II.

Seine Geburt und seines Geistes Erwachen.

[11] Der Komet am 22. Oktober 1811. – Erste Eindrücke. Leben auf dem Lande. Religiöser Sinn. Die Zigeuner. Der Eindruck Beethoven'scher Musik. Will Klavier spielen.


Ein Jahr ihrer Ehe war nahezu verstrichen. Der Sommer hatte seine letzten Früchte geliefert und neigte in goldenem Schmuck sich zu seinem Ende. Es war der Herbst des Jahres 1811. Von den Aufregungen und der Unruhe, die draußen die große Welt in Athem erhielt, fühlte man nichts oder wenig in dem stillen Winkel der Erde, wo Adam Liszt nunmehr sein Leben führte.

Ruhe lebte hier und nur der Komet, der in voller Pracht allnächtlich am Himmel leuchtete, erregte die Neugierde und die Muthmaßungen der ländlichen Bevölkerung. Die Nächte des Oktober waren wundervoll. Der Himmel war klar – ein lichtblauer, sternbesäeter Hintergrund zu dem fließenden Gold, welches der Komet gleichsam auf die Erde goß. Selbst die Natur schien ihren Athem anzuhalten, um die Wunderdinge zu erlauschen, welche er kündete.

In einer dieser Nächte war es, wo der königliche Stern seine Lichtstrahlen über Adam Liszt's Haus zu senken schien. Im Hause selbst jedoch herrschte Unruhe und Freude: ein zarter, aber gesunder Knabe lag in den Armen seiner zitternden Mutter, die ihn soeben geboren.

Das war in der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober 1811. Der Knabe war Franz Liszt.

Die musikalische Welt ahnte nicht, daß in dem kleinen Ungarndorf ein Genius ihr geboren, der in der Sprache der Töne von[12] den Wundern des Lebens und des Lichts ihr erzählen und ihre Gemüther mit irdischer Lust berauschen und doch noch mehr mit heiliger Andacht erfüllen sollte. Seine Eltern aber lebten unter dem Eindruck jenes wunderbaren poetischen Zusammentreffens, welches in der Stellung des Kometen über ihrem Hause und der gleichzeitigen Geburt ihres Sohnes lag. – Er blieb ihr einziges Kind.

Und der Knabe gedieh. Sein Körper war zart, doch alle Organe gesund und die Konstitution so zäh und elastisch angelegt, daß sie ein ganzes wunderbar erregtes, vielseitig bewegtes und schaffensreiches Leben hindurch aushielt und dieses, einige Krankheiten während seiner physischen Entwickelungsjahre und später Momente stark drohender Abspannung abgerechnet, in einem fortwährenden Zustand der Gesundheit blieb.

Seine Gestalt war schlank und proportionirt, die Bewegungen seiner Glieder voll Leben und Grazie und trotz ihrer Zartheit von auffallender Kraft. Seine Gesichtszüge hatten sich bald zu einer anziehenden ausdrucksvollen Schönheit gestaltet, welche auf sein zukünftiges Leben von großem Einfluß wurde; denn sie fesselte nicht nur, sie gewann ihm auch viel Wohlwollen, ebenso wie sie ihm zarte Liebe sicherte. Reizend war sein Gesicht, das von blonden, an der Stirn schneppenförmig angewachsenen dichten Haaren umrahmt beständig nur Lust, Liebe, Heiterkeit zu athmen schien. Merkwürdig aber waren die Augen dieses Kinderantlitzes, welche blau und in tiefen Höhlen liegend, oftmals und trotz ihres kindlich gebundenen Ausdrucks ein Etwas entsenden konnten, das von einem räthselhaften Leben der Seele sprach.

So wie sein Äußeres den Eindruck einer harmonisch, gesund und vornehm angelegten Natur machte, erschien sein Inneres. Seine Mutter erzählte oft mit Stolz, daß er keine der gewöhnlichen Unarten der Kinder besessen, daß er immer frisch, heiter, liebevoll und gehorsam, sehr gehorsam gewesen sei.

Nach dem allen wäre es geradezu zu verwundern und ein Widerspruch der Natur, wenn gegenüber diesen Vorzügen des Körpers und der Seele sein allgemein geistiges Leben als intellektuelle Anlage in einem Nebenverhältnis gestanden wäre. Als wolle die Natur hier jede Einseitigkeit ausgleichen und in dieser ihrer Schöpfung von ihrem Werden an aufheben, zeigte sich dasselbe mit jenen in Harmonie. Gar bald machte sich bei dem Kinde ein[13] überaus schnell empfänglicher und erregbarer Sinn allem gegenüber geltend, was seinem kindlichen Geist nahe kam und ihn berühren konnte.

Des letzteren jedoch war nicht vielerlei. Das stille, abgeschlossene Landleben, das den Rahmen seiner Kindheit bildete und zugleich seiner Seele die erste Nahrung bot, kannte nicht den Wechsel, den das bunte kraftverzehrende Treiben menschenreicher Städte und der Civilisation mit sich bringt. Es brachte ihm wenig Wechsel, hielt aber auch das Etwas fern, das frühzeitig die Eindrucksfähigkeit der Jugend mindert und, indem es letztere dem Vielerlei hingiebt, ihre Kraft dem Einzelnen entzieht und auf der Oberfläche hält. Widersprüche und störende Einflüsse traten nicht an ihn heran und nichts unterbrach die Ruhe und das Gleichgewicht seiner körperlichen und geistigen Entwickelung, die weder gehemmt, noch getrieben von Außen nur dem inneren Bedürfnis entblühte.

Und so still und so abgeschlossen das Leben in dem kleinen Dörfchen war und so sehr sein regelmäßiger Pendelschlag die Verschiedenheit der Tage, der Wochen und der Monde auszugleichen schien, so war es doch nicht eindrucksarm für sein kindliches Gemüth und seine kindliche Phantasie. Wenn der Frühling kam, wenn der Sommer in Blüthe stand, wenn der Winter nahte: immer gab es Freuden anderer Art, und immer etwas, was sein kleines Herz erbeben machte und es frühzeitig mit den Ahnungen eines Überirdischen, Unfaßlichen füllte.

Ein Musikerherz ist ein anderes als ein Dichterherz, so nahe auch beide zusammen liegen. Leben auch beide im Traum, bei ihm ist es nicht der des Gedankens, der ihn umspinnt – Stimmungen sind die Seele und der Traum seines Geistes. Und so jung ein Musikerherz ist, und so wenig es sich noch als solches äußert, es athmet, es lebt durch sie. Sie sind seine Kost und das Etwas, das es groß und stark macht. Dieses Leben in Stimmungen brach sich früh Bahn in Franz Liszt's jungem Herzen. Es verschmolz sich gleichsam mit dem sonnigen Pastorale seiner Kindheit.

Aber es blieb nicht allein der nur allgemeine Ausdruck seines Wesens, es drückte sich auch nach zwei Richtungen hin erhöht aus und deutete durch sie die geistigen Mächte an, welche für sein zukünftiges Leben von größter Bedeutung werden und sich als Grundelemente seines Wesens erweisen sollten. Das eine ein Inhalt, das andere eine Sprache – Religion und Musik: sie gaben seinem[14] Kinderherzen Eindrücke, Stimmungseindrücke, poetischer und stärker als ein weniger abgeschlossenes Leben sie ihm je hätte geben können.

Die religiösen Stimmungen brachen sich zuerst Bahn. Wenn die Sonne schied und das einzige Glöckchen der kleinen Dorfkirche seinen Ave-Maria-Ruf durch die Lüfte sandte, da entfiel mitten im Spiel seinen kleinen Händen das Spielzeug; eifrig falteten sie sich und das Gebet auf seinen kindlichen Lippen floß. Und wenn er Sonntags und an Festtagen der Eltern Kirchgang begleitete, der Gesang aus dem Kirchlein ihnen entgegentönte und an dem in Weihrauchwolken gehüllten Altar der Priester im geblümten Meßgewand stand, das Hochamt celebrirend und die heiligen Ceremonien leitend, überliefen seine jugendliche Seele Schauer des Wunderbaren und Mystischen und die ärmliche Musik machte ihn erbeben.

Nach solchen Eindrücken war er meist still, aber seine Augen glühten wie im Fieber. Kam die Weihnachtszeit, dann war die Frühmette sein Hauptgedanke. Und wenn endlich die heilige Nacht angebrochen war und der Vater, eine Leuchte in der Hand, ihn und die Mutter den Weg zur Kirche durch nächtliches Dunkel geleitete, zogen die Wunder jener Nacht, welche das Heil den Menschen verkündete, in seine Phantasie und sein Auge hing am Himmel, voll Erwartung des Lichtes und der Engel.

In diesen Eindrücken fand der spätere Kirchenkomponist seine erste Nahrung. Sie waren – im Hintergrund der ländliche Frieden, welcher seine Kindheit umgab – die erste Saat zu seinem großen Werk: »Oratorium Christus«, welches in den wonnigen Pastoralsätzen und in der Heilsverkündigung des: »Weihnachtsoratorium« überschriebenen Theiles emporblühte. Zu jener Zeit jedoch sprachen die sich in ihm entwickelnden religiösen Stimmungen durch Liebe zum Gebet und Freude an kirchlicher Feier sich aus.

Dem ungarischen Dörfchen gehören jedoch nicht nur die ersten Regungen seiner zur Inbrunst wachsenden Gottesliebe an, auch seine ersten poetisch-phantastischen Stimmungen weltlicher Richtung sind mit ihm verflochten. Und wie die mit der Religion verbundenen sich durch sein ganzes Leben als Mensch und Künstler hindurchzogen und allmählich zu einer Kraft anschwollen, die mit heiligem Feuer sein Schaffen entzündete: ebenso waren diese bleibend und wurden zu einem lebendigen Lebensodem der besonderen Poesie, welche seine Musik mit ihrem Zauber und ihrem Schwung[15] der Rhythmik durchdrang und das Mutterband blieb zwischen ihm und seinem Vaterlande.

Die Eindrücke, welche nach dieser Richtung so einflußstark werden sollten, kamen ihm – von dem braunen Sohn der Pußta, der flüchtigen Fußes die Tief- und Hochebenen Ungarns bald in Horden, heute seine Zelte hier, morgen dort aufschlagend, bald in kleineren Männerbanden mit der Geige und dem Cimbalo unter dem Arm durchwanderte. Kein Komitat Ungarns blieb unbesucht von den Zigeunern des Landes. Raidings Umgebung hatte oft diese Gäste mit den kupferfarbenen, leidenschaft- und wetterdurchfurchten Gesichtern, aus deren Augen Schwermuth, Trotz und Unstät, nicht heiter-frohe Wanderlust hervorsah.

Ihr Erscheinen in Raiding war dem kleinen Franz Liszt stets ein Ereignis. Wußte er sie in der Nähe, dann hing gegen Abend sein Auge spähend am Horizont, um an den auftauchenden Feuer- und Rauchwolken ihre Lagerstätten zu erforschen, und glücklich, wenn der Tag ihn in ihre Nähe brachte. Ihre Musik, ihre schwermüthig-trotzigen Lassan und ihre tollen Frischkas, ihre Gesänge, ihre Tänze, ihr ganzes Thun und Treiben, ihre äußere phantastische Erscheinung, ihr brennendes Auge, ihr krauses Haar, ihre Frauen und Kinder, ihr Kommen und Verschwinden, ihr Woher und Wohin – alles das umwob ihn wie ein lebendiges Geheimnis, das in sein Wachen und Träumen hineintrat. Seine Kindheitserinnerungen umgaukelte es poetischem Traume gleich. Es begleitete ihn durch seine Jünglingsjahre und trieb endlich den Mann der Lösung nachzugehen.

So verstrich seine erste Lebensepoche in Einfachheit und ungetrübter Poesie.

Meist war er der Mutter zur Seite, die er mit großer Zärtlichkeit liebte. Auch am Vater hing er, aber mehr mit scheuem Respekt.

Sein Vater hatte inzwischen die Pflege der Musik stark betrieben. Er musicirte noch mit gleicher Liebe. Die Musik war die Wärme spendende Sonne an seinem häuslichen Herd. Frau und Kind hatten den Mißmuth nicht verscheuchen können, welchen der seinem Gefühl und seiner Auffassung nach zu prosaische und geschäftsmäßige Beruf in ihm erzeugt hatte, aber das Musiciren half ihm über denselben hinweg. Seine Verwaltungsgeschäfte ließen ihm viele freie Zeit übrig, welche er meist am Klavier verbrachte.[16]

Der kleine Franz war so gleichsam mit der Musik aufgewachsen, allein ohne daß seine Theilnahme während seiner ersten vier bis fünf Lebensjahre sich in besonderer Weise geäußert hätte. Es war wohl schon öfter vorgekommen, daß er sein Spielzeug hatte liegen lassen und still und sinnend bei seines Vaters Klavierspiel war. Aber jetzt geschah es, daß er von Tag zu Tag mehr an das Klavier sich drängte und namentlich, wenn sein Vater Beethoven spielte, mit einem Zug um Auge und Mund lauschte, als hinge seine ganze Seele an diesen Harmonien.

Diese Zeichen einer mehr und mehr aufkeimenden Liebe zur Musik entgingen Adam Liszt nicht. Mit Interesse beobachtete er sie und der Gedanke, Franz habe vielleicht Talent, gab ihm eine freudige Hoffnung. Als dieser anfing immer lauter zu wünschen »das Klavierspiel auch zu lernen«, meinte der kluge Vater, er solle nur warten, bis er größer und stärker geworden; dann sei es zum Lernen noch immer Zeit – eine Zurückhaltung, die sich jedoch nur kurze Zeit durchführen ließ.

Das Drängen des Knaben nahm zu, und als dieser eines Abends zum Erstaunen seines Vaters das Thema des Cismoll-Koncertes von Ferdinand Ries, das er an diesem Tag zum erstenmal gehört, ganz rein nach dem Gehör sang, da versprach der Vater ihn im Klavierspiel unterrichten zu wollen. Die Mutter machte wohl Einwendungen: er sei viel zu klein und das baldige Lernen könne ihn krank machen, meinte sie besorgt. Der Jubel ihres Lieblings jedoch über das Versprechen des Vaters brachte ihre Einwendungen zum Schweigen.

Wenn Franz in jener Zeit gefragt wurde, was er werden wolle, dann deutete er stets auf das Bild eines Tonmeisters, das unter andern Musikerbildern an einer Wand des Wohnzimmers hing, und »Ein Solcher!« rief er leuchtenden Auges aus. Es war das Bild Beethoven's, auf welches er hinwies.

Quelle:
Ramann, Lina: Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880, S. 11-17.
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