|
Als Mendelssohn von Leipzig schied, hatte er wohl bereits das sichere Gefühl, dass er bald wieder in diesen, ihm so werthen Wirkungskreis zurückkehren würde. Am 26. Juli 1841, kurz vor seiner Abreise, brachten ihm seine zahlreichen Verehrer noch ein grossartiges, mit einem Fackelzuge begleitetes Abendständchen, und in den Schlussrefrain seines bekannten Scheideliedes: »Wenn Menschen auseinandergehn, so sagen sie: Auf Wiedersehn« stimmte der Meister, der unter die Sänger getreten war, so fest und bestimmt mit ein, dass diesen jeder Zweifel an seiner baldigen Wiederkehr schwand. Selbst seine Wohnung in Leipzig1 hatte er noch nicht aufgegeben.
Wir haben schon im vorigen Kapitel der Abneigung gedacht, welche Mendelssohn gegen die musikalischen Zustände Berlins im Allgemeinen hegte. Noch schärfer tritt sie in einigen späteren Briefen heraus, die aus unmittelbarer Anschauung hervorgegangen sind. »Seit vierzehn Tagen bin ich nun mit meiner Familie hier«2, schreibt er an den Präsidenten Verkenius in Cöln, »und lebe wieder mit der Mutter und den Geschwistern in demselben Hause, aus welchem ich vor zwölf Jahren mit schwerem Herzen zog. Desto sonderbarer ist es mir, dass ich mich trotz der Freude, mit Mutter und Geschwistern zu sein, trotz aller Vorzüge und frohen Erinnerungen kaum an irgend einem Orte Deutschlands so wenig [253] zu Hause fahlen kann, als hier. Der Grund mag darin liegen, dass alle Ursachen, welche mir es damals unmöglich machten, meine Laufbahn hier zu beginnen und zu erweitern, welche mich also hier forttrieben, nach wie vor noch bestehen, und leider auch wohl für ewige Zeiten bestehen werden. Dieselbe Zersplitterung aller Kräfte und aller Leute, dasselbe unpoetische Streben nach äusserlichen Resultaten, derselbe Ueberfluss an Erkenntniss, derselbe Mangel an Production, und Mangel an Natur, dasselbe ungrossmüthige Zurückbleiben in Fortschritt und Entwickelung, wodurch beide freilich viel sicherer und gefahrloser werden, wodurch ihnen aber auch alles Verdienstliche, Belebende geraubt wird. – – Die Musiker sind jeder für sich, nicht je zwei mit einander übereinstimmend; die Liebhaber in tausend kleinen Kreisen vertheilt und verschwunden; dabei ist alle Musik, die man hört, allerhöchstens mittelmässig, nur die Kritik scharf, genau und wohl ausgebildet; – das scheinen mir für die nächste Zeit keine guten Aussichten und ›jenes von Grund aufrichten‹ ist meine Sache nicht, denn mir fehlt es an Talent und Lust dazu.« Schärfer noch lautet das Urtheil, welches er im nächsten Briefe an Verkenius über die Berliner Musiker ausspricht3: »Der ganze Sinn, der Musiker wie der Dilettanten ist zu wenig auf's Praktische gerichtet; sie musiciren eigentlich meist, um nachher und vorher darüber reden zu können, und da kommen die Reden besser und klüger, aber die Musik mangelhafter heraus, als an den meisten andern deutschen Orten. – Beim Orchester (so gute Mitglieder die Einzelnen sind) ist das leider zu sehen. Ich habe in Opern und Symphonien solche Schnitzer, solche Taktfehler fortwährend machen hören, dass dergleichen nur bei der grössten Gedankenlosigkeit möglich ist. Die Leute sind königliche Beamte, sind nicht zur Rechenschaft zu ziehen, und kommt es nachher zur Sprache, so beweiset man Ihnen, dass es eigentlich gar keinen Takt giebt, oder geben sollte, was weiss ich; aber item, es geht schlecht. Ich habe mein Trio 10- bis 12mal hier gespielt; jedesmal kamen dergleichen Taktfehler, dergleichen Nachlässigkeitsschnitzer in der Begleitung vor, obgleich [254] es die ersten hiesigen Künstler waren, die mit mir spielten. Die Schuld von diesem Wesen trifft allerdings grösstentheils Spontini, der seit langer Zeit an der Spitze stand und die vielen braven Musiker, die darin find, eher gedrückt, als erhoben und hinaufgeschwungen hat. Nach meiner Ueberzeugung wäre Spohr der Mann, der helfen und alles wieder in Schick bringen könnte, aber eben deshalb wird er gewiss nicht genommen werden; es sprechen wieder zu viele mit, und wollen alles zu idealisch schön haben; daraus folgt die Mittelmässigkeit.«
Auch in Bezug auf die Erfolge einer gewissen Wirksamkeit stellte Mendelssohn Berlin gegen Leipzig zurück. Klingemann hatte ihn darauf hingewiesen, dass er in Berlin in und für ganz Deutschland wirken würde, während sein Wirkungskreis in Leipzig nur auf diese Stadt beschränkt sei, und Mendelssohn behauptet in dem Briefe vom 15. Juli 18414, dass das gerade umgekehrt sei. »Dort«, schreibt er, (in Berlin) »sind alle Bestrebungen Privatbestrebungen, ohne Wiederhall im Lande, und den haben sie hier (in Leipzig), so klein das Nest auch ist.«
Wir wollen hier nicht untersuchen, wie weit diese Verurtheilung der Musikzustände Berlins gerechtfertigt erscheint; jedenfalls hätte sie zum Theil ihren Grund in jener Eigenthümlichkeit Mendelssohn's, welche sein Vater als die Hauptursache der Düsseldorfer Conflicte schon scharf tadelte. »Jeder«, schreibt der Vater in dem bereits früher erwähnten Briefe5, »der Gelegenheit und Lust hat, Dich näher und innerlich kennen zu lernen, so wie alle die denen Du Lust und Gelegenheit hast, Dich deutlicher zu machen, werden Dich lieb gewinnen und achten. Das allein reicht aber wirklich nicht aus, um thätig und wirksam in's Leben einzugreifen; es wird vielmehr bei vorrückendem Alter, wenn andern und Dir jene Lust und Gelegenheit ausgehen, zu Isolirung und Missmuth führen. Selbst das, was wir für Fehler halten, will, wenn es sich einmal durchgehends in der Welt festgesetzt hat, respectirt oder doch wenigstens geschont sein, und das Individuum verschwindet [255] in der Welt. Das Ideal der Tugend hat der am wenigsten erreicht, der es am unerbittlichsten von Andern fordert. Das strengste Moralprincip ist eine Citadelle mit Aussenwerken, an deren Verteidigung man nicht gern seine Kräfte verschwendet, um desto sicherer sich in dem Kernwerke halten zu können, welches man freilich nur mit dem Leben aufgeben soll. Nun hast Du Dich unläugbar bis jetzt noch nicht von einer gewissen Schroffheit und Heftigkeit – von einem raschen Ergreifen und eben so raschen Loslassen trennen können, und Dir dadurch selbst in praktischer Hinsicht vielfache Hindernisse geschaffen.«
Jedenfalls übersah Mendelssohn bei seiner herben Kritik der Berliner Musikzustände vollständig: dass es in einer kleinen Stadt weit leichter ist, das gesamte Musikwesen einheitlich zu organisieren, als in einer grösseren; ja dass eine solche einheitliche Organisation an den thatsächlich gegebenen Verhältnissen der grossen Städte, wie Berlin, immer scheitern dürfte. Einen Beweis für diese Behauptung liefert Leipzig selbst, wo namentlich durch die allmähliche Ausdehnung und Vergrösserung der Stadt seit Mendelssohn's Tode der Friede einer einheitlichen Gestaltung des öffentlichen Musikwesens schon ganz gewaltig gestört worden ist. Es ist diese Erscheinung eine so natürliche, dass sie kaum noch eines weiteren Nachweises bedarf. In den kleineren Städten finden natürlich die einzelnen Richtungen, nach welchen die Musik sich entwickelt hat, nicht so viele Vertreter, dass jede ihre selbständige Pflege finden könnte, und so wird die Vereinigung der verschiedenen musikalischen Kräfte zur Nothwendigkeit, und zwar nach der, durch die hervorragendste Persönlichkeit bedingten Richtung. In den grösseren Städten werden alle Gattungen, auch die untergeordneten, gepflegt, weil jede hinlänglich Freunde und Vertreter findet, und hier eine Einigung der verschiedenen Elemente herbeizuführen, fast unmöglich erscheint. In Berlin finden die Opern von Bellini und Donizetti, von Rossini und Auber, ein ebenso zahlreiches und dankbares Publikum, wie die von Gluck, Mozart oder Beethoven: der Kreis der Freunde altitalienischer Kirchenmusik ist so gross, dass diese eben so selbstständige Pflege findet, wie die protestantische des Reformationszeitalters, oder die [256] eines Bach und Haendel, und die der neuesten Zeit. Hier durch öffentliche Concerte eini gend zu wirken, ist natürlich sehr schwer; nur eine ernstliche Unterweisung vermag dies. In Leipzig sammelte sich eben alles um Mendelssohn, Musiker und Musikfreunde, und vertraute seiner Leitung; wenn er das auch in Berlin erwartete, so übersah er die erwähnten thatsächlichen Verhältnisse. Jene Mängel in der technischen Ausführung der Orchesterwerke waren jedenfalls in dem von ihm angegebenen Umfange vorhanden, aber gerade darum hätte Mendelssohn hier einen äusserst segensreichen Wirkungskreis gewinnen können, selbst wenn er widerstrebendere Elemente vorfand, als in Leipzig.
Auch nach jener andern Seite würde ihm der Erfolg nicht ausgeblieben sein, insofern er mit mehr Hoffnung und weniger widerwillig das hier Erreichbare angestrebt hätte. Er selbst gesteht zu, »dass man ihm (in Berlin) von allen Seiten so überaus freundlich entgegenkommt, dass er es persönlich nicht besser wünschen kann und nur Grund zur Erkenntlichkeit hat«6. Am 8. August finden wir ihn bei dem Feste, welches die Freunde und Verehrer Ludwig Tieck's diesem veranstaltet hatten, und auch Mendelssohn's Verdienste wurden in der sinnigsten Weise dabei hervorgehoben.
Dass auch seine Compositionen in Berlin bereits zahlreiche Freunde hatten, beweisen unter anderm die Concertprogramme dieses Winters, die meist alle auch irgend ein Werk von ihm aufweisen. Der »Paulus« wurde im letzten Abonnementsconcert der Sing-Akademie aufgeführt, nachdem bereits vorher, am 10. Januar 1842, unter Mendelssohn's Leitung eine Aufführung in dem Concertsaale des Schauspielhauses stattgehabt hatte. In dieselbe Zeit fällt auch die Aufführung des »Lobgesanges« durch den Hansmann'schen (Schneider'schen) Gesangverein. Von den Ouverturen finden wir namentlich die zum »Sommernachtstraum« und zur »Melusine« häufig auf den Concertprogrammen jenes Winters, und die Lieder: »Auf Flügeln des Gesanges,« »Es brechen in schallendem Reigen« u.a. waren auch in Berlin allgemein beliebt und [257] verbreitet, so dass Mendelssohn auch in diesem, allerdings zunächst für ihn wenig günstigen Boden Wurzel gefasst hatte. Die ersten Aufführungen der »Antigone« fanden zwar kein enthusiastisches, aber doch ein äusserst dankbares Publikum, das seine tiefe Verehrung für das bedeutende Werk und seinen vortrefflichen Meister in der würdigsten Weise bekundete.
Mendelssohn war, wie bekannt, durch den König Friedrich Wilhelm IV. veranlasst worden, die Musik zur »Antigone« zu schreiben. Näheres darüber berichtet er selbst in einem Briefe an David7: »Hab' Dank«, heisst es dort, »dass Du die Antigone gleich durchgelesen hast; dass sie Dir ungeheuer gefallen würde, wenn Du sie läsest, das wusste ich wohl vorher, und eben dieser Eindruck, den das Durchlesen auf mich machte, ist eigentlich Schuld, dass die ganze Sache zu Stande kommt. Denn Alles sprach hin und her darüber, und keiner wollte anfangen; sie wollten es auf's nächste Spätjahr verschieben und dergl., und wie mich das Herrliche des Stückes so packte, da kriegte ich den alten Tieck an, und sagte: jetzt oder niemals. Und der war liebenswürdig und sagte: jetzt! und so componierte ich aus Herzenslust darauf los, und jetzt haben wir täglich zwei Proben davon, und die Chöre knallen, dass es eine wahre Wonne ist. Ganz Berlin glaubt natürlich, wir seien sehr pfiffig, und ich componierte die Chöre, um Hofgünstling zu sein oder Hofmusikus, oder Hofnarr, und ich gedachte anfänglich gerade im Gegentheil, mich auf die Sache gar nicht einzulassen; aber das Stück mit seiner ausserordentlichen Schönheit und Herrlichkeit trieb mir alles andere aus dem Kopf, und liess mir nur den Wunsch, es baldmöglichst einmal dargestellt zu sehen.«
Am 28. October 1841 wurde die »Antigone« zum ersten Male auf dem Königl. Theater des neuen Palais in Potsdam in dieser Gestalt aufgeführt8. Die ganze Einrichtung war natürlich im [258] Wesentlichen nach griechischem Muster getroffen. Das Theater war in zwei Theile getheilt; der vordere Theil bildete die sogenannte Orchestra und war mehrere Fuss tiefer als der hintere, die eigentliche Bühne. Eine Doppeltreppe von 7 Stufen führte von der Orchestra nach dieser Bühne; beide waren durch einen Vorhang getrennt, der nicht, wie bei unserm Theater, in die Höhe ging, sondern sich senkte. Im Hintergrunde der Bühne erblickte man die Königsburg zu Theben in einer edlen Säulenfront, und der Eingang gewährte zugleich einen Anblick des häuslichen Altars. Ein Nebeneingang führte zu den Frauengemächern. Die Seiten der Bühne boten keinen Ausgang; diejenigen Darstellenden, welche nicht in den Palast zurückgingen, mussten die Stufen zur Orchestra hinabsteigen, welche zu beiden Seiten Ausgänge hatte. In der Mitte der Orchestra war noch ein Altar angebracht, welcher dem Chor, der sich hier aufstellte, seine Tänze ausführte und von hier aus mit seinen Reflexionen die Handlung begleitete, als Mittelpunkt diente. In den Räumen neben der Orchestra war das begleitende Orchester aufgestellt, so dass der Chor von den wenig sichtbaren Instrumenten umgeben war. Im alten griechischen Theater wurden die Frauenrollen zweifellos von Männern gegeben; die Götter und Heroen gingen auf fast ellenhohen Kothurnen, und alle Schauspieler trugen Gesichtsmasken. In richtiger Würdigung unserer gegenwärtigen Verhältnisse war man bei der in Rede stehenden Vorstellung von diesen Bestimmungen abgegangen. Maske und Kothurn fehlten, und die Besetzung der Rollen war nach unserer heutigen Anschauung vertheilt: Mad. Crelinger spielte die Antigone; ihre Tochter Bertha Stich die Ismene und Mad. Wolf die Eurydike; Rott gab den König Kreon, Devrient den Haemon; Franz den Teiresias; Wauer den Wächter und Grua den Boten. Im Chor wirkten Bader-Böttiger, Fischer und Mantius mit. Der Zuschauerraum war amphitheatralisch eingerichtet. Im untern Halbkreis sassen der König, die Königin und die Prinzen und Prinzessinnen, nächst ihnen der ganze Hofstaat. In den Logenreihen sassen dann die geladenen Gäste, unter ihnen die hervorragendsten Vertreter der Künste und Wissenschaften. – Am 6. November schon wurde die Vorstellung [259] ganz in derselben Weise wiederholt, und zwar wieder mit demselben grossartigen Erfolge, den die erste errang. Dass einzelne Stimmen sich dagegen erklärten, oder doch mancherlei auszusetzen hatten, kann kaum überraschen. Derartige Unternehmungen werden, in welcher Form sie immerhin auftreten, jederzeit Widerspruch und die anfeindende Kritik hervorrufen. Im Allgemeinen aber erklärte die bei Weitem überwiegende Mehrzahl der Zuhörer, dass ihre Erwartungen weit übertroffen worden waren. Namentlich stellten sich die Philologen auf die Seite Mendelssohn's. Der Nestor der Kunde des klassischen Alterthums, August Boeckh, schrieb eine eingehende Besprechung dieser Aufführung der »Antigone« in der »Allgemeinen Preussischen Staatsbürgerzeitung«9, nachdem schon Professor Toelken in mehreren Artikeln darüber berichtet hatte. Boeckh bespricht die Musik Mendelssohn's nicht eingehender, aber er findet sie im Allgemeinen ganz übereinstimmend mit seiner Anschauung von griechischem Wesen und Leben und von der Muse des Sophokles. Er giebt dabei dem Componisten mancherlei Winke in Bezug auf die äussere Anordnung der Chöre, die dieser bei einer Revision, so weit es noch anging, augenscheinlich benutzte, und deren wir noch bei der näheren Besprechung des Werkes gedenken werden.
Wenige Tage nach der zweiten Aufführung der »Antigone« ging Mendelssohn nach Leipzig und blieb dort bis Ende des Monats. Die Direction der Gewandhausconcerte hatte inzwischen David übernommen, ohne natürlich unsern Meister ersetzen zu können, und so wurde dieser mit stürmischem Beifall, mit Pauken- und Trompetenschall empfangen, als er das am 13. November stattfindende Abonnementsconcert dirigierte, und dieser Enthusiasmus steigerte sich noch in den beiden folgenden Concerten, am 22sten und 25sten, die er gleichfalls leitete. Auch eine Aufführung seiner Musik zur »Antigone« veranstaltete er, doch nur im Freundeskreise, am 28. November. Die Tragödie selbst wurde, mit vertheilten Rollen, gelesen. Am 29. November reiste er wieder zurück [260] nach Berlin. Oeffentlich thätig finden wir ihn hier erst wieder am 10. Januar 1842 im ersten der, von dem Könige projectierten Concerte im Concertsaal des Schauspielhauses. Durch ein, aus hervorragenden Persönlichkeiten Berlins gebildetes Comité war ein grosser Chor zusammengebracht worden, mit welchem Mendelssohn, unterstützt durch die Solisten der Königl. Oper und durch die Königl. Kapelle, seinen »Paulus« aufführte. Wiederum hatte sich, wie zur »Antigone«, ein äusserst glänzendes Publikum eingefunden, welches das Werk, obwohl es ihm ja längst nicht mehr neu war, auch diesmal mit regem Interesse aufnahm. Auch die Aufführung des »Paulus« in der Sing-Akademie am 17. Februar leitete Mendelssohn, selbst. Der Erfolg war nicht weniger glänzend und ehrenvoll für ihn, als der der früheren Aufführungen. Am 22. Februar ernannte ihn die Sing-Akademie zum Ehrenmitgliede; das betreffende, von den Hofkalligraphen Schütz, Vater und Sohn, künstlerisch ausgeführte Diplom wurde ihm am 5. März feierlich überreicht.
Alle diese Ereignisse konnten ihm recht wohl die Ueberzeugung verschaffen, dass der Kreis seiner Verehrer in Berlin kaum kleiner sei, als in Leipzig, und dass zu erwarten war, er würde sich immer mehr erweitern; allein seine Abneigung gegen Berlin mit seinen verschiedenen Geistesströmungen war zu tief gewurzelt, um beseitigt werden zu können. So wenig er sich der vielfachen Anerkennung und Unterstützung seiner Wirksamkeit, die ihm hier wurde, recht zu erfreuen vermochte, so sehr verstimmte ihn alles was von anderer Seite geschah.
Freilich ereignete sich gerade in jener Zeit in Berlin manches, was die Richtung des Berliner Publikums im Allgemeinen in einem eigenthümlichen, für Mendelssohn wenig anziehenden Lichte zeigte.
Wir rechnen dazu jenen masslosen Enthusiasmus für Liszt, der sich zum Theil in geradezu widerwärtigen Kundgebungen äusserte. Auch in Bezug auf die Eigenthümlichkeit eines Theiles des Berliner Publikums, welche sich hierin verrieth, finden wir in Mendelssohn's Briefen einige sehr bezeichnen de Worte: »Neulich«, schreibt er in dem bereits erwähnten Briefe an den Präsidenten Verkenius10,[261] »hörte ich die Pasta in der Semiramide. Sie singt jetzt namentlich in den Mitteltönen so fürchterlich falsch, dass es eine wahre Qual ist; dabei sind natürlich die herrlichen Spuren ihres grossen Talentes, die Züge, die eine Sängerin ersten Ranges verrathen, oft unverkennbar. In einer andern Stadt würde man das schreckliche Detonieren erst empfunden und – nach her überlegt haben, dass dies die grosse Künstlerin sei; hier sagte sich ein Jeder vorher, dies sei die Pasta, sie sei alt, sie könne daher nicht mehr rein singen, man müsse also davon abstrahieren. So würde man sie anderswo vielleicht ungerechterweise herabgewürdigt haben; hier war man ungerechterweise entzückt, und zwar mit voller Reflexion, mit Bewusstsein des Drüberstehens entzückt. Das ist ein schlimmes Entzücken!«
Liszt kam im December des Jahres 1841 zum ersten Male nach Berlin und gab am 27sten sein erstes Concert. Wie Mendelssohn über den grossen Virtuosen dachte, ersehen wir aus einem Briefe, den er noch von Leipzig unterm 30. März 1840 an seine Mutter schrieb11: »Das Hin und Her der letzten Wochen war zu gross. Liszt war 14 Tage hier, und hat einen Heiden-Scandal verursacht, im guten und schlechten Sinn. – Ich halte ihn für einen guten, herzlichen Menschen im Grunde, und für einen vortrefflichen Künstler. Dass er von Allen am meisten spielt, ist gar kein Zweifel; doch ist Thalberg mit seiner Gelassenheit und Beschränkung vollkommener, als eigentlicher Virtuose genommen, und das ist der Maassstab, den man auch bei Liszt anlegen muss, da seine Compositionen unter seinem Spiel stehen, und eben auch nur auf Virtuosität berechnet sind. Eine Fantasie von Thalberg (namentlich die auf ›Donna del Lago‹) ist eine Anhäufung der ausgesuchtesten, feinsten Effecte, und eine Steigerung von Schwierigkeiten und Zierlichkeiten, dass man staunen muss. Alles so speculiert und raffiniert, und mit solcher Sicherheit und Kenntniss, und voll des allerfeinsten Geschmacks. Dabei hat der Mensch eine unglaubliche Kraft in der Paust, und wieder so ausgespielte leichte Finger, wie nur einer. Hingegen besitzt[262] Liszt eine gewisse Gelenkigkeit und Verschiedenheit der Finger und ein durch und durch musikalisches Gefühl, das wohl nirgend seines Gleichen finden möchte. Mit einem Worte, ich habe keinen Musiker gesehen, dem so wie dem Liszt die musikalische Empfindung in die Fingerspitzen liefe, und da unmittelbar ausströmte, und bei dieser Unmittelbarkeit, und der enormen Technik und Uebung, würde er alle Andern weit hinter sich zurücklassen, wenn eigene Gedanken nicht bei alledem die Hauptsache wären, und diese ihm von der Natur – wenigstens bis jetzt – wie versagt schienen, so dass in dieser Beziehung die meisten andern grossen Virtuosen ihm gleich oder gar über ihn zu stellen sind. Dass er übrigens mit Thalberg allein die erste Classe unter den jetzigen Clavierspielern bildet, ist mir ganz unbezweifelt.« Einer solchen Anschauung gegenüber musste der fast sinnlose Enthusiasmus eines Theils der Berliner für Liszt widerwärtig werden. Dass Mendelssohn in Liszt nicht etwa den gefürchteten Rivalen sah, bedarf, wohl kaum der Erwähnung. Wir haben im Gegentheil bisher immer anerkennen müssen, wie sehr Mendelssohn künstlerische Gesinnung schätzte und künstlerisches Streben unterstützte und zu Erfolgen führen half. Zudem lagen die Gebiete, auf denen beide Künstler vorwiegend sich bewegten, einander doch viel zu fern, um miteinander rivalisieren zu können. Erfolge, wie sie Liszt erreichte, hat Mendelssohn nie angestrebt. Endlich trat er in einzelnen Fällen auch selbst mit seinem Einflüsse für Liszt ein. Bei dem in dem vorher angezogenen Briefe an seine Mutter erwähnten Aufenthalt Liszt's in Leipzig hatte sich, zumeist durch äussere Umstände hervorgerufen, eine ziemlich erbitterte Opposition gegen diesen geltend gemacht. »Nun fiel mir ein«, schreibt Mendelssohn an seine Mutter, »dass die schlechte Stimmung vielleicht am besten zu beseitigen sein würde, wenn die Leute ihn einmal in der Nähe besähen und behörten, entschloss mich kurz und gab ihm eine Soirée auf dem Gewandhause von 350 Personen, mit Orchester, Chor, Bischof, Kuchen, Meeresstille, Psalm, Tripel-Concert von Bach (Liszt, Hiller und ich), Chören aus Paulus, Fantasie sur la Lucia di Lammermoor, Erlkönig, Teufel und seine Grossmutter und da waren alle so vergnügt, und sangen und spielten [263] mit solchem Enthusiasmus, dass sie schwuren, sie hätten noch keinen lustigeren Abend erlebt, und mein Zweck wurde dadurch glücklich und auf eine sehr angenehme Art erreicht.«
Nicht der Künstler, sondern das, diesen bis zur Ungebühr vergötternde Publikum erregte das Missfallen Mendelssohn's in Berlin, weil dies ihm diejenigen Seiten bis zur Carrikatur verzerrt zeigte, die er von vorn herein abstossend fand. Für ihn war das grassirende Lisztfieber nicht nur eine vorübergehende Erscheinung, die in jeder grossen, die verschiedensten Elemente der sittlichen wie intellectuellen Bildung in sich bergenden Stadt unausbleiblich und daher ganz erklärlich ist, sondern ein untrügliches Zeichen jener krankhaften Zustände, die er im ganzen Musikwesen Berlins nun einmal fand.
Kaum als etwas anderes konnte ihm der Erfolg erscheinen, welchen Meyerbeer's »Hugenotten« wie in Paris, so auch in Berlin errangen. Wir haben einzelne Stellen aus seinen Briefen schon mitgetheilt, in denen er die ganze Richtung, welche die Entwickelung der Oper als grosse Oper gewonnen hatte, schonungs los verurtheilt. Es konnte ihn daher kaum weniger unangenehm berühren, als er ihren unglaublichen Erfolg in Berlin erleben musste. Wir wiederholen: auch hier stand nicht Person gegen Person – wie mit Liszt so stand Mendelssohn auch mit Meyerbeer in freundschaftlichem Verkehr – sondern Princip gegen Princip.
Meyerbeer's »Hugenotten« wurden am 20. Mai 1842 zum ersten Male in der königl. Oper zu Berlin aufgeführt und errangen einen vollständigen Erfolg. Der Componist, welcher die Oper selbst dirigierte, wurde am Schluss stürmisch gerufen und unter dem Jubel des Publikums auf der Bühne mit einem Lorbeerkranz geschmückt. Die Königliche Capelle brachte ihm dann noch eine glänzende Abendmusik. Vorher schon gefiel sich ein Theil der Berliner Kritik darin, ihn als den Shakespeare der Musik zu bezeichnen.
Waren solche Erscheinungen auch nicht geeignet, Mendelssohn's Abneigung gegen Berlin zu beseitigen, so würden sie ihn doch wohl nie bewogen haben, seine Stellung schon nach Ablauf des [264] Jahres, für das er sich verpflichtet hatte, wieder aufzugeben, wenn ihm ein bestimmter Wirkungskreis angewiesen worden wäre. An einen solchen hatte er sich seit seinem Aufenthalt in Düsseldorf gewöhnt, und in Leipzig verdankte er ihm, wie er mehrfach anerkennt, eine Reihe der genussreichsten Stunden seines Lebens. Die Unthätigkeit in Berlin – und als solche muss sie im Vergleich zu früheren Jahren bezeichnet werden – war ihm unerträglich, und so kehrte er in seinen alten Wirkungskreis nach Leipzig zurück.
Schon Ende Februar war er, doch nur einige Wochen hin durch, wieder in Leipzig, und übernahm während dieser Zeit wieder die Leitung der Gewandhausconcerte. Am 5. März erfolgte auch unter seiner Direction die erste öffentliche Aufführung der »Antigone« im Stadttheater zu Leipzig. Der Componist wurde mit Beifallsbezeugungen fast überstürmt. Kurz darauf, am 13. April, leitete er auch die erste öffentliche Aufführung im Berliner Schauspielhause.
Im Mai ging Mendelssohn nach Düsseldorf zum rheinischen Musikfest, dessen Leitung ihm abermals übertragen worden war. Der zweite Tag namentlich (16. Mai) brachte ihm wieder die glänzendsten Ehrenbezeugungen. Er wurde mit rauschendem Beifall und mit Blumenspenden empfangen, und nach der Aufführung seines »Lobgesanges« erneuerte sich der allgemeine Jubel der zahlreichen Versammlung.
Von hier aus ging Mendelssohn mit seiner Frau nach England, und dort erneuerten sich ihm eine Reihe der frohesten Tage seiner Vergangenheit. In der Familie seines treuen Freundes Moscheles fand er wieder die schon oft gerühmte Herzlichkeit des Entgegenkommens. Am 9. Juli wurde auch die »Antigon« – mit Clavierbegleitung – in Moscheles' Hause aufgeführt. Auch in öffentlichen Concerten trat Mendelssohn mehrmals auf und erntete wie früher lauschenden Beifall. »Sie haben es«, schreibt er an seine Mutter12, »aber auch ein bischen zu toll mit mir getrieben; neulich auf der Orgel in Christchurch, [265] Newgate Street, dachte ich ein Paar Augenblicke, ich müsste ersticken, so gross war das Gedränge und Gewühl um die Orgelbank her. – Auch ein Paar Tage darauf, wo ich in Exeter Hall vor 3000 Menschen spielen musste, die mir Hurrah zuriefen und mit den Schnupftüchern wehten, und mit den Füssen stampften, dass der Saal dröhnte, – da merkte ich im Augenblicke nichts schlimmes dabei, aber den Morgen darauf ist mir's wüst und übernächtig im Kopf.« – Weiterhin erzählt er dann, wie er bei der Königin Victoria gespielt hat und sehr ausgezeichnet worden ist. »Dazu die hübsche allerliebste Königin Victoria, die so mädchenhaft und schüchtern freundlich und höflich ist, und so gut Deutsch spricht und all' meine Sachen so gut kannte: die 4 Hefte Lieder ohne Worte, und die mit Worten, und die Symphonie und den Lobgesang. Gestern (20. Juni) war ich nämlich bei der Königin, die mit Prinz Albert fast ganz allein war, und sich neben das Clavier setzte, und sich vorspielen liess: erst sieben Lieder ohne Worte, dann die Serenade, dann zwei freie Fantasien auf Rule Britannia und Lützow's wilde Jagd, und Gaudeamus igitur. Letzteres wollte etwas schwer halten, aber remonstrieren ging doch auch nicht an, und da sie die Thema's gaben, so konnte ich sie auch spielen. Dazu die schöne prächtige Gallerie in Buckingham Palace, wo sie ihren Thee trank, und wo zwei Schweine von Paul Potter hängen und mehrere andere Bilder, die mir auch nicht übel gefielen. Dazu dass meine A-moll-Symphonie den Leuten sehr gut zugesagt hat, dass sie uns sammt und sonders mit einer Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit aufnehmen, die alles übersteigt, was ich je von Gastfreiheit gekannt habe, das alles macht mir's verwirrt und toll im Kopfe, und ich muss mich zusammennehmen, um nicht die Fassung zu verlieren.«
Die A-moll-Sinfonie wurde am 13. Juni im Philharmonic aufgeführt: am 21sten spielte er dort sein D-moll-Concert und dirigierte seine Hebriden-Ouverture, die stürmisch Da capo verlangt wurde. »Die Leute«, schreibt Mendelssohn über diesen Erfolg in dem vorerwähnten Briefe, »machen diesmal einen solchen Scandal mit mir, dass ich ganz verblüfft davon bin; ich glaube, sie haben 10 Minuten lang geklatscht und getrampelt nach dem [266] Concert, und die Hebriden mussten wiederholt werden. Die Directoren geben mir nächste Woche ein diner in Greenwich, da wollen wir in corpore die Themse herunterfahren und speeches machen; sie sprechen davon, die Antigone in Coventgarden aufzuführen, sobald sie eine ordentliche Uebersetzung kriegen können. Neulich komme ich in ein Concert in Exeter Hall, wo ich gar nichts zu thun hatte, schlendere ganz pommadig mit Klingemann hinein, – es war schon in der Mitte des ersten Theils – ein Stücker 3000 Personen gegenwärtig, und wie ich eben in die Thüre trete, fängt ein Lärmen und Klatschen und Rufen und Aufstehen an, dass ich erst gar nicht glaubte, es gälte mir, dann aber merkte ich es, als ich an meinen Platz kam und Sir Robert Peel und Lord Wharncliffe ganz nahe bei mir hatte, und sie mit applaudierten, bis ich Diener machte, und mich bedanken musste. – Ich war höllisch stolz auf meine Popularität in Peel's Gegenwart; als ich nach dem Concert wegging, brachten sie mir wieder ein Hurrah.«
Auch in dem, am 24. Juni zum Besten der Abgebrannten in Hamburg veranstalteten Concert wirkte er mit.
Von London ging Mendelssohn nach Manchester, und von dort Ende Juni nach Frankfurt. Der Einladung zum Musikfest nach dem Haag, bei welchem sein Lobgesang aufgeführt wurde, folgte er nicht, weil er »einmal wieder einige Wochen keine Musik machen wollte.«
Im August treffen wir ihn mit seiner Frau, seinem Bruder Paul und dessen Frau auf einer Reise durch die Schweiz, die in ihm vielfache Jugenderinnerungen zurückruft, wie er an die Mutter berichtet13.
Vor seiner Rückreise nach Berlin verweilte er noch einige Zeit in Frankfurt a.M.
Das erste der Leipziger Gewandhausconcerte der neuen Saison fand wieder unter seiner Leitung statt. Der Concertsaal im Gewandhause war, da er sich längst zu eng für die wachsende Zahl [267] der Zuhörer erwiesen hatte, erweitert und restauriert worden. Das erste Concert war demnach zugleich die Einweihung des so verjüngten erneuten Saales, und Mendelssohn war eigens dazu nach Leipzig gekommen. Er wurde natürlich wieder mit nicht enden wollendem Jubel empfangen, und das äusserst gelungene Concert bildete unstreitig einen Glanzpunkt in der Geschichte der Gewandhausconcerte. Die Jubel-Ouverture von Weber und die A-dur-Sinfonie von Beethoven bildeten Einleitung und Abschluss, dazwischen traten Frau Clara Schumann, Fräulein Schloss und Herr Concertmeister David mit ihren vortrefflichen Concertleistungen auf.
Zwar ging Mendelssohn nochmals nach Berlin zurück, aber nur um sein Verhältniss dort zu lösen. Wie er an Klingemann schreibt14 konnte er den Zustand der Ungewissheit in Berlin nicht mehr ertragen; »es war«, heisst es in dem Briefe, »eigentlich nichts dort gewiss, als dass ich so und so viel Geld bekam, und das allein soll denn doch nicht den Beruf von einem Musikanten ausmachen; mich drückte es wenigstens von Tag zu Tag mehr und ich verlangte, sie möchten entweder aussprechen, ich solle nichts thun (das wäre mir auch recht gewesen, denn alsdann hätte ich unbesorgt arbeiten können, was ich gewollt hätte) oder aussprechen, was ich thun soll.« Da er hierauf keine genügende Antwort erhielt, schrieb er unterm 23. October15 an Herrn von Massow welcher schon früher die Unterhandlungen mit ihm geleitet hatte, und erbat sich eine Audienz bei dem Könige, »um den Stand seiner Berliner Angelegenheiten und seine Wünsche in dieser Beziehung mündlich vorzutragen«.
»Ew. Excellenz wissen«, heisst es in diesem Schreiben weiter, »dass ich nicht im Stande bin, auf den Antrag des Herrn Ministers Eichhorn einzugehen und mich an die Spitze der gesamten evangelischen Kirchenmusik zu stellen. Wie ich dem Herrn Minister bereits sagte, und wie auch Ew. Excellenz in unserem letzten Gespräch damit einverstanden waren, so könnte eine solche Stellung, praktisch [268] genommen, sich nur entweder auf eine Oberaufsicht über die jetzt bestehenden Organisten, Cantoren, Schullehrer u.s.w. oder auf die Errichtung und Einübung von Sing-Chören bei einer oder mehreren Kathedralen beziehen. Beides aber ist nicht die Art Thätigkeit, die ich mir vorzugsweise wünschen würde. Ausserdem wäre die erste der beiden Functionen überflüssig, sobald alle Stellen gut besetzt wären, und die zweite würde, wenn sie wirksam in's Leben treten sollte, grössere und umfassendere Anordnungen und Geldmittel erfordern, als für den Augenblick zu erlangen sein dürften.
Da sich nun den übrigen Plänen, die theils zur Umgestaltung bestehender, theils zu Errichtung neuer Kunstinstitute vorlagen, Schwierigkeiten entgegengestellt haben, welche die Ausführung dieser Pläne nicht gestatten, so tritt der Fall ein, welchen ich, wie Ew. Excellenz sich erinnern werden, vom Anfang unserer Correspondenz im December 1840 an, zu meinem grössten Bedauern stets gefürchtet habe: es ist für eine praktisch eingreifende musikalische Thätigkeit meinerseits keine Gelegenheit in Berlin.« Er erwähnt dann weiter, dass ihm der Minister Eichhorn versichert habe, dass man daran arbeite, eine andere Lage der Dinge herbeizuführen. Darauf in Berlin in Unthätigkeit zu warten, erschien ihm aber als ein Missbrauch des Vertrauens, welches der König in ihn setze, und deshalb wolle er Se. Majestät bitten, ihm zu gestatten, »an einem andern Orte, wo er für den Augenblick schon thätig einzugreifen vermöge, einstweilen zu leben, zu wirken und seine Befehle zu erwarten.« »Sowie das Gebäude«, fährt er dann fort, »fertig wäre, von dem der Minister Eichhorn sprach, oder so wie der König eine Arbeit von mir verlangte, so würde ich es mir zum höchsten Glück anrechnen, herbeizueilen und meine besten Kräfte für einen solchen König anzustrengen, dessen Aufträge schon an sich die schönsten Belohnungen für einen Künstler sind.«
Die Audienz wurde ihm gewährt. Herr von Massow, indem er ihm den Tag derselben ankündigte, theilte ihm zugleich mit, dass der König sehr verstimmt sei und in wenig Worten Abschied nehmen werde. Fast mehr noch als diese Mittheilung bekümmerte [269] es Mendelssohn, dass er seiner Mutter, die er nun endlich auch mit dem Stande der Dinge vertraut machen musste, so grosse Unruhe bereitete. »Und doch konnte ich mir nicht helfen«, schreibt er an Klingemann, dem er über die Audienz ausführlich berichtet. »So ging ich nun den folgenden Tag zum König mit Massow, der mein wohlwollendster Freund in Berlin ist, und der in seinem Hause förmlich Abschied von mir nahm. Der König muss besonders guter Laune gewesen sein, denn statt ihn böse auf mich zu finden, hatte ich ihn nie so liebenswürdig und wirklich vertrauensvoll gesehen. Er sagte mir auf meine Abschiedsrede: er könne mich freilich nicht zum Bleiben zwingen, aber er wolle mir doch sagen, dass es ihm herzlich leid thäte, wenn ich ihn verliesse, dass dadurch alle die Pläne scheiterten, die er auf meine Anwesenheit in Berlin gebaut habe, und dass ich ihm eine Lücke risse, die er nicht wieder ersetzen könne. Da ich das nicht zugeben wollte, so sagte er, wenn ich ihm Einen nennen könnte, der ihm die und die Pläne so gut ausführen könnte, wie er glaubte, dass ich es thäte, so wolle er es dem übergeben, aber ich würde keinen nennen, der ihm recht wäre. Und folgendes seien die Pläne. Er setzte sie nun weitläufig auseinander; zunächst solle sich's darum handeln, ihm eine Art von wirklicher Kapelle zu bilden, d.h. einen kleinen Chor von etwa 30 ausgezeichnet guten Sängern, und ein kleines Orchester (aus der Elite des Theaterorchesters bestehend), die die Verpflichtung hätten, Sonn- und Festtags Kirchenmusik, ausserdem auch wohl noch Oratorien und dergl. aufzuführen, und die ich ihm nun dirigieren sollte, Musik dafür componieren u.s.w. – Ja, sagte ich, wenn davon hier die Rede gewesen wäre, wenn das zu Stande gekommen wäre, das wäre ja gerade der streitige Punkt, den ich vermisst hätte. – Darauf erwiderte er wieder, das wisse er wohl, dass ich ein Instrument haben müsse, um darauf Musik zu machen, und ein solches Instrument von Sängern und Spielern anzuschaffen, sei seine Sorge. Aber wenn er es nun angeschafft hätte, so müsste er auch wissen, dass ich bereit sei, darauf zu spielen. Bis dahin möge ich thun, was ich wollte, nach Leipzig zurückgehen, nach Italien reisen, vollkommen unbeschränkt sein, nur müsse er Gewissheit haben, dass [270] er auf mich rechnen könne, wenn er mich brauche, und das wäre nur dann zu machen, wenn ich in seinen Diensten bliebe. – Das war wenigstens im Wesentlichen der Inhalt der ganzen langen Unterredung; darauf trennten wir uns; eine Erklärung sollte ich ihm nicht gleich geben, sagte er, weil man sich leicht im Augenblick nicht alle Schwierigkeiten vorhielte; ich möchte mir es überlegen und Massow dann antworten, welcher bei diesem 5/4 Stunden langen Gespräch zugegen war. – Der war ganz roth vor Freude, als wir aus dem Zimmer kamen, und konnte sich gar nicht fassen und wiederholte immer: nein, wenn Sie nun noch an Fortgehen denken! – Und ich dachte, die Wahrheit zu sagen, mehr an mein Mütterchen, als an alles übrige. – Kurz, nach 2 Tagen schrieb ich an den König, sagte ihm, nach den Worten, die er an mich gerichtet hätte, könne ich nicht mehr seine Dienste verlassen, sondern wolle ihm vielmehr mit besten Kräften mein Lebenlang zu Diensten stehen. Er habe mir nämlich das und das gesagt (da wiederholte ich ihm den Inhalt des ganzen Gesprächs), ich würde die Freiheit, die er mir gelassen, annehmen, und bis ich also zu bestimmten öffentlichen Arbeiten berufen würde, in Leipzig bleiben; deswegen bäte ich ihn aber, auf mein halbes Gehalt Verzicht leisten zu dürfen, so lange ich mit jenen Arbeiten nicht wirklich zu thun hätte. Das hat er angenommen, und da bin ich wieder mit Frau und Kind hier.«
Erwähnen müssen wir noch, dass Mendelssohn bereits im Mai vom Könige auch zum Ritter der Friedensklasse des, von Friedrich dem Grossen gestifteten und von ihm erneuerten Ordens pour le mérite ernannt worden war. Jedenfalls hatte der kunstsinnige Monarch Alles gethan, um den Meister in seiner Nähe zu erhalten; unstreitig wäre ihm dies leichter geworden, wenn dieser selbst sich geneigter gezeigt hätte, den bestehenden Verhältnissen mehr Rechnung zu tragen. Für die Entwickelung des Berliner Musikwesens wurde deshalb diese Stellung Mendelssohn's auch nur von untergeordneter Bedeutung. Dagegen verdanken wir ihr einige seiner hervorragendsten Werke: jene, die er, wie bereits erwähnt, im Auftrage oder doch angeregt durch den König Friedrich Wilhelm IV. schriebt.
[271] Die Entstehungsgeschichte der »Antigone« berichteten wir bereits.
Dass die Aufgabe: die alte griechische Tragödie mit Musik zu erneuen, keine so leichte war, beweisen die mancherlei missglückten Versuche von zum Theil bedeutenden Musikern, welche durch die Bestrebungen Mendelssohn's hervorgerufen wurden. Es galt hierbei nicht, auf die griechische Musik, nach ihrem wahrscheinlichen Wesen, zurückzugehen; was wir von diesem wissen, genügt vollkommen, uns zu überzeugen, dass die griechische Musikanschauung mit unserer heutigen nur wenig Gemeinsames hat. Es ist wohl zweifellos, dass die Griechen, wie alle vorchristlichen Völker, den Ton nicht als Material verwendeten, aus dem sie, wie wir heutigen Tages, selbständige künstliche Formen bildeten, sondern als ein wirksames Hülfsmittel, der Sprache Form und Klang zu geben. Nur mit Hülfe der sinnlich wirkenden bestimmten Intervallenfortschreitung vermochte die griechische Sprache zu dieser Fülle von metrischen und rhythmischen Gebilden zu gelangen, und nur in dieser Voraussetzung ist es denkbar, dass in dem griechischen Theater, welches von ungeheuren Dimensionen und unbedeckt war, die Reden und Gesänge der Schauspieler und des, nur aus 15 Personen bestehenden Chors verständlich wurden. Das attische Theater fasste 30000, das Theater zu Megalopolis sogar 40000 Menschen. In solchen weiten Räumen werden nur die charakteristischen Intervallenfortschreitungen vernehmlich, und nur diese fanden in den Schallvasen erhöhte Resonanz. Selbst bei einer Erneuerung der griechischen Tragödie in der Ursprache würde es daher kaum zweckmässig sein, sich nur auf diesen Antheil der Musik an der metrischen Gestaltung der Rede zu beschränken, weil er unserer Anschauung zu wenig entspricht. Die in der Uebersetzung erfolgende Bearbeitung der griechischen Tragödie, wie sie Mendelssohn übernahm, musste natürlich ganz davon absehen. Sie konnte vielmehr nur versuchen, jene Wirkung mit unsern Mitteln zu erzielen. Das hat Mendelssohn mit der ganzen und vollen Meisterschaft, mit welcher er das gesamte musikalische Darstellungsmaterial beherrschte, gethan. »Er hat« wie Böckh sehr treffend sagt, »diese Mittel so in Bewegung gesetzt, wie es dem Charakter der [272] Chorlieder und der darin enthaltenen Gedanken angemessen ist, folgend der grossartigen und erhabenen, der betrachtenden und phrenetischen, der trüben und mehr heiteren und hoffenden Stimmung des Chors; das Edle und Würdige des Gesamt-Eindruckes entscheidet für die Vortrefflichkeit der Musik auch den, welcher die einzelnen Schönheiten nicht verfolgen kann. Hierdurch darf sich jedes antiquarische Gewissen beschwichtigt fühlen, da zumal kein Antiquar im Stande sein wird, an die Stelle dieser Musik eine antike zu setzen.« Darf man dem Meister einen hierauf bezüglichen Vorwurf machen, so ist es der, dass er selbst in dieser modernen Bearbeitung den ursprünglichen formellen Bau der Tragödie noch mehr berücksichtigen konnte, als er es that. Böckh deutet in seiner Besprechung auch darauf hin. »Indem wir alles Uebrige«, heisst es dort, »competenteren Kunstrichtern überlassen, sei es gestattet, dass wir uns noch einige Augenblicke auf den antiquarischen Standpunkt versetzen; vielleicht berücksichtigt derselbe Komponist einmal bei einem ähnlichem Anlass eine oder die andere dieser Bemerkungen. Das Chorische der griechischen Tragödie zerfällt in die Parodos und das Stasimon; jene wurde sicher mit Tanzbewegungen ausgeführt, dieses unseres Erachtens ohne alle Tanzbewegung; doch wurde bisweilen aus besonderen Motiven statt eines Stasimon ein Tanzlied eingelegt, von welcher Art der letzte Chorgesang unserer Antigone ist, wie der Verfasser anderwärts gezeigt hat. Ausserdem bietet die alte Tragödie Gesänge von der Scene, das heisst der Schauspieler, und die sogenannten Kommen dar, welche sich zwischen den Chor und die Schauspieler theilten, so dass der eine Theil des Gesanges ebenfalls Gesang von der Scene war. Bei unserer Darstellung der Antigone wurde die Parodos (›Strahl des Helios‹) zum Theil in Halbchören gesungen, und der Chor, der wie zu Athen aus 15 Personen bestand, trat auch in Halbchören Mann hinter Mann auf. Ob Halbchöre hier bei den Alten statt hatten, lässt sich weder behaupten noch verneinen, doch bedünkt es uns nicht wahrscheinlich. – – Die anapästischen Systeme der Parodos, sowie die den übrigen Chorliedern angefügten, hat der Componist meistens als Recitativ für den vollen Chorgesang, selten als Recitativ des Chorführers behandelt; [273] letzteres entspricht der Meinung der bewährtesten Philologen, und wenn wir nicht irren, nahm es sich ganz vorzüglich aus. Die Durchführung dieser Komposition für alle anapästischen Systeme, namentlich für die in den mittleren Theilen der Parodos würde unseres Erachtens eine sehr schöne Abstufung gegen den vollen Chorgesang in den lyrischen Strophen und Gegenstrophen geben. Da der Rhythmus als das Gestaltgebende in der griechischen Musik unstreitig sehr bestimmt hervortrat, so wird die Komposition sich dem Antiken besonders dann nähern, wenn die Rhythmen klar hervorgehoben werden.« Hierauf scheint Mendelssohn nicht immer die nöthige Rücksicht genommen zu haben. Auch Böckh hört die Rhythmen nur in dem Chorgesange: »Auch der Danaë Reiz« deutlich hindurchklingen. Mit Recht darf man dem Meister den Vorwurf machen, dass er beispielsweise im ersten Chor zwar das Versmaass, aber nicht auch das alte Versgefüge berücksichtigt hat; dass er, indem er den ganzen Chor mehr nach Art des modernen Strophenliedes gliedert, häufig gegen Sinn und Zusammenhang der Rede verstösst, Zusammengehöriges durch eine Cäsur trennt und wiederum durch Verwischung derselben Getrenntes verknüpft. Das konnte vermieden werden, wenn Mendelssohn eine noch grössere Mannigfaltigkeit in der Darstellung der Metra sich gestattete. Dass eine solche zulässig ist, bestätigt auch Böckh. Er sagt hierüber in seinem Bericht: »Es kann nicht davon die Rede sein, den Takt aufzugeben, dessen die alte Musik wohl schwerlich ganz entbehren konnte, wie sich Manche vorstellen. Der im Sylbenmaasse ausgesprochene Rhythmus fügt sich leicht in den Takt, ohne das Verhältniss der Längen und Kürzen gegen einander in einer und derselben rhythmischen Reihe bedeutend zu ändern. Dass die Alten nicht bloss die beiden Zeitmaasse der Mora und ihres Zweifachen (etwa Achtel und Viertel) hatten, sondern mannigfache Maasse, war längst bekannt; auch wer behauptet, die Alten hätten ihren Rhythmen nur Kürzen und Längen zu Grunde gelegt, stellt hiermit nicht in Abrede, dass es Kürzen und Längen von sehr verschiedenem Maasse gegeben habe, und muss mancherlei Modificationen und besonders motivierte Ausnahmen zugestehen, deren Entwickelung uns hier viel zu weit [274] führen würde. Die Anwendung dieser verschiedenen Maasse und der Pausen hob die scheinbare Monotonie auf und erlaubte, die Rhythmen der Alten, ohne wesentliche Abweichung vom Silbenmaass, in den Takt zu bringen. Es kommt nur darauf an, diese Mittel so zu gebrauchen, dass der im Silbenmaass liegende Rhythmus nicht aufgehoben werde. Der Einwurf, die Metriker seien über den Rhythmus der Maasse, ja über die Maasse selbst, häufig nicht einig, ist nicht von grossem Belang, indem der Komponist schon finden wird, auf welcher Seite die Wahrheit sei, wenn er nur einigen Sinn für die antiken Formen hat. Unterwirft sich der Komponist dem freilich harten Zwang eines gegebenen Rhythmus, so dürfte ihn dieser in einige Nähe auch des alten Melos führen, da beide Elemente übereinstimmen müssen.« Dem Metrum hat sich Mendelssohn meist strenger gefügt, als dem Rhythmus, und daher treffen der specielle Wortinhalt und das strophische Gefüge nicht immer zusammen.
Abgesehen von diesen Bedenken formeller Art ist Mendelssohn's Musik zur Antigone eine der köstlichsten Schöpfungen des Meisters; ein beredtes Zeugniss für seine klare Anschauung griechischen Geistes. Seit seiner frühesten Jugend war er mit diesem vertraut; seine eigene Welt- und Lebensanschauung war griechischem Wesen auch so weit verwandt, dass wir hier viel weniger von jenem Zersetzungsprozess gewahren, welchen die meisten übrigen, namentlich die Oratorien-Stoffe in seinem Innern erfahren. Nur die, an einzelnen Stellen mit grösserer Hast, fast unstätig hervorbrechende Leidenschaftlichkeit und Heftigkeit des Ausdrucks ist mehr in Mendelssohn's Eigenart, als in griechischem Wesen bedingt. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Introduction als das schwächste Stück der ganzen Musik. Sie beginnt mit vollem Orchester (ohne Pauken) in ehernem Schritt einherschreitend, wie das Schicksal, die bewegende Macht der alten Tragödie; aber schon die Dissonanz im zweiten Tact, die sich im vierten, sechsten und siebenten bis zum wilden Schmerzensschrei steigert, gehört nicht mehr der antiken Welt an, in welcher alle Leidenschaften in Fluss gerathen, in sich abgeklärt sind, sondern der romantischen, die von wilden Mächten bewegt ist. [275] Dieser Satz schwankt zwischen beiden Anschauungen hin und her. Das anschliessende Allegro (assai appassionato) aber entfaltet sich ausschliesslich mit einer fieberhaft zitternden Leidenschaftlichkeit, die weder in Antigone, dem Ideal weiblicher Entschlossenheit, noch in der Tragödie überhaupt, sondern eben nur in der romantisch bewegten Welt zu finden ist. Der erste Chor dagegen ist, wie erwähnt, ganz im griechischen Geist erfunden. Mendelssohn hat auch instrumental Strophe und Antistrophe geschieden, was jedenfalls äusserst zweckmässig erscheint. Er begleitet die Strophe (vom ersten Chor gesungen) mit Blasinstrumenten ohne Flöten; die Antistrophe mit Streichinstrumenten, zwei Flöten und Harfe. Auch die Behandlung des Streichquartetts entspricht hier noch griechischer Anschauung. Bei der zweiten Strophe beginnt Mendelssohn wieder mit jener rhythmischen Auflösung, die uns hier nicht passend erscheint, so dass wir fast meinen, es war überhaupt angemessener auf die Streichinstrumente ganz zu verzichten. »Der zweite Chor: ›Vieles Gewaltige lebt‹«, sagt Böckh, »ist angefochten worden; uns hat gerade die geistreiche Heiterkeit; welche ihn belebt, reizend angesprochen; diese Musik scheint ganz die Anmuth und Süssigkeit der Sophokleischen Muse zu athmen –«, und wir schliessen uns diesem Urtheil in seinem vollen Umfange an. Namentlich das luftige Spiel der Flöte und Clarinette, welches am Ende der Strophe beginnt und die ganze erste Gegenstrophe begleitet, giebt dem Chor diesen frischen, geistreich heitern Charakter. Dagegen wird die erste Strophe des folgenden Chors: »Ihr Seligen, deren Geschick« wiederum durch die Begleitung ihres ursprünglichen Charakters entledigt; diese erinnert vielmehr an die echt christliche Anschauungsweise, welche den Chor im Paulus: »Siehe, wir, preisen selig« entstehen liess. Erst die zweite Strophe: »Wer mag deine Gewalt, o Zeus, kühn aufhalten in frevlem Hochmuth?« gewinnt wieder mehr entsprechenden Charakter; eben so der folgende Chor (Nr. 4): »O Eros, Allsieger im Kampf!«, weil Mendelssohn, ihn entweder nur mit Blasinstrumenten begleitet, oder doch die Streichinstrumente, wo sie hinzutreten, ähnlich wie jene führt. Jede selbständigere Entfaltung des Streicherchors erscheint uns als eine Verletzung griechischer Anschauungsweise, [276] selbst in dieser modernen Auffassung. Nur beim Bacchuschor: »Vielnamiger! Wonn' und Stolz der Kadmosjungfrau« scheint uns eine abweichendere Fassung gerechtfertigt. Den Chorgesang: »Auch der Danaë Reiz« denkt sich Böckh »wenigstens in der choriambischen Partie mehr im Charakter eines Threnos, deren einer von Simonides auch gerade den Mythos von der Danaë behandelte; bei solchen Liedern wandten die Alten nur Blasinstrumente an.«
Ausser diesen Chören hat Mendelssohn noch Einiges melodramatisch behandelt. »Die Lieder von der Scene und was vom Kommos den Schauspielern zufällt, also die Todesklage der Antigone und die Wehklagen des Kreon, welche der Dichter für den Gesang geschrieben hat, wurden gesprochen, aber mit melodramatischer Begleitung, die genial gesetzt ist und eine grosse Wirkung macht. Der Phantasie des Zuhörers bietet sie einen Ersatz für den fehlenden Gesang.« So Böckh hierüber in seiner erwähnten Abhandlung, die dann am Schluss noch einige werthvolle Beiträge in Bezug auf jene formellen Bedenken und zugleich ein wichtiges Urtheil über Mendelssohn's Musik und ihr Verhältniss zur alten Tragödie giebt: »Der dem Chor zukommende Theil der Kommen wurde in unserer Aufführung grössten Theils vom vollen Chor gesungen. Gegen die Rede der Schauspieler, welche in den Kommen angenommen ist, scheint dies zu stark abzustechen; aber auch wenn der Kommos vom Schauspieler gesungen wurde, möchte der chorische Theil desselben, bei genauerer Nachahmung des Antiken, grösstentheils vom Chorführer oder einem und dem andern Choreuten recitativisch vorzutragen sein, am sichersten die darunter befindlichen jambischen Senare, bei welchen der Komponist auch einmal eine Ausnahme zu Gunsten der hier ausgesprochenen Ansicht gemacht hat; dann aber auch die anapästischen Systeme: die kleinen, grösstentheils in lyrischen Jamben gesetzten Strophen möchten am ersten eine Konkurrenz des ganzen Chors oder halber Chöre im Alterthum gestattet haben; besonders dürfte hier das Einfallen des vollen Chors oder eines Halbchors mit dem letzten Vers von grosser Wirkung sein. Vergleicht man also unsere Aufführung mit der antiken Darstellungsweise, so weit sich diese mit mehr oder weniger Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit bestimmen läss', [277] so ergiebt sich, dass in ersterer das musikalische Element bald stärker, bald schwächer ist, als es in letzterer war; indem sich aber das Mehr und Minder gegen einander ausgleicht, stellt sich das richtige Verhältniss für den Gesamt-Eindruck wieder her, in wiefern es bei der Substitution der neueren Musik für die alte möglich ist.«
Ausser mehreren Liedern mit Worten (Op. 57, Nr. 5, Op. 71, 4) und ohne Worte, hat Mendelssohn in dieser Zeit nur noch jene A-moll-Sinfonie (Op. 56) geschaffen, welche bereits durch seine Reise in Schottland (1829) angeregt worden war, die er auch mehrmals in seinen Reisebriefen als »Schottische Sinfonie« erwähnt, deren Ausarbeitung jedoch erst in Berlin erfolgte. Es dürfte auch dies ein Beweis mehr sein, wie wenig er hier die behagliche Stimmung zum Schaffen finden konnte. Neben der ausgedehnten praktischen Thätigkeit der vergangenen Jahre entwickelte er eine weit grössere selbstschöpferische, als in dieser Zeit ohne einen bestimmten Wirkungskreis. Es ist zugleich charakteristisch genug, dass Mendelssohn für diese Sinfonie weder in Italien noch bisher die Stimmung fand. Erst in Berlin, nach langen Jahren, vermochte er sie zu beenden. Die Sinfonie erhebt sich nicht über die bedeutenderen Werke früherer Jahre; ja ihrer formellen Gestaltung nach erreicht sie nicht die Quartette und das D-moll-Trio. Der ideelle Inhalt, der in der Hebriden-Ouverture eigentlich vollständig, wenn auch nur in seinen Grundzügen zur Erscheinung kommt, wird hier ausführlicher auseinandergelegt. Es geschieht dies wiederum ganz in jener umschreibenden Weise des Capriccio, die wir bei den meisten derartigen Werken Mendelssohns kennen lernten, und die namentlich den ersten, den eigentlichen Sonaten-Satz in verkümmerter Gestalt erscheinen lässt. Der Allegrosatz der A-moll-Sinfonie, der durch ein ganz ausdrucksvolles Andante eingeleitet wird, hat eigentlich nur ein einziges Hauptthema, welches das Land, das die Sinfonie erzeugte, mit seiner Eigenthümlichkeit trefflich charakterisiert:
[278] Ein zweites Motiv:
ist kaum als Gegensatz zu betrachten; Mendelssohn behandelt es auch nur sehr nebensächlich, weit weniger eingehend noch als einzelne Verbindungsmotive. So war von vornherein durch die Erfindung der Grundgedanken eine eigentlich sinfonische Gestaltung dieses Satzes ausgeschlossen; er nimmt die Form des Capriccio an. Diese gewinnt erst im zweiten Satze eine durchaus entsprechende Verwendung. Wir haben bereits an den früheren Werken Mendelssohn's nachgewiesen, wie er das Scherzo in der Weise des Capriccio behandelt. Hier liegt uns wieder ein ähnlicher Fall vor. Der ganze zweite Satz ist gleichfalls vorwiegend aus einem einzigen Hauptmotiv:
das dem volksthümlichen Instrument Schottlands, dem Dudelsack, abgelauscht zu sein scheint, entwickelt. Denselben Ursprung hat unstreitig ein zweites Motiv, das, wenn es auch nicht ähnliche Bedeutung gewinnt, wie das erste, doch grössere als das zweite im ersten Satze:
[279] Beide treten einander weit mehr gegensätzlich gegenüber als jene beiden des ersten Satzes. Die Instrumentation dieses Capriccio namentlich; ist überaus charakteristisch im Sinne der ursprünglichen, das Werk erzeugenden Idee gehalten.
Im Adagio erklingt die Harfe Ossian's in mächtigen Accorden, über denen sich dann klagende, herbsüsse Weisen erheben; Hörner und Trompetenfanfaren erinnern an die alte Herrlichkeit des versunkenen Reiches und wecken zugleich ein kriegerisches Leben, das sich dann im nächsten Satze: Allegro guerriero entfaltet. Namentlich dieser Satz ist fest geformt und originell gedacht. Er leitet in ein Allegro maestoso assai als Schlusssatz hinüber, in welchem wiederum jenes Lieblingsmotiv Mendelssohn's:
verarbeitet ist.
Obgleich die drei letzten Sätze namentlich frisch und lebendig aufgefasst und auch meist weniger weitschweifig ausgeführt sind, als die entsprechenden der vorhergehenden Sinfonien, so ist doch unzweifelhaft, dass auch die hier erzeugende Idee entsprechenderen Ausdruck in der, von Mendelssohn geschaffenen knappen Form der charakteristischen Ouverture gefunden hätte.
1 In Lurgensteins Garten.
2 Briefe II. Seite 301.
3 Briefe II. Seite 303.
4 Briefe II. Seite 295.
5 Ebend. Seite 67.
6 Briefe II. Seite 306.
7 Briefe II. Seite 308.
8 Wir wollen hierbei nicht unerwähnt lassen, dass schon in Weimar, zur Zeit Goethe's, 1809 »Antigone« nach einer Bearbeitung von Fr. Rochlitz zum Geburtstage der Grossherzogin aufgeführt und seit der Zeit mehrmals wiederholt worden war.
9 Die auch in der Leipziger: »Allgemeinen musikal. Zeitung« 1841 Nr. 47 abgedruckt ist.
10 Briefe II. Seite 305.
11 Briefe II. Seite 224
12 Briefe II. Seite 316.
13 Briefe II. Seite 325, 328.
14 Briefe II. Seite 344.
15 Ebend. Seite 339.
Buchempfehlung
Die zentralen Themen des zwischen 1842 und 1861 entstandenen Erzählzyklus sind auf anschauliche Konstellationen zugespitze Konflikte in der idyllischen Harmonie des einfachen Landlebens. Auerbachs Dorfgeschichten sind schon bei Erscheinen ein großer Erfolg und finden zahlreiche Nachahmungen.
554 Seiten, 24.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro