern nur noch in Wien existieren konnte, auch mit seiner Sommerfrische nicht mehr über die schwarzgelben Grenzpfähle hinausgehen durfte, so gleichgültig ihm die politische Bedeutung ihrer Farben an sich war.

Die liebevolle Gesinnung, die er gegen den Freund mit doppeltem Eifer hervorkehrte, seit er wußte, daß auch er ihn gekränkt habe, rührte Widmann so tief, daß er einen eklatanten Anlaß zu einem indirektenPater peccavi benützte. Widmanns fulminanter Protest gegen Friedrich Nietzsche und dessen »Fall Wagner«, der einer blutigen Abfuhr des Pamphletisten gleichkommt, enthält Abschnitte, aus denen es wie ein zustimmendes Echo des Brahmsschen geharnischten Manifestes vom 22. August herausklingt.26

Der »Don Juan der Erkenntnis«, wie Nietzsche in seiner krankhaften Renommiersucht sich selbst nennt und – verurteilt, war im Laufe der vielen Häutungen, die er als Denker durchmachte, bis zu einem Stadium der Regeneration gekommen, wo nichts mehr von ihm übrigblieb als sein schlangenartig entschlüpfender Widerspruchsgeist. Anstatt einer für gut erkannten grundlegenden Idee, um die es dem ehrlichen Philosophen einzig zu tun ist, hat er, um bei seinem Don Juan-Bilde zu bleiben, immer mehrere andere Prinzipien daneben erkannt. Das Reich der Ideen wurde ihm zu einer Welt von unvorhergesehenen Offenbarungen, blendenden Einfällen, verblüffenden Paradoxien, lächerlichen Ausflüchten und schamlosen Widersprüchen, zur reinen Demimonde [155] von Halbwahrheiten, die mit jedem nach Hause gehen, der sie von der Straße aufliest. Und wie tausendunddrei Weiber nicht die Frau ersetzen können, werden ebensowenig alle Sophismen imstande sein, die eine Wahrheit entbehrlich zu machen, die der Philosoph als erkorene Herzensbraut ins Haus führt. Der Charakter des betrogenen Betrügers, des verführten Verführers, in welchen der »Don Juan der Erkenntnis« sich verkehrt, ist der, keinen zu haben.

In Brahms' Augen gab Nietzsche ein schlagendes Beispiel ab für den von Beethoven übernommenen skeptischen Satz: »Vielleicht ist auch das Gegenteil wahr«.27 Dieses Axiom auch auf den großen Nietzsche anzuwenden, der in seiner Turiner Broschüre von sich selbst sagt: »Ich habe den Deutschen die tiefsten Bücher gegeben, die sie überhaupt besitzen« – so etwas glaubt der deutsche Michel immer eine Weile! – war von Brahms gewiß keine Selbstüberhebung. Denn wenn er auch zu dem RechtsphilosophenDr. Richard Horn, einem Vetter Brülls, gelegentlich äußerte, er würde ein zweites Leben nötig haben, um sich mit Philosophie abgeben zu können, das eine habe er der Musik gewidmet, so besaß er doch gesunde Vernunft und kritischen Verstand genug, um sich von den Taschenspielereien eines mit der Weisheitcoram publico kokettierenden Begriffsjongleurs düpieren zu lassen.

Seinem »Abfall von Wagner« hätte Nietzsche weit gewichtigeren Nachdruck geben können, wenn er, anstatt Bizets »Carmen« gegen den Dichterkomponisten auszuspielen, was (bei allem Respekt vor der rassigen Vollblutoper des genialen Franzosen), den sphinx-und pagodenartigen Kolossen der Wagnerschen Musikdramen gegenüber, doch ein scrutinium iniqua Minerva war, – wenn, sagen wir, Nietzsche den Versuch gewagt hätte, den Musiker Wagner mit dem Schöpfer des Deutschen Requiems, des Schicksals- und Triumphliedes, dem Dichter der Symphonien und Kammermusikwerke, dem Sänger eines, die ganze Skala menschlicher Empfindungen durchlaufenden Liederbuches, abzutrumpfen. Einen schüchternen Anlauf dazu hatte er ja schon 1874 privatim in Wahnfrieds Mauern und unter vier Augen mit Wagner unternommen.28 [156] Der Verdacht, diesen Anlauf, der ihm übel bekam, nach vierzehn Jahren der »Läuterung« und »Genesung« mit besserem Erfolge publice erneuern zu wollen, liegt um so näher, als Nietzsche seiner ungeminderten Verehrung für den Sänger des Triumphliedes, kurz, ehe er sich an seinen Turiner Schreibtisch niedersetzte, den unzweideutigsten Ausdruck gab. Und zwar tat er es dadurch, daß er Brahms, zu dem er keine persönlichen Beziehungen hatte, den von ihm komponierten »Hymnus an das Leben«, ein Chorstück mit Orchester, mit Dedikation übersandte. Es ist kaum anzunehmen, daß Nietzsche dem Meister des Triumphliedes mit seinem musikalischen Werke zeigen wollte, wie dergleichen eigentlich auszusehen habe, wenn auch bei seinem stark vorgeschrittenen Größenwahn alles möglich gewesen wäre. Da er aber sein neuestes Philosophem in Buchform beilegte, konnte es nur auf eine Huldigung abgesehen sein, selbstverständlich in der angenehmen Zuversicht, für den Beweis seines anch' io sono compositore großes Lob einzuheimsen. Brahms befand sich, wie er mir sagte, in arger Verlegenheit. Was sollte er dem geistreichen Philosophen, von dem er schon manches mit Interesse, Be- und Verwunderung gelesen hatte, antworten? –

»Nietzsche ist besorgt und aufgehoben«, empfing er mich bei meinem nächsten Besuche mit vergnügtem Lachen. »Habe mich brillant aus der Affaire gewickelt.« – Wie denn? – »Ich habe ihm meine Visitkarte geschickt und sehr höflich unter meinen Namen geschrieben: dankt für die anregenden Stunden, die ihm die Lektüre Ihres Buches (oder Ihrer Bücher) verschafft hat.« (Der Wortlaut seiner Äußerung ist mir nicht mehr gegenwärtig, desto lebendiger aber blieb mir ihr Sinn im Gedächtnis.) – Ja, was ist denn aber mit dem Hymnus? fragte ich dagegen. Ich meine nicht den von Nietzsche, sondern den, den er sich von Ihnen für den seinigen versprochen hat? – »Das ist ja eben der Witz, daß ich mich um die Musik sanft herumgedrückt habe!« Ich sehe noch sein bestürztes Gesicht, als ich ihm bewies, daß die ehrlich gemeinte Karte, und was darauf geschrieben stand, eine doppelte Beleidigung, für den gleich dem ersten besten Schreiber bedankten Philosophen wie für den unbedankt gebliebenen Musiker, bedeutete. Gleich darauf lachte er wieder: »Ach, was, eine Lektion kann dem[157] eingebildeten Kerl, der den Mund immer voll Eigenlob nimmt, nicht schaden.«29

Nietzsche rächte sich für den ihm sub sigillo epistolae angetanen »Schimpf« in unedler Weise, indem er vor aller Welt in seinem Wagner-Pamphlet behauptete, Brahms habe die »Melancholie des Unvermögens«, er »durste nach der Fälle«, sei daher der Musiker der »Sehnsüchtigen, der Unbefriedigten aller Art« und obendrein »der Musiker einer Art unbefriedigter Frauen«. Soweit war Nietzsche von Wagner also doch nicht »abgefallen«, daß er die Kampfmethode des Patrons der »Bayreuther Blätter« perhorresziert hätte. Allerdings hätte er sich darauf berufen dürfen, daß diese Methode verleumderischer Gehässigkeit Schule bei den Wagnerianern verschiedener Couleuren machte. Wer Wagners Ausfall gegen Brahms in der Schrift »Über das Dirigieren« kennt,30 weiß, was mit dem »Unvermögen« und seiner »Melancholie« gemeint ist. Nietzsche hat sein Urteil über Brahms aus dem Spülicht dieser »historischen« Quelle geschöpft.

Widmann, der die Provenienz der Nietzscheschen Verdächtigung nicht kannte, fertigte den Philosophen gebührend ab. Er komme ihm vor, schreibt er, wie ein Patient, der, weil er magenkrank ist, es nicht begreifen kann, daß ein anderer Mensch abends, wenn er ins Bett geht, sich schon wieder aufs Frühstück des folgenden Tages, auf die Zigarre und wohl auch schon aufs Mittagessen voraus freute. (So nämlich war der physische Appetit von Brahms bis zum Ausbruch seiner letzten Krankheit beschaffen.) Damit hinge es wohl zusammen, daß N. die gesunde Kraftnatur des größten lebenden Meisters so gar nicht zu würdigen imstande [158] sei. Nun gibt Widmann die Merkmale des von Nietzsche zur Fratze entstellten Charakterbildes wieder und fährt fort: »Ein so lächerlich verzeichnetes geistiges Porträt wie dieses ist uns noch gar nie vorgekommen. Brahms, der, wie physisch, so auch geistig von Kraft strotzt, im Grunde seiner Persönlichkeit und seiner schaffenden Eigenart der männlichste Mann ist, den man sich denken kann, und bei dem die zartesten Stellen seiner Kompositionen eben darum einen so unendlich rührenden Eindruck machen (dem auch Nietzsche sich nicht entziehen kann), weil diese Zartheit auf dem Boden der Stärke, ja der manchmal selbst rauhen Mannhaftigkeit gewachsen ist, dieser Brahms soll, wie Wagner oder Liszt, der Musiker der Unbefriedigten und speziell der unbefriedigten Frauen sein?!« ...

Es ist bezeichnend für Brahms, daß er Widmann mit keinem Worte für seine Verteidigung dankte. Acht Tage nach dem Erscheinen des Feuilletons aber sendete er ihm einen Brief der Freifrau von Heldburg, in welchem die Baronin hocherfreut über Widmanns Drama »Önone« schrieb, das ihr Brahms im Herbst als Lektüre auf die Reise mitgegeben hatte, und in ihrem wie im Namen des Herzogs erklärte, das schöne Trauerspiel in Meiningen aufführen zu wollen. Ohne eine kleine Dosis liebenswürdiger Bosheit und gutmütiger Rachsucht ging es dabei von seiten Brahms' nicht ab. Er wußte, daß er mit der von ihm eingeleiteten Aufführung der »Önone« deren Dichter eine unbeschreibliche Freude machen, und kalkulierte auch weiter ganz richtig, daß der steifnackige Republikaner den ihm vom Herzog dargereichten Kranz mit einer artigen Verbeugung annehmen würde. Den freien Schweizer zu Hofe zu bringen, war ihm das größte »Pläsier«. »Von Nietzsche mag ich auch heute nicht anfangen« – ist alles, was er über seinen Unfall im »Fall Wagner« zu sagen hat. Und wie wohl muß es dem Herzen des gedrückten Freundes und deutschen Patrioten getan haben, zu sehen, daß Widmann es über sich gewann, die Manneszucht des deutschen Heeres gegen Nietzsches Spott über die zwei Haupteigenschaften des Germanen: »Gehorsam und lange Beine« nicht bloß in Schutz zu nehmen, sondern zu verherrlichen, indem er die so stramme Schulung der Jungmannschaft eines ganzen Landes eine große Wohltat nannte und darauf hinwies, [159] daß auch in der Schweiz, wie übrigens von den meisten Völkern Europas, das preußische Soldatenwesen möglichst zum Vorbilde genommen werde, so daß »wir in unserem Militarismus einen der wichtigsten Kulturfaktoren für unser Land erkennen müssen und für die Erziehung unserer Jungmannschaft in größter Verlegenheit wären, wenn ein plötzlicher ewiger Friede alles Militärwesen abschaffen würde«.

Das sind Brahmssche Ansichten, in Widmanns schweizerische Montur gekleidet. Wir verstehen nun, daß es Brahms sauer fiel, dem Freunde, dem er sich jetzt fester als vor ihrem Zerwürfnis verbunden fühlte, am 30. April 1889 mitzuteilen, daß er nicht nach Thun kommen werde:

»Es ist ein leiser Mollakkord, den ich hinüber sende, und auch Ihnen klingt es hoffentlich nicht lustig: ich habe für den Sommer in Ischl gemietet. Was ich dort suche und wünsche, wissen Sie, weniger aber, was ich entbehren werde. Unter anderm und vor anderm werde ich jeden Samstag betrübt merken, daß kein Zug nach Bern geht!

Neulich war ich dort in Ischl; auf der Rückfahrt nach Gmunden bei einem Freunde vorsprechend, fand ich es recht angemessen und fast drollig, daß mir als erstes Ihre ›Amoretten und andere Novellen‹ ins Auge fielen. Ich nahm sie sofort als Reisegefährten mit.

Daß ich nicht mit nach Sizilien war, wissen Sie jetzt wohl. Darüber aber bin ich ganz ohne Nachricht und ohne Reiseberichte geblieben. Einiges erfahre ich vielleicht durch Gedrucktes?«

Mit dem letzten Satze will Brahms anfragen, ob Widmann nichts über seinen Aufenthalt in Berlin für den »Bund« geschrieben habe. Wie wohl er sich in Ischl fühlte, und wie gut es ihm wieder gefiel, bekräftigt er dem Freunde noch zwei Jahre später mit den Worten: »Es (Ischl) ist wirklich nicht so schön wie Thun, und einen annähernd so lieben Ausflug wie nach Bern gibt es nicht. Aber ich werde den ganzen Sommer keine Engländer sehen, und die wenigen Norddeutschen hier geben sich unwillkürlich Mühe, ein anderes Gesicht zu machen. Wie man von klein und groß, jung und alt willkommen geheißen wird – und mancherlei – ist gar lieb und schön. Man sagt, die Österreicher reisen nicht; [160] da wird es Sie doch interessieren, daß der Wirt ›Zur Kaiserin Elisabeth‹ den Winter mit seiner Frau in Italien und Sizilien war, der Wirt ›Zum Kreuz‹ aber (mit Frau) nach Ceylon und Indien! Gerade heute steht im Ischler Wochenblatt der Schlußartikel seiner Reisebeschreibung ...« Und an Klara Schumann schrieb er im dritten Sommer seines Ischler Aufenthalts: »Es ist überaus schön und angenehm hier und mir, wie ich wohl schon oft sagte, vor allem durch die gar so liebenswürdig gearteten Menschen aufs beste behaglich.«

Noch lauter und rühmender von der eingefleischten Vorliebe, die der reuig ans Ufer der grünen Traun zurückgekehrte Brahms für den vornehmsten Kurort des Salzkammerguts gewonnen hatte, spricht die Tatsache, daß er seiner Neigung nicht wieder untreu wurde, sondern die acht Sommer, die seinem Erdenwandel noch beschieden waren, dort zubrachte. Am 13. Mai bezog Brahms sein unverändert im alten Zustande vorgefundenes Quartier in der Salzburgerstraße. Es war, als hätten die Wirtsleute ihre einfach möblierten freundlichen Zimmer eigens für ihn reserviert. Bei der Abgelegenheit des Hauses und seiner primitiven Einrichtung brauchte der Mieter nicht zu befürchten, daß er gesteigert werden würde. Das lag auch nicht im Wesen der Wirtsleute, die mit dem Zins von zweihundertundfünfzig Gulden für die Saison zufrieden waren. Nach seiner Art nahm Brahms an ihrem Wohl und Wehe persönlich teil. Als die Mutter der Hausfrau im Austragstüberl unterm Dache gestorben war, fand ihn die Tochter sinnend bei der oben aufgebahrten Leiche stehen. Er drückte ihr die Hand und sagte: »Jetzt kommen wir dran, Frau Gruber.« Nach dem Tode der Mutter schlug die Wirtin ihre Liegestatt in der Giebelstube auf und vermietete ihr gegenüberliegendes besseres Zimmer an zwei alte Damen, obwohl die ebenfalls im Hause wohnende Schwiegermutter ihr eingeschärft hatte, es dürfe niemand Fremdes ins Haus. Brahms verlor kein Wort über den ihm unwillkommenen Zuwachs von Parteien, nur sagte er, so oft er Frau Gruber beim Reinigen der Kleider betraf: »Nur für die Damen! Alles für die Damen!« Als dann auch die lange bettlägerig gewesene Schwiegermutter starb, die er irrtümlicher Weise für die habsüchtige Anstifterin des Übels hielt, ignorierte er den Trauerfall. Frau [161] Gruber vermochte ihn weder über den Sachverhalt aufzuklären, noch so bald von der Harmlosigkeit der Mitbewohnerinnen zu überzeugen. Es verdroß ihn, sich in seinem ausbedungenen guten Rechte gekränkt zu wissen: man hätte ihn wenigstens um Erlaubnis bitten müssen!

Oft bekam Brahms, wie seine Ischler Quartiergeberin erzählt, von Damen Blumen zugeschickt, mitunter sehr kostbare, in Spitzen gehüllte Buketts. Die schenkte er immer sofort den Kindern, mit dem Bedeuten, sie sollten sie sich auf den Hut stecken. Als ihm die Frau vorstellte, das ginge doch nicht an, warf er die Blumen samt den Spitzen einfach hinten zum Fenster hinaus, und als einmal, während er im Garten stand, eine sehr hohe Dame, wahrscheinlich die Spenderin jener Gardinensträuße, aus ihrem Wagen mit dem Sonnenschirm zu ihm hinaufwinkte, tat er, als ob er es nicht bemerke, kehrte ihr und der Straße den Rücken und machte sich mit den Rosenstöcken zu schaffen.

Zu den alten Ischler Stammgästen von 1882 waren in der Zeit seiner Abwesenheit neue gekommen, welche die von Brahms bevorzugte Wiener Kolonie vermehrten. Theodor Leschetizky, der berühmte Wiener Klavierpädagoge, dessen Ruf den Erdball überflog und hoffnungsvolle Schüler aus beiden Hemisphären nach Österreich lockte, hatte sich in Ischl niedergelassen. Seine »Villa piccola« war wie ein Taubenschlag, in welchem die flügge werdende Klavierjugend beiderlei Geschlechts munter aus und einflog. Die hübschen Weiberchen schwänzelten und trippelten um ihren allgeliebten Lehrer herum und beneideten die legitime Gebieterin seines Herzens, die graziöse, leidenschaftliche Chopinspielerin Annette Essipoff, um ihre Prärogative. Durch den Wiener Tonkünstlerverein waren Brahms und Leschetizky, nach Beseitigung einiger Differenzen, einander näher gekommen, und der feurige, von Geist und Temperament übersprudelnde Pole vertrug sich mit dem sarkastischen Germanen vortrefflich, seitdem er wußte, daß Brahms am liebsten diejenigen neckte, die ihn in gleicher Weise bedienten. Ihm zur Seite stand sein Intimus, der vom Schüler zum Freunde avancierte feinsinnige Pianist und Komponist Eduard Schütt, einer jener seltenen liebenswürdigen Kauseure, welche von den Schwächen des Nächsten gereizt werden, ihre eigenen [162] mit zu belachen. – Zu den Freunden in Aussee,31 den Professoren Seegen und Chrobak (Frau Nelly Chrobak, geb. Lumpe, war seine Freundin von der ersten Wiener Zeit her) gesellten sich Eduard und Sophie Hanslick, die dort immer zur Nachkur von Karlsbad eintrafen.

Als die Familie Brüll, zu Brahms' Leidwesen, 1892 von Ischl nach Unterach am Attersee übersiedelte, nahm Johann Strauß mit seiner jungen Gattin Adele die verlassene Wohnung ein und mietete das Jahr darauf die gräflich Erdödysche Villa, die dann 1896 von ihm angekauft wurde. Auch dort lud sich Brahms gern zu Gaste.

Er und Johann Strauß hatten sich, obwohl ein Kollege den andern hochschätzte, und beide in derselben Stadt lebten, mit der Zeit gänzlich aus den Augen verloren. Erst in unserem Hause fanden sie sich wieder, nachdem Strauß seine dritte Ehe eingegangen war. Auf dem »Lauffener Wege« setzten sich nun im Sommer die heiteren geselligen Zusammenkünfte fort, die in Strauß' Wiener Wohnung auf der Wieden in der Igel- (heute Johann Strauß-) gasse stattfanden. Frau Adele sorgte dafür, daß die gräfliche Landvilla hinter dem fürstlichen Stadtpalais, was Küche und Keller betrifft, nicht zurückblieb. Die Residenzen des Walzerkönigs Johann II (zum Unterschiede von Johann I oder Strauß Vater »Jean« genannt)32 zeichneten sich durch einen, an Luxus grenzenden, stellenweise gesuchten und kalten Komfort aus, der unangenehm aufgefallen wäre, wenn ihn nicht eine gewisse Art von Pikanterie im Verein mit der ungenierten Gemütlichkeit des immer gutgelaunten Hausherrn erwärmt hätte. Strauß schien, wie die modisch hergerichtete, gekräuselte Eleganz seiner eigenen Erscheinung vermuten ließ, solcher Gegensätze zu bedürfen, um sich mit desto sicherer Schelmen-Grazie über die selbsterrichteten Schranken [163] hinwegzusetzen. Sein köstlicher Humor, der richtige »Wiener Hamur« kam erst recht in Schwung, wenn er diese Hindernisse nahm; gleich seinem dunkelbraunen Auge, in dem es von vergangenen Wettern leuchtete, war sein Humor echt in der Farbe, was man von dem pechschwarzen Kopf- und Barthaar des Meisters nicht behaupten konnte.

Brahms verehrte und liebte in Strauß den verkörperten Inbegriff der reich beanlagten Wiener Natur, das musikalische Genie, das sich in der quellenden Erfindung, nicht weniger in dem instinktiv richtigen Gebrauch der Ausdrucksmittel so unzweideutig offenbarte. Geradezu entzückt sprach er sich oft über den Klang seines Orchesters, über seine, an Mozart erinnernde Kunst des Instrumentierens aus, und es gereichte ihm zu hoher Freude, als ihm Strauß einmal, auf mein Betreiben, die Partituren von drei seiner schönsten Walzer aus den Stimmen zusammenschreiben ließ. Das von böswilligen Neidern in Umlauf gesetzte, von urteilslosen Schwachköpfen geglaubte und nachgeplapperte Märchen, Strauß habe nicht instrumentieren können, sondern sei auf die Hilfe dieses oder jenes Praktikers angewiesen gewesen, widerlegt sich selbst. Brahms pflichtete mir eifrig bei, als ich sagte, es sei doch sonderbar, daß jene dienstwilligen Instrumentationskünstler ihre Meisterschaft immer nur an der Straußschen Musik erprobten, während sie bei ihren eigenen Werken regelmäßig vergäßen, sie zu zeigen. Das kollegiale Verhältnis zwischen Brahms und Strauß war, trotz gegenseitiger Sympathie, insofern ein einseitiges, als Johannes Freund Johann, den er schätzte, weil er ihn, wie alles, was ihn interessierte, genau kennen zu lernen suchte, vollkommen überblickte und durchschaute, während Strauß, der von Brahms so gut wie gar nichts wußte, voll scheuer Bewunderung zu ihm aufsah als zu einer allgemein beglaubigten Autorität, mit der nicht gut Kirschen essen sei. Schmeichler mochten ihm eingeredet haben, daß es bei dem unheimlich gelehrten, schwer verständlichen norddeutschen Musiker an jenem Besten fehle, das er, der feurige Südländer, in unerschöpflicher Fälle besaß, wie denn gleich nach Brahms' Tode einer der artigsten Scherze von Übelwollenden in diesem Sinne ausgelegt und ausgebeutet wurde. Strauß hatte auf den Autographenfächer seiner Stieftochter Alice die ersten vier Takte des Walzers »An der schönen blauen Donau« gesetzt, und Brahms [164] ebenso schlagfertig wie verbindlich darunter geschrieben: »Leider nicht von Johannes Brahms!«

Dies so auszulegen, daß Brahms seine angebliche Melodienarmut beseufzt und den Freund um eine seiner schönsten und längsten Melodien – sie ist tatsächlich zweiunddreißig Takte lang – beneidet habe, wäre nicht weniger verkehrt, als wenn man für bare Münze nehmen wollte, was Strauß einmal beim Champagner Brahms erwiderte, als dieser, von einem seiner deutschen Triumphzüge zurückgekehrt, halb ernsthaft darüber seufzte, er käme nun leider auch in die Mode, und wenn er hinschmierte, was er wollte, die Leute würden doch Bravo! schreien. »Nicht wahr, lieber Strauß,« fuhr er fast wehmütig fort, »das waren doch ganz andere Zeiten, als wir mit unseren feinsten Stücken, mit ›Fledermaus‹ und ›Requiem‹ durchfielen?« – Strauß schnitt eine seiner spitzbübischtreuherzigen Grimassen, zwinkerte lustig mit den Augen und sagte ebenfalls in wehmütig-komischem Tone: »Ja, Dokterl, mir Zwa ham halt ka Glück und allweil unser G'frett g'habt mit dera verflixten Musi.« – Brahms versäumte keine Straußsche Première im Theater an der Wien, bekümmerte sich angelegentlich um die Fortschritte, welche die Arbeit an Opern und Operetten machte, ohne, dem bösen Beispiele Unberufener folgend, in Szenarium und Partitur hineinzureden. Bei Strauß traf er mit dem im Rokoko wurzelnden, sein organisierten Bildhauer Viktor Tilgner, dem Schöpfer des Wiener Mozart-Denkmals, mit dem Maler Albert Mosé, einem lieben närrischen Kerl, der den Mund noch voller nahm als den Pinsel, mit Alfred Grünfeld, dem im Zenith seines Ruhmes stehenden Pianisten, der neben bei der Walzerspieler par excellence war, dem ritterlichen Kunstmäzen Grafen Hans Wilczek und dem ungarisch-deutschen Publizisten und Dichter Ludwig Dóczi, der rechten Hand Andrassys und dem kleinen Finger Shakespeares, zusammen. In der Vorliebe für Dóczis reizende, an die romantische Renaissance des Briten anklingende Lustspiele »Der Kuß« und »Letzte Liebe« begegnete sich Brahms mit Billroth.

Auch diesem Freunde war er in Ischl räumlich nahegerückt, da Billroth, kaum dritthalb Wagenfahrtstunden von dort entfernt, geradeüber vom Schafberg in St. Gilgen am Wolfgangsee seit mehreren Jahren ein Tuskulum besaß, das, wie er selbst ihm nachrühmen [165] durfte, seiner Lage nach zu den schönsten in Europa gehörte. Bei der Grundsteinlegung hatte er das Haus als Witwensitz für seine Frau bestimmt und bezeichnet. Müde von der ungeheuren Arbeit, die mit der Zeit Übermenschliches von ihm forderte, und im Gefühl, ans Ende seiner fabelhaften Leistungsfähigkeit gelangt zu sein, hatte er sich schon dem Tode verfallen gewähnt, als dieser, erst leise und höflich, bei ihm anklopfte, dann bei dem Schwererkrankten einzutreten versuchte. Doch in kräftigem Widerstreben wies der Arzt dem ungebetenen Gast energisch, wie schon so oft bei andern, die Türe. Seine langsam fortschreitende Genesung durchglühte ihn mit heißem freudigen Lebensverlangen, und wenn sie auch die volle Gesundheit dem Patienten nicht zurückbringen konnte, so täuschte sie doch dem Gealterten eine zweite Jugend vor, die ihn desto gewisser bezauberte, je weniger er Ursache hatte, ihr zu trauen. Er, der resigniert nur noch für die Wohlfahrt der Seinigen zu leben gedachte, die ihm immer das Liebste und Teuerste gewesen waren, ließ sich nicht ungern davon überzeugen, wie groß der Kreis derjenigen war, die sich mit Recht die Seinigen nennen durften. Die drei Wochen Frühjahrsferien, die er unter den Lorbeeren des von ihm entdeckten und kultivierten Abbazia alljährlich verträumen wollte, reduzierten sich allmählich auf wenige Tage, und auch die der Familie, den Freunden, der Natur, den schönen Wissenschaften und freien Künsten gewidmete St. Gilgener Hochsommerpause wurde immer kürzer. Aber er verstand zu genießen wie zu arbeiten, und die Not der drängenden Eile bildete den von allen Seiten in Anspruch Genommenen vollends zum Virtuosen der Arbeit und des Genusses aus. Er preßte die Fähigkeiten der Apperzeption und Konsumtion in einen Moment zusammen und ließ keinen Augenblick ungenützt vorübergehen. Seine Phantasie lieh ihm die geflügelten Sandalen des Hermes, er wagte es, gleichen Schritt mit der rollenden Erdkugel zu halten, und ihm war, als brauche er die Sonne nie aus dem Gesicht zu verlieren. Bald kümmerte es ihn nicht mehr, daß er die ihm spärlich zugemessenen, teuer erkauften geistigen Freuden mit den Resten seiner wunderbar konzentrierten Nervenkraft bezahlte, und er, der sich noch eine Weile seinen Lieben und sich selbst erhalten wollte, opferte sich dabei dem Wohle der Menschheit auf.

[166] In St. Gilgen fühlte sich Billroth in seinem Element als der Schöpfer einer dem Chaos durch Liebe abgerungenen Welt. Der Gedanke, »aus kahlen Wiesen, Feld, Steingeröll und Wald einen der schönsten menschlichen Wohnplätze geschaffen zu haben«, behielt unvermindert seinen eigenen Reiz für ihn. Ein, den von Georg Fischer herausgegebenen Briefen Billroths beigebundener Lichtdruck zeigt ihn in der von Rosen und Weinlaub umkletterten Loggia seiner Villa, wie er, an den mittleren Wandpfeiler gelehnt, die Linke auf das Geländer gestützt, in den leuchtenden Herbst hinausschaut, das monumentale, schön profilierte weiße Haupt sinnend zur Seite geneigt, als lausche er einem Brahmsschen Liede, das, von der vollen weichen Altstimme seiner Tochter Else mit künstlerischem Verständnis gesungen, durch die offene Tür des Musikzimmers herausklingt. Wer das Bild betrachtet, glaubt erschüttert ein lebendiges Seitenstück zu Goethes Faust, aus der Tragödie zweitem Teile, zu sehen, mit dem ihn Fischer, seines unstillbaren Sehnens wegen, passend vergleicht. Anstatt der vier grauen Weiber und der Lemuren aber kommen durch den Garten vom See herauf rüstige junge Gesellen, unter Führung dessen, der dem blaugoldigen Septembertage die musikalischen Weihen gab. Im Juni 1889 konnte Brahms endlich die Schöpfung des Freundes bewundern, auf die Billroth »sich mehr einbildete, als auf seine sämtlichen chirurgischen Werke«. Aber die Freude wäre unvollkommen gewesen, wenn nicht auch andere daran teilgenommen hätten.

Eine starke Anziehungskraft übte das liebliche, am Traunsee gelegene Gmunden auf den Ischler Sommergast aus, seitdem Brahms mit Dr. Viktor von Miller zu Aichholz und den Seinigen, die dort mehrere Villen in wunderschöner Lage bewohnten, in näheren Verkehr getreten war. Der »freundliche Miller«, wie Brahms ihn nannte, der Mann mit dem zartknochigen klugen Kopfe, den sanften, sinnigen hellblauen Augen, der milden beschwichtigenden Stimme,33 der seinen, nervösen Hand und dem überwallenden gefühlvollen Herzen, war, wenn nicht der größte, so doch ohne Zweifel der selbstloseste, treueste und aufopferndste [167] Verehrer des zärtlich von ihm geliebten Meisters. Und auch der bescheidenste. Längst hätte er durch Vermittlung seines Lehrers Julius Epstein, der ihn zum tüchtigen Pianisten ausgebildet hatte, eine ihm so begehrenswerte Bekanntschaft erneuern können, wenn nicht die Erinnerung an die Art, wie er eben diese Bekanntschaft bereits gemacht, ihn immer wieder davon abgehalten hätte. Als Schüler Epsteins sollte er Brahms die Noten umwenden, während dieser mit Hellmesberger bei ihm ein neues Kammermusikstück probierte. Für den nicht genauer mit ihr Vertrauten ist die Handschrift des Meisters schwer zu lesen, und Miller, der sich in leicht erklärlicher Aufregung befand, versah es ein paarmal beim Umblättern, so daß Brahms ungemütlich wurde und ihn fortschickte. Deswegen schämte sich Miller und kam sich des Verkehrs mit dem großen Musiker so unwürdig vor, daß er ihm fortan aus dem Wege ging und nur noch von fern anbetete. Es war dann keine kleine Genugtuung für den einstigen Spielverderber, als er mit Exzellenz von Holbein, dem Kammerherrn der Königin von Hannover, an einem verregneten Sonntage, der die übliche Ausfahrt um den See nach dem Diner verbot, seinem gut aufgelegten Tischgaste willfahrend, ihm dessen erste Violinsonate vortragen durfte. Brahms brachte Miller durch sein Umblättern nicht aus der Fassung, sprach seine ehrliche Freude darüber aus, daß er in Privatkreisen so gut verstanden und aufgeführt werde, und schickte einige Wochen später, als Frau von Miller ihn um eine Notenzeile für ihren Mann bitten ließ, das Manuskript der Sonate durch Mandyczewski Miller zum Geburtstage. Dazu schrieb er: »Geehrteste gnädige Frau. Von Herrn Mandyczewski höre ich, daß Sie stärkeres Papier wünschen, um Geburtstagsgeschenke für Ihren Mann hineinzupacken. Ich erlaube mir zu dem Zwecke beifolgende Probe zu übersenden. Sollte Ihnen das Format oder anderes nicht genehm sein, so stehen andere Sorten – auch von anderen Fabrikanten – zum Umtausch gern zu Diensten. Am betreffenden Festtage bitte ich, Ihrem lieben Manne auch meinerseits das Herzlichste zu sagen.«34

[168] In der nahezu idealen Weise des reinen Typus repräsentierte Dr. Viktor von Miller die Gattung empfänglicher, hingebender Naturen, auf welche der schaffende Genius immer angewiesen ist. So hoch steht kein Fürst im Reiche der Geister, und so souverän fühlt sich keiner ihrer Regenten, daß er Freundschaft und Liebe entbehren könnte: für sie war Brahms erkenntlicher als irgend ein anderer, wenn sie ihm von einem aufrichtigen Herzen ohne Falsch und eigensüchtige Hintergedanken dargebracht wurden. Noch mehr als die unbedingte Ergebenheit war es die gesinnungsverwandte Treue in Millers zuverlässigem Charakter, was Brahms zu dem spät wiedergewonnenen Freunde hinzog, und sie hielt ihn auch fest, mochte die weiche und scheue, fast weibliche Natur des zuweilen von wunderlichen Bedenken und Rücksichten in die Enge getriebenen Miller den kurz angebundenen, jedem Zeremoniell gründlich abholden Meister ungeduldig machen. Ich erinnere mich an einen strahlenden Sonntag des Jahres 1893 in Ischl. Brahms hatte mich um 10 Uhr vormittags zu sich bestellt, um mir seine neuesten Klavierstücke zu zeigen. Nachdem er sie mir alle neun – die Rhapsodie in Es Nr. 10 war noch nicht fertig – zweimal, und so mächtig, klangvoll, groß und zart, wie nur er es verstand, vorgespielt hatte, und wir aus dem Musikzimmer wieder in die Vorderstube hinüber gegangen waren, klopfte es. Brahms rief ein wenig ärgerlich »Herein«! Zu unserer Freude erschien Miller in der Tür, ließ sich aber nicht bewegen, Platz zu nehmen, trotzdem ihm von uns beiden immer wieder versichert wurde, daß wir nichts weiter vorhätten, und er uns herzlich willkommen sei. Ohne Zweifel wäre er gern geblieben, denn er war eigens von Gmunden herübergekommen, um uns zu sich einzuladen, wie wir bald darauf erfuhren, wenn nicht Brahms mit der Faust auf den Tisch geschlagen, ihm den Rücken zugedreht [169] und geschrien hätte: »Also, denn nich!« Miller erschrak und verschwand. Als wir beide dann miteinander ins Hotel Elisabet zu Tische gingen, sagte Brahms, der seine Hitze bereits bereute: »Der Miller ist doch ein ganz famoser Kerl, wenn er nur nicht immer um Entschuldigung bäte, daß er überhaupt vorhanden ist. Ich habe mich vorhin höllisch zusammen nehmen müssen, um nicht grob zu werden.« So eigentümliche Begriffe hatte der ungeduldige Brahms manchmal von Höflichkeit und Grobheit.

Die Sache bekam dann noch ihr sehr schönes Nachspiel, und zwar ein Nachspiel in des Wortes eigenster Bedeutung. Denn Brahms spielte bald darauf Miller dieselben Stücke, nachdem er ihn gleich wieder von Gmunden nach Ischl zu sich gebeten hatte, und der Schaden war auf beiden Seiten repariert. In demselben Sommer wollte Brahms mit Joachim bei Miller musizieren – es waren mehrere musikalische Freunde da. Joachim begann mit einer Solosonate von Bach, dann wurde die Brahmssche G-dur-Sonate aufgelegt. Gleich in den ersten Takten des Allegros griff Brahms einige entsetzlich falsche Akkorde, sprang vom Klavier auf und erklärte, es ginge nicht: Bach läge ihm noch viel zu sehr in den Ohren, und seine Sonate käme ihm banal vor.

Wie herzlich er auch der Hausfrau Olga von Miller, der Zeichnerin des dem sechsten Halbbande unserer Biographie vorangesetzten Titelporträts, zugetan war, einem Engel an Herzensgüte, Zartgefühl und Heiterkeit, beweist manches uns erhalten gebliebene Dokument seiner Freundschaft. Wenn Millers, aus Rücksicht auf die Arbeitsstunden ihres Freundes, zögerten, ihn zur Fahrt nach Gmunden zu bewegen, meldete er sich selbst bei der Hausfrau an, mit einer Karte, wie:


3. Kapitel

35


Wo stecken Sie denn so lange Ihr Köpfchen hin?

»Wie lang schon hofft, daß für einen mehr gekocht werde, und dieser eine sei – Ihr herzlich und dankbar ergebener J. Brahms.«

[170] Ein andermal zitierte Brahms die »Zauberflöte« in dem an die nämliche Adresse gerichteten kurzen und einfachen, aber gehaltreichen Kondolenzschreiben: »Liebe gnädige Frau, das ist eine traurige Botschaft, die mir von Ihnen kommt, und ich kann nicht herzlich genug Sie meiner Teilnahme versichern. Wie klingt der Muttername süß! Sie hören ihn nun selbst schon lange zu Ihrem Glück, aber schwer werden Sie doch empfinden, ihn nicht mehr nennen zu dürfen.«

Hausfrau und Hausherr waren einander und ihres Gastes wert. Bei der reich, aber keineswegs mit lukullischen Leckerbissen besetzten, vorzüglich schmackhaften Mittagstafel riß Miller niemals das Gespräch an sich; er nahm an der lebhaften Unterhaltung seiner Tischgesellschaft viel zu aufmerksamen objektiven Anteil, als daß er versucht hätte, mit seiner eigenen Person auf Kosten anderer zu glänzen. Eben jene anspruchslose Bescheidenheit des hochgebildeten, in vielerlei Künsten und Wissenschaften bewanderten Mannes nahm für ihn ein. Wenn Bruder Eugen, einer der gewiegtesten Kenner und Sammler wertvoller Antiquitäten, sein im Stil der italienischen Renaissance auf der Wieden gebautes, mit Fresken von Tiepolo und den edelsten Werken des Cinquecento geschmücktes Palais den staunenden Besuchern öffnete, um sich an ihrem Entzücken zu weiden, so holte Viktor, der die Beletage eines am Heumarkt, nahe beim Stadtpark gelegenen Hauses bewohnte, für seine Tischgäste manches kostbare und historisch interessante Schaustück aus seinem bedeutenden Münzkabinett hervor oder langte einen seltenen alten Druck von den Regalen seiner Bibliothek herab, wobei er die Schätze seines Wissens wie mit einem diskreten Schleier verhüllte. Anstatt zu dozieren, ließ er lieber den Freunden das Wort, die alle zur Kunst in näheren oder ferneren Beziehungen standen. Zu den periodisch wiederkehrenden Gästen seines Hauses gehörten außer den schon Genannten Goldmark, Dvořák, Brüll, Heuberger, Koeßler, Heß, von Perger, Walter, Epstein, Gänsbacher, Grün, Door, Finger, Hanslick, Mandyczewski, Wendt, von Kaiserfeld, Faber, Hornbostel, Michalek (der Radierer), und Tilgner – lauter wohlbekannte, in diesem Buche oft genannte Namen. In Gmunden kamen wohl auch manchmal die beiden statuenhaft schönen Prinzessinnen von Hannover, die geistreiche [171] Friederike und die unvergeßliche Mary, mit ihrer von hoher Anmut und Güte beseelten Schwägerin, der dänischen Königstochter Tyra von Cumberland von Herzogsschloß und Königsvilla zur Matinee herab, wenn Joachim, der Vielbegehrte, bei Miller musizierte. Wie in Hietzing, wo die Hannoversche Königsfamilie den Winter zuzubringen pflegte, ging Brahms in Gmunden gelegentlich mit Joachim zu Hofe, spielte den hohen Herrschaften seine Violinsonate vor und frischte, animiert von dem alten Freunde, der jeden Sommer in Gmunden vorsprach, Reminiszenzen von 1853 und 1854 auf.36

Fußnoten

[172] 1 Hubay kam zur Probe nach Wien, und Brahms benachrichtigte mich davon am 11. Dezember mit dem Billett: »Lieber Freund, wenn Sie morgen (Mittwoch) 11 Uhr nichts sehr Gescheites vorhaben, so kämen Sie vielleicht zu Billroth und hülfen Hubay und mir umbladeln, falsch greifen – vielleicht auch ein gutes Glas trinken? Herzlich Ihr J. Br.«


2 Vgl. S. 25.


3 Vgl. I 285.


4 Litzmann, a.a.O. 508.


5 Vgl. III 340f.


6 III 255.


7 II 154, Briefwechsel IV 66ff.


8 III 532.


9 II 102.


10 Briefwechsel II 132.


11 Ebendort.


12 Ich zeigte Brahms einmal eine Anzahl von mir für Max Friedländer bearbeiteter älterer deutscher Volkslieder, darunter eben jenes »Es reit't ein Herr mit seinem Knecht«, dessen zweiten Vers ich geändert hatte. Da fuhr er wild auf: »Wie können Sie so etwas tun? Das ist ja das Schönste in dem Gedicht: ›Auf einer Straße, die war schlecht‹« ... und wiederholte dreimal mit immer leidenschaftlicherer und schmerzlicherer Betonung: »Ja schlecht«.


13 »Musikalisches Wochenblatt« vom 18. August 1892.


14 Briefwechsel II 202ff. – Brahms hat den in kanonischen Imitationen komponierten Text noch einmal zu einem strengen Kanon (op. 113 Nr. 10) verarbeitet.


15 Vgl. Briefwechsel II 144f., 152, 157, 193, 201ff.


16 Siehe III 333 Anm. 2.


17 Das Faksimile von Noten und Brief ist beigeheftet.


18 Marie von Bülow VIII 197 Anm.


19 Café Walter an der Esplanade, III 249.


20 Widmann a.a.O. 82f.


21 III 384ff.


22 Das »Kanzlerblatt«, damalige Organ Bismarcks.


23 III 83.


24 Wie weit seine Abneigung gegen Frankreich und die Franzosen ging, ist schon öfters von uns bemerkt worden. Im Anschluß daran verdient eine Äußerung über Beaumarchais aufbewahrt zu werden. Brahms hatte die von Anton Bettelheim verfaßte Biographie des Dichters gelesen und sagte zu Wendt: »Das Buch von Bettelheim über Beaumarchais ist hoch interessant. Aber mit dem Helden der Biographie geht es einem, wie so oft bei Franzosen: wenn man sich die Herren etwas näher besieht, bleibt gar kein tüchtiger Kern an ihnen. So war doch Beaumarchais offenbar ein vollkommener Schwindler. Aber bewundernswert ist die unermüdliche Lebenskraft und Lebenslust, die er hatte. Bei den Deutschen geht es einem meist umgekehrt. Tritt man an Dichter oder Komponisten näher heran, die einem unbedeutend erschienen, so entdeckt man oft, daß sie doch im stillen noch ihre sehr tüchtige und verdienst volle Seite hatten, z.B. Ludwig Berger.«


25 II 14ff.


26 Der Artikel erschien als Doppel-Feuilleton des Berner »Bund« unter dem Titel »Nietzsches Abfall von Wagner« am 20. und 21. November 1888.


27 Briefwechsel II 222ff.


28 Elise Förster-Nietzsche in der Biographie ihres Bruders. Vgl. II 170.


29 In einem »Nietzsche und Brahms« betitelten Aufsatz (Hardens »Zukunft« V 32) teilt Peter Gast den Inhalt der fraglichen Visitkarte mit, wie folgt: »Dr. Johannes Brahms erlaubt sich, hierdurch seinen verbindlichsten Dank für Ihre Sendung zu sagen: für die Auszeichnung, als welche er sie empfindet, und die bedeutsamen Anregungen, die er Ihnen verdankt. In hoher Achtung ergeben.« Hier fehlt der direkte (unhöfliche) Hinweis auf Buch oder Bücher. Möglich, daß Brahms die Karte noch nicht abgeschickt hatte und der Zuschrift dann die von Gast publizierte Form gab. Der Sinn ist derselbe.


30 Vgl. II 118ff. – Auch sei auf die instruktive Abhandlung »Brahms über Wagner, Wagner über Brahms« verwiesen, die Alexander Pilcz in der Zeitschrift »Die Kultur« (1910 III) veröffentlicht hat.


31 III 366ff.


32 Ein bekanntes, Strauß zu Ehren parodiertes Wiener Couplet wurde mit dem doppelsinnigen Refrain gesungen: »Das is dem Weaner sein Schan.« Das Wort, eine Abplattung des französischen »genre«, heißt im Volksmunde soviel wie Art, Geschmack, besondere Liebhaberei, ist aber auch die Dialektform für Jean.


33 Kurz vor seinem Ende rühmte mir Brahms den Tonfall dieses Organs: es sei beinahe die einzige Stimme, die er noch vertragen könne.


34 Vgl. III 192 Anm. – Je eine Anfangsseite der drei Sonatensätze, sowie das Begleitschreiben befinden sich faksimiliert in unserem öfters erwähnten »Brahms-Bilderbuche« auf den Tafeln X, XI und XIV; ebendort auch mehrere von Eugen von Miller jr. aufgenommene Ansichten von Interieurs und Partien Millerschen Stadt- und Landbesitzes aus Gmunden und Wien. Überall tritt die Persönlichkeit des Meisters lebendig hervor. Das »Bilderbuch« wird auf das Schönste ergänzt von den charakteristischen »Brahms-Bildern«, die Maria Fellinger erst in einer Mappe, dann in Buchform (bei Breitkopf & Härtel) erscheinen ließ.


35 »Guten Morgen, schöne Millerin,« nach dem Zitat aus Schuberts Müllerliedern.


36 I 149ff.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 4, 2. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1915, S. 120-173.
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