VI. Christus am Ölberg und Wellingtons Sieg in London.

[636] Der Erfolg des »Christus« führte zur Aufführung des »Sieges«; eine Erzählung von seinen ersten Aufführungen mag daher angemessenerweise der über das zweite Werk zur Einleitung dienen. Beide Berichte sind aus Unterhaltungen mit Sir George Smart, die in seinem eigenen Hause (jenem, in welchem Weber starb) im Februar 1861 stattfanden, entnommen.

Im Winter 1812–13 übernahm Smart die Leitung der Fastenoratorien im Drurylane-Theater und führte in seinem ersten Konzerte, den 30. Jan. 1813, Händels Messias in Mozarts Bearbeitung auf, ohne jedoch dies letztere auf dem Programm zu bemerken. Die Zuhörer waren entzückt über die neuen Effekte, und Mozarts Name erschien auf dem nächsten Programm. Während dieser Saison hörte Smart von Christus am Ölberge sprechen; und da er ein neues Werk für die nächste Saison zu erhalten begierig war, und Beethoven bereits einen großen Namen hatte, bot er die Summe von 50 ₤ für jeden, welcher ihm die Partitur jenes Werkes, welche von Breitkopf & Härtel veröffentlicht war, verschaffen würde – eine außerordentlich schwer erreichbare Sache in jener Zeit, als Napoleon den Kontinent gegen England beinahe hermetisch verschlossen hatte. Im folgenden Winter 1813/14 kam Jack Morris, Besitzer eines Wirtshauses oder einer Restauration besserer Klasse, welcher freien Eintritt hinter die Kulissen des Theaters hatte und sich fortwährend dort befand, zu Smart und legte zu dessen großem Erstaunen die Partitur des Oratoriums in seine Hand. »Gut,« sagte dieser, »ich werde Ihnen die 50 ₤ geben.« »Nein,« lautete die Antwort, »ich kann nur zwei Guineen dafür annehmen, denn soviel habe ich dafür bezahlt.« »Wie haben Sie dieselbe denn erhalten?« fragte Smart. »Ein Freund von mir, welcher Bote des Königs ist, kaufte sie für mich in Leipzig.«

[636] Die einzige Erkenntlichkeit, welche Morris außer den zwei Guineen annehmen wollte, war die, daß Smart von ihm eine Einladung annehmen solle, einer Vorstellung von Boxern beizuwohnen und bei dem darauf folgenden Souper gegenwärtig zu sein. Die Partitur trägt das Empfangsdatum vom 7. Januar 1814.

Nun wurde die Aufführung vorbereitet.

Samuel J. Arnold, der Sohn des Dr. Arnold, welcher Händels Werke herausgab, übersetzte den Text, indem er alle Rollen in die dritte Person umsetzte, so daß die Ehrfurchtsgefühle der Engländer nicht dadurch verletzt wurden, daß Christus und die Apostel auf der Bühne erschienen; Smart paßte hierauf die Übersetzung der Musik an. Das Oratorium wurde in seinem Hause einstudiert (»in diesem Zimmer«, sagte er) und von den anwesenden Liebhabern sehr schlecht aufgenommen; sie sagten zu Smart: wie er sich doch habe bewegen lassen, solches Zeug aufzuführen. Am 25. Februar fand im Drurylane-Theater ein »Oratorium«, d.h. ein geistliches Konzert statt. Den ersten Teil bildete eine Auswahl aus dem »Messias«, worin die Catalani sang; den 2. »The mount of olives«, die Soli gesungen von Mrs. Dickens, Mrs. Bland, Mr. Pyne und Mr. Bellany; den 3. eine Auswahl verschiedener Musikstücke. Die beiden ersten Teile schlossen außerdem mit einer Auswahl aus dem verlorenen Paradiese, gelesen von Miß Smith.

Die zehnte und letzte Aufführung war am 28. Mai. –

Nicht lange nachher erfuhr Smart von Franz Cramer1, dem Dirigenten der Kapelle des Prinzregenten, daß der Prinz die Partitur der Schlachtsymphonie besitze, und daß sie ihm zum Gebrauche zu Diensten stehe, wenn er sie aufführen wolle. Smart, ermutigt durch den Erfolg des Christus, war davon sehr erfreut, obgleich die Musiker das Werk als ein Stück musikalischer Quacksalberei bezeichneten. Bei näherer Prüfung erkannte Smart, daß es unmöglich sei, vor seinem Publikum die Fuge über God save the King aufzuführen, und beratschlagte mit Ferdinand Ries, welche Art von Schluß man machen solle. Ries fügte der Partitur eine kurze Übergangspassage hinzu, welche von der Fuge zu dem einfachen, schlichten Thema hinüberleitet. Das Werk wurde abgeschrieben, eingeübt und am 10. Februar 1815 als 2. Teil eines »Oratoriums« im Drurylane aufgeführt2.

[637] Nachdem das Orchester die Übergangsstelle von Ries beendigt, wurde die Hymne gespielt und von den Hauptsolisten und dem vollen Chor gesungen. Das Publikum stimmte jedesmal mit ein und ließ das alte Theater widerhallen. Der Erfolg war ein ungeheurer; das Werk wurde in mehreren Saisons aufgeführt, und Smart hatte von demselben einen Reingewinn von 1000 ₤.

Er war es auch, welcher Beethovens C-Dur-Messe in England bekannt machte. Am 3. April 1816 stand das Kyrie als »erste Hymne« mit einem englischen Texte von Arnold auf dem Programm; am 17. März 1817 die zweite, und schließlich das ganze Werk.


Ein eigenartiger Versuch, die Musik des »Christus am Ölberg« für die englischen Chorvereine zu retten, ist die bei Novello, Ewer & Co. 1874 im Klavierauszug erschienene Ausgabe mit einem von Henry Hudson herrührenden, möglichst Bibelworte benutzenden Texte unter dem Titel ›Engedi‹ or ›David in the wilderness‹, a sacred Drama, so daß an die Stelle von Christus der von Saul verfolgte David gesetzt ist. Das Werk wurde in dieser Gestalt 1876 unter Charles Halle in Bristol aufgeführt mit der Albani, Edw. Lloyd und Behrens als Solisten. Dem deutschen Originaltexte Hubers ist der neue englische übergedruckt und an Beethovens Noten nicht das geringste geändert, vielmehr der neue Text in peinlichem Anschluß an dieselben eingerichtet, ein Meisterstück der Adaptation, das aber doch wohl schwerlich seinen Zweck erreicht hat.

Fußnoten

1 Bruder von J. B. Cramer.


2 Dieses Wort diente damals zur Bezeichnung eines geistlichen Konzerts, wie »Akademie« in Wien zu der eines weltlichen.

Quelle:
Thayer, Alexander Wheelock: Ludwig van Beethovens Leben. Band 3, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1911..
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