[173] Die von Brahms in Ischl verlebten Sommer nahmen, bis auf den letzten, im ganzen immer denselben ruhigen Verlauf und sahen einander zu ähnlich, um auf tagebuchmäßige Behandlung Anspruch machen zu dürfen. Es genügt, markante Einzelheiten aus der chronologischen Ordnung der Dinge herauszuheben. Zur Vervollständigung des im Wechsel der Erscheinungen dauernden Gesellschaftsbildes, das sich um Brahms entfaltete, sobald der von jung und alt, hoch und nieder gekannte und geliebte Gast tagtäglich gegen 1 Uhr mittags von der Salzburgerstraße in den Ort zum Speisen und Kaffeetrinken herunterkam, sind noch einige Persönlichkeiten zu nennen, mit denen er, teils im Café Walter an der Esplanade, teils in befreundeten Häusern verkehrte.
Da war der edelmütige Protektor der musikalischen Jugend und Freund Liszts, Rubinsteins und Bülows, der »k.k. Hof- und Kammerklaviermacher« Ludwig Bösendorfer, der Inhaber der weltbekannten Firma und des in der Geschichte des Wiener Konzertwesens eine erste Rolle spielenden Bösendorfer-Saales, ein bürgerlicher altwiener Elegant mit glänzendem schwarzen »Stößer« und erdfarbenem Sakkopaletot, der im eigenhändig gelenkten Viererzuge von Wien nach Ischl kutschierte und Visitkarten für lästige Schwätzer in der Tasche bereit hielt, mit der in Kupfer gestochenen Aufschrift: »L.B. ist zu seiner Erholung in Ischl.« Da war der schon früher genannte blutige Theaterkritiker, witzige Librettist und lustige Kampfhahn Julius Bauer, von dem sich Brahms jeden Spaß gefallen ließ, nebst mehreren seiner für die Zukunft aufgesparten Schlachtopfer und anderen Vertretern des jüngsten literarischen Wien; da waren weiter die mit philharmonischen Orchesteranekdoten geladenen Geigenbrüder Lichtenstern, deren Kollege S. Bachrich, der Bratschist des Rosé-Quartetts, der Konzertmeister [173] Krancsevics, und Solocellist der Budapester Oper Sigmund Bürger, sowie die mit runden Fingern und spitzen Zungen begabten Pianisten Moriz Rosenthal und Robert Freund.
Aus der Schweiz, vom Rhein und aus Frankreich, von Nord und Süd pilgerten Verehrer des Meisters nach Ischl. Heinrich und Elisabet von Herzogenberg eröffneten die lange Reihe von Besuchern. Sie hatten nach Heinrichs Wiederherstellung den Winter in Nizza verlebt, dann ihren Frühjahrsaufenthalt in Florenz genommen und wollten anfänglich in ihre »Liseley« nach Berchtesgaden heimkehren, nahmen aber davon Abstand, des Klimas wegen, und gingen über Ischl nach Baden-Baden. Brahms hatte sich »wie ein Schneekönig« auf ihr Kommen gefreut, erschrak dann aber, als er die Freunde in einer Verfassung wiedersah, die nach der schweren, aufreibenden Leidenszeit ja kaum anders sein konnte, aber auch so gar nichts Gutes für die Zukunft versprach. Heinrich war ein lahmer, abgezehrter Krüppel, Elisabet eine rundliche, asthmatische Matrone geworden, deren hochrotes Gesicht den Schein einer Lebenskraft vortäuschte, die tatsächlich im Erlöschen war. Als nachträgliches Gastgeschenk empfing Frau von Herzogenberg zu Weihnachten das Manuskript der Motetten op. 110. – Nach Herzogenbergs kam Frau Henriette Fritsch-Estrangin in Begleitung ihres Gatten und Schwagers aus Marseille und führte anregende, der musikalischen Unterhaltung gewidmete Tage herauf, in denen es sich begab, daß Brahms das Jägerhemd ablegte und aus dem dämmerigen Souterrain, wo er mit Wendt, Wüllner, Koeßler u.a. zu sitzen pflegte, in die glänzenden oberen Stockwerke des Hotel »Elisabet« emporstieg. Daß der getreue Wendt sich durch die weite Reise von Karlsruhe niemals abschrecken ließ, sondern, wenn es irgend anging, nach Ischl kam, um hier in gewohnter Weise, wie in Thun, mit Brahms zu verkehren, versteht sich von selbst. Auch uns veranlaßte Brahms, den Sommer 1889 in Ischl zuzubringen. Nach Karlsbad hatte er mir am 26. Juni geschrieben: »Lieber Freund, für heute erlaube ich mir nur, als das mir Wichtigste und Angenehmste, zu melden, daß hier noch sehr viele Wohnungen auf Sie warten. (Es ist wohl mehr gebaut, als fürs erste nötig.) Ich glaube, daß Sie geeignetes finden. Da es aber sehr bedenklich ist, für andere zu mieten, so möchte ich raten, ein,[174] zwei Tage ins Gasthaus zu gehen. Mit herumlaufen und suchen will ich den ganzen Tag und hernach auch helfen, die Geschirre, Gedichte und Kinder in die Wohnung tragen« ...
Einen anschaulichen, auf denselben humoristischen Ton gestimmten Bericht über einen Ischler Brahms-Sommertag veröffentlichte der Satiriker Daniel Spitzer als einen seiner berühmten Reisebriefe eines »Wiener Spaziergängers« in der »Neuen freien Presse« vom 18. August 1889. Dort heißt es:
»Geht man gegen zwei Uhr nachmittags in das Café Walter, so sieht man an einem Tische im Freien, Kaffee trinkend und Zigaretten rauchend, einen sehr kräftigen, untersetzten Fünfziger mit blondem Haar, die hochgeröteten Wangen von einem grauen Bart eingerahmt, und mit blitzenden blauen Augen, denen man es ansieht, daß in der geistigen Werkstätte dieses Mannes fortwährend gehämmert und geschmiedet und niemals gefeiert wird. In seiner Brust toben manchmal vielleicht wilde Stürme, aber an der Oberfläche sieht man nichts wie ein sich ewig gleichbleibendes Jägersches Normalhemd. Es ist Johannes Brahms, der früher nur hin und wieder in jüdischen Kreisen verkehrte, sich aber diesmal entschlossen hat, einen Sommer ausschließlich in Ischl zuzubringen. Er ist in größerer Gesellschaft sehr wortkarg und brummt nur zeitweilig eine ironische Bemerkung; im intimen Kreise aber nimmt er lebhaft an der Unterhaltung teil, und da er Humor und Witz liebt, erzählt und hört er gerne namentlich jene prächtigen Anekdoten, in denen die Juden ihre eigenen Schwächen so treffend persiflieren, die sie aber jetzt leider, um dem sterilen Antisemitismus die schärfsten Waffen gegen sie nicht selbst zu liefern, nicht mehr in Umlauf setzen. Vielleicht wird noch Brahms selber nächstens der Held einer jüdischen Anekdote, denn in einem Anfalle guter Laune ließ er sich neulich überreden, die Zielscheibe einer allgemeinen ›Pfefferkugel‹ zu werden, nämlich an einer Expedition Wißbegieriger in die hiesige Garküche von David Sonnenschein teilzunehmen, um die sabbathlichen Leckerbissen der jüdischen Kochkunst, wie Pfefferkugel, Schalet und Schaleteier kennen zu lernen. Brahms liebt überhaupt die exotische Küche, er ist beispielsweise ein leidenschaftlicher Verehrer von Gulyas und ähnlichen stark gewürzten ungarischen Nationalgerichten, und da er aus Dankbarkeit[175] gegen das Vaterland des Paprika die prächtigen ›Ungarischen Tänze‹ komponiert hat, erwartet man jetzt von ihm einen Schaleteiertanz oder im Gegensatze zur Mondschein-Sonate Beethovens eine Sonnenschein- Sonate.«
Frischen Sukkurs erhielt die Ischler Musikerkolonie durch das regelmäßig aus Amerika zu den Ferien in die österreichische Heimat herüberreisende Kneisel-Quartett (mit Otto Roth und L. Schröder), das Brahms immer zur Disposition stand. Auch Arthur Nikisch, der, nachdem er 1889 Wilhelm Gericke in Boston abgelöst hatte, seit 1893 erster Kapellmeister und Direktor der Budapester Oper war und zwei Jahre darauf seinen ehemaligen Posten am Leipziger Stadttheater mit der Direktion am Gewandhause vertauschte, er erschien mit seiner lebhaften und anmutigen musikalischen Frau Amélie. Sie sang, von ihrem Gatten begleitet, bei Johann Strauß en petit comité die meisten der von Brahms bearbeiteten deutschen Volkslieder vom Blatt, eines immer reizender als das andere, und entzückte den Meister damit so sehr, daß er ihr das Manuskript der Hefte 1–6 zum Andenken schenkte. Ein andermal spielte Nikisch mit Viktor von Herzfeld, Franz Kneisel und Genossen das Klavierquintett Ernst von Dohnányis, das Hans Koeßler, der Lehrer des damals fünfzehnjährigen Komponisten, von Budapest mitgebracht hatte. Über das die schönsten Erwartungen erregende Werk sprach sich Brahms voller Anerkennung aus. Er durfte sagen: wie der Lehrer, so der Schüler. Denn er schätzte Koeßler besonders hoch. seitdem dessen sechzehnstimmiger Psalm vom Wiener Tonkünstlerverein mit dem ersten Preise gekrönt worden war. Wie viele lernten damals von Brahms, und er von ihnen, indem er sie belehrte!
Zur vorzüglichen Brahms-Interpretin bildete sich Ilona Eibenschütz (heute Frau Derenburg), die Tochter einer mit musikalischem Talent gesegneten Wiener Familie, in Ischl weiter. Aus der hohen Schule Klara Schumanns hervorgegangen, verband sie die anerzogene klassische Form des Ausdrucks mit der Lebhaftigkeit ihres angeborenen Temperaments und bezauberte überdies alles mit ihrer reizenden Natürlichkeit. Trotz und dank ihrer Jugend, die sich gerade zur Blüte voller Mädchenschönheit entfaltete, war sie bald eine in Wien und London renommierte, ebenso gern gesehene wie gehörte Pianistin. Sie wußte Brahms mit [176] seinem eigenen g-moll-Quartett zu fangen, das sie wie keine ihrer Kolleginnen spielte, und Brahms weihte sie in die Geheimnisse seiner letzten Klavierstücke ein. Das Faktum selbst aber blieb kein Geheimnis. Auch das Ausland hatte seine journalistischen Spitzel in Ischl. In den Londoner »Musical News« erschien bald danach1 folgende Notiz: »Brahms has not been idle during the summer, having composed another set of ›Fantasien‹ for the piano, which he has recently played at Ischl, to Miss Eibenschütz, who is to have the privilege of playing them first at Vienna. These new pieces are said to be quite equal to those of the same composer introduced in London last season, and have been a surprise to his friends, as he had not spoken of them before the above-mentioned performance.« Ilona Eibenschütz aber machte von der ihr angeblich verliehenen Vollmacht keinen Gebrauch, sondern begnügte sich in ihrem Konzert, das sie am 16. November bei Bösendorfer gab, mit den ihr geläufigeren Händel-Variationen.
Doch kehren wir zum Sommer 1889 zurück. Zu der ganz ungewöhnlich vergnügten Stimmung, in der sich Brahms all die Zeit über befand, hatten ein paar besondere Ereignisse das ihrige beigetragen. Bald nacheinander waren ihm zu seiner freudigsten Überraschung zwei hohe Auszeichnungen zuteil geworden, deren er sich nicht im entferntesten versah. Der Kaiser von Österreich verlieh ihm das Komturkreuz des Leopoldordens, der nur Persönlichkeiten von ganz besonderem Verdienst, Rang und Ansehen zukommt, und zwar mit Überspringung der sonst üblichen Vorstufen; seine Vaterstadt Hamburg aber das Ehrenbürgerrecht, eine Würde, die außer ihm in neuerer Zeit nur Bismarck und Moltke erhalten hatten. Die Devise des Ordens: »Integritati et merito« hatte ihren Mann ausgefunden, denn Verdienst und Rechtschaffenheit waren bei ihm zu Hause. Wie in einem mächtigen Akkorde klangen seine Gefühle für alte und neue Heimat, für Geburtsstadt und Adoptivvaterland zusammen, als hätte es erst eines solchen, aus der Gesinnung guter Menschen und Freunde hervorgegangenen öffentlichen Willensaktes bedurft, um einen doch immer noch in [177] seinem Gemüte klaffenden Zwiespalt zu versöhnen. So kindlich war er ja wohl doch nicht, sich einzubilden, daß in beiden Fällen das Oberhaupt, hier des mächtigen städtischen Gemeinwesens, das noch immer an den Traditionen der freien Hansestadt festhielt, dort des gewaltigen zur Monarchie vereinigten Komplexes herrlicher Länder, daß also des Kaisers von Österreich Majestät und des Bürgermeisters von Hamburg Magnifizenz die Initiative zu diesem Akte ergriffen hätten. Wie sollten sie auch? Aber naiv und von Herzen einfältig, wie Brahms bis zum Ende seiner Tage blieb, hatte er eine ungeheure Freude an der Bereitwilligkeit, mit der hier und dort, von oben und unten auf die ihm freundlichen Absichten eingegangen worden war, und wurde darin noch bestärkt durch die Unzahl mündlicher und schriftlicher Glückwünsche, die ihm aus aller Welt zuflogen. Sie erfreuten ihn herzlicher als die Auszeichnungen selbst. Gern hätte er jedem Gratulanten einzeln gedankt und tat dies auch, wo er es nur irgend konnte. Aber bald lernte er die Kehrseite der Medaille, neben der menschlichen Liebenswürdigkeit auch die menschliche Gemeinheit kennen. Seine ständigen Plagegeister, die ihm Förderung und Protektion, Briefe und Manuskripte, Effekten und Geld, schließlich das Kostbarste von allem, was ein tätiger Geist besitzt, seine freie Zeit, abschmeicheln, abschwindeln und abstehlen wollten, hatten sich verdoppelt, verdreifacht, verzehnfacht. Ganze Lawinen von zudringlichen Ansprüchen gingen auf ihn nieder. Schon damals sann er über eine Maßregel nach, wie er die unerträglichen Brieflasten von sich abwälzen könnte. Aber erst 1894 entschloß er sich, Zweikreuzer-Korrespondentenkarten drucken zu lassen, des Inhalts:
»P. T.
Es ist mir unmöglich, alle mir zugehenden Briefe zu erwidern. So dankbar ich manche derselben empfange, so interessant mir andere sein mögen – es sind der Anforderungen zu viele, und ich bitte es zu entschuldigen, wenn ich nur hierdurch meinen Dank sage oder den Empfang bestätige.
Hochachtungsvoll
Johannes Brahms.«
[178] Das Mittel hätte gewirkt. Mit einer solchen höflichen Abfertigung konnte sich der Empfänger nicht brüsten, und Brahms hätte Ruhe gehabt. Nur ging er dann nicht energisch genug zu Werke. Von Mandyczewski, der die Karte zum Druck besorgte, wünschte er – »etwa zwei Dutzend« Exemplare! Denn leider könne er, wie er hinzufügt, nur in den seltensten Fällen davon Gebrauch machen: die Leute würden sich lieber über Nicht-Beantwortung ärgern als über jene. Auch ersann er zur selben Zeit noch ein anderes, weniger unhöfliches Mittel gegen Briefschreiben: »Moment-Photographien als einstweiligen Dank. Dafür aber kriege ich die schwärmerischsten Dankbriefe!« (An denselben.)
Bei dem Bürgermeister seiner Vaterstadt Dr. Carl Petersen bedankte sich Brahms mit einem Telegramm, dem man den Überschwang des ihn beseligenden Glücksgefühls anmerkt. In der Freude seines Herzens wußte er nicht gleich das rechte Wort zu finden, und der Mund floß ihm über:
»Ihre Nachricht verehre dankbar als die schönste Ehre und größte Freude, die mir von Menschen kommen kann.«
Er erschrak, wie er an Hanslick schreibt, hinterher, als er seine Depesche abgedruckt sah: »Es klingt gar albern: ›das Schönste, was mir von Menschen kommen kann‹ – als ob ich außerdem etwa an die ewige Seligkeit gedacht hätte! Mir ist aber der liebe Gott gar nicht eingefallen, ich dachte nur beiläufig an die sogenannten Götter, und daß, wenn mir eine hübsche Melodie einfällt, mir das lieber ist als ein Leopolds- Orden, und wenn sie gar eine Symphonie gelingen ließen, dies mir doch noch lieber ist als alle Ehrenbürgerrechte.«
Eine ihn halbwegs befriedigende briefliche Zuschrift an Petersen aufzusetzen, bei der er, durch die neueste Erfahrung gewitzigt, doppelt kritisch verfuhr, kostete ihn eine ganze Woche. Erst am 30. Mai 1889 lief das Schiff vom Stapel:
»Eure Magnifizenz,
Hochzuverehrender Herr Bürgermeister.
Es ist mir von ganzem Herzen Bedürfnis, dem schnellen, kurzen Telegramm einige weitere Worte folgen zu lassen. Gestatten Ew. Magnifizenz gütig, Ihnen auch hierdurch zu sagen, daß meine [179] Mitbürger mich durch die Verleihung des Ehrenbürgerrechtes in ganz ungeahnt schöner Weise geehrt und erfreut haben. Wie den Künstler ein so überaus großes Zeichen der Anerkennung, so beglückt den Menschen das herrliche Gefühl, sich in seiner Vaterstadt so hoch geachtet und geliebt zu wissen. Ein doppelt stolzes Glück, wenn diese Vaterstadt unser schönes, altehrwürdiges Hamburg ist!
Es wäre mir eine befreiende Wohltat, könnte ich einem vertrauten Freunde weiter aussprechen, was alles mir durch Kopf und Herz geht. Ew. Magnifizenz gegenüber wäre dies nicht nur ungehörig, es würde auch unverständlich bleiben. Aber ich empfinde schmerzlich und habe dringend um Nachsicht und Verzeihung zu bitten, daß mir in diesem ganz besonderen Falle die Worte so durchaus nicht zu Gebote stehn, um mir selbst irgend Genüge zu tun, ja, um nur in angemessener Weise das Schickliche und Richtige zu sagen.
Aber Ew. Magnifizenz bedenken freundlich, daß dies schöne Erlebnis gar zu Vieles in mir weckt, daß sich gar zu Vieles herandrängt, das ausgesprochen sein möchte – für einen Brief an Ew. Magnifizenz sind die Gedanken jedenfalls nicht ruhig genug.
Und so ersuche ich Sie, hochverehrter Herr Bürgermeister, diese Zeilen nur als eine vorläufige Äußerung meines Dankgefühles nachsichtig entgegennehmen zu wollen.
Euer Magnifizenz
tief ergebenster
Johannes Brahms«.2
Bürgermeister Petersen erwiderte den Brief, der für den Wissenden zwischen den Zeilen ein ganzes Buch, und zwar kein Ehrenbuch für die Vaterstadt Hamburg, enthält, mit einer freundlichen Einladung zu dem Musikfeste, das anläßlich der »Hamburgischen Gewerbe- und Industrie-Ausstellung von 1889« im September gefeiert werden sollte.
Brahms antwortet im Juni:
[180] »Für die überaus gütige Aufnahme meiner Zeilen bin ich Ew. Magnifizenz zu großem Danke verpflichtet.
Zu erwidern erlaube ich mir, daß ich jetzt hoffen kann, im September nach Hamburg zu kommen. Es ist mir vor allem der angenehmste Gedanke, Ew. Magnifizenz alsdann persönlich meine verehrungsvolle Dankbarkeit aussprechen zu können.
Auf das Programm des Musikfestes aber kommen bei der Gelegenheit durch mich – wenigstens sehr schöne und für uns Deutsche erhebende Worte. Das kostbare Geschenk meines Bürgerbriefes – zum Überfluß noch wertvoller gemacht durch künstlerische Ausstattung – werde ich also vermutlich noch hier empfangen. Auch ich meinerseits mache es mir wertvoller und teurer, indem ich den (noch plattdeutschen) Bürgerbrief meines Vaters dazu lege.3 War doch bei dem schönen Erlebnis der Vater mein erster Gedanke, und bleibt der einzige Wunsch, er möchte sich noch dessen erfreut haben. In hoher Verehrung Euer Magnifizenz ergebenster ...«
Zum Glück hat Brahms nicht so bald erfahren, welche Reibungen und Intrigen zwischen Senat und Bürgerschaft stattfanden, ehe Petersen und Bülow, von dem der erste kräftige Anstoß zur Ehrung für Hamburgs großen Sohn ausgegangen war, ihren Willen durchsetzten. Sonst wäre er mit seinen »Fest- und Gedenksprüchen« zu Hause geblieben und hätte es an der Widmung des Werkes (»Seiner Magnifizenz dem Herrn Bürgermeister Dr. Carl Petersen in Hamburg verehrungsvoll zugeeignet«) genug sein lassen. Die Idee war – den handschriftlichen Aufzeichnungen der Bürgermeisterstochter Fräulein Toni Petersen zufolge – gesprächsweise aufgetaucht: »Wir, Papa, Bülow und ich, sprachen davon, wie schlecht große Männer in ihrem Vaterlande behandelt würden, und da kam es ganz von selbst ... Hamburg hatte eine große Schuld an Brahms abzutragen; es war mir immer ein schwerer Kummer, daß die Herren des derzeitigen Philharmonischen Komitees in ihrer Kurzsichtigkeit ihn nicht gewählt hatten. Das Einzige, was uns zu tun übrig blieb, war der Ehrenbürgerbrief ... Papa und ich waren gleich Feuer und Flamme. Und dann begann die Arbeit. Aber es gab eigentlich nichts, was Papa in Hamburg nicht durchsetzen [181] konnte. Er genoß unbegrenzte Liebe und Verehrung. Es gab widerstrebende Elemente in der Bürgerschaft, die nichts von Brahms wußten; der Senat war einstimmig dafür.« – Aber auch der Senat wollte, trotz seinem Respekt vor dem Freunde Bismarcks, dem die Hamburger mit dem Zollanschluß an Preußen und Deutschland die großartigen neuen Hafenbauten und ihr herrliches Rathaus verdanken, noch sicherer als sicher gehen und beauftragte seinen Archivar Dr. Otto Beneke, Erkundigungen über die Qualifikation des zum Ehrenbürger Vorgeschlagenen einzuziehen. Im Berichte des Herrn Archivarius vom 29. März 1889 findet sich die denkwürdige Stelle:
»In den neueren und neuesten musikalischen Zeitschriften und in den Spalten verschiedener Konversationslexika ist Brahms anerkannt, nicht nur als ein sehr tüchtiger, sondern als ›einer der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart‹, wobei es nicht an Stimmen fehlt, welche ihn, obschon er kein Wagnerianer ist, für den ersten Tonkünstler des jetzigen Deutschlands halten, und ihn als einen zweiten Mozart (Beethoven!?) feiern und verehren ...«
Von der Qual, die der Bürgermeister mit den Stadtverordneten hatte, schreibt Toni Petersen weiter: »Nun galt es die dunkeln Köpfe aufzuklären, die Gegner zu überwinden, zu bekehren, die Lauen zu erwärmen, fortzureißen. Da habe ich tüchtig mit gearbeitet. Ich erinnere mich noch, welche Sorgen mir ein Dr. H. machte, der gedroht hatte, in der Sitzung dagegen zu reden. Er gehörte der äußersten Linken an, war ein exaltierter, verbitterter Charakter und hatte viele Anhänger. Vaters moralischer Einfluß auf die Menschen war aber so groß, daß auch dieser Tiger gebändigt wurde. Ich sehe noch meinen geliebten Vater, mit welcher ritterlichen Liebenswürdigkeit er die Frau des Dr. H. gewann – sie war zum Glück musikalisch und unsere Logennachbarin im Theater. Und dann kam der Sieg. Die Bürgerschaft hatte den Antrag des Senats einstimmig angenommen. Papa und ich saßen in unserm Park in Flottbeck, im Gefühl des errungenen Sieges. Da plötzlich schoß ein leuchtendes Meteor über den Himmel dahin, einen strahlenden Schweif nach sich ziehend. Wir fühlten uns wunderbar berührt, als habe der Himmel uns ein Zeichen seiner Zustimmung geben wollen ...«
[182] Die schlichten Zeilen der Dame, für die Brahms eine eigenhändige Abschrift seines Soloquartetts »An die Heimat« (op. 64) anfertigte, ergänzen in bescheidener Weise die schönen Ausführungen der Frau Marie v. Bülow, die zu einem weiter unten folgenden, von Brahms an ihren Gatten gerichteten Briefe bemerkt: »Sicher hätte selbst des Vaters Mitfreude nicht tiefer, echter sein können, als die des Freundes Bülow. Sie hat lange nachgewirkt und kann als die letzte große Befriedigung seines Lebens gelten. Steht doch das Ereignis in innigstem Zusammenhang mit all seinem Wirken für Brahms vom Beginn der Meininger Epoche an; es war wie ein stolzes Siegel, das er ihm zuletzt noch aufgedrückt.« Bülow selbst nennt es in einem von Wiesbaden an Toni Petersen, die »goldherzige Tochter« des »demantköpfigen Vaters« gerichteten Beglückwünschungsschreiben eine »Überhebung«, wenn er ihr Dank für ihre Mithilfe stammle, »aber andrerseits nur die Folge einer früheren – recht langjährigen Überhebung: der, meine kleine Person mit einer großen Sache indentifiziert zu haben.«4
Wie Brahms sich bei Hanslick für die hohe Dekoration bedankte, die dieser ihm durch die Fürsprache des liberalen, vornehm denkenden, auch mit Billroth sympathisierenden Unterrichtsministers Dr. von Gautsch zugewendet hatte – nämlich mit der Versicherung, eine hübsche Melodie, die ihm einfiele wäre ihm lieber als ein Leopoldsorden, so erwähnte er auch mit keiner Silbe das Verdienst, das Bülow an der Verleihung seines Ehrenbürgerrechtes sich zurechnen durfte, als er ihm an jenem, oben fixierten 30. Mai von Ischl schrieb:
»Teurer Freund, ich habe der Tage die schönsten Briefe an unsern Bürgermeister geschrieben und heute den elendesten abgeschickt! Du begreifst, daß ich bei dem so ganz unerwarteten und wirklich schönen Erlebnis gar zu leicht vom Hundertsten ins Tausendste komme – was alles den Bürgermeister so gar nichts angeht, daß schließlich die reine Null für ihn übrig bleibt.
Ich hätte mir's nicht träumen lassen – aber ich träume nicht von Auszeichnungen – ich habe es auch als ganz was anderes empfunden, obwohl – die Hauptsache dabei fehlt! Mein guter [183] Vater hätte es erleben sollen; an seiner Freude hätte ich mich, und wie gefreut!
Ich werde mir alle Mühe geben, den 6. Juli5 nicht zu vergessen, wer hat aber den Kalender so zur Hand oder im Kopf wie Du!
Nun aber (da ich so viele Briefe vergeblich gedichtet habe) laß mich gleich und einfach mit einer Frage kommen, bei der ich nicht genug bitten kann, sie gewiß ganz und gar ungeniert zu bedenken und zu behandeln. Für Dein Musikfest hätte ich nämlich eine ganz passende Nummer, wenn die Umstände und Verhältnisse nicht dagegen sind.
Es sind drei kurze hymnenartige Sprüche fürachtstimmigen Chor a cappella, die geradezu für nationale Fest- und Gedenktage gemeint sind, und bei denen recht gern gar ausdrücklich die Tage Leipzig, Sedan und Kaiserkrönung angegeben sein dürften. (Doch besser nicht!)
Das wäre nun in diesem besonderen Fall alles ganz gut – Du hast zu bedenken, was dagegen spricht: der vermutlich sehr ungünstige Saal, die ungünstige Zeit für Chorübungen, das übrige Programm usf. Schwer sind die Stücke nicht sehr, meinetwegen dürften die Bläser mitmachen, am zweiten Tag z.B. wäre der Klang vielleicht eine hübsche Abwechslung – nur wieder das Aber d. c.
Inzwischen fällt mir ein, daß ich Dir ja einfach die Chöre mitschicken kann! Es geschieht hiermit, und da ich keine genaue Adresse weiß, so bitte ich um eine Karte, die mir sagt, daß Brief und Rolle angekommen sind!
Ich bitte nochmals, geniere Dich nicht und laß alle ›Aber‹ zu Wort kommen!
Boieldieu ist mir noch nicht nachgereist,6 für ihn und für Deinen lieben Brief danke ich herzlich. (Eine Art Beruhigung war mir doch Dein freundliches Wort über die Sonate.7
Jetzt aber möchte ich spazieren laufen, und da das nicht zum Neroberg sein kann, so bitte ich, Deine Frau und Frau Cäcilia wenigstens schön zu grüßen. Herzlichst Dein J. Brahms.«
[184] Dieser Brief ist in mehr als einer Beziehung charakteristisch und von Belang. Nur die besonders liebevolle Anrede »Teurer Freund« verrät, daß das Herz mehr als sonst in das Schreiben hineinreden möchte, aber fast mit Gewalt zum Schweigen gebracht wird. In der Rangordnung käme Bülow, der Anreger, vor Petersen, dem Täter des Gedankens. Da die Sitte auf dem Vortritt der Magnifizenz bestand, so sorgte wenigstens der Schreiber dafür, daß der in Wiesbaden zur Kur weilende Freund gleichzeitig den (unausgesprochenen) Dank empfängt. Während er aber für das Stadtoberhaupt nichts übrig hat, gibt er Bülow zu verstehen, daß er, der nicht nach Auszeichnungen begehre, »ganz was anderes«, nämlich Rührung und Liebe für den werkeifrigen Freund, bei der ihn beglückenden unerwarteten Nachricht empfunden habe.8 Lebte sein alter Vater noch, der außer sich vor Stolz und Wonne über die (spät eingetroffene) Anerkennung des Sohnes geraten sein würde, so bliebe ihm, Brahms, wie er schon am Schlusse des zweiten, an Petersen gerichteten Briefes gesagt haben wollte, nichts [185] mehr zu wünschen übrig. Hätte er das Gedächtnis Bülows, so würde er gewiß nicht vergessen, dem Bürgermeister zum 80. Geburtstage zu gratulieren. (Wie es scheint, hat er es wirklich vergessen.) An Bülows Freundschaftsdienst wird er sich desto besser erinnern. Zeugnis dessen ist, daß er ihm sogleich die »Fest- und Gedenksprüche«, auf die er etwas hält, zum Aufputz seiner Konzerte als »eine ganz passende Nummer« anbietet und schickt, so frisch und unerprobt, wie sie aus seiner Werkstatt hervorgegangen sind. Sie würden sich eher für einen Gedenktag ersten Ranges, für eine patriotische Säkularfeier des gesamten deutschen Volkes als für die merkantile Hamburgische Gewerbe- und Industrie-Ausstellung von 1889 eignen. Aber er will sich vor allem dem Festdirigenten, daneben auch seinen Mitbürgern und deren Oberhaupt erkenntlich zeigen. Was fragt er da viel nach der Ungunst der Veranlassung, der Jahreszeit, des Lokals, der ausführenden Kräfte? Er willigt in alles, gestattet sogar, wenn es sein muß, die auf reine Vokalwirkung berechneten a cappella-Chöre mit Harmoniemusik stützen zu lassen!
Es war ein edler Wettstreit zwischen den Freunden entbrannt; denn Bülow hatte Brahms erklärt, dem Bürgermeister für die wundervolle Ausführung der von ihm proprio motu eingefädelten Sache – eine vornehme, von Brahms durchschaute Notlüge des anspruchslos zurücktretenden Bülow, für den die »eingefädelte Sache« eine Herzensangelegenheit war – einen ganz besonderen Dienst leisten zu wollen, und wäre es die Direktion eines solchen Festes in der Ausstellungshalle, was ihm sonst ein horror sei. Soll er so respektlos sein, Brahms dazu einzuladen? hatte er bei ihm angefragt. Er fürchte, daß es »weder schön, noch korrekt zugehen werde«. Nun überhob ihn das so selbstverständlich erscheinende liebenswürdige Entgegenkommen des Freundes aller Bedenken, obwohl Brahms so tat, als wolle er ihm neue erregen. Er kannte seinen Bülow besser, als dieser ihn. Am liebsten wäre er gleich auf den Neroberg in Wiesbaden gelaufen. Da dies aber nicht angehe, so ersucht er ihn, Frau Marie und Frau – Cäcilia, d.h. den Hamburger Cäcilienverein und Klengel, der das nötige Sängerpersonal gern beistellen werde, schön zu grüßen.
[186] Auch an diesem Musterbeispiele eines Brahmsschen Briefes erkennt man die Feinheiten der »Komposition«, die sich nur dem eindringenden Blick liebevollen Verstehens erschließen. Aus dem Inhalt des Briefes wird ersichtlich, daß die »Fest- und Gedenksprüche« weder für Hamburg komponiert worden, noch als Dank für das empfangene Ehrenbürgerrecht zu betrachten sind. Sie waren bereits so gut wie fertig, als Brahms die Auszeichnung erhielt, und die Gelegenheit, sie passend zu verwenden, ergab sich erst hinterher. Gleichwohl sind sie Gelegenheitsmusik von eminenter Bedeutung, in der Art des »Deutschen Requiems« und des »Triumphliedes«, mit dem sie sich nicht bloß äußerlich berühren. Wie 1870, das Jahr der deutschen Siege, das »Triumphlied«, so hat 1888, das »Dreikaiserjahr«, das Jahr der deutschen Trauer, die Gedenksprüche ins Leben gerufen. Beide Werke stehen in Reziprozität, und das zweite folgt dem ersten wie das Agnus dem Sanctus der Messe. Bei seinem Ischler Besuche hatte Wüllner Einblick in die neuen Chorkompositionen erhalten, zu denen noch die gleichzeitig mit den »Sprüchen« 1890 herausgegebenen »Drei Motetten« (op. 110) gehören. Brahms konnte sich keinen gewissenhafteren, zuverlässigeren kritischen Berater wünschen als den ihm treu zugetanen ehemaligen Dirigenten der berühmten obersten Chorsingklasse der Münchener Musikschule, die, ihrer vollkommenen a cappella-Vorträge wegen, eine zweite Sixtinische Kapelle genannt zu werden verdiente. Mit noch reicheren Mitteln beendete Wüllner als Leiter des Kölner Konservatoriums, was er in Dresden fortgesetzt hatte.9 Als Revisor der Bachschen Motetten, die Brahms bei ihren Erscheinen in den Bänden der Deutschen Bach-Gesellschaft mit unbändiger Freude begrüßte, wie als Herausgeber der für höhere Schulzwecke veranstalteten »Chorübungen«, einer systematischen Sammlung vier- und mehrstimmiger Gesänge, die vorzüglich altitalienische und altdeutsche Chorlieder enthielt, war er auf dem Gebiete, auf dem der Komponist der »Marienlieder« op. 22 und der Motetten op. 29 schon frühe sich umgetan, eine Autorität ersten Ranges geworden. Welche hohe Meinung Brahms von dem Urteil seines rheinischen Freundes hatte, bezeugt die [187] Äußerung des wahrlich nicht zur Schmeichelei Neigenden, er fühle sich auch wie eine Art von Ehrenbürger, seit er wisse, daß eines seiner achtstimmigen Chorstücke in die Fortsetzung des erwähnten Schulwerkes aufgenommen werden sollte.10 Bevor Brahms op. 109 und 110 bei Simrock erscheinen ließ, sollten sie in Köln probiert werden. Er sei, wie er Wüllner schreibt, für jedes Notabene dankbar – »auch wenn's nichts nützt!« – Wüllner möge sie »recht freundschaftlich streng« ansehen, er werde übrigens bemerken, daß ihre sommerlichen Ischler Gespräche nicht umsonst gewesen seien. Wie soll er die drei Stücke (op. 110), die er gern zusammen ließe, nennen? Einfach Motetten? Die erste Sammlung denke er bloß »Fest- und Gedenksprüche« zu betiteln – er wollte sie, dem Zuge seines patriotischen Gemütes folgend, anfangs Deutsche Fest- und Gedenksprüche taufen, besann sich aber, schon mit Rücksicht auf den Verleger, anders.
Die Texte zu den »Fest- und Gedenksprüchen« sind in dem Quartheft notiert, das Brahms schon in Pörtschach mit sich führte, das ihn dann auch nach Thun begleitete. Lieder von op. 69 bis 112 stehen darin aufgezeichnet. Am Rande des Blattes, das die »Gestillte Sehnsucht« (op. 91, 1) enthält, wird angemerkt: »Psalm. ›Unsere Väter hofften auf dich, und da sie hofften, halfst du ihnen aus.‹« Darunter: »N. B. Lukas XI 21 und 17, V Mose 4 und 7 und 9.« Zuletzt: »Es geht vorüber, eh' ich's gewahr werde, und verwandelt sich, eh' ich's merke' Hiob 9, 11.«
Es ist anzunehmen, daß Brahms in der Bekümmernis und Bedrängnis, die ihn im Sommer 1888 heimsuchte, als sich die Kaisertragödie im Hause Hohenzollern abspielte, wieder zu dem Buche der Bücher flüchtete, von dem er sich, wie wir wissen, seit seiner Jugend niemals trennte. Er suchte Trost und fand seine Fest- und Gedenksprüche. Der Text zu dem anfangs beabsichtigten »Psalm« war ihm so geläufig, daß er seine Nummer (22) nicht beifügte. Er hatte ihn nämlich schon im Jahre 1870 komponiert, als Baritonsolo mit Chor, das zwischen dem zweiten und dritten Teil des »Triumphliedes« eintreten, die Vision »Und ich sahe den Himmel aufgetan« vorbereiten und den Sänger zugleich schadlos [188] halten sollte für das ihm zugemutete kurze und undankbare Solo. Nun mußte ihm das Stück zum Eingang in sein neues Tongebäude dienen, das seiner geängstigten Seele ein Asyl und dem deutschen Volke eine Stätte der Aufrichtung, Erbauung und Ermahnung öffnete. Der dem Buche Hiob entlehnte Trost, der das Ganze abschließen sollte: »Es geht vorüber, eh' ich's gewahr werde« usw. blieb unkomponiert. Auf das gegenwärtige Leiden bezogen, hätte der Vers eine Tendenz in das Werk gebracht, die weder dem Ernste der Situation noch dem Sinne des heiligen Buches entsprochen haben würde. Überdies wäre die Brahmssche Fassung eine allzu eigenmächtige Supposition des Textes gewesen. Denn Hiob schildert die unbestehbare und unangreifbare Gewalt des Allmächtigen mit den Worten: »Siehe, er gehet an mir vorüber, ehe ich's gewahr werde, und wandelt vorbei, eh' ich's merke.« »Er« steht geschrieben, nicht »Es«. Das Wort sie sollen lassen stahn!
Brahms, ein so schlimmer Ketzer er auch in dogmatischen Dingen war, bat seinen Luther stillschweigend um Pardon und widerstand der Versuchung, das männliche Subjekt des Satzes für seine immerhin profanen Zwecke zu neutralisieren. Hat er sich doch noch vor einer andern, nicht minder bedrohlichen Anklage des geistlichen Gerichts in acht zu nehmen! Eifernde Theologen könnten ihn beschuldigen, das Lukasevangelium zur Brutstätte höllischer Geister, den heiligen Text blasphemisch zu einer Huldigung des Teufels verdreht zu haben. Unter dem »starken Gewappneten«, der den Palast bedroht, damit das Seine in Frieden bleibe, wird in der Tat kein Geringerer als Beelzebub, der oberste der Teufel, in der Schrift verstanden. Denn Christus sagt (Lukas 11, 17) als er bei der Heilung des Stummen die Gedanken der Pharisäer und Schriftgelehrten errät, die da behaupteten, er treibe den Teufel durch Beelzebub aus: »Ein jeglich Reich, so es mit ihm selbst uneins wird, das wird wüste; und ein Haus fällt über das andere. Ist denn der Satanas auch mit ihm selbst uneins, wie will sein Reich bestehen?« Und zwei Verse weiter: »Wenn ein starker Gewappneter seinen Palast bewahrt, so bleibt das Seine mit Frieden. Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seinen Harnisch, [189] darauf er sich verließ, und teilet seinen Raub aus.« Brahms eignete sich das anschauliche, äußerst prägnante, wie auf die damaligen Zustände gemachte Gleichnis an, aber er applizierte es auf einen Gegenstand höchster Verehrung. Er dachte: mögen die deutschen Kleinstaatsfanatiker, Sonderbündler und andere Feinde des Reiches Bismarck im schlechten Sinn mit Satan identifizieren, ich tue es im guten; mir ist die schlagende Poesie des Exempels wichtiger als die geschlagene Hierarchie Himmels und der Höllen, und ich überlasse es den Schriftgelehrten und Pharisäern, mich deswegen abzukanzeln.11
Wie schade wäre es, wenn er weniger antidogmatisch liberal gedacht, wenn er den gewaltigen Satz unkomponiert gelassen hätte! Dieser dreiteilige Satz ist seiner ganzen Struktur wie seinen Einzelheiten nach, die sich oft wie mit partikularistischem Trotz in das Ganze fügen, eines der größten Meisterstücke. Hier bringt Brahms mit der Verteilung und Wiedervereinigung seiner zweimal vier gesungenen Stimmen Wirkungen hervor, hinter denen die raffiniertesten Effekte des Orchesters zurückbleiben. Musik will nicht als brutaler Schall in die Muscheln des Leibes hineingelöffelt, sondern als beseelter Ton mit den Ohren des Geistes geschlürft werden. Niemand wird sich bei der merkwürdigen Stelle des c-moll-Mittelteiles, wo es von dem in sich selbst uneinigen Reiche heißt: »das wird wüste« des Grauens erwehren können. Plötzlicher Wechsel der Harmonien und Stärkegrade erweist sich, bei genialem Gebrauch, zweckdienlicher als das Aufgebot seltsamer neuer Mittel, und ein orchestrales Erdbeben kann nicht mehr ausrichten als die Fuga stretta, der vierstimmige Kanon in der Engführung, der uns versinnlicht, wie ein Haus über das andere fällt. Und welche Anstrengung scheint es den versprengten Stimmen zu kosten, daß sie sich endlich wieder zusammenfinden!12
[190] Die Spannungen der drei Chorstücke, die sich verheißend, warnend und mahnend an den Zuhörer wenden, sind mit elektrischem Fluidum geladen. Aber sie haben sich in dem brausenden Tongewitter des Mittelsatzes gelöst. Wir atmen das kräftige Ozon der gereinigten Atmosphäre, wenn in dem innigen, herzerhebenden Schlußsatz »Wo ist ein so herrlich Volk« der siebenfarbige Bogen des Friedens über den in Tränen gebadeten Himmel springt.
»Wo ist ein so herrlich Volk, zu dem Götter also nahe sich tun, als der Herr, unser Gott, so oft wir ihn anrufen?« So waren die Worte, die Mose redete zum ganzen Israel, jenseit dem Jordan in der Wüste, und so ergingen sie wieder an das Volk, das Brahms für das auserwählte seines Stammes hielt. – Sollte dieses herrliche deutsche Volk, das 1813 in der Leipziger Schlacht das Joch des fremden Eroberers abgeschüttelt und 1870 im siegreichen Kriege gegen den alten Erbfeind durch die gemeinsame Not endlich geeinigt worden war, neuerdings wieder durch innere Zwietracht auseinandergesprengt und verstört werden, daß es seinen nur darauf lauernden Widersachern zur Beute falle? »Hüte dich nur und bewahre deine Seele wohl, daß du nicht vergessest der Geschichte, die deine Augen gesehen haben, und daß sie nicht aus deinem Herzen komme alle dein lebelang.«
Der Sänger des Triumphliedes, der Dichter der »Akademischen Fest-Ouvertüre« und derF-dur-Symphonie hatte ein erworbenes Recht, als der getreue Eckart des über alles geliebten Vaterlandes aufzutreten, um beizeiten den weithin vernehmbaren Ruf seiner zum Repräsentanten-Chor der zerstreuten Gleichgesinnten vervielfachten Stimme zu erheben. Jetzt, da er von den beiden, einst rivalisierenden, nun längst versöhnten großen mächtigsten Kulturstaaten Europas, deren Kraft auf dem Wesen des Deutschtums beruht, von Vaterstadt und Wahlheimat, von Deutschland und Österreich als geistige führende Macht vor aller Welt anerkannt und ausgezeichnet worden war, jetzt durfte auch die Erfüllung des im Finale seiner Eroika herandämmernden Zukunftstraumes,13 soweit [191] es auf ihn ankam, nicht mehr in Zweifel gezogen, in Frage gestellt werden, jetzt war der Augenblick gekommen, das ihm von seinem Gott, seinem Volk und seiner Kunst gegebene Propheten- und Richteramt auszuüben: die erwünschte Gelegenheit hatte die Gestalt Hammonias angenommen und ihm zwischen den Türmen der Vaterstadt mit der Mauerkrone zugewinkt.
Seine heiligen, kindlich reinen, einfältig frommen Gefühle ließen ihn ungehörte Töne anstimmen. Diese Töne klangen so alt und waren doch so neu. Denn sie griffen wie nach einer festen Stütze und unerschütterlichen Basis auf die Form und Weise der alten Doppelchöre zurück und gewannen ihre eigene charakteristische Gestalt, ihre frische, vom Leben der Gegenwart glühende Farbe, nachdem sie durch die Seele des modernen Meisters und seiner Musik hindurch gegangen waren. Wie auf diamantenem Felsen gegründet, stehen die mit wunderbarem Finderglück aus der Bibel zusammengesuchten Kernsprüche da, eine unbezwingliche stählerne Festung und ein Leuchtturm für alle, die auf dem Meere der Zeit mit Wellen und Stürmen kämpfen.
In Deutschland ist der hohe ethische, patriotische und künstlerische Wert des mit Bachscher Gestaltungskraft ausgearbeiteten, mit Palestrinaschem Wohllaut gesättigten Chorwerkes zwar hier und da erkannt, aber nur vorübergehend und bei weitem nicht nach Verdienst und Gebühr geschätzt worden. Seine Zeit wird kommen. Bei einer Feier, die am 18. Januar 1896 vom »Verein für Kunst- und Wissenschaft« in Hamburg zum Gedächtnis an die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches veranstaltet wurde, erklangen die »Fest- und Gedenksprüche« zwischen lebenden Bildern, welche den Kaiser Friedrich Rotbart im Kyffhäuser, Luther auf dem Reichstage zu Worms, die Franzosenherrschaft in Hamburg und »Alldeutschland nach Frankreich hinein« darstellten. Maler Duysske hatte die Bilder gestellt und den Titel des Programmbuches (Barbarossa-Wilhelm auf dem Throne über den zersprengten Felstrümmern des Berges) gezeichnet. Brahms zeigte mir lächelnd das Programm: Wagners »Kaisermarsch« und ein Prolog von Arthur Fitger gingen ihm voran.
Bei der ersten Hamburger Aufführung von 1889 sang Klengels Cäcilienverein die Sprüche, die dann erst in einem seiner [192] Vereinskonzerte ihre Macht und Herrlichkeit voll erwiesen. In der Festhalle des Ausstellungsplatzes, welche jede feinere Abstufung des Klangs unmöglich machte, kamen die Chöre trotz starker Besetzung und vortrefflicher Ausführung (durch denselben Verein) nicht zur Wirkung, und weder Brahms, noch Klengel und Bülow hatten besondere Freude von den Ausstellungskonzerten, so großartig sie in Szene gesetzt worden waren, und so glänzend sie äußerlich verliefen. Sie begannen am 9. September 1889 mit Kyrie und Gloria aus Beethovens »Missa solemnis«, denen sich die Brahmsschen Chorstücke anschlossen, brachten u.a. Beethovens von Bülow gespieltes Klavierkonzert in Es, Brahms' von Brodsky gespieltes Violinkonzert und hörten am 13. September, der die Alt-Rhapsodie brachte, mit ein paar Straußschen Walzern auf (»Volkssänger« und »Phönixschwingen« op. 119 und 125). Bülow hat das Verdienst, den Walzer von Strauß, der auch in seinen durchaus seriösen Hamburger und Berliner Zyklen nicht fehlte, konzertfähig gemacht zu haben.14
Am Tage nach Schluß des Musikfestes empfing Brahms das Original des Ehrenbürgerbriefes aus den Händen des Bürgermeisters. In Adolf Wohlwills »Bürgermeister Petersen« (herausgegeben in der »Hamburgischen Liebhaber-Bibliothek«) steht: »Am 14. September wurde Brahms von Hans von Bülow und Julius Spengel in Petersens Haus geleitet, wo ihn dieser und zwei andere Vertreter des Senats erwarteten. Hier überwies ihm Petersen das von Duyffke künstlerisch ausgestattete Ehrenbürgerrechtsdiplom, das auf einem von demselben Künstler geschaffenen, die Krönung der Tonkunst durch die Hammonia darstellenden Aquarellgemälde ruhte. Die Ansprache Petersens beantwortete Brahms mit herzlichen Worten, in denen er aufs neue seine Dankbarkeit und seine Anhänglichkeit an die Vaterstadt beteuerte.«
Das stimmt insofern nicht mit den Tatsachen überein, als Brahms Kassette und Adresse erst später erhielt, und zwar in [193] Wien.15 Auch fand die Überreichung des Briefes nicht in Petersens Wohnung, sondern im Stadthause statt. Die Steifheit des feierlichen Aktus wurde dadurch gemildert, daß, wie Frl. Petersen berichtet, auch Angehörige der Familie Petersen und Damen zugegen waren, wie die Frau des ebenfalls anwesenden Syndikus Roeloffs und Frau v. Bülow.
»Wir fuhren dann alle«, schreibt die Tochter des Bürgermeisters, »nach Flottbeck, wo in unserm Landhause das Frühstück eingenommen wurde. Auch Professor Julius Spengel und Frau kamen mit. Brahms war in bester Laune. Er ging durch die Zimmer mit uns, blieb vor meinem Schreibtische stehen und betrachtete die Photographie eines idealisierten ›Napoleon I. auf dem Totenbett‹. Das Bild brachte ihn in Harnisch, er schalt es unwahr und konnte sich gar nicht beruhigen, daß ich es auf meinem Tische hatte. Alles Falsche ging ihm gegen den Strich ... Nach dem Frühstück, bei dem es sehr heiter herging, wanderten wir durch den herrlichen Jenischschen Garten nach dem Elbpark, der, am hohen Elbufer gelegen, schöne Ausblicke auf den Strom bietet. An den schönsten Punkten ließen wir uns nieder, und Brahms erzählte, wie er in seiner Jugend oft hier herausgewandert sei und sich dabei an den berühmten ›Flottbecker Kringeln‹ delektiert habe. Später ließ ich an den Bäumen, unter denen wir geruht, Erinnerungstafeln anbringen mit der Inschrift: ›Brahmsruhe, d. 14. September 1889‹. Auf der andern Tafel steht: ›Bülowhöhe‹. Bülowruhe konnte man nicht hinschreiben, denn wer hätte [194] Bülow jemals im Zustande der Ruhe gesehen! An jenem Ehrentage seines großen Freundes aber strahlte er vor Glück und Befriedigung.«
Wohlwill berichtet,16 daß Bismarck nach dem Rücktritt von seinem Kanzlerposten am 3. Juni 1890 beim Bürgermeister des ihm treu ergebenen Hamburg in Flottbeck mit Gemahlin, Söhnen und Schwiegertochter und in Begleitung Lothar Buchers und Dr. Chrysanders zu Gast erschien, bei welcher Gelegenheit er »Brahmsruhe« und »Bülowhöhe« im Elbpark besucht habe. Da auch sein Verweilen dort an einer Eiche als »Bismarckruhe« festgehalten wurde, so hat Brahms noch die Genugtuung erlebt, zugleich mit dem von ihm abgöttisch verehrten Manne in seiner Vaterstadt verewigt worden zu sein. Wäre Petersen nicht vor dem Einzug in das neue Rathaus gestorben, dessen Richtfeier am 7. Mai 1892, an Brahms' neunundfünfzigstem Geburtstage, während der Cholera-Epidemie stattfand, so hätten die beiden größten deutschen Männer des Jahrhunderts wahrscheinlich Gruß und Handschlag getauscht.
Nachdem Brahms die bewußte Kassette in Wien erhalten hatte, bedankte er sich bei Petersen mit folgendem Schreiben:
»Eure Magnifizenz, hochverehrter Herr Bürgermeister, durch Herrn Duysske bin ich denn endlich in den Besitz meines kostbaren Schatzes gekommen, und es ist mir eine besondere Freude, daß mir dies ein Anlaß sein darf, einige Worte an Sie zu richten.
Seit ich von Hamburg zurück bin, empfinde ich das lebhafteste Verlangen, Ihnen, verehrtester Herr, und zwar Ihnen ganz persönlich, recht von Herzen zu danken.
Durch Ihre Bekanntschaft und durch die unvergeßlichen Stunden in Ihrem Haus sind Bilder in meine Seele gezogen, die nicht erlöschen werden; gute Gedanken an die Heimat werden sie begleiten und verschönen. Schriebe ich Noten statt Worte, so würde ich hier erinnern: molto espressivo, teneramente, con intimissimo sentimento! So müssen Sie schon dem einfachen Wort glauben, das Ihnen gern das Herzlichste sagen möchte.
Gern hätte ich diesem Gefühl hoher Verehrung und großer Dankbarkeit auch dadurch einen Ausdruck verliehen, daß ich mir [195] erlaubte, die (beim Hamburger Fest aufgeführten) ›Fest- und Gedenksprüche‹ Ihnen zuzueignen.
Es ist allerdings, dem Umfang nach, ein kleinstes Werk, aber, abgesehen davon, daß ein größeres Werk nicht zugleich größeren Wert hat, sind es hier die Worte und ihre Bedeutung, welche mir überhaupt den Gedanken einer Widmung nahe legen. Hätte ich nicht jetzt den Vorzug, Sie zu kennen, so würde ich etwa an einen Namen wie Bismarck oder Moltke denken – ihn aber wohl verschweigen!
Schließlich, um noch einmal zum fröhlichen Anfang zurückzukehren: es war ein gar liebenswürdiger Gedanke von Ihnen, mir meinen Bürgerbrief durch eine so freundliche und ehrenvolle Gesandtschaft überbringen zu lassen.
Auch Herr Duyffke sollte sich seines Amtes wohl gefreut haben, wenn er mir nur mehr Zeit gelassen hätte.
Aber ihn lockten Pest und Prag gleich den ersten Tag – die Frau daheim aber mit gar zu raschem und gutem Erfolg!
Indes hoffe ich, es hat ihn doch gereizt, die alte Kaiserstadt einmal behaglicher zu genießen.
Ich danke noch für Ihren freundlichen Gruß, der mir den lieben Gast meldete, und darf wohl bitten, mich den Ihrigen gütigst empfehlen zu wollen.
In hoher Achtung und Verehrung Ihr ergebenster
Johs. Brahms.«
Mit Frl. Toni wechselte Brahms auch weiterhin Briefe, von denen bei entsprechender Gelegenheit die Rede sein wird. Zum feierlichen Abschluß der denkwürdigen Hamburger Ehrenbürger-Episode, die wie in eine Zeit der Erfüllung und Versöhnung als goldenes monumentum aere perennius in das Leben des an der Schwelle des Greisenalters stehenden Tondichters hereinragt, sei hier noch der schöne Trostbrief mitgeteilt, den Brahms am 20. Dezember 1892, also erst einen Monat nach dem Ableben ihres Vaters, an Toni Petersen richtete:
»Sehr geehrtes Fräulein, es verlangt mich herzlich, Ihnen ein Wort zu sagen und von Ihnen zu hören. Erstens um so mehr (und am liebsten buchstäblich), als der Draht das geschriebene Wort nicht ersetzen kann – dieses aber ebensowenig das gesprochene!
[196] Sie werden mein Schweigen nicht mißdeutet haben.
Wenn erlauchteste Männer die Verdienste Ihres herrlichen Vaters priesen und sein Scheiden beklagten, so wußten Sie, daß diese auch für mich und Viele sprachen, die das Gleiche auf das lebhafteste empfanden. Was mir sein Andenken bedeutet und doppelt bedeutet, wenn ich der Heimat gedenke, das brauche ich Ihnen nicht zu sagen.
Nach meiner Art freilich könnte ich weiter schweigen – wenn ich nicht Ihrer so herzlich dächte und so gern früge, wie sich Ihr Leben denn gestaltet!
Ich denke an die lieben, behaglichen Räume, in denen wir, genau ein Jahr vor dem Tode Ihres Vaters einen so köstlichen Abend verlebten, und in denen Sie jetzt einsam zurückblieben. Hoffentlich gönnen Sie ein Wort freundlicher Mitteilung Ihrem sehr und herzlich ergebenen J. Brahms.«
Nicht so leicht wie die weite Hamburger Reise fiel Brahms die kurze Fahrt zur Wiener Hofburg, wohin ihm der Stern seines Ordens voranleuchten sollte. Es kostete die größte Mühe, ihn zu bewegen, daß er eine Audienz beim Kaiser von Österreich nachsuchte, um für die ihm erwiesene Auszeichnung seinen Dank abzustatten. Erst auf längeres und wiederholtes Zureden des Prinzen Heinrich Reuß entschloß er sich zu dem unerläßlichen Schritt. Am Tage der Audienz warf er sich schon am frühen Morgen vollständig in Gala, weil er fürchtete, von Besuchern aufgehalten zu werden. Er wollte den Leopoldsorden, den er vorschriftsgemäß anzulegen hatte, einfach ins Knopfloch hängen, um seinen neuen Frack zu schonen. Frau Celestine (seine Hauswirtin) fuhr, da er nicht glauben wollte, daß die Dekoration anders getragen werde, schnell in die Stadt und brachte die schriftliche Weisung eines Sachverständigen bei. Sie nähte ihm dann den Orden so an, wie das Zeremoniell es vorschrieb, mußte es aber so einrichten, daß er gleich wieder abgerissen werden konnte. Anfangs wollte er nichts von Handschuhen hören und meinte, der Kaiser werde ihm nicht auf die Hände sehen. Erst als Frau Truxa ihm zu Gemüte führte, nicht nur mit Rücksicht auf den Kaiser, sondern schon der Personen in der Antichambre wegen müsse er weiße Glacés tragen, suchte er ein paar alte, nicht mehr ganz saubere [197] Konzerthandschuhe aus irgendeiner Tasche hervor und zog den linken an. Auch wollte er absolut zu Fuß in die Hofburg gehen, bequemte sich dann aber, auf die Bemerkung hin, daß er doch nicht mit kotigen Stiefeln ins Empfangszimmer treten dürfe, zu einem »Komfortable« (Wiener Einspänner). Nach der Audienz, über deren Verlauf er sich sehr befriedigt vernehmen ließ, ging er zu einem Diner bei Freunden und lief dann mit hochrotem Gesicht, den Zylinder weit aus der Stirn geschoben, im Stadtpark umher, wo wir ihm begegneten. Er war des Gottes voll, die vom Wind zerzausten Haare hingen ihm wirr um die Schläfe, und er sah einem der flüchtig gezeichneten Beethoven-Bilder ähnlich, von denen man nicht weiß, ob sie Porträts oder Karikaturen vorstellen.
Von Hamburg zurück nach Wien war Brahms, wie wir aus dem vorigen Kapitel wissen, über Baden-Baden gefahren, um älteren und jüngeren Freundschaftspflichten Genüge zu tun. Außer der bereits erwähnten Nachfeier zu Klara Schumanns siebzigstem Geburtstage hatte er dort mit Widmann ein brieflich vereinbartes Rendezvous einzuhalten. Die mit dem Freunde in Lichtenthal verlebten Stunden sollten eine wechselseitige Entschädigung für die lange Trennung sein und, wie Brahms ausdrücklich wünschte, zu einer lieben, alljährlich zu erneuernden Gewohnheit den Grund legen. »Denn im übrigen gehe ich wohl (wieder) nach Ischl, träume von Thun als einem irdischen Paradies und von Ihrem Häuschen – dito« ...
Spengel wurde für die Mühe, die er sich mit den »Fest- und Gedenksprüchen« gegeben hatte, von Brahms damit belohnt, daß er ihn für die Konzerte seines Cäcilienvereins auf die drei wunderbaren Motetten (op. 110) hinwies, mit denen er als Novität Staat machen konnte. In Brahms' Art lag es nicht, einem noch so befreundeten Musikdirektor seine Werke anzupreisen. Wenn er an Spengel schrieb, er könne ihm seinen Dank nicht besser beweisen, als indem er sage, daß er sofort die gewünschten Motetten vorgenommen, bedacht und an Simrock geschickt habe, um Stimmen stechen zu lassen, wenn er dann noch hinzufügt, er glaube, Spengel und sein Chor werden mehr Vergnügen an allen dreien haben als an den Festsprüchen, so zeigt das, wieviel er von ihnen hielt. Man könnte sie das Höchste nennen, was Brahms in dieser, von [198] kontrapunktischen Schulfuchsern und kantoralen Handwerkern verdorbenen Gattung geistlicher Musik hervorgebracht hat, und sagen, sie bezeichneten den freien, allumschauenden Gipfel des über op. 29 und 74 zurückgelegten Anstieges; aber eine solche Gradmessung involvierte eine Ungerechtigkeit gegen die beiden Meistermotetten op. 74, namentlich gegen das Deminutiv-Oratorium der Hiobsklage »Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen?« Nein, auch die Wahrnehmung, daß das spätere Werk die Spuren großer Vorbilder noch sorgfältiger verwischt, ohne die Befruchtung seiner von verschiedenen Seiten zuströmenden Quellen in Abrede zu stellen, auch diese Wahrnehmung darf unser Lob nicht ungerecht machen.
Schon oben haben wir auf die engere Zusammengehörigkeit der Motetten op. 110 aufmerksam gemacht. Brahms selbst äußerte, daß er die drei Stücke gern zusammen ließe.17 Obwohl sie, aller Wahrscheinlichkeit nach, weder von Anfang an als Ganzes gedacht, noch bald hintereinander komponiert worden sind, können sie doch in der vorliegenden Fassung als dreiteiliges Werk angesehen werden. Die zweite, ein vierstimmiges Strophenlied im ersten Kirchenton, das mit den Marienliedern op. 22 verwandt ist (»Ruf zur Maria!«), brächte dann die begründende Voraussetzung zu dem Bußpsalm (»Ich aber bin elend, und mir ist wehe«) erst hinzu und offenbarte sich als bewegende Seele des Ganzen. Unter dem groben härenen Hemd des Büßers schlägt ein den irdischen Freuden zugewandtes, der Sinnenlust ergebenes, weiches Herz, das den Anfechtungen der argen Welt nicht widerstehen kann, so gern es möchte. Die arge Welt heißt hier die »arme« und die »falsche«. Das zehnteilige Gedicht könnte von einem Griesebart herrühren, der ein ritterlicher Minnesänger des Mittelalters war, so schön gepanzert ist die nach Gottes Frieden seufzende Strophe mit ihrem auf die letzte Not gefaßten Abgesange. Was dem Dichter widerfuhr, hat erst der Komponist zutage gefördert. Mehr die geschmähte und bemitleidete Welt, als die erwünschte Abkehr von ihr hat ihn zu dem gemessenen, aber »con moto« bezeichneten Reigen im Sechsvierteltakte inspiriert, und es ist, als hätte er, den das Alter zur Entsagung verurteilte, nicht übel Lust, noch einmal in den Kreis der Tanzenden einzutreten, [199] wohl wissend, daß die arme falsche Welt bald mit den zierlichen Füßen betrügerischer Schönen über sein entschlummertes Haupt hinwegschleifen wird:
»Ach, arme Welt, du trügest mich,
Ja, das bekenn' ich eigentlich,
Und kann dich doch nicht meiden!«
Brahms verlängerte den Schluß jeder Strophe immer um einen nachgeschleppten Takt, wobei er durch Synkopierung die sechs Viertel zu drei tief aufatmenden Halben machte; in der Schlußstrophe aber schob er zwei ganze Takte ein, die er durch Verlängerung der Periode gewann, so daß wir zwei Strophen von neun und eine Schlußstrophe von elf Takten haben – rhythmische Eigenheiten, die im Charakter des Phantasiebildes begründet sind. Sowohl dieses urdeutsche Lied, als der ebenso deutsche letzte Teil des dreigliederigen Werkes rufen abgeklungene Detmolder und Hamburger Zeiten wieder herauf. Der Gedanke, daß aus dem Text des Eberschen Kirchenliedes »Wenn wir in höchsten Nöten sein« eine Choralmottete hätte werden sollen, oder, daß Nr. 3 gar einmal eine Choralphantasie für Orgel war, läßt sich kaum abweisen. Nur der erste Vers des Chorals mit der Melodie:
ist intakt stehen geblieben.
Er wird als cantus firmus benützt, und der Doppelchor gewinnt daraus den Stoff zu einer großartigen Phantasie, welche das Pfeifenwerk der Orgel in Menschenstimmen umwandelt, mit diesen aber so frei und unbekümmert verfährt, als sollte für die Möglichkeit einer achtstimmigen, kanonisch in mehreren Kontrapunkten gearbeiteten Chorimprovisation der Beweis erbracht werden. Jene im Notenbeispiel mitgeteilte Choralmelodie ist nicht die altevangelische, von Bach zweimal bearbeitete, sondern scheint von der Erfindung des Komponisten zu sein. Der moderne, die leitermäßig ansteigende Tonreihe jäh aufhebende Quintensprung, welcher die »höchsten Nöte« zum Schreien malt, möchte dafür bürgen. Das durch mancherlei Diminutionen, Permutationen und Imitationen [200] gewonnene thematische Material dient dem gitterartig durchbrochenen Gemäuer des schwanken Tongebäudes doch auch zur Stütze; nur sollen seine geschickt verborgenen Pfeiler, eben die unterdrückten Fortsetzungen jener Choralstrophe, nicht gleich von jedermann bemerkt werden. Der Sopran des ersten Chores führt den Satz schon weiter, während Tenor und Baß des zweiten noch mit der Wiederholung des Cantus beschäftigt sind:
»Und wissen nicht, wo aus und ein«, die anderen Stimmen greifen nachahmend ein. Sobald der zweite Chor die Melodie choralmäßig wiederbringen will, eilen Stimmen des ersten mit der Umkehrung des anscheinend aus 1a gewonnenen Motivs (2a) herbei:
Der zweite Chor singt, parallel mit dem Anfang: »Und finden weder Hilf' noch Rat«:
Der Cantus (1), den diesmal Tenor und Baß des er sten Chores kanonisch imitieren, kadenziert nachd-moll (+), worauf der Sopran des zweiten Chores mit anderen Stimmen das vorige Spiel in der Umkehrung wiederholt:
Erkennen wir in 4 den vollständigen dritten Vers des Chorals, so läßt sich die ganze Strophe des (unterdrückten) Chorals rekonstruieren, wie folgt:
[201] Ein Spiel, aber gewiß keine Spielerei. Die ausschwärmenden, einander das Wort vom Munde abfangenden Stimmen der aufgelösten Choralmelodie, welche die Ratlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit des Herzens so anschaulich versinnbildlichen, gehören zum Angriffsplan des Komponisten. Als plänkelnde Tirailleure ziehen sie voraus, die Hauptmacht rückt in geschlossenen Reihen nach. Der c-moll-Teil bedeutet, wie das Kolon der letzten Textzeile anzeigt, nur den konditionalen Vordersatz. Dem affirmativen Nach-und Hauptsatze:
»So ist das unser Trost allein,
Daß wir zusammen ingemein
Dich rufen an, o treuer Gott,
Um Rettung aus der Angst und Not«
geziemt das Massiv des wesentlich homophonen Chores (in f-moll 3/4 Takt), der die in ihm ruhenden Kontrapunkte für sich behält. Hervorgegangen aus der Achtelstakkatofigur von 2a und im Rhythmus an den Reigen der zweiten Motette erinnernd, beschwört er die Not und Angst des Sünders herauf, in der zuversichtlichen Hoffnung auf Rettung. Sinnig fleht der wiederholte Choral um Gnade, und die nach C-dur hinarbeitende Koda des noch einmal repetierten, seine polyphonen Keime immer reicher entfaltenden zweiten Teiles kündigt das Ende der Trübsal an.
Die erste, den eigentlichen Bußpsalm enthaltende Motette »Ich aber bin elend, und mir ist wehe« ist der schwerste und gehaltvollste [202] Teil der Trilogie. Er dürfte zuletzt, und zwar in Thun oder Ischl komponiert worden und dann den andern beiden, gründlich überarbeiteten Motetten vorangeschickt worden sein. In ihm werden Elemente verschiedener Arten des Kirchenstils als Kontrastmittel gebraucht und, nachdem die beabsichtigte Wirkung erzielt worden ist, miteinander verschmolzen. Die gründliche Kenntnis Bachs, daneben aber auch die Beschäftigung mit Heinrich Schütz, dem genialen Schüler Giovanni Gabrielis und Vermittler deutscher und wälscher Tonkunst, mögen Brahms auf neue Wege geleitet haben. Es verschlug dem Protestanten nichts, wenn ihn ein Seitenpfad einmal in die Katholische Kirche führte, um, den Gläubigen gleich, zu psalmodieren, sich mit benedeitem Wasser zu besprengen und zu bekreuzigen. Wie eine Vision zieht das weirauchduftige, goldig blitzende Bild eines italienischen Kircheninterieurs an uns vorbei, wenn nach den Anrufungen »Herr, Herr, Gott«, die auf halben Noten im Intervall der Quart aufwärtsschreiten, die adorierende Gemeinde auf einem Ton in kurzen Achteln ihr »Barmherzig und gnädig« flüstert. Aber für einen so billigen äußerlichen Effekt war Brahms seine Kunst nicht feil, und er schmiedete aus den zerlaufenden Achteln gleich ein festes rhythmisches Motiv: (»Und vergibst Missetat«). Besonders merkwürdig erscheinen die siebzehn Takte des Moll-Introitus in der Mannigfaltigkeit ihrer Stimmführung und der Fülle ihrer Dissonanzen, welche sich so schwer entschließen, in die Dur-Tonart (G) überzugehen, mit der sie sich beim Eintritt des »Herr, Herr Gott« gleichsam selbst überraschen.
An die erste Motette mag Brahms vor den andern gedacht haben, als er den Mitgliedern des Hamburger Cäcilienvereins seine Nüsse zum Knacken übergab, mit besonderer Liebe aber sandte er diese an Freund Wüllner und die oberste Chorsingklasse des Kölner Konservatoriums. Wüllner wollte Brahms zum vorjährigen Niederrheinischen Musikfest mit der Bachschen Kantate »Nun ist das Heil und die Kraft« und seiner c-moll-Symphonie, die Brahms hätte dirigieren sollen, nach Köln locken. Brahms aber verschob den Besuch bis zum Frühjahr 1890, um sich außer den drei Motetten auch die »Fest- und Gedenksprüche« anzuhören. Wüllner hatte ihm weder geschmeichelt noch zuviel versprochen, als er ihm [203] am 3. Februar schrieb, die neuen Motetten klängen wunderschön. Der vom Konservatorium in Köln am 13. März »zum Besten des Stipendienfonds« veranstaltete »Zweite Abend für Chorgesang a cappella« brachte in strenger Auswahl unbegleitete Chormusik aus alter und neuer Zeit. Auf dem Programm waren vertreten Johann Michael Bach, der Oheim Sebastians, Gregor Aichinger, Tomaso Bai, Joh. Seb. Bach. Hier wurde die historische Reihenfolge mit den drei neuen Motetten unterbrochen; ihnen schlossen sich das von Brahms, G. Hollaender und L. Hegyesi gespielteH-dur-Trio (in der neuen Bearbeitung) und Koeßlers sechsstimmiger Chor »Bitte« an. Dann folgten noch drei vierstimmige Romanzen von Schumann, und den Schluß machten die »Fest- und Gedenksprüche«, hier ausdrücklich »deutsche« benannt. Brahms wohnte vom 11. bis 15. März (zum letzten Male!) bei Geheimrat Schnitzler, hielt dort zweimal Probe seines Trios ab und befand sich, da alles nach Wunsch ablief und die von Wüllner erregten Erwartungen von seinen Konservatoristen noch übertroffen wurden, in so guter Laune, daß er am Abend vor seiner Abreise bei Schnitzlers die schönsten Walzer aufspielte: nur die Alten durften stillsitzen und zuhören, die Jugend mußte tanzen.
Zu seiner gehobenen Stimmung sollte ein Besuch aus Westfalen nicht wenig beitragen. Als nämlich das Kölner Konzert in naher Aussicht stand, lud Brahms seinen Jugendfreund Julius Otto Grimm nebst Frau dazu ein, mit den herzlichen Zeilen: »Lieber, alter Freund, am 13. März denke ich in Köln ein Chorkonzert mitzumachen, und es wäre ganz ausnahmsweise schön und lieblich, wenn Du und gar Pine Gur dabei wären. Du hörst allerlei würdige Chormusik, einen Haufen Motetten von mir und ein Stück, das Dich notwendig interessieren muß.
Kennst Du etwa noch ein H-dur-Trio aus unserer Jugendzeit, und wärest Du nicht begierig, es jetzt zu hören, da ich ihm – (keine Perücke aufgesetzt –!) aber die Haare ein wenig gekämmt und geordnet« ... Und Grimm kam von Münster mit seiner Philippine (»Pine Gur«) und erhöhte das Behagen des treuen Freundes mit dem Feste der Erinnerung, das die beiden alten Knaben feierten; in demselben Köln, wo vor sechsunddreißig Jahren zum ersten Male Beethovens Neunte Symphonie, bald [204] nach der Katastrophe im Schumannschen Hause, ihre leiddurchschütterten Herzen erhoben hatte.18 Mit den Trio-Klängen, die den ehemaligen Göttinger Musikdirektor 1854 in Hannover begrüßten, hat Brahms Abschied von seinem alten Isegrimm für immer genommen. Die Freunde sahen einander nicht wieder.
Es sei daran erinnert, daß die Kölner Aufführung des neubearbeiteten Jugendwerkes nicht die erste öffentliche war. Schon im Winter hatte Brahms das Trio in Budapest mit Hubay und Popper gespielt, und bald darauf, am 22. Februar mit Rosé und Hummer in Wien. Hier verriet sein Klavierspiel wenig von der Abnahme technischer Meisterschaft, wenn auch ein paar unnötige Entgleisungen und zufällige Fehlgriffe mit unterliefen. Man nahm sie gern in Kauf, angesichts der hinreißenden Poesie seines Vortrages. Wer ihn damals, namentlich in der privatim abgehaltenen Probe,19 gehört hat, wird die Verve, die er in dem phantastischen Scherzo entwickelte, und den schwärmerischen Ernst stolzer, unberührt reiner jugendlicher Empfindung, den er im ersten Satze beim Gesange des Hauptthemas entwickelte, nicht mehr vergessen haben. Dem nahezu Sechzigjährigen stand der Ausdruck für den Überschwang der Gefühle noch ebenso zu Gebote wie dem Zwanzigjährigen, und der Knabe hatte sich als Vater des Mannes erwiesen.
Über Wert und Verhältnis der beiden Fassungen von op. 8 ist seinerzeit, bei der Geschichte des Werkes, das Notwendigste gesagt worden.20 Hier aber sei noch ein Teil der ausgezeichneten vergleichenden Kritik nachgetragen, welche Robitscheks »Deutsche Kunst- und Musikzeitung« in ihrer Nummer vom 1. März 1890 [205] dem Trio hat angedeihen lassen. Der »E.« unterzeichnete Verfasser schreibt u.a.: »Im ersten Satz fängt die Umarbeitung dort an, wo mit dem Wechsel zwischen 4/4- und 3/2-Takt die Überleitung zum Seitensatz anhebt. An die Stelle des Seitensatzes von op. 8 ist ein ganz neuer Gedanke getreten; er steht dem Hauptmotiv näher und ist kunst- und ausdrucksvoller. Selbstverständlich ist daher, von dieser Stelle angefangen, das ganze Stück nunmehr ein anderes geworden. Von Fugato- und Nachahmungssätzen ist keine Spur mehr darin. Der neue Satz vermeidet alle Verbreiterungen und Umständlichkeiten und geht gerade auf sein Ziel los, die Themen zum Ausdrucke und zu knapper, gedrungener Entfaltung zu bringen. Der zweite Satz ist bis auf die Schlußpartie unverändert geblieben. Diese selbst ist kürzer geworden und geht den synkopierten Nachahmungen zwischen Geige und Violoncell ganz aus dem Wege. Es ist sehr bezeichnend für die natürliche Entfaltung des Genius Brahms', daß er hier wie an den meisten Stellen des Trios die künstlichen Partien hauptsächlich ausgeschieden hat. Er lehrt uns dadurch, daß die Kunst nicht in der Künstlichkeit zu suchen ist, sondern in der Einfachheit und Faßlichkeit. Im dritten, langsamen Satze fängt die Umarbeitung und neue Gestaltung auch beim Seitenthema an. Mochte das ursprüngliche Seitenthema wegen seiner auffallenden Ähnlichkeit mit Schuberts Lied ›Am Meer‹ oder wegen anderer Eigenschaften die strengere Prüfung nicht mehr bestanden haben: an seine Stelle ist ein neuer, ganz Brahms angehöriger, breiter melodischer Gedanke in gis-moll getreten, den das Violoncell einführt. Auch das doppio movimento ist weggefallen, und der Satz geht adagio von Anfang bis zu Ende. Trotzdem ist er kürzer geworden. Ganz ähnlich wie dieser und der erste ist auch der letzte Satz umgestaltet worden. Auch hier fängt die Umarbeitung bei der Überleitung zum Seitensatze an und bringt einen neuen, dem Hauptsatze näherstehenden Seitengedanken. Dieser ist eine ungemein frische und kühne Melodie, zunächst vom Klavier vorgetragen, meist in Viertelnoten gehend, denen die Saiteninstrumente durch nachschlagende Achtelnoten die harmonische Fülle geben. Er steht im viertaktigen Rhythmus, nicht wie in op. 8 im dreitaktigen. Selbstverständlich hat er auch kein Stretto am Schluß und keine Mischung des viertaktigen und [206] dreitaktigen Rhythmus wie der Schluß von op. 8. Das sind wieder Zeichen größerer Einfachheit und Natürlichkeit. Im ganzen ist das neueH-dur-Trio ein unvergleichliches Zeugnis für die souveräne Beherrschung der Kunsttechnik, wie sie Brahms eigen ist, für seine künstlerische Offenherzigkeit und Ehrlichkeit, mit der er nicht nur bekennt, sondern uns geraden Weges zeigt, was er in seiner Jugend nicht recht gemacht hat. Er beweist uns, daß der wahre Künstler sein ganzes Leben lang nicht aufhört, zu streben und sich zu vervollkommnen, und ist ein neuer Beleg für das ars longa vita brevis der Alten.«
Brahms lobte diese streng sachliche Besprechung gegen einige Freunde, auch gegen Mandyczewski, der sie geschrieben hatte, riet hin und her, wer der Verfasser sein könnte, ohne darauf zu kommen, daß »E.« Eusebius bedeutete. Mandyczewski besaß Humor genug, ihm den Spaß nicht zu verderben, und behielt sein Geheimnis für sich.
Ende März bittet sich Brahms von Simrock »noch« eine kleine »bescheidene Mille« aus – seine Tausender flatterten aus dem Berliner Tresor in alle Welt davon, gewöhnlich in fremde leere Taschen. Ausnahmsweise einmal brauchte er das Geld für sich. Er wolle, schreibt er, am ersten April nach Italien abfahren, treffe Widmann in Riva, und sei nicht gern im Weintrinken geniert. Sehnsucht nach künstlerischer Anregung zog ihn fort. Doch die Hoffnung, seiner nächsten, noch immer ungeborenen fünften Symphonie die erwünschte Lebensnahrung zuzuführen, war leider keine gute: aus dem Ersten-Satzmotiv, mit dem ihn die Muse in den April schickte, wollte keine Symphonie mehr werden. Sein Reiseplan verfehlte auch äußerlich das Ziel, weil er wieder nicht nach der so heiß begehrten Trinakria führte. Ach, als Brahms die Insel seiner Seligkeit, wo ihm die e-moll-Symphonie beschert worden war, endlich doch noch einmal, unmittelbar vor seinem sechzigsten Geburtstag, erreichte, war es zu spät! Widmann konnte nur für einen kurzen Städtebummel in der Lombardei zusagen, und so schlenderten sie »mit allem Behagen« bei köstlichem Wetter durch Brescia, Cremona, Piacenza, Parma, Bergamo, Verona und Vicenza. Die reizendste Erinnerung, die Widmann von dieser Reise mitbrachte, ist wohl die Schilderung ihres Cremoneser Aufenthaltes. Als sie an der Kirche San Agostino die Statue eines heiligen [207] Joachim entdeckten, sagte Brahms: »Das gehört sich, daß Joachim in der alten Geigenstadt seine Ehrensäule hat.«
Vielleicht ist ihm dort auch bei den vielen schönen Streichinstrumenten jenes zuvor erwähnte Hauptmotiv eingefallen, bei welchem er sich des andern Solisten seines Doppelkonzerts und vieler ihn noch näher angehender Personen und Sachen erinnerte. Er setzte den Anfang, ohne jede nähere Erklärung, wie ein Motto außen auf die Adresse eines Briefes, den er am 4. Juli von Ischl an Mandyczewski richtete:
Das Motiv meldete, daß das neue Werk fertig war und nur noch aufgeschrieben zu werden brauchte; aber es sagte nicht, ob es an der Spitze einer Sonate oder einer Symphonie stand. Wohl wäre es für jede von beiden Gattungen geeignet gewesen, und es hätte vielleicht noch besser eine dritte Violoncellsonate eröffnet als das G-dur-Quintett, dem es zugeteilt wurde, am besten aber, im Zusammenhange mit der gewaltig aufbrausenden Art seiner Einführung das Allegro einer Symphonie. Joachim, der Erfahrene, wünschte sich »drei Cellisten in einem«, um das Thema bei dem wogenden Forte der andern Instrumente (zwei Violinen und zwei Bratschen) herauszubringen. Überall, wo das Werk zur Aufführung kam, wurde daran herumgeredet und -experimentiert. Kein Cellist, weder die beiden Tonriesen: der Berliner Hausmann und der Wiener Hummer, noch andere konnten dem sempre forte, das sich ihnen in der Unterströmung des Satzes entgegenstemmte, Oberwasser abgewinnen. Bei der ersten Probe, die Brahms in Wien mit dem Rosé-Quartett veranstaltete, gab der in seinem Violoncell gekränkte Hummer seiner stummen Verzweiflung anfangs keinen anderen Ausdruck, als daß er den Meister wie eine treue geprügelte Dogge vorwurfsvoll anblickte. Bachrich aber, der erste Violaspieler, bat, kurz entschlossen als praktischer Musikus, der Komponist möge beim Anfang des Satzes sich mit einemmezzo forte begnügen, zwar brummte Brahms: »So'n Bratschist will immer was Extra's haben«, ließ sich aber die Stimmen reichen, schrieb mf hinein und [208] für die erste Bratsche ein all'unisono, damit die Violoncellmelodie in der Tenorlage vom vierten Takt an von der Viola gestützt werde.21 Hummer versuchte dann, durch Bachrichs Erfolg ermutigt, gar, den Mitspielern einen noch wirksameren Dämpfer aufzusetzen – eincon sordino wäre ihm gewiß das Liebste gewesen! – drang aber in keiner Weise durch und verlor die Lust an der Sache.
Joachim schrieb einen Monat später, am 11. Dezember von Berlin, sie hätten die Stelle auf verschiedene Weise probiert, seien aber zuletzt zu der ursprünglichen Version zurückgegangen, nur daß sie das forte vom Ende des zweiten Taktes ab etwas mäßigten und dann wieder kreszendierten:
Brahms schien anfangs gewillt, auf den Vorschlag einzugehen, ließ aber in der gedruckten Partitur wie in den Stimmen alles beim alten.22 Ihm war es zuerst und zuletzt um ein möglichst getreues Abbild seines schöpferischen Willens zu tun, die Musiker mochten dann sehen, wie sie, ohne allzu arge Entstellung des gegebenen Bildes Licht und Schatten verteilten. Der praktische [209] Erfolg gab ihm recht. – Klingemanns »Der Frühling naht mit Brausen« könnte zur Überschrift des Allegro non troppo, ma con brio dienen. Diesmal aber ist es kein Ischler Maienkind, das uns lächelnd entgegenkommt, wie sein um acht Jahre älterer sonniger Bruder, mag die Niederschrift der Komposition noch so gewiß in Ischl erfolgt sein. Kein anderes Brahmssches Werk – die erste Reihe der Liebeslieder und der Walzer op. 39 etwa ausgenommen – weist durch die ihm eigentümlichen Lokaltöne deutlicher auf den Boden seiner Entstehung hin, wie das (G-dur-Quintett. Charakteristisch für den Komponisten ist es, noch charakteristischer für den Ort seines Aufenthaltes, in welchem deutscher Humor und slawische Melancholie, italienisches Temperament und magyarischer Stolz ihren Ausgleich gefunden haben.
Wie Schuberts unter Tränen lächelndes C-dur, Quintett, dem es freundschaftlich die Hand reicht, deutet das Brahmssche Werk auf den Wiener Prater hin, und wie jenes bleibt es nicht in der reinen Seligkeit der naiven Vergnügungsanstalt befangen. Die ahnungsschaurigen, fremden Töne, die sich dort als unvermutete Boten der Geisterwelt in die Freude des Genusses einschleichen, ohne sie zu trüben, werden auch hier vernommen. Aber was sich dunkel von der hellen Freude ringsum abhebt, ist die Gestalt des bewußten, erfahrenen Mannes selbst. Er erlebt einen neuen Frühling, während er dabei der Stürme des Herbstes gedenkt, er berauscht sich an der Fälle des Lebens, das er entschwinden sieht, und jauchzt der gewissen Vernichtung zu. Diese faustisch-donjuaneske Stimmung, welche im Genuß Ruhe zur Kontemplation findet, den Schmerz zu übertäuben, oder das Nachdenken gar zum Vorgefühl künftiger Freuden umzuwandeln sucht, hat dem Werke Form und Farbe gegeben. Seine uns so hold ansprechenden Tongestalten erscheinen nicht, vom ungewissen Dämmer des duftigen Maimorgens umflossen, sondern treten in scharfen Umrissen wie am hohen Mittag eines klaren Oktobertages hervor: Herbst im Frühling, Brahms im Prater!23
Die Form, welche die Fälle musikalischer Gedanken in sich aufgenommen, ist knapp zum Zerspringen; aber eben diese ihre [210] Gedrungenheit gibt ihr soviel Tragkraft, daß sie auch dem mächtigsten Widerstreite der Themen standhält. Diese selbst, und das zu einem sich »höllisch« ins Zeug legende Violoncellsolo-Tutti an der Spitze, hängen mehr oder weniger bewußt mit Wiener Walzern zusammen. Es ist, als ob Brahms, nachdem er den Aprilscherz seiner Muse durchschaut, das seinem symphonischen Beruf entfremdete Motiv auf den Tanzboden geführt und dort gezwungen hätte, tolle Sprünge zu machen. Seine drei Takte werden zu einer Melodie von fünfmal so vielen gleichen Zeitabschnitten entwickelt – im 9/8, Takt gibt das eine atemversetzende Länge. »Der gebrochene Quartsextakkord«, seufzt Frau von Herzogenberg, »ist doch eigentlich nichts so Wichtiges, Wildes, und welche Mühe machen Sie dem armen Cello!«
Schon einmal hat Brahms sich gestattet, Johann Strauß und Richard Wagner zusammen zu zitieren, und die schönste Romanze zu dieser unverhofften Begegnung gesungen (im a-moll-Quartett op. 51).24 Nun macht er einen ähnlichen guten »Witz«, verkuppelt irgendeine Walzer-Introduktion mit der Einleitung zum Liebeslied aus der Walküre und schmuggelt, als Konkurrent Bülows, des Revolutionärs im Konzertsaale, die Wiener Tanzmusik in die Camera ein. Schon auf den Wogen der des Quintett beginnenden Sechzehntelsextolen (Notenbeispiel 2) tanzen die Lichter einer ehmals beliebten Polka Mazurka (»Frauenherz« von Josef Strauß). Und dann schwänzeln aus allen Ecken und Winkeln des Allegros Walzermotive und -fragmente wie Eidechslein mit neugierigen Blicken hervor und schlüpfen, sobald man sie fassen will, graziös wieder in ihr Versteck zurück.
Als der Verfasser nach der Probe des Quintetts den Meister fragte, ob das Stück nicht die geheime Überschrift habe: »Brahms im Prater«, erwiderte er vergnügt schmunzelnd »Getroffen!« und fügte mit schelmischem Augenblinzeln hinzu: »Nicht wahr? Und die vielen hübschen Mädchen drin?«25 Die schönste aller, so schön wie nur einer der berühmtesten Straußschen Walzer sein kann, läßt nicht lange auf sich warten. Das Violoncell würde sein fünfzehntaktiges Thema wiederholen, wenn die andern Instrumente [211] es ihm gestatteten. Aber sie eilen zum Dominantschluß von D hin, und als die erste Geige ungeduldig fragt, wo »Sie« denn bleibe:
nehmen sofort beide Bratschen die Frage auf und beantworten sie mit ihrem Zwiegesange. Die reizende Wienerin tritt ein:
Es braucht wohl kaum bemerkt zu werden, daß diese Prachtmelodie so gut wie die andern auch, originaler Brahms ist. Und doch klingt sie ganz wienerisch. Eine Edelrose, die auf einen Wildling gepfropft und mit dem kostbarsten Humus gedüngt wurde, entfaltet sie unter der Hand des Gärtners ihren von ätherischem Öl duftenden Blumenkelch. Die Geigen entreißen die Umschwärmte den Bratschen – die Melodie bricht nur scheinbar ab: die Wiederholung vermischt sich mit der Weiterführung. Wenn dann die zweite Violine dolce die von Arm zu Arm fliegende Schöne wendet, um zu zeigen, daß sie sich auch in der Umkehrung sehen lassen kann:
[212] dreht sich alles im Reigen, und der gutgelaunte Anstifter des Vergnügens wider Willen, das Violoncell, akkompagniert gezähmt in zierlichen Pizzikatobässen. Wer es hört, wird sagen: »Verweile doch, du bist so schön!« und er wird es nicht vergebens sagen. Der erste Teil verlangt die Repetition, die der Komponist gewährt. Ein Motiv der Bratsche:
(abgeleitet von 4 und 5a) leitet, leise an- und abschwellend, nach B-dur, in entlegenere Partien der »Wiesen-, Wald- und Wasserfreude«, die von Freunden der Einsamkeit, Liebenden, Philosophen und Melancholikern aufgesucht werden. Die friedliche Harmonie des ersten Teiles wird in Abrede gestellt, die unterdrückte Symphonie meldet sich vorwurfsvoll zum Wort, und die ersten Takte ihres Hauptmotivs (1a) geraten in leidenschaftlichen Disput mit andern thematischen Bestandteilen der Durchführung. Es kommt zu einer äußerst heftigen Szene, in welcher die zackigen Sechzehntelfiguren der fünf Instrumente wie Blitze durcheinander fahren. Auf dem Höhepunkt des Streites möchte das immer persönlicher werdende Violoncell sich mit seinem Motiv trotzig in irgend einer fernen Tonart festsetzen. Da erklingt dolce, zuerst wie von weitem, das von den Geigen angestimmte Walzerthema:
Man braucht nur den 9/8 auf den 3/4 Takt zu reduzieren, und man könnte glauben, ein Stück des Walzers »Wein, Weib und Gesang« von Johann Strauß vor sich zu haben. So überraschend das Thema eintritt, von so langer Hand her ist es vorbereitet, als Folge von 1b. Ein dramatischer Moment: »O Freunde, nicht diese Töne!« Über Des und As moduliert der Satz nach H und geht plötzlich nach g- und d-moll. Geheimnisvolle, das Finale des SchubertschenC-dur-Quintetts streifende zart harmonisierte Geigenfiguren:
[213] schweben geisterhaft, wie Windeshauch und Wolkenschatten vorüber. Ein Orchester scheint von ihnen belebt zu werden. Aber die Stimmen der fünf Instrumente besinnen sich schnell ihrer nächsten Aufgabe, und ein Fortissimo-Kommandoruf der Violine schafft den Anfang des Satzes in der Grundtonart wieder herbei. Jetzt nimmt die erste Violine schon nach dem ersten Takt dem Violoncell das Hauptthema weg und führt es in die höchste Lage hinauf, wo es den Sturm der Tonwellen ruhig überglänzt. Das Seitenthema erscheint, von der Dominant gehalten, in G, und die Stretta der Koda strömt, von zufließenden Mittelstimmen genährt, immer voller und reicher der Schlußmündung zu – einer der herrlichsten Kammermusiksätze ist vollendet. Er kommt dem Zuhörer nicht so offen entgegen und ist nicht so leicht zu durchschauen wie die übrigen Sätze.
Adagio und Scherzo geben keine andern Rätsel zu lösen auf als das holde Geheimnis ihres Daseins. Der in tiefste Schwermut getauchte langsame d-moll-Satz schließt zwar in Dur, und läßt auch sonst heitere Reflexe in seine düsteren Schatten hineinspielen; aber die Nacht will nicht mehr von der Seele des Trauernden weichen, der Glanz der Erinnerungen erbleicht, und sein Erlöschen macht das Dunkel noch schwärzer, die Einsamkeit noch schmerzlicher fühlbar. Der Form nach eine Reihe von Variationen, die das liedartige Thema dreimal frei verändern und mit einer vierten Variation als Koda abschließen, häuft das Adagio in seinem Inhalt eine Fälle seinen psychologischen Materials; jeder Takt erhält sein eigenes Gewicht, trägt seine besondere Färbung. Auch hier ist Brahms im Prater, und zwar an einer jener entlegenen romantischen Partien. »Armes Seelchen, du verirrtes Kind«, möchte man zu der Else des Moll-Ländlers sagen, die im Mondschein des dritten Satzes mit ihrem eigenen Schatten tanzt. Aber die Kleine ist so ganz mit sich beschäftigt und so in sich vergnügt, daß sie keines mitleidigen Zuspruches bedarf, auch des vorwitzigen Spähers nicht achtet, der sie belauscht. Keine persönliche Stimmung stört den Zauber des vollkommen objektiven [214] Bildes; der Maler steht weder vor noch hinter der Staffelei. Und wie lieblich, wenn sich (im Trio) das ernste blasse Gesicht des dem Zwischenreiche entlaufenen Wesens mit warmem Blute färbt und menschlich belebt! Der kindlich naive, trotz der kunstreichen Stimmführung so volkstümliche Dur-Walzer erklärt seine engere Zugehörigkeit durch das Motiv:
Es fällt mit der darunter fortlaufenden figurierten Melodie:
zusammen. Die Terz, mit der es anhebt, spielt schon im zweiten Teile des vorangehenden Hauptsatzes ihre markante Rolle; sie wird in der Koda samt ihrem Gegenmotiv umgekehrt:
Wie im Leben, so schließt auch bei Brahms der idealisierte Pratertag in der »Csarda«. In jenem auf einer kleinen Anhöhe hinter Bäumen hervorschauenden ungarischen Dorfwirtshause, das, gleich der nahen Rotunde, von der 1873 er Ausstellung dort zurückgeblieben ist, kehrte er seit nahezu dreißig Jahren ein, und die Zigeunerkapelle muß auch diesmal für den Kehraus sorgen. Brahms lehrt die braunen Pußtasöhne nach gewohnter Art Mores, und erst, nachdem er ihnen den Meister gezeigt und mit thematischer Kunst, die sich bis zu einem Fugato versteigt, zugleich dem Finale des Kammermusikwerkes den schuldigen Tribut entrichtet hat, erlaubt er sich und ihnen besondere Freiheiten. Nur Aufführungen des Quintetts, bei welchen die Spieler über das gewöhnliche schulmäßige [215] Ensemble hinauskommen, sind imstande, den rechten Begriff von der genialen Zügellosigkeit dieses wohlgeordneten Durcheinanders zu geben. Sowie die Gefahr bedenklich naherückt, die Zigeuner könnten die Oberhand gewinnen und ihren Primarius mit sich fortreißen, ist auch mit dem realen Csardas das Ende da: von dem ausgelassenen Tanze wird die animierte Koda beigestellt.
Mit dem Quintett glaubte Brahms seine Produktion überhaupt abgeschlossen zu haben. Noch, als er sich bei Hanslick für den Leopoldsorden bedankte, hatte er auf eine der beiden Symphonien gehofft, die ihm seit 1888 durch den Sinn gingen, indem er schrieb, seine damalige Depesche an den Bürgermeister von Hamburg berichtigend: »Mir ist der liebe Gott gar nicht eingefallen, ich dachte nur beiläufig an die sogenannten Götter, und daß, wenn mir eine hübsche Melodie einfällt, mir das lieber ist als ein Leopoldorden, und wenn sie gar eine Symphonie gelingen ließen, dies mir doch noch lieber ist als alle Ehrenbürgerrechte.« Nach Berlin war dann das Gerücht von einer fünften Brahmsschen Symphonie gedrungen, und Hermann Wolff hatte sich an Bülow gewendet, er möge Brahms bestimmen, die Premiere den Berliner Philharmonikern zuzuwenden. Demgegenüber versicherte Brahms seinen Freunden, daß er überhaupt nichts mehr komponieren wolle. Später, als er doch wieder zur Feder griff, seine symphonischen Skizzen aber zum Teil schon anderweitig verwendet hatte, sagte er zu Koeßler, mit den beiden Paaren ernster und heiterer Symphonien glaube er genug getan zu haben. Jedenfalls habe er sich in ihnen nach verschiedenen Richtungen hin ausgesprochen. Mehr als vier Symphonien seien, seiner Überzeugung nach, für den modernen Musiker, der ihnen einen bestimmten Inhalt gebe, nicht wohl möglich, er müßte sich denn wiederholen, und das wolle er nicht.
2 In Julius Spengels Charakterstudie »Johannes Brahms« ungenau und unvollständig mitgeteilt. Spengel hat diesen und den folgenden Brief an Petersen in einen zusammengezogen, und so ist die Korrespondenz überall, auch von Florence May, nachgedruckt worden.
3 Der Text beider Briefe wird im Anhang mitgeteilt.
4 a.a.O. VIII 250ff.
5 Der 80. Geburtstag des Hamburger Bürgermeisters. Carl Heinrich Petersen wurde am 6. Juli 1809 geboren.
6 Bülow hatte ihm die Partitur der »Dame blanche« zum Geburtstage geschenkt.
7 Die Bülow gewidmete Violinsonate op. 108.
8 Als weiteres, noch gewichtigeres Zeugnis seiner innigen Dankbarkeit sind das oder die Geschenke zu betrachten, mit denen er Bülow bald darauf zu dessen sechzigstem Geburtstage, am 8. Januar 1890, erfreute, im Geleite der launigen, liebevollen Zeilen: »Durchaus einverstanden bin ich mit dem geehrten Herrn Vorredner, der Dir jedenfalls soeben das Schönste und Herrlichste gesagt und gewünscht hat! Meinerseits grüßt Dich auch ein, wie mir scheint, sehr schönes neues Beethoven-Bild. Ich muß dazu sagen, daß es nicht die Schuld des wackeren Kupferstechers [Ludwig Michalek] ist, wenn – mein eigenes Bild nicht auch mitkommt!
Heute tut mir fast leid, daß ich ihm gegenüber so eigensinnig wie immer war. – An solchem Tage kommt man gern so persönlich wie möglich! Damit möchte ich denn eine zweite Sendung erklären – die mir nicht ähnlich sieht!
Ich habe zufällig noch die Handschrift meinerF-dur-Symphonie. Indem ich sie Dir schicke, habe ich ungefähr die Empfindung, als ob ich Dir herzlich die Hand reiche. Weiter soll's nichts bedeuten, und nun mache ich dem nächsten Redner Platz.
Höre ihm mit guter Laune zu und denke der Freunde, die Du liebst, sie sind im Geiste gegenwärtig, und Du mußt notwendig den schönsten Chor – erklingen hören! Von ganzem Herzen Dein J. Brahms.«
Dieser Brief kommentiert sich selbst. Oder sollte er für Leute, die Brahms verkennen wollen, doch einer Erklärung bedürfen? – – Was liegt an ihnen!
9 III 325.
10 Zu dieser zweiten Fortsetzung ist es nicht mehr ge kommen.
11 Vgl. Widmanns »Erinnerungen« S. 101.
12 Hierher gehört eine denkwürdige Briefstelle aus der Korrespondenz mit Wüllner. Der Freund hatte Brahms ein Tedeum eigener Komposition geschickt, das nicht frei von Anwandlungen moderner Instrumentierungskünsteleien war. Da schrieb er ihm, er sei mit dem größten Interesse und vieler Freude in dem Werke herumspaziert, einstweilen aber noch jedesmal gestolpert, wenn die Harfe oder die Geigendämpfer kamen. »Zeigt sich vielleicht in solchem Fall, daß wir in Gefahr sind, in zwei Sprachen zu reden?« – »Aber vielleicht«, setzt er rücksichtsvoll hinzu, »war's nur beim ersten Lesen, und weil ich gar zu aufmerksam den geschmeidigen Chorsatz verfolgte.«
13 III 384ff.
14 Auch im Auslande kamen die patriotischen Sprüche bald in Aufnahme. Jeder hält sein Volk für das beste, und Ursache, zur Einigkeit zu ermahnen, findet sich überall. In Bern wurden 1891 zur Eröffnungsfeier des Stadtjubiläums die Gedenksprüche gesungen. Brahms, der dazu eingeladen war, konnte nicht abkommen.
15 Die Umstände dabei waren so komisch, daß sie erwähnt zu werden verdienen. Ich war eines Vormittags zu Brahms gekommen, und wir wollten zusammen in den »Roten Igel« gehen. Wie wir auf die Straße traten, hielt ein Zweispänner vorm Haustor. Aus dem Wagen flog uns ein feierlicher Herr in Zylinder, Frack, Lackstiefeln und weißen Glacés entgegen, der ein in Florpapier eingeschlagenes albumartiges schweres Paket unterm Arme trug. Er wandte sich an uns mit der Frage, ob hier im Hause nicht Herr Dr. Brahms wohne. Brahms, der einen Autographenjäger oder irgendein anderes gemeingefährliches Individuum in ihm vermutete, sagte: »Jawohl, gehen Sie nur hinaus. Im dritten Stock linker Hand.« – Der Fremde war eben jener Maler Duysske, von dem Zierschrift und Bilderschmuck der Adresse herrühren, und der Senat hatte ihn nach Wien gesendet, um das Geschenk persönlich zu überreichen. Das Mißverständnis klärte sich erst im Laufe des Tages auf.
16 a.a.O. 157.
17 IV 188.
18 I 164.
19 Zur Generalprobe, die bei einem, seiner Sarkasmen wegen gefürchteten reichen Sonderlinge, Bela Haas, stattfand, lud mich Brahms mit dem launigen Billett ein:
»Samstag 11 Uhr bei Herrn H. können Sie sich höchst behaglich das vernewerte Trio anhören. Es ist mir ein besonderes Vergnügen, sagen zu dürfen, daß auch Damen und sonst minder Gebildeten durchaus der Zutritt gestattet ist, auch für allerlei Unterhaltung durch hübsche Bilder an den Wänden und Bücher in den Schränken gesorgt ist!
Da zudem der Hausherr bekanntlich gute Witze macht, so darf eine Einladung riskieren Ihr herzlich grüßender J. Br.«
20 I 154f.
21 Demselben Künstler, der ihn einmal fragte, ob er mit dem Tempo eines Quartettsatzes zufrieden gewesen wäre, erwiderte Brahms: »Ja, besonders mit dem Ihren.«
22 Briefwechsel VI (herausgeg. von Andreas Moser) 242. – Unter dem Mißmut des Cellisten, dem im Quintett die Führerrolle zugeteilt ist, litt die Wiener Aufführung und wurde von der Berliner bei weitem übertroffen. Joachim nahm das Stück nach London mit, wo er es dreimal aufführte, und beschloß mit ihm seine öffentliche Arbeit vor der Sommerruhe. Es erregte in der Versammlung des »Allgemeinen Musikvereins« am 2. Juni solche Sensation, daß Joachim, wie er Brahms schreibt, inkonsequent genug war, sich die Lust eines Da capo nach dem Menuettsatz zu gönnen, »da die Leute mit Applaudieren gar nicht aufhören wollten: es spielt sich zu angenehm!« (Moser a.a.O.).
23 Vgl. II 10f.
24 II 452.
25 Briefwechsel II 229.
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