Nach einem vierjährigen eifrigen Studium fühlte Gluck sich im Stande, für das Theater zu schreiben und mit den damals ausgezeichnetsten italienischen Maestri den scenischen Wettkampf zu wagen.
Bald bot sich dazu Gelegenheit dar.
Da Gluck in dem Hause des Fürsten, wo er als Tonkünstler besoldet war, schon verschiedene Beweise seiner höheren musikalischen Gaben abgelegt hatte, wurde er eines Tages aufgefordert, für das Hoftheater in Mailand eine grosse Oper zu setzen. Gluck nahm, seiner Fähigkeiten sich bewusst, die Aufforderung an, und, indem er sich den Eingebungen der Muse ganz überliess, wagte er es, von der gewohnten, breit- getretenen Bahn der italienischen Tonsetzer seiner Zeit so viel als möglich abzuweichen, und eine dem musikalischen Ausdruck sich annähernde Musik zu schreiben, eine Gattung, der er später seinen unsterblichen Ruhm verdankte, und die er, so zu sagen, selbst geschaffen hat.1
Diese erste Oper war »Artaserse« von Metastasio; sie gelangte im J. 1741 zur Aufführung.
Bei dieser Gelegenheit ereignete sich Folgendes: Gluck war aus Sammartini's Schüler bald dessen vertrautester Freund geworden. Gluck unternahm seine neue Arbeit, ohne Jemand dabei zu Rathe zu ziehen, und beendete die, bei ihm bestellte Oper bis auf eine Arie, die einer andern Wortunterlage bedurfte, und desshalb noch ungesetzt geblieben war.
Die erste Probe wurde im Theater vor einer grossen Zuhörermenge abgehalten, die von der Neugierde dahin gezogen[24] wurde, und vor Ungeduld brannte, den ersten Versuch eines jungen Tonsetzers zu vernehmen und zu beurtheilen.
Die Gehörswerkzeuge dieser Menschen waren jedoch an diese neue Gattung nicht gewöhnt; Alle lachten mit hämischer Schadenfreude und spotteten des deutschen Künstlers. Gluck, der es merkte, verlor kein Wort und blieb seinem Streben getreu. Die noch ungesetzte Arie schrieb er in der gewöhnlichen italischen nur dem Ohre schmeichelnden Weise, ohne dabei auf den Zusammenhang mit den übrigen Theilen des Werkes Rücksicht zu nehmen. Sie war ganz nach dem Wunsche jener Italiener, die nur ein oberflächliches Vergnügen in den Räumen des Theaters suchen, ohne den Werth einer Arbeit zu ergründen und den Gesammteindruck zu beachten.
Die Hauptprobe zog noch eine weit grössere Menschenzahl herbei, und als die Zuhörer das neue, liebliche Gesangstück vernahmen, brachen sie in den lautesten Beifall aus, und flüsterten sich ins Ohr, dass diese Arie von Sammartini sei. – Gluck sah und hörte Alles und schwieg. Jedermann drängte sich zur ersten Vorstellung, und siehe da – der Erfolg der Musik war ein vollkommener. Die von den übrigen Tonstücken so verschiedene Arie ward als flach und zu dem Ganzen so unpassend befunden, dass man allgemein ausrief, sie entstelle die ganze Oper. In dieser unschuldigen Weise rächte sich Gluck an dem voreilig richtenden Volke.
Da Gluck's erste Oper den allgemeinen Beifall errungen hatte, so war auch der grosse Wurf gelungen, wornach der junge Tonsetzer viele Jahre hindurch sehnsuchtsvoll gestrebt hiatte; denn Gluck war jetzt auch ein Maestro geworden, und zwar nicht Einer vom gewöhnlichen Schlage. Er ward nun von einer Stadt Italiens zur andern gerufen, um alle mit seinen Opern zu versehen und überall Gold und Ruhm zu ernten.
So schrieb er vier Jahre nach einander für Mailand, und zwar im J. 1741 die bereits genannte Oper; im J. 1742: »Demofoonte« von demselben Dichter; im J. 1743: »Siface« und im J. 1744 »Fedra.«
Venedig empfing von Gluck zwei Opern, die den Ruhm[25] des jungen Künstlers alle stelle hoben. Die erste war »Demetriou« ebenfalls von Metastasio; sie wurde (nach Allacci2) mit dem Titel: »Cleonice« im J. 1742 auf dem Theater San Samuele zur Aufführung gebracht. Der berühmte Musico Felice Salimbeni, Porpora's Schüler, sang darin die Rolle der »Alceste« mit stürmischem Beifalle.3
Die zweite: »Ipermnestra« von demselben Dichter gelangte in dem Theater S. Giovanni Crisostomo zur Darstellung.
Seine Oper: »Artamene« erschien im Jahre 1743 zu Cremona auf der Bühne und sein »Alessandro nell' Indie« mit dem Titel: »Porro« ergötzte im J. 1745 die Bewohner Turins.
Der »Almanacco de' Teatri di Torino per l'anno 1819« liefert uns eine Uebersicht aller seit dem Anfange des verflossenen Jahrhunderts in den Theatern jener Hauptstadt aufgeführten dramatischen Stücke, und enthält Seite 20 folgende kunstgeschichtliche Notiz:
Im J. 1745 wurde aufgeführt: »Porro. Poesia di P. Metastasio. Musica di Gluck. Primi Attori: Nicolini e Paghetti. Tenore: Bonifacci. Primi Ballerini: M. le Febure et Mlle. le Febure. Balli: di Barcajuoli Indiani, di varie nazioni; festa di Bacco ed Arianna, con baccanti e satiri.«
Von dieser Oper besitzt das Musikarchiv der k.k. Hofbibliothek nur zwei Arien aus dem Nachlasse des verstorbenen Herrn Hofrathes Raphael Georg Kiesewetter Edlen von Wiesenbrunn, und zwar:
1. Arie des Porro in der 4. Scene des II. Aktes inE. maj. »Senza procella ancora« – und
2. Arie des Feldherrn Gandarte in G. maj. »Se viver non poss' io« – beide vom Streichquartett begleitet. Sie enthalten einen schönen Gesang, sind übrigens aber in dem damals üblichen italischen Style gehalten. In der ersteren findet man eine Gadenz für den Sänger.
So schrieb Gluck in dem kurzen Zeitraume von fünf[26] Jahren acht Opern, die sämmtlich von den Italienern mit Beifall aufgenommen wurden, und unserem Tondichter Ehre und Geld eintrugen. Da jedoch die Partituren derselben uns nicht vorliegen, und jene der zu Mailand aufgeführten Opern sogar von den Flammen verzehrt wurden, so sind wir ausser Stande, über ihren dramatisch-musikalischen Werth einige Worte zu sagen.
Nun reihte man, Gluck den besten Tonsetzern seiner Zeit an, und nannte seinen Namen allenthalben mit hoher Bewunderung. Der Künstlerruf des giovine Tedesco verbreitete sich demnach nicht allein in ganz Italien, sondern auch in den übrigen Theilen Europas.
Dieser Ruf war hinreichend, ihn dem Lord Middlessex, der damals der einzige befugte Direktor der Oper in London war, als Tonsetzer für das Haymarket-Theater zu empfehlen.
Gluck begab sich noch im J. 1745 in Gesellschaft seines hohen Gönners, des kunstsinnigen Ferdinand Philipp Fürsten von Lobkowitz, der gerade zu jener Zeit eine Reise durch Italien, Frankreich und England unternahm, von Turin aus über Paris nach London.
Unglücklicherweise blieb in der Hauptstadt Albions bei seiner Ankunft, das obgenannte Schauspielhaus verschlossen, an welchem Umstände das durch einen Aufruhr erregte Volksvorurtheil gegen die, hauptsächlich aus Katholiken bestehenden Sänger, Schuld war.
Die Vorstellungen nahmen erst am 7. Jänner des J. 1746 wieder ihren Anfang und zwar mit Gluck's ganz neu gesetzter Oper: »La Caduta de' Giganti,« welche in Gegenwart des Herzogs von Cumberland, zu dessen Ehre sie war geschrieben worden, zur Aufführung gelangte.4
Dr. Burney liefert uns von dieser Vorstellung folgende[27] Skizze. Die Sänger dieser Oper waren: Angelo Maria Monticelli,5 Giuseppe Jozzi,6 und Ciacchi; die Sängerinnen: Imer, Frasi und die, später unter dem Namen Made Cornelie besser bekannte Pompeati. Die Imer war eine ebenso mittelmässige Sängerin als Schauspielerin, und die Pompeati hatte solch' eine männliche und heftige Weise zu singen, dass ihr ganzes Wesen nur wenig an Weiblichkeit streifte. Den neuen Tänzen von Auretti, und der bezaubernden Violetta, nachmaligen Mrs. Garrick wurde jedoch weit mehr Beifall zugeklatscht, als Gluck's Gesängen, die zu ihrer Zeit gewiss viel Verdienstliches hatten, und nur des mangelhaften Vortrages wegen einen geringen Eingang fanden. Die erste Arie in G. min., war zwar eine ganz eigenthümliche Schöpfung, allein viel zu eintönig, die zweite jedoch mit Geist erfunden und gut gezeichnet. Dieser folgte ein Duett, worin Gluck zu viele Gesangsverschönerungen und Effekte kühn aufeinander gehäuft hatte. Die nun kommende, von Monticelli gesungene Arie war sehr originell in der Instrumentalbegleitung, nur musste man sie des Fehlers zeihen, dass letztere bei der Aufführung die Singstimme zu stark deckte. Monticelli nannte sie eine »Aria tedesca.« Der nächste Gesang zeichnete sich durch ein ganz besonderes Zeitmass aus, und hielt dadurch, wie Dr. Burney sich noch zu erinnern wusste, mit keiner andern einer Gattung irgend einen Vergleich aus. Er hatte, nebst dem Verdienst überraschender Neuheit, noch jenes einer herrlichen Begleitung: nur hätte der Tonsetzer der Singstimme etwas mehr Grazie verleihen und mehr künstlerische Ruhe aufprägen sollen. Der folgende Gesang für den Jozzi gesetzt, der zwar eine bedeutende musikalische Bildung, aber wenig Stimmmittel besass, war voll neuer[28] Verzierungssätze und wirksamer Stellen. Den Kunstkennern Londons blieb bei diesem geistvollen Tonstücke nichts anderes zu wünschen übrig, als die, vom Anfang bis zum Ende Feuer und Leben athmende Arie mit einem ausgezeichneteren Vortrage zu hören.
Diese Oper erlebte, wie wir bereits meldeten, wegen ihrer mangelhaften, und desshalb unbefriedigenden Darstellung nur fünf Vorstellungen.
Dr. Burney fügt seiner kurzen Beschreibung der Gluck'schen Oper: »La Caduta de' Giganti« noch folgende Bemerkung an »Man konnte von einem jungen Manne, dem die Fähigkeit verliehen war, eine solche Oper in das Leben zu rufen, die trotz ihrer Unvollkommenheiten dennoch fünf Vorstellungen erlebte, schon Etwas erwarten. Das Urtheil des, gegen fremdes Verdienst nicht selten unduldsamen Händel war nach Anhörung dieser Oper allzustreng und unfein, als dass wir dasselbe hier zu wiederholen geneigt seyn sollten, indem es sowohl Händel'n als dem noch im Gährungsprozesse begriffenen Gluck nicht zur Ehre gereicht.«
Es kann eben dieser, in Gerber's Tonkünstler-Lexikon angeführten Anekdote hier eine andere entgegengesetzt werden, welche Reichardt in London selbst gehört hat, und die jene etwas unwahrscheinlich macht. Gluck, mit dem spärlichen Beifalle, den seine »Caduta de' Giganti« errungen hatte, unzufrieden, beklagte sich desshalb bei Händel, indem er ihm die Partitur mittheilte. Händel erwiderte ihm darauf: »Ihr habt Euch mit der Oper nur zu viele Mühe gegeben; das ist aber hier nicht wohl angebracht; für die Engländer müsst Ihr auf irgend etwas Schlagendes und so recht auf das Trommelfell Wirkendes sinnen.« – Dieser Rath soll Gluck auf den Einfall gebracht haben, zu den Chören dieser Oper Posaunen zu setzen, und nun habe die Oper grösseren Beifall geerntet.
Am 4. März desselben Jahres folgte die bereits zu Cremona im J. 1743 in die Scene gegangene Oper: »Artamene,« worin die berühmt gewordene, von Monticelli gesungene Arie: »Rasserena il mesto ciglio« – solch einen rauschenden[29] Beifall errang, dass sie bei jeder Darstellung wiederholt werden musste.
Von dieser Oper finden sich in der Wiener Hofbibliothek aus dem Nachlasse des k.k. Hofrathes Raphael Georg Kiesewetter Edlen von Wiesenbrunn nur sechs der beliebtesten, im Stich gleichzeitig herausgekommenen Nummern mit folgendem Titel: »The favourite Songs in the Opera Call'd Artamene. By Sig. Gluck: London, Printed for J. Walsh in Catharine Street in y Strand.« – fol. min.
Diese sind:
1. Die oben erwähnte, von Monticelli gesungene Arie für Sopran in E. maj., 3/4 Takt, Andante. Sie drückt den Abschied eines Helden aus, welcher dem Tode entgegen geht. Der 2. Theil hat die TonartE. minor. Der einzige Fehler dieses Gesangstückes besteht, nach Burney's Ansicht, in dem Umstande, dass der in demselben ausgesprochene, sehr liebliche Gedanke allzuoft wiederholt wird, indem er siebenmal wiederkehrt, und durch das da Capo sich bis auf das vierzehnte Mal vermehrt. Die II. Parte ist als matt zu betrachten. Wirklich liefert keine der Arien aus dieser Oper, die gedruckt worden, ein Anzeichen des Genius, den der Tonsetzer in späterer Zeit an den Tag gelegt hat.7
2. Eine von demselben Sänger vorgetragene Contre-Alt-Arie in D. maj., C Takt, Adagio, mit einem 2. Theile in D. min. Die Anfangsworte sind: »Pensa asserbami.« Sie bezeichnet den Abschied des Helden von seiner Geliebten und ist mit einigen Läufern geziert.
3. Arie für den Sopran in A. maj. 3/4 Takt, Allegro: »E maggiore d'ogn' altro dolore,« von Signora Frasi gesungen, mit einem 2. Theile in A. min. Sie spricht eine ähnliche Gemüthsstimmung aus, wie die vorhergehende Nummer, und enthält einen einfachen, schmucklosen Gesang.
4. Arie für den tiefen Sopran oder Contre-Alt, in F. maj. 3/4 Takt, mit einem 2. Theile in D. min. Sie wurde von Sign.[30] Jozzi gesungen, beschreibt die Reize und sonstigen Vorzüge der Geliebten in einem charakteristischen Tonbilde, und beginnt mit den Textworten: »Il suo leggiadro viso.«
5. Bravour-Arie für den Sopran in A. maj., 3/4 Takt, Grazioso, mit einem 2. Theile in Fis min., von Signora Pompeati vorgetragen. Zärtliche Vorwürfe gegen den Geliebten bilden den Inhalt des Tonstückes, das mit den Worten beginnt: »Se crudeli tanto siete.« – und
6. Sopran-Arie in E. maj., 3/4 Takt, mit einem 2. Theile in A. maj., von Sign. Jozzi gesungen. Dieser sehr ausdrucks- und gefühlvolle, den Abschied vom Leben bezeichnende Gesang enthält die Anfangsworte: »Già presso al termine de'suoi martiri.«
Diese Oper, in der man die voranstehenden Nummern als die vorzüglichsten erkannte, und desshalb durch den Stich veröffentlichte, wurde zehn Abende hindurch aufgeführt.
Gluck's kurzer Aufenthalt in London, und noch früher in Paris, hatte für ihn die heilsamsten Früchte getragen. Der zum Beobachter und Reformator geborne Künstler war von Dr. Arne's8 einfacher und naturgemässer dramatischer Satzweise und von Händel's grossartigem Charakter in Gesang und Harmonie, in Paris von Rameau's echt tragischer Deklamation und hoher Wahrheit, so wie von dessen Behandlung der Chöre und Tänze tief getroffen und gerührt, und von der Idee, dieses Alles zu einem grossen Ganzen zu verbinden, innigst erfüllt: allein es war jener Tag theils noch nicht angebrochen, an dem er seine Gedanken zur Wahrheit werden lassen konnte, theils war sein Geist noch nicht zum vollen Bewusstsein der Eigenthümlichkeit seines Kunstgenius gelangt. – Obschon er früher schon viele Opern mit dem besten Erfolge auf die Bretter gebracht hatte,[31] so war er theilweise noch immer in jene Formen gebannt, die damals nur in Italien und auf solchen Bühnen Deutschlands, wo die italische Kunst ihre ausschliesslichen Pfleger und Verehrer hatte, eine vorzugsweise Geltung fanden. Zwar suchte er schon in allen vorhergegangenen Werken von den Gewohnheiten der Tonsetzer jener Zeit, die ihrer musikalischen Phantasie ohne Rücksicht auf die Arbeit des Dichters den Zügel schiessen liessen, sich fast instinktmässig, so viel als möglich, zu entfernen; er hatte es sich schon in Mailand zum Gesetze gemacht, den Charakter seiner Gesänge, so weit es mit dem Geschmacke der Italiener, für die er damals schrieb, vereinbarlich war, nach dem Inhalte der Dichtung einzurichten: allein die eigenthümliche Entwicklung seiner, erst später zur vollkommenen Reife gelangten grossen Ideen und die Grundlage zu seinem künftigen musikalisch-deklamatorischen Systeme fällt demnach erst in die Epoche seines Aufenthaltes in London. Hier begann er ernstlich nach Wahrheit zu streben und legte die fruchtbaren Keime zu seiner künftigen Meisterschaft.
Aber noch ein anderer, dem Anscheine nach geringfügiger Umstand (erzählt M. Suard,9 der es aus des Tonsetzers eigenem Munde erfahren haben will,) bewirkte diese grosse Umwandlung in Gluck's Künstlerseele. – Nachdem die beiden bereits besprochenen Opern in London über die Bühne geschritten waren, wurde Gluck aufgefordert, ein sogenanntes Pasticcio, das ist, eine Gattung lyrisch-dramatischer Gedichte, deren Worten die ausgesuchtesten Musikstücke aus andern Opern angepasst wurden, zusammenzusetzen. Er that es, wählte zu diesem Zwecke aus seinen, bisher gearbeiteten Werken diejenigen Stücke aus, die stets mit dem grössten Beifalle waren aufgenommen worden, und passte sie mit dem möglichsten Kunstsinn und der ihm eigenen Gewandtheit den gegebenen Worten eines Libretto an, das den Titel: »Piramo e Tisbe« führte: allein schon bei der ersten Darstellung dieser musikalischen[32] Pastete nahm Gluck mit Staunen wahr, dass dieselben Gesänge, welche in den Opern, für die sie geschrieben waren, die grösste Wirkung hervorgebracht hatten, hier ganz wirkungslos blieben, wo sie zu andern Worten gesetzt, einer andern Handlung angeschmiegt, und von einem andern Geberdenspiele begleitet wurden. Diese Thatsache zwang ihn zu dem richtigen Schlusse, dass jedem wohl gelungenen Tonstücke ein, den Umständen entsprechender Charakter innewohne, für den es allein geschaffen wurde, und dass nur in diesem Charakter der Grund einer höheren Wirkung liege, als in dem flüchtigen Vergnügen, das unser Ohr bei der Zusammenstellung wohlklingender Töne ohne Bedeutung empfindet. Er musste ferner schliessen, dass man nie hoffen könne, der Musik ihre Gesammtkraft und alle jene Reize, deren sie fähig ist, zu verleihen, wenn man sie nicht mit einer, zwar einfachen, aber seelenvollen Dichtung, die mit treuer Wahrheit nur höchst natürliche und bestimmte Empfindungen darstellt, im gleichen Geiste verbindet; dass die Musik ferner eine Sprache der Empfindungen werden könnte, welche die Fähigkeit besitzt, die Regungen des menschlichen Herzens auszudrücken: dass aber der Gesang dem Rhythmus und der Betonung der Worte genau folgen, und die begleitenden Instrumente durch den ihnen eigenthümlichen Ausdruck mitwirken müssten, um entweder den Gesang zu verstärken, oder mit ihm in einen, die Wirkung steigernden Gegensatz zu treten, je nachdem es die Lage der Dinge und der Inhalt der Dichtung erfordern. Er gelangte diesem gemäss zur endlichen Einsicht, dass jene sogenannten schönen Arien, welche die Italiener und ihre Bewunderer für die höchste Aufgabe der Kunst hielten, durch die Schönheit ihrer Form und die Lieblichkeit ihres Gesanges das Ohr wohl auf eine angenehme Weise zu berühren, aber in der Seele selbst niemals lebhafte, noch weniger tief eingreifende Empfindungen zu wecken im Stande wären. Wenn man daher später von gewissen Arien zu ihm redete, die man pathetisch nannte, so pflegte er gewöhnlich zusagen: »Es ist Alles recht schön: ma questo non tira sangue!« –
Dies war also der Zeitpunkt, der in Gluck's Seele den[33] ersten Lichtfunken zu dem grossen Entschlusse hervorrief, die damals herrschende italische Setzweise, der man den gerechten Vorwurf machte, dass sie, wie Arnaud sagte, die Oper in ein Conzert umgestalte, dem das Drama nur zum Vorwande diene, nach und nach zu verlassen, und das, für die Tonkunst empfängliche Volk auf naturgetreuere Pfade zu leiten. Man kann daher diesen Zeitpunkt auch den Wendepunkt seines Geistes nennen.
Von London aus kehrte Gluck gegen das Ende des J. 1746 über Hamburg nach Deutschland zurück und wurde (nach Dlabacz) in die churfürstliche Kapelle zu Dresden mit einem ansehnlichen Gehalte aufgenommen.
Doch nicht lange mochte es ihn hier dulden. Der Tod seines Vaters zwang ihn einerseits, seine Stellung aufzugeben, um eine, unweit Johnsdorf bei Georgenthal in Böhmen ererbte Schenke zu verkaufen, anderseits aber sowohl dem eigenen Drange als Freundeswinken zu willfahren, die ihn nach dem, der Musik immer hold gewesenen österreichischen Kaisersitze führten, dessen Kunstgenüsse in seiner Erinnerung noch fortlebten, und jetzt von Neuem mit magnetischer Kraft anzogen.
Von nun an wählte sich Gluck die Stadt Wien zum beständigen Aufenthaltsorte, und zwar nur mit jenen kurzen Unterbrechungen, die sein Beruf und die Forderungen der Kunstwelt von seinem Genius verlangten.
1 | S. Reichardt's Studien für Tonkünstler. |
2 | Siehe dessen Drammaturgia. Venezia 1755. 4. |
3 | S. Hiller's Lebensbeschreibungen. S. 234. |
4 | S. Burney's History of Music 4. Bd. S. 452 etc. Ferner Abr. Rees, The Cyclopaedia. T. XVI. und Busby's Gesch. der Musik. Thl. II. S. 501. |
5 | Angelo Maria Monticelli, ein berühmter Mezzo-Sopran, war um das Jahr 1715 zu Mailand geboren. Nachdem er auf den grössten Bühnen Europas gesungen, starb er zu Dresden im J. 1764 im 49. Lebensjahre. |
6 | Gius. Jozzi, ein römischer Musico, war zwar ein sehr guter Clavierspieler, aber ein mittelmässiger Sänger, zuletzt Gesanglehrer zu Amsterdam, Sein Geburts- und Todesjahr sind noch unbekannt. |
7 | Burney's Hist. of Music. T. III. p. 454. |
8 | Thomas Augustin Arne, dieser berühmte englische Tonsetzer und Dr. der Musik, war zu London im Jahre 1740 geboren und starb dort im J. 1778. Seine interessante kurze Biographie ist in Schilling's Lexikon der Tonkunst nachzulesen. |
9 | Siehe den Artikel: »Allemagne« im Dictionnaire de Musique, das einen Theil der »Encyclopédie méthodique« bildet. |
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