Fünfzehntes Kapitel.

Fernere persönliche Beziehungen Beethovens in diesen Jahren.

Wer mit Weib und Kind dauernd an einem Orte wohnt, findet sich in der Regel bei vorrückenden Jahren als Glied eines kleinen Kreises alter Freunde; ergraute Häupter, umgeben von ihren Nachkommen, den Erben der elterlichen Freundschaften, sitzen an den nämlichen Tischen und treiben ebendaselbst ihre Scherze, wo sie sich auch im Frühling ihres Lebens versammelt hatten.

Der unverheiratete Mann, der kein Fleckchen auf dem Erdball sein eigen nennen kann, der sein Leben in Mietwohnungen zubringt, heute hier und morgen dort, hat in der Regel wenige Freundschaften von längerer Dauer. Durch Verschiedenheit des Geschmackes, der Meinungen, der Gewohnheiten, welche mit den Jahren zunimmt, häufig durch die bloße Unterbrechung des persönlichen geselligen Verkehrs oder durch tausenderlei gleich bedeutungslose Ursachen werden die alten Bande gelöst. In den Tagebüchern und Briefen solcher Männer verschwinden die vertrauteren Namen, selbst wenn der Tod sie noch nicht weggenommen hat, und fremde nehmen ihre Stelle ein. Aus einer vorübergehenden Bekanntschaft der einen Periode wird in der andern vertraute Freundschaft, während der frühere Freund zum bloßen Bekannten herabsinkt oder ganz vergessen wird, ohne daß man in den meisten Fällen eine Ursache für den Wechsel angeben könnte. Es läßt sich eben nur die eine anführen: es hat sich zufällig so gemacht.

So war es auch mit Beethoven; und der Grund dafür lag teils in der Zunahme seiner Schwerhörigkeit, teils auch in den Eigentümlichkeiten seines Charakters.

Ein besonders ungünstiger Umstand für ihn war noch der, daß er nur in der Verwendung seines Talents zum musikalischen Schaffen eine Quelle des Gelderwerbes hatte und zu gleicher Zeit zu stolz und dem Ideale seiner Kunst zu treu war, um für den Beifall der Menge zu [542] schreiben, daher fast sein ganzes Leben lang mehr oder weniger auf den Edelmut von Gönnern und Beschützern angewiesen war. Da ihn nun aber Tod, Unglück und andere Gründe seiner alten Beschützer wie seiner alten Freunde beraubten, so war er genötigt, die Freundlichkeit neuer zu suchen oder wenigstens anzunehmen. Wir haben in dem gegenwärtigen Kapitel einige neue Namen aus beiden Kategorien einzuführen, welche in der Geschichte dieser Jahre eine hervorragende Rolle spielen.

Erzherzog Rudolf Johann Joseph Rainer, der jüngste Sohn Kaiser Leopolds II. und der Halbbruder des Kaisers Franz, war geboren am 8. Januar 1788 und vollendete also damals (Ende 1805) gerade sein 17. Jahr. Gleich seinem unglücklichen Oheim, dem Kurfürsten Max Franz, war er für den Dienst der Kirche bestimmt und hatte auch, wie jener, viel Talent und Liebe zur Musik. Seine Erzieher waren sämtlich Männer von seiner Bildung; einer derselben, Joseph Edler von Baumeister, Doktor der Rechte, blieb auch in späteren Jahren in seinen Diensten und wird uns weiterhin begegnen. In der Musik war Rudolf mit anderen Kindern der kaiserlichen Familie von dem K. K. Hofkomponisten Anton Tayber unterrichtet worden und machte so gute Fortschritte, daß er, wofern die Überlieferung zuverlässig ist, schon als Knabe in den Salons von Lobkowitz und anderen zu allgemeiner Befriedigung spielte; freilich hatte ein Erzherzog eine übelwollende Beurteilung nicht eben sehr zu fürchten. Einen besseren Beweis dafür, daß er in der Tat Talent und Verständnis für Musik besaß, lieferte er dadurch, daß er, sobald er sich von Tayber emanzipieren konnte und in der Wahl seines Lehrers selbst mitzusprechen hatte, Schüler Beethovens wurde. Es ist immerhin nicht unmöglich, daß die alten Beziehungen des Komponisten zu Max Franz einen gewissen Einfluß auf den Entschluß des Neffen gehabt haben; den Hauptgrund für Rudolfs Entscheidung bildete aber sehr wahrscheinlich der große Ruf Beethovens und die Achtung, welche ihm in Familien wie Schwarzenberg, Liechtenstein, Kinsky und deren Standesgenossen gezollt wurde. Welchen Wert man aber auch diesen und ähnlichen Betrachtungen zugestehen mag, jedenfalls muß es mehr als das eigensinnige Verlangen, den großen Klavierspieler seinen Meister zu nennen, gewesen sein, was den Erzherzog zum Schüler, Freunde und Beschützer Beethovens machte, bis der Tod sie trennte. Man wird gerade aus diesem Umstande eine höhere Meinung von seinem musikalischen Talente gewinnen, ähnlich wie auch der musikalische Geschmack und die Einsicht von Max Franz darum [543] so hoch in unserer Schätzung stehen, weil er Mozarts Genius schon so früh erkannte.

Die Zeit, in welcher Beethoven Lehrer des Erzherzogs wurde, genau zu ermitteln, ist auch der Untersuchung des sorgsamen und unermüdlichen Köchel nicht gelungen. Es ist jedoch kaum zu bezweifeln, daß er Taybers unmittelbarer Nachfolger war, und man wird demnach mit ziemlicher Sicherheit das Engagement Beethovens in das Ende des 15. Lebensjahres des Erzherzogs, also in den Winter 1803–4 setzen dürfen. Es ist vielleicht bemerkenswert, daß der Staatsschematismus für 1803 in dem K. K. Hofstaat zum ersten Male eine abgesonderte »Kammer« für die Knaben Rainer und Rudolf enthielt; drei Jahre später findet sich selbständig für sich »Erzherzog Rudolph, Coadjutor des Olmützer Erzbisthums«; jedenfalls war er schon vor 1806 Beethovens Schüler.

In den Notizen von Fräulein Fanny Giannatasio aus den Jahren 1816–181 wird folgendes berichtet: »Beethoven gab damals Unterricht dem Bruder des Kaisers Franz, Erzherzog Rudolph; ich fragte ihn einmal: ob dieser gut spiele? ›Wenn er bei Kräften ist‹, war die mit Lachen begleitete Antwort. Auch erwähnte er einmal lächelnd, daß er ihn auf die Finger schlage, und als der hohe Herr ihn einmal in seine Schranken zurückweisen wollte, er mit dem Finger auf die Stelle eines Dichters, wenn ich nicht irre, Goethes gewiesen habe, in welcher er seine Rechtfertigung zeigte.« Es muß ein Mißverständnis der jungen Dame sein, Beethoven zu der von ihr angegebenen Zeit so sprechen zu lassen; denn es ist unglaublich, daß er sich in den Jahren 1816–17, als Rudolf ein Mann von einigen 30 Jahren war, oder überhaupt zu irgendeiner Zeit nach den ersten Lektionen der Knabenjahre eine solche Freiheit erlaubt hätte. Indessen unterstützt die Erzählung in gewisser Weise die oben ausgesprochene Vermutung, daß der Erzherzog früh Schüler Beethovens wurde.

Das bestätigt auch die Mitteilung Schindlers, welcher in diesem Punkte leicht von dem Meister selbst unterrichtet sein konnte, daß die Klavierpartie des Tripelkonzerts Op. 56 für den Erzherzog geschrieben war. Denn dieses Werk (vgl. S. 497 ff.) wurde spätestens im Frühling 1805 skizziert, und Beethoven wird es sicherlich nicht eher begonnen haben, als er die Kräfte [544] seines Schülers genau kannte und wissen konnte, daß die Aufführung ihn, den Lehrer, nicht in Mißkredit bringen werde.

Endlich zeigen auch die Mitteilungen von Ries (S. 111–112 der Notizen) durchaus den Ton eines Mannes, welchem die Umstände im einzelnen persönlich bekannt waren; hierdurch würde das Datum spätestens ins Jahr 1804 zu setzen sein. »Etiquette und was dazu gehört«, sagt er S. 111, »hatte Beethoven nie [?] gekannt und wollte sie auch nie kennen. So brachte er durch sein Betragen die Umgebung des Erzherzogs Rudolph, als Beethoven anfänglich zu diesem kam, gar oft in große Verlegenheit. Man wollte ihn nun mit Gewalt belehren, welche Rücksichten er zu beobachten habe. Dieses war ihm jedoch unerträglich. Er versprach zwar sich zu bessern, aber – dabei blieb's. Endlich drängte er sich eines Tages, als man ihn, wie er es nannte, wieder hofmeisterte, höchst ärgerlich zum Erzherzoge, erklärte gerade heraus, er habe gewiß alle mögliche Ehrfurcht für seine Person, allein die strenge Beobachtung aller Vorschriften, die man ihm täglich gäbe, sei nicht seine Sache. Der Erzherzog lachte gutmütig über den Vorfall und befahl, man solle Beethoven nur seinen Weg ungestört gehen lassen: er sei nun einmal so.«

Jedenfalls war Beethoven in den Jahren 1805–6 bereits in jene Beziehungen zum Erzherzog getreten, welche mit jedem folgenden Jahre enger und vorteilhafter für ihn wurden, bis der Tod sie löste. –

Zwei Brüder, 19 Jahre im Alter verschieden, Sänger am russischen Hofe, verdankten ihre Beförderung aus dieser untergeordneten Stellung zu großem Wohlstande und politischem Einflusse ihrer Nachgiebigkeit gegen die zügellosen Neigungen zweier kaiserlicher Prinzessinnen, der nachmals in der Geschichte bekannten Kaiserinnen Elisabeth Petrowna und Katharina II. Durch sie wurden aus den beiden Brüdern Rasum, geboren 1709 und 1728 von halb-kosakischem Ursprunge in dem abgelegenen Dorfe Lemeschi in der Ukraine, die Grafen Rasumowsky, hohe Adlige des russischen Reiches. Sie waren Männer von seltenen Fähigkeiten, wußten sich aber in der Geltendmachung derselben so geschickt zurückzuhalten, daß keiner der Monarchen, unter welchen sie dienten, auch wenn sie einen von ihnen persönlich nicht liebten, sie zum Opfer kaiserlicher Laune oder übeln Willens machte. Ein seltsamer Beweis für die Schnelligkeit, mit welcher die neuen Namen in Europa bekannt wurden, [545] ist der Umstand, daß sie 1762 in einer Farce des englischen Possendichters Samuel Foote vorkamen2.

Die Kaiserinnen versorgten ihre Liebhaber mit Frauen aus vornehmen Familien und übertrugen ihre Gunst auch auf die Kinder aus diesen Verbindungen; einem derselben war es beschieden, im Laufe der Zeit unter den Beschützern Beethovens einen besonders wichtigen Platz einzunehmen.

Andreas Kyrillowitsch, geboren den 22. Oktober 1752, der vierte Sohn des jüngeren Rasumowsky, wurde für den Seedienst bestimmt und erhielt die beste Unterweisung, die er in jenen Tagen für seinen Beruf erhalten konnte, wenn er auch in der damals besten aller Schulen hätte dienen wollen, die eines englischen Kriegsmannes. Er war bereits zu dem Range eines Kapitäns emporgestiegen, als er, im Alter von 25 Jahren, in die diplomatische Laufbahn übertrat. Nacheinander bekleidete er den Posten eines Gesandten in Venedig, Neapel, Kopenhagen und Stockholm, und machte sich einen Namen vielleicht weniger durch seine diplomatische Geschicklichkeit, als vielmehr durch die große Verschwendung in seinen Ausgaben und seine Liebesverhältnisse mit Frauen der höchsten Stellungen, die Königin von Neapel nicht ausgenommen.

Rasumowsky hatte in Wien eine ausgebreitete persönliche Bekanntschaft. Am 4. November 1788 hatte er sich daselbst mit Elisabeth Gräfin Thun, der ältesten Schwester der Fürstin Karl Lichnowsky, verheiratet und in der ersten Hälfte des Jahres 1792 war er als Gesandter dorthin versetzt worden; am Freitag den 25. Mai wurde er, der Wiener Zeitung zufolge, dem Kaiser vorgestellt. Gegen Ende der Regierung Kaiser Pauls (März 1799) wurde er durch den Grafen Kalichew verdrängt; nach dem Regierungsantritte Alexanders erhielt er jedoch seine Stelle wieder, und seine »Eintritts-Audienz« fand am 14. Oktober 1801 statt. Seine Wohnung und seine Bureaus befanden sich anfangs in der Johannesgasse; um 1805–6 wohnte er auf der Wollzeile, [546] war jedoch gerade im Begriffe, einen neuen Palast zu beziehen, den er sich selbst hatte bauen lassen3.

»Ob sich der russische Botschafter«, sagt Schnitzler, »in Wien seine Schulden damals vom deutschen Kaiser, wie später von seinem eigenen, bezahlen ließ, wissen wir nicht; aber daß er sich eine solche unbequeme, mit der nöthigen Unabhängigkeit unverträgliche Last aufgeladen hatte, ist unbezweifelt. Denn nachdem er sich in der Nähe des Praters und an dem Donaukanal einen stattlichen, von reizenden Anlagen umgebenen Palast aufgebaut hatte, wollte er ihn auch noch in direktere Verbindung mit dem Lustparke und mit Wien bringen, und so kam auch die erwähnte Brücke [über den Kanal zum Prater] zu Stande, beides freilich nicht ohne seine häuslichen Mittel zu zerrütten. Rasoumowsky lebte in Wien auf fürstlichem Fuße, Kunst und Wissenschaft aufmunternd, mit einer reichen Bibliothek und anderen Sammlungen sich umgebend, und von allen bewundert oder beneidet; welchen Vortheil aber dies den russischen Angelegenheiten brachte, ist eine andere Frage.«

Dieser Palast, später vom Feuer beinahe gänzlich zerstört und dann wieder aufgebaut, ist gegenwärtig, nachdem er mancherlei Wechsel durchgemacht, der Sitz der geologischen Reichsanstalt, Landstraße, Rasumowskygasse Nr. 3.

Den Traditionen seiner Familie getreu, hatte sich auch der Graf eine tüchtige musikalische Bildung erworben und war einer der besten Kenner und Spieler der Haydnschen Quartette, in denen er die zweite Violine zu spielen pflegte. Es wird versichert, und zwar nach einer offenbar guten Autorität, daß er dieselben unter der Leitung des Meisters selbst studiert habe.

Man würde es natürlich finden, wenn man hörte, daß dieser Mann, namentlich bei seiner nahen Verbindung mit der Familie Lichnowsky, unter den Ersten gewesen sei, welche den Genius des jungen Beethoven, als er von Bonn nach Wien gekommen war, erkannten und aufmunterten. In der Tat ist dies mit völliger Bestimmtheit behauptet und in großer Ausführlichkeit erörtert worden; doch stehen die wenigen über diesen Punkt [547] bekannten Tatsachen, alle von negativem Charakter, mit jener Meinung in Widerspruch. Weder Wegeler noch Ries erwähnen Rasumowsky. Was auch Seyfried und Schindler vermuten mögen, alle von ihnen mitgeteilten Tatsachen gehören in die Periode, in welche wir gerade jetzt eintreten wollen. Bis zu Op. 58 einschließlich ist keine Komposition Beethovens Rasumowsky gewidmet. Gerade damals, Ende 1805, hatte der Graf dem Komponisten einen Auftrag gegeben, Quartette mit russischen Originalmelodien oder Nachahmungen solcher zu schreiben; aber in allen bisher aufgefundenen gleichzeitigen Zeugnissen, sowohl gedruckten als handschriftlichen, finden wir die beiden Namen nur ein einziges Mal miteinander in Verbindung gebracht, nämlich in der Subskription zu den Trios im Jahre 1795; und während in dieser die Gräfin Thun, ihre Töchter und die Familie Lichnowsky im ganzen mit 32 Exemplaren unterschrieben sind, lesen wir »S. E. le Comte Rasoumoffsky, Embassadeur de Russie« nur mit einem einzigen. –

Der ungarische Graf Peter Erdödy heiratete am 6. Juni 1796 die Gräfin Anna Maria Niczky (geb. 1779), welche damals eben 17 Jahre alt war. Reichardt beschreibt sie im Dezember 1808 als eine »sehr hübsche, kleine, seine Frau, die gleich vom ersten Wochenbett (1799) ein unheilbares Uebel behielt, seit den zehn Jahren nicht zwei, drei Monat außer dem Bett hat sein können [in diesen Worten übertreibt er den Zustand stark], dabei doch drei gesunde liebe Kinder geboren hat, die wie die Kletten an ihr hängen; der allein der Genuß der Musik blieb, die selbst Beethovensche Sachen recht brav spielt, und mit noch immer dick geschwollenen Füßen von einem Fortepiano zum andern hinkt, dabei doch so heiter, so freundlich und gut – das alles machte mich [sagt er] schon oft so wehmüthig während des übrigens recht frohen Mahles unter sechs, acht guten musikalischen Seelen.«

Es fehlt jede Angabe, wie oder wann das so sehr vertraute Verhältnis zwischen der Gräfin und Beethoven begann; aber eine Reihe von Jahren hindurch nimmt sie unter den Freundinnen Beethovens, deren Umgang ihm nützlich und wertvoll war, eine hervorragende Stelle ein, und es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß die Nachbarschaft des Erdödyschen Besitztums zu Jedlersee am Marchfelde einer der Gründe für ihn war, seine Sommerwohnung so häufig in den Dörfern an der Donau nördlich von der Stadt zu suchen. Ihr Verkehr wurde zuletzt (um 1820) plötzlich beendigt durch die lebenslängliche Verbannung der Gräfin aus den Grenzen der österreichischen Monarchie, welche leider aus [548] Gründen geschah, die nicht angefochten werden können. Es ist eine traurige, häßliche Geschichte, über welche ein Schleier gezogen bleiben mag; die Beziehungen Beethovens zu ihr bieten keine Veranlassung, dieselbe gegenwärtig der Öffentlichkeit zu übergeben, während sie damals so sorgfältig und erfolgreich verborgen blieb. Es ist sogar möglich, daß Beethovens Herz niemals durch die Kenntnis der Einzelheiten beunruhigt worden ist4.

In einem früheren Kapitel war bemerkt worden, daß die ersten Klavierspielerinnen sich auch in Wien in Verehrerinnen und Gegnerinnen Beethovens teilten. Die erste Partei, an deren Spitze die Baronin Ertmann stand (vgl. S. 433 ff.), gewann gerade damals einen wertvollen Zuwachs in Frau Marie Vigot, einer jungen Dame, welche während ihres fünfjährigen Aufenthaltes daselbst eine der begeistertsten und zugleich vollendetsten Spielerinnen von Beethovens Kompositionen wurde. Marie Bigot, geborene Kiene, erblickte zu Colmar am 3. März 1786 das Licht der Welt. Im Jahre 1804 heiratete sie Herrn Bigot, der sie nach Wien brachte. Von 1809 bis zu ihrem Tode (16. September 1820) lebte sie in Paris, wo ihre Tüchtigkeit zuerst als Dilettantin, und dann als Spielerin und Lehrerin von Fach (Mendelssohn war 1816 kurze Zeit ihr Schüler) sie zum Gegenstande einer der anziehendsten Skizzen in Fétis'Biographie universelle des Musiciens gemacht hat. Wir geben einige Mitteilungen aus derselben.

In Wien lernte Frau Bigot Haydn kennen, und trat zu Beethoven und Salieri in Beziehungen. Der Verkehr mit diesen großen Künstlern elektrisierte ihre feurige Seele und gewährte ihren Ideen Gelegenheit, sich zu entfalten. Ein Wort, scheinbar gleichgültig, wurde für sie eine Quelle von Gedanken und der Antrieb zu neuen Fortschritten. Sie stand kaum in ihrem 20. Jahre, als ihr originelles Talent sich bereits in der ganzen Schönheit des ihr eigentümlichen Charakters entwickelt hatte. Das erste Mal, wo sie vor Haydn spielte, war die Bewegung des ehrwürdigen alten Herrn eine so lebhafte, daß er die, welche dieselbe hervorgebracht, in seine Arme schloß und ausrief: »O mein liebes Kind, diese Musik habe ich nicht gemacht, Sie komponieren dieselbe!« Und auf eben das Werk, welches sie gerade gespielt hatte, schrieb er: »Am 20. Februar 1805 ist Joseph Haydn glücklich gewesen.« [549] Das melancholische, tiefe Genie Beethovens fand in Frau Bigot eine Interpretin, deren Begeisterung und Gefühlstiefe neue Schönheiten zu denen, welche er in seinem Geiste empfunden hatte, hinzufügte. Eines Tages spielte sie vor ihm eine Sonate, die er gerade geschrieben hatte. Er sagte zu ihr: »Das ist nicht genau der Charakter, welchen ich diesem Stücke habe geben wollen; doch fahren Sie immerhin fort: wenn ich es nicht vollständig selbst bin, so ist es etwas Besseres als ich.«

Im Winter 1804–5 spielte Madame Marie Bigot de Morogues, wie die Allgemeine Musikalische Zeitung sie nennt, sowohl in ihrem eigenen als in einem Konzerte von Würth, Konzerte von Mozart mit »Eleganz, Leichtigkeit und Delicatesse«; und »am 1. Mai wurde der Augarten mit einem schönen Konzerte von ihr eröffnet. Ihr Klavierspiel hatte wirklich entschiedene Vorzüge. Ihr Vortrag war rein, angemessen und am gehörigen Orte delicat und sein.«

Diese Sprache des Korrespondenten steht freilich im Gegensatze zu den galanten Schmeicheleien Haydns und Beethovens, wie sie Fétis erzählt, ist aber in weit höherem Grade geeignet zu zeigen, welche gute und solide Grundlage zu ihrer Fortbildung die junge Dame unter der Leitung des letzteren gelegt hatte.

Bigot war nach Reichardts Mitteilung »ein braver, gebildeter Berliner; Bibliothekar bei dem Grafen Rasumowsky«. Da er diese Stellung gerade in jenen Jahren innehatte, in welchen Beethoven ganz besonders die Gunst jenes Edelmannes genoß, so kamen auf diese Weise der Komponist und Frau Bigot sehr häufig zusammen, und es bildeten sich daraus warme freundschaftliche Beziehungen. Otto Jahn besaß lange Jahre hindurch die Abschrift eines sehr charakteristischen Briefes von Beethoven an Bigots, welcher zu der Vermutung führt, als wäre seine Zuneigung zu der jungen Frau eine Zeitlang ein wenig zu lebhaft gewesen. Der Brief ist ohne Datum; da er jedoch jedenfalls in die Zeit vor 1809 fällt, das bestimmte Datum aber von keiner besonderen Erheblichkeit ist, so mag er an dieser Stelle eingeschaltet werden, damit schon hier die unsinnige Voraussetzung von Grund aus abgewiesen werde, welche hinsichtlich einer angenommenen ungeregelten Leidenschaft des Meisters zu der Dame geäußert worden ist. O. Jahn, der ihn vielleicht gerade aus diesem Grunde schließlich in den Grenzboten veröffentlichte (II 1867), leitet denselben mit einigen Mitteilungen Reichardts ein, welche er so schließt:

»Nach diesem bedarf der folgende Brief Beethovens, dessen specielle [550] Veranlassung nicht bekannt ist, auch nicht bekannt zu sein braucht, keiner weiteren Erläuterung, er spricht die Situation und den Charakter des Schreibenden deutlich aus.


Liebe Marie, lieber Bigot!


Nicht anders als mit dem innigsten Bedauern muß ich wahrnehmen daß die reinsten unschuldigsten Gefühle oft verkannt können werden – wie Sie mir auch liebevoll begegnet sind, so habe ich nie daran gedacht, es anders auszulegen, als daß Sie mir Ihre Freundschaft schenken – Sie müssen mich sehr eitel und kleinlich glauben, wenn Sie voraussetzen, daß das Zuvorkommen selbst einer so vortrefflichen Person, wie Sie sind, mich glauben machen sollte, daß ich gleich ihre Neigung gewonnen – ohnedem ist es einer meiner ersten Grundsätze, nie in einem andern als freundschaftlichen Verhältniß mit der Gattin eines andern zu stehn, nicht möchte ich durch so ein Verhältniß meine Brust mit Mißtrauen gegen diejenige, welche vielleicht mein Geschick einst mit mir theilen wird, anfüllen – und so das schönste reinste Leben mir selbst verderben –. Es ist vielleicht möglich, daß ich einigemal nicht sein genug mit Bigot gescherzt habe, ich habe Ihnen ja selbst gesagt, daß ich zuweilen sehr ungezogen bin – ich bin mit allen meinen Freunden äußerst natürlich und hasse allen Zwang, Bigot zähle ich nun auch darunter, wenn ihn etwas verdrießt von mir, so fordert es die Freundschaft von ihm und Ihnen, daß Sie mir solches sagen – und ich werde mich gewiß hüten, ihm wieder wehe zu tun – aber wie kann die gute Marie meinen Handlungen so eine böse Deutung geben. – –

Was meine Einladung zum Spazierenfahren mit Ihnen und Caroline angeht, so war es natürlich, daß ich da Tags zuvor Bigot sich dagegen auflehnte, daß Sie allein mit mir fahren sollten, ich glauben mußte, Sie beyde fänden es vielleicht nicht schicklich oder anstößig – und als ich Ihnen schrieb, wollte ich Ihnen nichts anders als begreiflich machen, daß ich nichts dabey fände, wenn ich nun noch erklärte, daß ich großen Werth darauf legte, daß Sie mir es nicht abschlagen sollten, so geschah dies nur, damit ich Sie bewegen möchte, des herrlichen schönen Tages zu genießen, ich hatte Ihr und Carolinens Vergnügen immer mehr im Sinn, als das meinige, und ich glaubte Sie auf diese Art, wenn ich Mißtrauen von Ihrer Seite oder ein abschlägige Antwort als wahre Beleidigung für mich erklärte, fast zu zwingen, meinen Bitten nachzugeben. – Es verdient wohl, daß Sie darüber nachdenken, wie Sie mir es wieder gut machen werden, daß Sie mir diesen heitern Tag sowohl meiner Gemüthsstimmung wegen, als auch des heitern Wetters wegen – verdorben haben – wenn ich sagte, daß Sie mich verkennen, so zeigt Ihre jetzige Beurtheilung von mir, daß ich wohl recht hatte, auch ohne an das zu denken, was Sie sich dabey dachten – wenn ich sagte, daß was übels draus entstünde, indem ich zu Ihnen käme, so war das doch mehr Scherz, der nur darauf hinzielte, Ihnen zu zeigen, wir sehr mich immer alles bey Ihnen anzieht, daß ich keinen größern Wunsch habe, als immer bey Ihnen leben zu können, auch das ist Wahrheit – ich setze selbst den Fall, es läge noch ein geheimer Sinn darin, selbst die heiligste Freundschaft kann oft noch Geheimnisse haben, aber – deswegen das Geheimniß [551] des Freundes – weil man es nicht gleich errathen kann, mißdeuten – das sollten Sie nicht – lieber Bigot, liebe Marie, nie, nie werden Sie mich unedel finden, von Kindheit an lernte ich die Tugend lieben – und alles, was schön und gut ist – Sie haben meinem Herzen sehr wehe gethan. – Es soll nur dazu dienen, um unsere Freundschaft immer mehr zu befestigen – mir ist wirklich nicht wohl heute, und ich kann Sie schwerlich sehen, meine Empfindlichkeit und meine Einbildungskraft malten mir seit gestern nach den Quartetten immer vor, daß ich Sie leiden gemacht, ich ging diese Nacht auf die Redoute, um mich zu zerstreuen, aber vergebens, überall verfolgte mich Ihr aller Bild, immer sagte es mir, Sie sind so gut, und leiden vielleicht durch dich. – Unmuthsvoll eilte ich fort – schreiben Sie mir einige Zeilen – Ihr wahrer

Freund Beethoven

umarmt sie alle.«


Zwei kleine Billetts von Bigot – gleichfalls undatiert – aus der Sammlung von Karl Meinert (Frankfurt a. M.), dürften wohl in dieselbe Zeit gehören, wie der hier mitgeteilte größere Brief. Sie wurden zuerst durch Alfred Kalischer in der »Musik« V. 18 (Juni 1906) veröffentlicht. Der erste berichtet, daß bei einem Besuche, den Beethoven Bigot machen wollte, ein plötzlicher Fieberanfall ihn gezwungen habe, wieder wegzugehen (»hier der Aufschluß über mein Fortgehen«); der zweite lautet (mit Begleitung einiger Hefte neuer Kompositionen):


»Gestern abend wollte ich sie besuchen, allein noch zur rechten Zeit erinnerte ich mich, daß sie Sonnabend nicht zu Hause sind – und ich merke es recht, ich muß entweder recht oft zu ihnen kommen oder gar nicht - noch weiß ich nicht, welches von beyden ich ergreifen soll, ich glaube aber fast das letztere – weil ich dadurch auf einmal allem Zwang, zu Ihnen kommen zu müssen, ausweiche.«


Beim Anblick dieser Briefe versteht man Wegelers Ausspruch: »Beethoven war nie ohne eine Liebe und meistens in hohem Grade von ihr ergriffen« (Notizen 42).

Eine andere für die Geschichte der nächsten Jahre Bedeutung gewinnende Beziehung Beethovens mag wohl mit ihren Anfängen in den Winter 1806 zu 1807 zurückreichen, nämlich die zu der Familie eines Gutsbesitzers von Malfatti, der die Wintermonate mit Frau und Töchtern in der Stadt lebte. Wenigstens wird wohl Gleichensteins Verkehr in Malfattis Hause in diesem Winter seinen Anfang genommen haben. Beethoven war sicher durch Breuning mit Gleichenstein seit dessen Anstellung (1804) bekannt geworden; da aber Gleichenstein längere Zeit wegen der Kriegsläufte von Wien abwesend war und erst Ende 1806 zurückkehrte, werden sie sich vorher kaum näher gekommen sein. Von 1807 an aber haben [552] wir dann Anhaltspunkte nicht nur für die Freundschaft Beethovens mit Gleichenstein, sondern auch für seine Bekanntschaft mit den Malfattis. Die Bildung, Feinheit, der musikalische Geschmack und der edle Charakter der Eltern, sowie die ungewöhnliche Anmut und Schönheit der beiden Kinder, junger Mädchen von damals 15–16 Jahren, machten das Haus für den Komponisten sehr anziehend Die Kinder waren im Alter weniger als ein Jahr voneinander verschieden; Therese war am 1. Januar und Anna am 7. Dezember ebendesselben Jahres geboren (1792). Anna wurde einige Jahre später (1811) die Gattin Gleichensteins; Therese war eine Zeitlang der Gegenstand einer allmählich sich entwickelnden aber unerwiderten Zuneigung unseres Meisters. Ihre Nichte schreibt darüber: »Daß Beethoven meine Tante – – liebte und eine Verbindung mit ihr ihm wünschenswerth gewesen sei – ebenso, daß die Eltern es aber niemals zugegeben hätten, ist wahr.« Das ernsthafte Interesse Beethovens für Therese konnte so lange von den Biographen in Frage gestellt oder übersehen werden, als gewisse Briefe von Gleichenstein als in das Jahr 1807 gehörig galten, die wir jetzt bestimmt in das Frühjahr 1810 verweisen müssen, eine Zeit, wo Therese das 18. Jahr überschritten hatte (wenn die Altersangabe bei ihrem Tode zutrifft – s. unten – so war sie sogar 1791 geboren, stand also 1810 im 20. Lebensjahre, so daß, zumal bei der italienischen Abstammung ihrer Familie, von einem »halben Kinde« nicht wohl gesprochen werden kann). Beethovens Zuneigung zu der jungen Dame zog indessen, wie es scheint, die Aufmerksamkeit Fernerstehender nicht auf sich, und ihre Zurückweisung verhinderte auch nicht die Fortdauer inniger freundschaftlichen Beziehungen, weder vor noch nach der Verheiratung Theresens im Jahre 1817. Dr. Sonnleithner teilt darüber folgendes mit: »Frau Therese, Baronin von Drosdick, geborne Malfatti (gestorben 60 Jahre alt in Wien, 27. April 1851), war die Gemahlin des Hofrates Baron Wilhelm von Drosdick. Sie war eine schöne, lebhafte und geistreiche Frau, eine sehr gute Clavierspielerin und außerdem die Cousine des berühmten Arztes und Freundes Beethovens, Dr. von Malfatti. Hieraus erklärt sich ein im Allgemeinen wohlwollendes Verhältnis zu Beethoven, welches eine minder strenge Beobachtung conventioneller Formen zur Folge hatte. Von einer besonderen Vertraulichkeit zwischen ihr und B. ist nichts bekannt.« Ein Verwandter der Baronin, welcher sie genau kannte, weiß ebenfalls, daß sie mit Beethoven dauernd in einem freundschaftlichen Verhältnisse stand; von irgendeiner wärmeren Empfindung auf einer von beiden Seiten weiß er nichts, freilich auch nichts vom [553] Gegenteil; doch sagte er: »Wenn die Rede auf Beethoven kam, sprach sie mit Verehrung von ihm, aber immer mit einer gewissen Reserve.« Der dritte Band wird durch die Neuordnung der bezüglichen Briefe die näheren Belege für Beethovens ernstliche Neigung bringen.

Erst durch die Beziehungen zu diesen Malfattis wurde wahrscheinlich Beethoven auch mit dem Arzte gleichen Namens persönlich bekannt, und sie »waren längere Zeit große Freunde. Malfatti wurde Beethovens Arzt nach dem plötzlichen Tode von Dr. Schmidt am 19. Februar 1808. Sie waren aber wie zwei harte Mühlsteine gegeneinander und kamen aus einander. Malfatti pflegte von Beethoven zu sagen: ›Er ist ein konfuser Kerl – dabei kann er doch das größte Genie sein‹«.

Der Assistent Malfattis, Dr. Bertolini, war lange der vertraute Arzt Beethovens, und durch ihn wurde er mit dem späteren Chef der großen Firma »Miller und Co.«, Großhändler in Wien, bekannt, welcher noch persönlich dem Verfasser mit Vergnügen seine Zusammenkünfte mit dem »großen Beethoven« in seiner Jugend beschrieb. Wenngleich nichts besonders Bemerkenswertes in seinen Erinnerungen sich findet, so sind sie doch interessant als fernere Belege der geistigen Beweglichkeit des Meisters und seines Vergnügens an scherzhafter, witziger und lebendiger Unterhaltung.

Infolge einer Laune Beethovens gelangten seine herzlichen Beziehungen zu Dr. Bertolini um 1815 zu einem plötzlichen Ende; der Doktor hingegen, wenn auch verletzt und gekränkt, bewahrte dennoch seine Achtung und Verehrung für seinen ehemaligen Freund bis an sein Ende. Einen besonderen Beweis seiner zarten Aufmerksamkeit für Beethovens Ruf gab er im Jahre 1831, als er an der Cholera krank lag und seinen Tod nahe glaubte; da er sich nämlich zu schwach fühlte, seine große Sammlung von Briefen und Zetteln des Komponisten an ihn zu prüfen, so befahl er, sie sämtlich zu verbrennen, weil einige derselben der Art waren, daß er sie nicht in sorglose Hände kommen lassen wollte. –

Der Leser wird Maria Anna Stein zu Augsburg nicht vergessen haben, Klaviermacher Steins »Mädl«, wie sie Mozart nennt. Nach dem Tode ihres Vaters (29. Februar 1792) übernahm das damals 23 Jahre alte Mädchen, unterstützt von ihrem Bruder Matthäus Andreas, einem jungen Manne von 16 Jahren, das Geschäft und setzte es fort. Der große Ruf der Steinschen Instrumente erregte die wohlbegründete Hoffnung, daß die Verlegung des Geschäftes in eine größere Stadt als Augsburg eine vorteilhafte Spekulation sein werde, und nach eingehender [554] Überlegung wurde beschlossen, Wien zu erwählen. Ein kaiserliches Patent, erlassen am 17. Januar 1794, ermächtigte »Nanette und Andreas Stein«, ihr Geschäft zu eröffnen »auf der Landstraße 301, zur rothen Rose«; im Juli darauf kamen sie dorthin in Begleitung von Johann Andreas Streicher, einem »ausgezeichneten Klavierspieler und Lehrer aus München«, mit welchem Nanette verlobt war. Das Geschäft blühte glänzend auf unter der Firma »Geschwister Stein« bis zum Jahre 1802, »von welchem Zeitpunkt an nach erfolgter Trennung beide Theile für eigene Rechnung arbeiteten«.

»Es ist in neueren Zeiten«, sagt der Korrespondent der Allg. Musik. Zeitung (V 156), »öfters zur Sprache gekommen, daß das stärkere Geschlecht dem weiblichen fast alle Gewerbszweige entrissen habe. Mad. Streicher beweist durch ihr Beispiel, daß im Fache der Kunst der schönen Hälfte noch ein weites und selten benutztes Feld offen stehe. Freilich wird nicht leicht bei jedem Individuum eine Vereinigung so vieler glücklicher Umstände zusammentreffen, wie bei Mad. Streicher. Schon von ihrem siebenten Jahre an war sie von ihrem Vater, dem verstorbenen Orgel- und Instrumentenmacher Stein zu Augsburg, in alle Geheimnisse ihres Faches eingeweiht. Sie war Zeugin der vielen, im Publicum fast gar nicht bekannten Versuche, wodurch Steins Arbeiten den hohen Grad der Vollkommenheit erhielten, und sie mußte, was für den practischen Künstler das Wichtigste ist, immer selbst dabei Hand anlegen. So war es möglich, daß sie nach dem Tode ihres Vaters, in einem Alter, wo Flattersinn den Geschmack an ernsten Beschäftigungen selten aufkommen läßt, die Bearbeitung der Fortepianos selbst übernehmen und seit neun Jahren mit männlichem Geiste selbst fortführen konnte. Die Klavierinstrumente, welche von den Geschwistern Stein an die angesehensten Höfe und so viele Kenner und Liebhaber verschickt worden sind, lassen sich an der nicht tief fallenden, durchaus gleich elastischen, auf der Stelle ansprechenden Tastatur, und an dem reinen, vollen, überall gleichen und runden Ton leicht erkennen, und sie sind ganz auf die Hauptbedingnisse des guten Klavierspiels, auf Fertigkeit, Gesang und Ausdruck berechnet. Seit wenigen Wochen haben sich die Geschwister Stein getrennt.«

Es ist bekannt, daß Beethoven unmittelbar nach der Ankunft der Geschwister Stein seinen Verkehr mit ihnen erneuerte; doch haben wir bis zu einer, ein Jahrzehnt späteren Periode5 nur eine einzige bemerkenswerte [555] Erinnerung über diesen Verkehr. Reichardt schreibt in seinem Briefe vom 7. Februar 1809 folgendes: »Streicher hat das Weiche, zu leicht Nachgebende und prallend Rollende der anderen Wiener Instrumente verlassen, und auf Beethovens Rath und Begehren seinen Instrumenten mehr Gegenhaltendes, Elastisches gegeben, damit der Virtuose, der mit Kraft und Bedeutung vorträgt, das Instrument zum Anhalten und Tragen, zu den seinen Druckern und Abzügen mehr in seiner Gewalt hat. Er hat dadurch seinen Instrumenten einen größern und mannichfachern Charakter verschafft; so daß sie jeden Virtuosen, der nicht blos das Leichtglänzende in der Spielart sucht, mehr wie jedes andere Instrument befriedigen müssen.« Diese Worte zeigen uns Beethoven in einer neuen Rolle, der eines Verbesserers des Pianofortes.

»Der junge Stein«, welchen Ries6 als Pianisten erwähnt (vgl. S. 528), war Nanettens jüngerer Bruder Karl Friedrich, welcher seiner Schwester im Jahre 1804 nach Wien folgte. –

Einer jener charakteristischen Briefe Beethovens an Zmeskall, ohne Datum, doch jedenfalls diesen Jahren angehörig, fügt der langen Reihe der Bekannten Beethovens einen weiteren Namen hinzu und beweist, daß, wie unbeliebt auch der Komponist bei seinen Kunstgenossen sein mochte, er doch Eigenschaften und Fähigkeiten besaß, die ihn auch den besten unter den aufstrebenden jungen Männern des gelehrten Berufes wert machte. Der Brief, im Besitze des Verfassers, lautet wie folgt:


»Mein lieber Z.


Die Gebrüder Jahn7 haben für mich ebenso wenig anziehendes als für Sie – Sie haben mich aber so sehr überloffen, und zuletzt sich auf Sie berufen, daß Sie hinkommen, und so habe ich zugesagt – kommen Sie also in Gottes Namen, vieleicht komme ich Sie bei Zizius abholen, außerdem kommen Sie grade hin, damit ich nicht ohne Menschen da bin – Mit unsern Kommissionen wollen wir's denn unterlassen bis Sie besser können – wenn Sie nicht können zum Schwan kommen heute wo ich ganz sicher hinkomme.

Ganz ihr

Beethoven.«


Der hier genannte Dr. Johann Zizius, ein Böhme (geb. 7. Januar 1772), erscheint schon in dem jugendlichen Alter von 28 Jahren im Staatsschematismus für 1800 als Professor der politischen Wissenschaften [556] bei dem K. K. Gardestabe; drei Jahre später erhielt er dieselbe Professur am Theresianum, welche er bis zu seinem Tode (1824) innehatte; daneben bekleidete er in seinen späteren Jahren auch den Lehrstuhl der »Staatskunde« an der Universität. Um 1810 zog er aus der Kälbergasse in jenes Haus (oder ganz in dessen Nähe), in welchem Dr. Sonnleithner etwa zehn Jahre später seine Bekanntschaft machte. In seinen wertvollen und interessanten »Musikalischen Skizzen ans Alt-Wien« (Rezensionen, 1863) kommt der Doktor nach einer witzigen Beschreibung von Alois Gulielmos' komischen Flötenkonzerten auf Zizius zu sprechen. »Ganz anderer Art waren die Soireen bei Professor Johann Zizius, welche er in seiner Wohnung am Ende der Kärnthnerstraße 1038, im zweiten Stockwerke, über dem damaligen Probesalon des Hofoperntheaters gab. Ich nahm erst in der letzten Zeit (1819 und 1820) daran Theil, nachdem diese Unterhaltungen schon durch eine Reihe von Jahren stattgefunden hatten. – – Er befand sich, da er unverehelicht blieb, in behaglichem Wohlstande. Als eifriger Musikfreund und gewandter Weltmann wußte er nun die vorzüglichsten Künstler und eine sehr gewählte Gesellschaft aus den aristo- und plutokratischen Ständen um sich zu versammeln, und seinen Gesellschaften einen so eleganten Anstrich zu geben, daß sowohl die Ausübenden als die Genießenden sich gerne daran betheiligten. Seine Schwester verstand es gehörig, die ›Honneurs‹ zu machen und einen Kranz anziehender Damen bei sich zu vereinigen; die besten Kräfte aus Dilettanten- und Künstlerkreisen, mit Einschluß einiger Opernsängerinnen, fühlten sich geehrt, dort theils klassische Stücke, theils die neueste pikante Salonmusik auszuführen. Die fremden Künstler ließen sich einführen, um da die ersten Proben ihres Talentes abzulegen. Oefters bildete ein kleiner Ball mit Souper den Schluß der Abendunterhaltung, und es fehlte nicht an Gelegenheit, interessante Bekanntschaften verschiedenster Art anzuknüpfen.«

Demnach war Dr. Zizius offenbar ein Mann und sein Haus ein Versammlungsort ganz nach Beethovens Herzen, solange nicht seine zunehmende Taubheit ihn in erhöhtem Maßstabe von größeren Gesellschaften ausschloß.

Einen ferneren Beleg zu unserer früheren Bemerkung, daß Beethovens persönliche Eigenschaften für junge Leute von mehr als gewöhnlicher Anlage und Bildung eine große Anziehungskraft besaßen, bietet uns sein Verkehr mit Julius Franz Borgias Schneller, geboren 1777 zu Straßburg, erzogen zu Freiburg im Breisgau, und damals (1805) Professor [557] der Geschichte am Lyzeum zu Linz an der Donau. Der junge Schneller hatte bei dem Widerstande gegen die französische Invasion im Jahre 1796 sehr tätig mitgewirkt und war infolgedessen in die Verbannung geschickt worden. Nachdem er einige Zeit, wie Goethes Wilhelm Meister, ein etwas unstätes Leben geführt hatte, begab er sich nach Wien, wo ihn die hohen Vorzüge seines Geistes und Herzens zu einem willkommenen Gaste in den literarischen Kreisen machten und ihm die Zuneigung der jungen Schriftsteller der Hauptstadt, Hammer, Castelli usw. erwarben. Seine Tragödie Vitellia »erhielt (1805) die Ehre der Aufführung auf dem K. K. Hoftheater: sie behauptete sich, und die vorzüglichsten Meister wetteiferten in würdiger Darstellung des Stückes«. Im Jahre 1803 erhielt er seine Anstellung zu Linz, von wo er drei Jahre später zu derselben Stellung an die neue Universität zu Gratz berufen wurde. Von seinen Freunden liebte er wohl Gleichenstein am meisten; ihre intime Freundschaft stammte noch aus ihrer Mitschülerzeit zu Freiburg. Seine Briefe an ihn lassen uns nicht allein die Wärme seiner Zuneigung zu ihm deutlich erkennen, sondern daneben seine merkwürdig ausgebreitete Sprachkenntnis, da sie in fünf Sprachen: Französisch, Englisch, Italienisch, Lateinisch und Deutsch geschrieben sind. Über Ignaz von Gleichenstein gibt uns Schnellers Biograph8 in folgenden Worten einige nähere Aufschlüsse:

»Der Freiherr Ignaz von Gleichenstein, aus einem breisgauischen Adelsgeschlecht, gehörte zu den liebenswürdigsten Menschen, welche der Verfasser dieser biographischen Skizze jemals gekannt hat. Ein klarer Verstand, ein praktischer Sinn, ein redliches Gemüth voll Wahrheit und Offenheit, ein schlichtes, naturgetreues Wesen in allem und eifrige Liebe zum Guten und Schönen zeichneten ihn aus. Sein Leben und Wirken war, im Geiste jenes griechischen Weisen, wie ein Haus von Glas, in welchem jedermann ihn zu allen Zeiten schauen und durchschauen konnte. Vermählt mit einem Fräulein Malfatti, aus derselben Familie, welcher der berühmte Arzt angehört, besaß er an seiner Seite eine der vollkommensten Frauen, sowohl was Körper als Geist betraf, und des Vaters Güte und der Mutter Lieblichkeit erneuerten sich nachmals in den Kindern.«

Der hier so warm gepriesene Freund Schnellers und in der Folge auch Beethovens war gerade damals, infolge der französischen Invasion, [558] von Wien abwesend; im Winter 1806–7 kehrte er jedoch zurück, und der Staatsschematismus (1808) enthält seinen Namen wieder in der Stellung eines Hofkriegskonzipisten. –

Es ist nicht nötig, diese Skizzen an der gegenwärtigen Stelle noch weiter auszudehnen; dagegen scheint es wohl angebracht, am Schlusse dieses Kapitels noch einige Mitteilungen von Ries, Czerny und anderen einzuschalten, welche verschiedene charakteristische Anekdoten und persönliche Züge aus dem Leben des Meisters enthalten, die sich in die genaue chronologische Reihenfolge nicht einfügen lassen, aber jedenfalls in diese Periode gehören. Da dieselben für die Gewinnung einer deutlichen und lebendigen Vorstellung von dem Menschen und Künstler einen unschätzbaren Wert besitzen und auf den soeben erzählten Teil seiner Geschichte ein helles Licht werfen, so glauben wir dieselben nicht übergehen zu dürfen.

»Von allen Componisten«, erzählt Ries S. 84, »schätzte Beethoven Mozart und Händel am meisten, dann S. Bach. Fand ich ihn mit Musik in der Hand oder lag etwas auf seinem Pulte, so waren es sicher Compositionen von einem dieser Heroen. Haydn kam selten ohne einige Seitenhiebe weg.« Damit vergleiche man, was Jahn von Czerny hörte: »Einst sah Beethoven bei mir die Partitur der 6 Mozartschen Quartette. Er schlug das 5te in A auf und sagte: ›Das ist ein Werk! Da sagte Mozart der Welt: Seht, was ich machen könnte, wenn für Euch die Zeit gekommen wäre!‹« Und mit Bezug auf Händel: »Grauns Tod Jesu war Beethoven unbekannt. Mein Vater brachte ihm die Partitur, die er (a vista) meisterhaft durchspielte. Als er zu der Stelle kam, wo Graun ein zweifaches Ende zu einem Tonstücke nach beliebiger Auswahl gemacht hatte, sagte er: ›Ach, da muß der Mann ein Bauchgrimmen gehabt haben, daß er nicht unterscheiden konnte, welches Ende besser ist!‹ Am Schlusse meinte Beethoven, die zwei Fugen seien leidlich, das übrige ordinär. Darauf nahm er mit den Worten: ›Das ist ein andrer Kerl!‹ Händels Messias und spielte die interessantesten Nummern, machte uns dann auf mehrere Aehnlichkeiten mit Haydns Schöpfung aufmerksam u.s.w.«

»Einst«, sagt Ries S. 100, »als wir nach beendigter Lection über Themas zu Fugen sprachen, ich am Klavier und er neben mir saß, und ich das erste Fugenthema aus Grauns Tod Jesu spielte, fing er an, mit der linken Hand es nachzuspielen, brachte dann die rechte dazu und arbeitete es nun, ohne die mindeste Unterbrechung, wohl eine halbe Stunde [559] durch. Noch kann ich nicht begreifen, wie er es so lange in dieser höchst unbequemen Stellung hat aushalten können. Seine Begeisterung machte ihn für äußere Eindrücke unempfindlich.« – »Auf einem Spaziergange«, erzählt er an einer anderen Stelle (S. 87), »sprach ich mit Beethoven einmal von zwei reinen Quinten9, die auffallend und schön in seinem C moll-Quartett (Op. 18) klingen. Er wußte sie nicht und behauptete, es sei unrichtig, daß es Quinten wären. Da er die Gewohnheit hatte, immer Notenpapier bei sich zu tragen, so verlangte ich es und schrieb ihm die Stelle mit allen vier Stimmen auf. Als er nun sah, daß ich Recht hatte, sagte er: ›Nun! und wer hat sie denn verboten?‹ – Da ich nicht wußte, wie ich die Frage nehmen sollte, wiederholte er sie einigemal, bis ich endlich voll Erstaunen antwortete: ›Es sind ja doch die ersten Grundregeln!‹ Die Frage wurde noch einmal wiederholt und darauf sagte ich: ›Marpurg, Kirnberger, Fux, etc. etc., alle Theoretiker!‹ – ›Und so erlaube ich sie!‹ war seine Antwort.«

»Ich erinnere mich nur zweier Fälle (S. 106), wo Beethoven mir einige Noten sagte, die ich seiner Composition zusetzen sollte, einmal im Rondo derSonate Pathétique (Op. 13) und dann im Thema des Rondo's seines ersten Concertes in C dur, wo er mir mehrere Doppelgriffe angab, um es brillanter zu machen. Ueberhaupt trug er letzteres Rondo mit einem ganz eigenen Ausdrucke vor. Im Allgemeinen spielte er selbst seine Compositionen sehr launig, blieb jedoch meistens fest im Tacte, und trieb nur zuweilen, jedoch selten, das Tempo etwas. Mitunter hielt er in seinem crescendo mit ritardando das Tempo zurück, welches einen sehr schönen und höchst auffallenden Effekt machte. Beim Spielen gab er bald in der rechten, bald in der linken Hand irgend einer Stelle einen schönen, schlechterdings unnachahmbaren Ausdruck; allein äußerst selten setzte er Noten oder eine Verzierung hinzu.«

»Er spielte [S. 100] seine eigenen Sachen sehr ungern. Einst machte er ernstlich den Plan zu einer gemeinschaftlichen großen Reise, wo ich [560] alle Concerte einrichten, und seine Clavier-Concerte sowohl als andere Compositionen spielen sollte. Er selbst wollte dirigiren und nur phantasiren.«

In einem Briefe Beethovens »pour Monsieur Wiedebein a Brunsvic«, datiert aus »Baaden den 6ten Juli 1804« und gedruckt in der Neuen Zeitschrift für Musik (7. Oktober 1870) findet sich folgende Stelle: »Wäre es jedoch gewiß, daß ich meinen Aufenthalt hier behielte, so wollte ich Sie auf Glück hieher kommen lassen, da ich aber wahrscheinlich den künftigen Winter schon von hier reife, so würde ich selbst alsdann nichts mehr für Sie thun können.« Ehe der Winter kam, wurde Beethoven, wie der Leser weiß, engagiert, die Leonore zu komponieren, und aus der projektierten Reise wurde nichts. Gottlieb Wiedebein wurde später Kapellmeister zu Braunschweig; sein unmittelbarer Nachfolger war Albert Methfessel (Ostern 1832).

In bezug auf Beethovens Phantasieren sagt Ries weiter (das): »Letzteres war freilich das Außerordentlichste, was man hören konnte, besonders wenn er gut gelaunt oder gereizt war. Alle Künstler, die ich je phantasiren hörte, erreichten bei weitem nicht die Höhe, auf welcher Beethoven in diesem Zweige der Ausübung stand. Den Reichthum der Ideen, die sich ihm aufdrangen, die Launen, denen er sich hingab, die Verschiedenheit der Behandlung, die Schwierigkeiten, die sich darboten oder von ihm herbeigeführt wurden, waren unerschöpflich.«

Auch Czerny verdanken wir über diesen Gegenstand interessante und eingehende Mitteilungen. »Beethoven's Improvisiren (wodurch er in den ersten Jahren nach seiner Ankunft in Wien das meiste Aufsehen erregte und selbst Mozart's Bewunderung gewann) war von verschiedener Art, ob er nun auf selbstgewählte oder auf gegebene Themen fantasirte.

1. In der Form des ersten Satzes oder des Finalrondos einer Sonate, wobei er den ersten Theil regelmäßig abschloß und in demselben auch in der verwandten Tonart eine Mittelmelodie u.s.w. anbrachte, sich aber dann im 2ten Theile ganz frei, jedoch stets mit allen möglichen Benutzungen des Motives seiner Begeisterung überließ. – Im Allegrotempo wurde das Ganze durch Bravourpassagen belebt, die meist noch schwieriger waren, als jene, die man in seinen Werken findet.

2. In der freien Variations-Form, ungefähr wie seine Chorfantasie, Op. 80, oder das Chorfinale der 9. Sinfonie, welche beide ein treues Bild seiner Improvisation dieser Art geben.

[561] 3. In der gemischten Gattung, wo Potpourri-artig ein Gedanke dem andern folgt, wie in seiner Solofantasie Op. 77. Ost reichten ein paar einzelne unbedeutende Töne hin, um aus denselben ein ganzes Tonwerk zu improvisiren (wie z.B. das Finale der 3ten Sonate, D dur, von Op. 10).

In der Geschwindigkeit der Skalen, Doppeltriller, Sprünge u.s.w. kam ihm keiner gleich – auch Hummel nicht. Seine Haltung beim Spiel war meisterhaft ruhig, edel und schön, ohne die geringste Grimasse (nur bei zunehmender Harthörigkeit gebückt), seine Finger waren sehr kräftig, nicht lang und an der Spitze vom vielen Spielen breit gedrückt, denn er sagte mir oft, daß er in seiner Jugend ungeheuer oft, meistens bis spät über Mitternacht exerciert hatte.

Er hielt auch beim Unterrichten sehr auf schöne Fingerhaltung (nach der Emanuel Bachschen Schule, nach der er mich unterrichtete); er selber spannte kaum eine Decime. Der Gebrauch der Pedale war bei ihm sehr häufig, weit mehr als man in seinen Werken angezeigt findet. Einzig war sein Vortrag der Händelschen und Gluckschen Partituren und der Seb. Bachschen Fugen, indem er in die ersteren eine Vollstimmigkeit und einen Geist zu legen wußte, der diesen Werken eine neue Gestalt gab.

Auch war er der größte a vista-Spieler seiner Zeit (selbst im Partiturlesen), und, wie durch Divination, übersah er beim schnellsten Durchblicken jede fremde Composition, und sein Urtheil war stets richtig, aber (besonders in seinen jüngeren Jahren) sehr scharf, beißend und rücksichtslos. Manches, was die Welt bewunderte und noch bewundert, sah er von dem hohen Standpunkte seines Genies in ganz anderem Lichte.

So außerordentlich sein Spiel im Improvisiren war, so war es oft weniger gelungen beim Vortrag seiner bereits gestochenen Compositionen, denn da er sich nie die Geduld und Zeit nahm etwas wieder zu exercieren, so hing das Gelingen meistens von Zufall und Laune ab, und da sein Spiel so wie seine Compositionen der Zeit voraus geeilt waren, so hielten die damaligen noch äußerst schwachen und unvollkommenen Fortepiano (bis um 1810) seinen gigantischen Vortrag noch gar nicht aus. Daher kam es, daß Hummels perlendes, für seine Zeit wohlberechnetes brillantes Spiel dem größeren Publicum weit verständlicher und ansprechender erscheinen mußte. Aber Beethovens Vortrag des Adagio und des Legato im gebundenen Styl übte auf jeden Zuhörer [562] einen beinahe zauberhaften Eindruck, und ist, so viel ich weiß, noch von Niemandem übertroffen worden.«

Frau Therese von Hauer, geborene Dürfeld, erinnert sich, in ihrer Kindheit eine Improvisation Beethovens gehört zu haben. Sie schreibt darüber: »In den Jahren 1804–8 wurden in Baden bei Wien von der dort anwesenden adeligen Gesellschaft, jede Woche einmal, sogenannte ›Unions‹ veranstaltet. Diese fanden im Hotel zur Stadt Wien auf dem Platze statt. Dort erschien S. K. H. Erzherzog Rudolph, in Begleitung des berühmten Tonsetzers und zugleich seines Claviermeisters Ludwig van Beethoven. Als ein junges Mädchen wurde ich auch einmal in dieses Casino mitgenommen, da es verlautete, daß Beethoven sich auf dem Fortepiano sollte hören lassen. Er erschien, ließ sich eine Weile bitten, endlich aber trat er an das Clavier, machte zwar ein saures Gesicht, spielte dann, auf von einigen Damen gegebene Themas, improvisirte Fantasieen mit hinreißendem Gefühl und bedeutender Fertigkeit, so daß alles entzückt von diesem Genuß sehr befriedigt den Saal verließ.« –

Noch einige kleinere charakteristische Züge, welche Ries in bezug auf seinen Lehrer berichtet hat, dürfen hier ihre Stelle finden. »Beethoven erinnerte sich seiner früheren Jugend und seiner Bonner Freunde mit vieler Freude, obschon es im Grunde bedrängte Zeiten für ihn gewesen waren. Von seiner Mutter besonders sprach er mit Liebe und Gemüthlichkeit, nannte sie öfters eine brave, eine herzensgute Frau. – Von seinem Vater, der am meisten am häuslichen Unglücke Schuld war, sprach er wenig und ungern, allein ein hartes Wort, das ein Dritter über ihn fallen ließ, brachte ihn auf. Ueberhaupt war er ein herzensguter Mensch, dem nur seine Laune und seine Heftigkeit gegen Andere oft böse Streiche spielten. Er würde jedem, welche Beleidigung oder welches Unrecht er von ihm auch immer erfahren, auf der Stelle vergeben haben, hätte er ihn im Unglücke angetroffen (Notizen S. 122).«

»Beethoven war manchmal äußerst heftig. Eines Tages aßen wir im Gasthaus zum Schwanen zu Mittag; der Kellner brachte ihm eine unrechte Schüssel. Kaum hatte Beethoven darüber einige Worte gesagt, die der Kellner eben nicht bescheiden erwiederte, als er die Schüssel (es war ein sogenanntes Lungenbratel mit reichlicher Brühe) ergriff, und sie dem Kellner an den Kopf warf. Der arme Mensch hatte noch eine große Zahl Portionen verschiedener Speisen auf seinem Arm (eine Geschicklichkeit, welche die Wiener Kellner in einem hohen Grade besitzen) und konnte[563] sich daher nicht helfen; die Brühe lief ihm das Gesicht herunter. Er und Beethoven schrieen und schimpften, während alle anderen Gäste laut auflachten. Endlich brach auch Beethoven beim Anblicke des Kellners los, da dieser die über das Gesicht triefende Sauce mit der Zunge aufleckte, schimpfen wollte, doch lecken mußte und dabei die lächerlichsten Gesichter schnitt. Ein eines Hogarth würdiges Bild (Notizen S. 121).«

»Beethoven kannte beinahe das Geld nicht, wodurch öfters unangenehme Auftritte entstanden, weil er, überhaupt mißtrauisch, häufig sich betrogen glaubte, wo es nicht der Fall war. Schnell aufgeregt nannte er die Leute geradezu Betrüger, welches bei den Kellnern oft durch ein Trinkgeld gut gemacht werden mußte. Endlich kannte man in den von ihm am meisten besuchten Gasthäusern seine Sonderbarkeiten und Zerstreuungen so, daß man ihm alles hingehen ließ, sogar, wenn er ohne Bezahlung sich entfernte (Notizen S. 122).«

»Beethoven hat in Wien noch Unterricht auf der Violine bei Krumpholz genommen, und im Anfang, als ich da war, haben wir noch manchmal seine Sonaten mit Violine zusammen gespielt. Das war aber wirklich eine schreckliche Musik; denn in seinem begeisterten Eifer hörte er nicht, wenn er eine Passage falsch in der Applicatur einsetzte.

Beethoven war in seinem Benehmen sehr linkisch und unbeholfen; seinen ungeschickten Bewegungen fehlte alle Anmuth. Er nahm selten etwas in die Hand, das nicht fiel oder zerbrach. So warf er mehrmals sein Tintenfaß in das neben dem Schreibpulte stehende Clavier. Kein Möbel war bei ihm sicher, am wenigsten ein kostbares; Alles wurde umgeworfen, beschmutzt und zerstört. Wie er es so weit brachte, sich selbst rasiren zu können, bleibt schwer zu begreifen, wenn man auch die häufigen Schnitte auf seinen Wangen dabei nicht in Betracht zog. Nach dem Takte tanzen konnte er nie lernen (Notizen S. 119).«

»Beethoven legte gar keinen Werth auf seine eigenhändig geschriebenen Sachen; sie lagen meistens, wenn sie einmal gestochen waren, im Nebenzimmer oder mitten im Zimmer mit anderen Musikstücken auf dem Boden. Ich habe seine Musik oft in Ordnung gebracht; allein wenn Beethoven etwas suchte, so flog wieder alles durcheinander. Ich hätte dazumal sämmtliche Compositionen, die schon gestochen waren, in der Original-Handschrift wegnehmen können; auch würde er sie mir, wenn ich ihn darum gebeten hätte, wohl selbst unbedenklich gegeben haben (Notizen S. 113).« –

Beethoven fühlte den Verlust von Ries in hohem Grade; doch wurde [564] ihm derselbe zum Teil ersetzt durch den jungen Röckel, an welchem er großen Gefallen fand. Als er diesen aufforderte, ihn zu besuchen, fügte er hinzu, daß er seinen Dienstboten besondern Befehl geben werde, ihn zu jeder Zeit zuzulassen, sogar morgens, wenn er beschäftigt wäre. Es wurde ausgemacht, daß, wenn Röckel eingelassen wäre und Beethoven in hohem Grade beschäftigt fände, er durch dessen Zimmer in das anstoßende Schlafzimmer gehen solle – beide Zimmer, im vierten Stock des Pasqualatischen Hauses an der Mölker Bastei gelegen, gewährten vollen Überblick über das Glacis – und ihn dort eine bestimmte Zeit erwarten; käme der Komponist nicht, dann sollte Röckel ruhig wieder herausgehen. Eines Morgens, bei seinem er sten Besuche, traf es sich, daß Röckel an der Haustür einen Wagen fand, in welchem eine Dame saß; und als er den vierten Stock erreicht hatte, war daselbst an Beethovens Tür Fürst Lichnowsky im Streite mit dem Diener, um eingelassen zu werden. Der Mann erklärte, er dürfe niemanden vorlassen, da sein Herr beschäftigt sei und gemessenen Befehl gegeben habe, niemanden, wer es auch sei, vorzulassen. Röckel jedoch, welcher Zutritt hatte, teilte Beethoven mit, daß Lichnowsky draußen sei. Obgleich bei übler Laune, konnte er sich doch nicht länger weigern, ihn anzunehmen. Der Fürst und seine Frau waren gekommen, um Beethoven zu einer Spazierfahrt einzuladen, und er willigte auch schließlich ein; aber noch als er in den Wagen trat, bemerkte Röckel, daß sein Gesicht einen düstern Ausdruck hatte.

Daß Beethoven in diesen Jahren häufig mit Seyfried zusammenkam, weiß der Leser bereits. Ihre 30jährige Bekanntschaft, welche wenigstens die Hälfte dieser Zeit hindurch in der Tat ein freundschaftliches Verhältnis, wie es Seyfried nennt, gewesen ist, wurde, wie derselbe erzählt, »nie irgend gelockert; nie durch einen selbst noch so geringfügigen Zwist gestört. Nicht als ob wir beide stets und immerdar eines und desselben Sinnes gewesen wären, oder sein können; vielmehr sprach sich jeder frei und unverhohlen aus, wie ers eben aus geprüfter Ueberzeugung fühlte, und als wahr erfand, fern von allem sträflichen, egoistischen Eigendünkel, diese seine differirenden Ansichten und Glaubens-Meinungen dem Gegenpart als infallibel aufdringen zu wollen. Ueberhaupt war Beethoven viel zu gerade, offen und tolerant, um Jemanden durch Mißbilligung oder Widerspruch zu kränken; was ihm nicht behagte, pflegte er nur recht herzlich zu belachen, und wohl glaube ich mit Zuversicht behaupten zu können, daß er sich, wissentlich wenigstens, nie in seinem ganzen Leben einen Feind zuzog; nur, wem seine Eigenheiten fremde [565] waren, der mochte sich auch in seinem Umgange – ich spreche von einer frühern Zeit, als ihn noch nicht das Unglück der Taubheit getroffen – vielleicht nicht so ganz ordentlich zurechte finden. Wenn Beethoven dagegen bei manchen, meist sich ihm selbst aufgedrungenen Protectoren, mit seiner derben Geradheit wohl mitunter das Kindlein sammt dem Bade verschüttete, so lag die Schuld einzig daran, daß der ehrliche Deutsche stets das Herz auf der Zunge trug, und alles besser, als zu hofiren verstand, auch – des eignen Werthes bewußt – sich nie zum Spielball der eitlen Launen seiner mit dem Namen und der Kunst des gefeierten Meisters sich brüstenden Mäcenaten entwürdigen ließ. – So war er denn nur von jenen verkannt, welche sich die Mühe verdrießen ließen, den scheinbaren Sonderling kennen zu lernen. – Als er den Fidelio, das Oratorium Christus am Oelberge, die Symphonieen in Es, C moll und F, die Pianoforte-Concerte in C moll undG dur, das Violinconcert in D componirte, wohnten wir beide in einem und demselben Hause10, besuchten fast täglich, da wir eine Garçon-Wirthschaft trieben, selbander das nemliche Speisehaus, und verplauderten zusammen manch unvergeßliches Stündchen in collegialischer Traulichkeit, denn Beethoven war damals heiter, zu jedem Scherz aufgelegt, frohsinnig, munter, lebenslustig, witzig, nicht selten auch satyrisch; noch hatte ihn kein physisches Uebel heimgesucht [?]; kein Verlust eines, sonderlich dem Musiker so höchst unentbehrlichen Sinnes seine Tage getrübt; nur schwache Augen waren ihm aus früher Kindheit als Nachwehen der bösartigen Pocken-Seuche zurückgeblieben, und diese zwangen ihn schon im angehenden Jünglingsalter zu concaven sehr scharfen11 Brillengläsern seine Zuflucht zu nehmen. Von den oben angeführten, in der gesammten Musikwelt als Meisterwerke anerkannten Schöpfungen ließ er mich jedes vollendete Tonstück alsogleich am Piano hören und verlangte mir, ohne mir lange Zeit zum Besinnen zu gönnen, auch unverzüglich mein Urtheil ab; solches durfte ich freysinnig, unumwunden geben, ohne befürchten zu müssen, einen, ihm wildfremden, gar nicht innewohnenden After-Künstlerstolz damit zu verletzen.«

Obige Worte sind der Cäcilia (Bd. IX, S. 218, 219) entnommen; in dem Anhange der sogenannten »Studien« finden sich noch fernere Erinnerungen,[566] welche das bereits Angeführte in überraschender Weise ergänzen. Wir führen an, was sich auf die Jahre 1800–1805 bezieht. »Im Dirigiren durfte unser Meister keineswegs als Musterbild aufgestellt werden, und das Orchester mußte wohl Acht haben, um sich nicht von seinem Mentor irre leiten zu lassen; denn er hatte nur Sinn für seine Tondichtung, und war unabläßig bemüht, durch die mannigfaltigsten Gesticulationen den intendirten Ausdruck zu bezeichnen. So schlug er oft bey einer starken Stelle nieder, sollte es auch im schlechten Tacttheile seyn. Das Diminuendo pflegte er dadurch zu markiren, daß er immer kleiner wurde, und beim pianissimo, so zu sagen, unter das Tactirpult schlüpfte. So wie die Tonmassen anschwellten, wuchs auch er wie aus einer Versenkung empor, und mit dem Eintritt der gesammten Instrumentalkraft wurde er, auf den Zehenspitzen sich erhebend, fast riesengroß, und schien, mit den Armen wellenförmig rudernd, zu den Wolken hinaufschweben zu wollen. Alles war in regsamster Thätigkeit, kein organischer Theil müßig und der ganze Mensch einemperpetuum mobile vergleichbar. – – Er gehörte schlechterdings nicht zu den eigensinnigen Componisten, denen kein Orchester in der Welt etwas zu Dank machen kann; ja zuweilen war er gar zu nachsichtsvoll, und ließ nicht einmal Stellen, die bei den Proben verunglückten, wiederholen; ›das nächste mal wird's schon gehen‹, meinte er. – Bezüglich des Ausdrucks, der kleineren Nüancen, der ebenmäßigen Vertheilung von Licht und Schatten, so wie eines wirksamen Tempo rubato, hielt er auf große Genauigkeit, und besprach sich, ohne Unwillen zu verrathen, gerne einzeln mit Jedem darüber. Wenn er nun aber gewahrte, wie die Musiker in seine Ideen eingingen, mit wachsendem Feuer zusammenspielten, von dem magischen Zauber seiner Tonschöpfungen ergriffen, hingerissen, begeistert wurden, dann verklärte freudig sich sein Antlitz, aus allen Zügen strahlte Vergnügen und Zufriedenheit, ein wohlgefälliges Lächeln umspielte die Lippen, und ein donnerndes: ›Bravi tutti!‹ belohnte die gelungene Kunstleistung. Es war des hehren Genies erster und schönster Triumphmoment, gegen welchen, wie er unumwunden gestand, selbst der Beyfallssturm eines großen, empfänglichen Publicums im Schatten stand. – Beym a vista-Vortrag mußte oft, der Correctur wegen, eingehalten, und der Faden des Ganzen abgeschnitten werden; auch dabei blieb er geduldig; kam aber, besonders in den Scherzos seiner Symphonieen beym plötzlich unerwarteten Tactwechsel, Alles auseinander, dann schlug er eine dröhnende Lache auf, versicherte: ›er hätte es gar nicht anders erwartet; [567] hätte schon zum voraus darauf gespitzt‹, und äußerte eine fast kindische Freude, daß es ihm geglückt: ›so bügelfeste Ritter aus dem Sattel zu heben‹.

Als Beethoven noch nicht mit seinem organischen Gebrechen behaftet war, besuchte er gerne und wiederholt Opernvorstellungen; besonders jene in dem damals so herrlich florirenden Theater an der Wien; mitunter wohl auch der lieben Bequemlichkeit zu Nutz und Frommen, da er gewissermaßen nur den Fuß aus seiner Stube und ins Parterre hinein zu setzen brauchte. Dort fesselten ihn vorzugsweise Cherubinis und Mehuls Schöpfungen, die in selber Epoche gerade anfingen, ganz Wien zu enthusiasmiren. Da pflanzte er sich denn hart hinter die Orchesterlehne, und hielt, stumm wie ein Öhlgötze, bis zum letzten Bogenstrich aus. Dieß war aber das einzige Merkmahl, daß ihm das Kunstwerk Interesse einflößte; wenn es ihn im Gegentheil nicht ansprach, dann machte er schon nach dem ersten Actschlusse rechtsum, und trollte sich fort. – Ueberhaupt war es schwer, ja rein unmöglich, aus seinen Mienen Zeichen des Beyfalls oder des Mißbehagens zu entziffern: er blieb sich immer gleich, scheinbar kalt, und ebenso verschlossen in seinen Urtheilen über Kunstgenossen; nur der Geist arbeitete rastlos im Innern; die animalische Hülle glich einem seelenlosen Marmor. – Wunderbar genug, gewährte ihm dagegen das Anhören einer recht erbärmlich schlechten Musik ein wahres Gaudium, welches er auch mittelst eines brüllenden Gelächters proklamirte. Jedermann, der ihn genauer kannte, weiß, daß er in dieser Kunst nicht minder Virtuose vom ersten Range war; nur Schade, daß sogar seine nächste Umgebung selten die eigentliche Ursache einer solchen Explosion zu ergründen vermochte, da er zum öftern die eigenen geheimsten Gedanken und Einfälle zu belachen geruhte, ohne weiter Rechenschaft darüber zu geben. –

Ohne ein kleines Notenbuch, worin er seine momentanen Ideen bemerkte, war er nie auf der Straße zu finden. Kam darauf zufällig die Rede, so parodirte er Johanna d'Arc's Worte: ›Nicht ohne meine Fahne darf ich kommen!‹ – und mit einer Stetigkeit sonder Gleichen hielt er das sich selbst gegebene Gesetz; wiewohl übrigens in seinem Haushalt eine wahrhaft admirable Confusion dominirte. Bücher und Musikalien in allen Ecken zerstreut, – dort das Restchen eines kalten Imbisses, – hier versiegelte oder halbgeleerte Bouteillen, – dort auf dem Stehpulte die flüchtige Skizze eines neuen Quatuors, – hier die Rudera des Dejeuner's, – dort am Piano, auf bekritzelten Blättern, [568] das Material zu einer herrlichen, noch als Embryo schlummernden, Symphonie, – hier eine auf Erlösung harrende Correctur, – freundschaftliche und Geschäftsbriefe den Boden bedeckend, – zwischen den Fenstern ein respectabler Laib Stracchino, ad latus erkleckliche Trümmer einer echten Veroneser Salami, – – und trotz dieses Bunterleys hatte unser Meister die Manier, ganz im Widerspruche zur Wirklichkeit, seine Accuratesse und Ordnungsliebe bey jeder Gelegenheit mit ciceronianischer Eloquenz herauszustreichen. Nur, wann Tage, Stunden, oft Wochen lang etwas Benöthigtes gesucht werden mußte, und alles Bemühen fruchtlos blieb, dann gings aus einem andern Tone, und Unschuldige sollten das Bad ausgießen. ›Ja, ja!‹ – wurde kläglich gejammert – ›das ist ein Unglück! Nichts kann an Ort und Stelle bleiben, wo ich es hingelegt; Alles wird mir verräumt; Alles geschieht mir zum Possen; o, Menschen, Menschen!‹ – Die Dienerschaft aber kannte den gutmüthigen Murrkopf; ließ ihn nach Herzenslust fortbrummen, und – wenige Minuten – so war alles vergessen, bis ein ähnlicher Anlaß dieselbe Scene erneuerte.

Ueber seine, in Wahrheit höchst unleserlichen Schriftzüge, machte er sich selbst oftmals lustig, und fügte zur Entschuldigung bey: ›Das Leben ist zu kurz, um Buchstaben oder Noten zu mahlen; und schönere Noten brächten mich schwerlich aus den Nöthen.‹

Der ganze Vormittag, vom ersten Lichtstrahl bis zur Tafelzeit, war der mechanischen Arbeit, dem Niederschreiben nähmlich, geweiht; des Tages Rest gehörte zum Denken und Ordnen der Ideen. Kaum den letzten Bissen zu Munde geführt, wurde, falls er keinen weiteren Ausflug in petto hatte, die gewöhnliche Promenade angetreten; das heißt: er lief im Dupplirschritt, wie gestachelt dazu, ein paarmahl rund um die Stadt.« – Und dies geschah, mochte das Wetter sein wie es wollte. Diejenigen, welche das alte Wien kennen, erinnern sich, welche schöne Promenade ganz um die eigentliche Stadt herum und gerade außerhalb der Wälle durch die Wege des Glacis gebildet wurde, an der unteren Seite mit dem Ufer des Kanals zusammenhängend; das Ganze gehört gegenwärtig der Vergangenheit an.

Die hier zusammengebrachten, an verschiedenen Stellen zerstreuten Notizen stimmen ihrem Inhalte nach völlig miteinander überein; sie bestätigen, erläutern und ergänzen sich gegenseitig, und gewähren von Beethoven, der damals im kräftig blühenden Mannesalter, in den ersten Jahren seines großen Ruhmes und in der wunderbarsten Zeit seines [569] Schaffens stand, ein so deutliches und lebendiges Bild, wie wir es von keinem andern unserer großen Komponisten besitzen.

Und sein Gehör? fragt der Leser; wie stand es damals mit demselben? Wir können diese Frage nicht zur vollen Zufriedenheit beantworten. Jedenfalls ist durch die Notizen von Wegeler und Ries, die Biographie Schindlers in ihren ersten Auflagen, und namentlich die Dokumente von Beethovens eigener Hand, welche in diesen Bänden gedruckt sind, eine sehr übertriebene Vorstellung von dem Fortschritte seiner Taubheit in Umlauf gekommen. Auf der anderen Seite irrt Seyfried offenbar nach der entgegengesetzten Richtung; und Karl Czerny, sowohl in seinen gedruckten als handschriftlichen Bemerkungen, geht sogar noch weiter. So schreibt er z.B. an Jahn: »Obwohl schon seit 1800 an Ohrenschmerzen und dergleichen leidend, hörte er doch vollkommen gut sowohl Sprache wie Musik bis beiläufig zum Jahre 1812«; und zur Bestätigung fügt er bei: »Noch in den Jahren 1811 und 1812 studirte ich bei ihm mehreres, und er corrigirte mit größter Genauigkeit, so gut wie 10 Jahre früher.« Dies beweist jedoch nichts, da Beethoven noch bemerkenswertere Proben der Art bis zum letzten Jahre seines Lebens von sich gab.

Beethovens Klagelied, das Testament von 1802, bezeichnet das eine Extrem, die Behauptungen von Seyfried und Czerny das andere; die Wahrheit liegt ungefähr in der Mitte.

Im Juni 1801 mußte Beethoven bereits »ganz dicht am Orchester lehnen, um den Schauspieler zu verstehen«. Im folgenden Sommer konnte er eine Schalmei nicht hören, auf welche ihn Ries aufmerksam machte. Im Jahre 1804 hörte er nach Doležaleks Erzählung schon in der Probe zur Eroica die Blasinstrumente nicht immer deutlich, und vermißte sie, wenn sie spielten. Das Übel machte damals, wenn auch langsame, doch sichere Fortschritte. »In jenen Jahren«, sagt Schindler I. S. 43, »befand sich an der Metropolitan-Kirche zu St. Stephan in Wien ein Geistlicher, Namens Pater Weiß, der sich mit Heilung des kranken Gehörorgans befaßt und viele glückliche Kuren bewirkt hatte. Nicht blos Empiriker, sondern mit der Physiologie des Organs wohl vertraut, bewerkstelligte er die Heilung nur mit einfachen Mitteln, genoß überhaupt eines verbreiteten Rufes im Publikum, nebenbei aber auch die Achtung der prakticirenden Aerzte. Mit Genehmigung seines Arztes hatte sich ihm auch unser geängstigter Tondichter anvertraut.« Es ist nicht genau bekannt, wann dies gewesen ist; doch kann es nicht früher [570] geschehen sein, als bisDr. Schmidts Behandlung sich als erfolglos erwiesen hatte. Das sogenannte Fischhoffsche Manuskript gibt – offenbar auf die Autorität von Zmeskall selbst – eine genauere Erzählung von Pater Weiß' Erfahrungen mit seinem neuen Patienten, als Schindler. »Herr v. Zmeskall bewog mit vieler Mühe Beethoven, mit ihm dahin zu gehen. Anfangs befolgte er auch den Rath des Arztes; da er aber täglich zu ihm gehen mußte, um sich eine Flüssigkeit in die Ohren träufeln zu lassen, so war ihm dieses um so unangenehmer, als er bei seiner Ungeduld noch wenig oder gar keine Besserung zu spüren glaubte, und er blieb aus. Der befragte Arzt verständigte Hrn. v. Zmeskall davon, welcher ihn jedoch bat, sich zu dem eigensinnigen Kranken selbst zu verfügen, und seiner Bequemlichkeit entgegen zu kommen. Der Geistliche, gutmüthig besorgt Beethoven zu helfen, ging in dessen Wohnung, aber ebenso war seine Bemühung in einigen Tagen schon vergebens, indem Beethoven sich verleugnen ließ und so eine mögliche Hülfe oder Linderung seines Zustandes vernachlässigte.«

Wahrscheinlich war das Übel derart, daß es mit allen Hilfsmitteln unserer gegenwärtigen medizinischen Kenntnis kaum aufgehalten, viel weniger gebessert werden konnte. Das ist ein schlechter Trost, doch der beste, den wir haben.

Der Leidende ergab sich endlich selbst in sein Schicksal. Auf einer Seite von 21 Blättern mit Skizzen zu den Rasumowskyschen Quartetten Op. 59, in der Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde zu Wien, stehen mit Bleistift von seiner Hand, wofern sie richtig gelesen sind, folgende Worte:

»Eben so wie Du Dich hier in den Strudel der Gesellschaft stürzest, eben so möglich ist's Opern trotz allen gesellschaftlichen Hindernissen zu schreiben.

Kein Geheimniß sey Dein Nichthören mehr – auch bey der Kunst.«

Fußnoten

1 Vgl. Grenzboten 1857, 3. April. Übrigens befinden sich unter Thayers Materialien sogar zwei vollständige Kopien des Tagebuchs von Frl. Giannatasio, aus denen in Bd. 4 und 5 umfängliche Auszüge mitgeteilt sind.


2 Young Wilding loquitur. »Oh how they wilt at the Gothic names of General Swapinbach, Count Rousoumoffsky, Prince Montecuculi and Marshall Furtinburgh.« The Liar. Der deutsche Leser, welcher noch auf fernere Einzelheiten aus dem Leben der Rasumowsky, ehrenvolle oder skandalöse, neugierig ist, sei auf den Artikel Schnitzlers in Raumers histor. Taschenbuche für 1863 verwiesen.


3 Das Wiener Hausverzeichnis für 1805 gibt folgende Gruppe von Häusern als in Rasumowskys Besitze befindlich an, welche natürlich alle niedergerissen oder verändert wurden, um dem neuen Palaste Platz zu machen oder mit demselben in Verbindung gebracht zu werden: Erdberg, an der Donau Nr. 343, Landstraße, Rauchfangkehrergasse 69. 72. 73, Bodgasse 32, an der Donau 93. 94, auf der Gestätten 95.


4 Eine Zusammentragung des bezüglichen zugänglichen Materials siehe bei Kalischer, »Beethovens ›Beichtvater‹« (Neue Zeitschr. f. Musik 1893, Nr. 35–40), auch in desselben Ges. Aufsätzen Bd. II (»Beethovens Frauenkreis« 1909, S. 225 ff).


5 Vgl. Band IV Anhang I.


6 Notizen S. 115 (1809 gelegentlich der ersten Vorführung des G-Dur-Konzerts).


7 Vielleicht die »Hostraiteurs«, welche einen Ball-und Konzertsaal in der Himmelpfortgasse hatten.


8 »Julius Schneller's Lebensumriß« usw. von Ernst Münch. Leipzig 1834.


9 Wohl Takt 37 des ersten Satzes zwischen erster Violine und Bratsche:


15. Kapitel. Fernere persönliche Beziehungen Beethovens

oder Takt 25–26 des Menuett:

(erste Violine und Cello)


15. Kapitel. Fernere persönliche Beziehungen Beethovens

In beiden Fällen fehlt die fatale Gleitwirkung der Quinte (im zweiten, weil der Triller mit f anfängt).


10 Hier hat den Verfasser sein Gedächtnis zum Teil getäuscht.


11 Ebenfalls ein kleines Mißverständnis. Schindler besaß Beethovens Brillengläser; dieselben waren keineswegs sehr scharf. Vgl. übrigens Kalischer »Beethovens Augen und Augenleiden« (Musik II, Heft 12–13).

Quelle:
Thayer, Alexander Wheelock: Ludwig van Beethovens Leben. Band 2, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1910..
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