Vierundzwanzigstes Kapitel.

Mozart in Berlin.

1789.

[198] Bei seiner Ankunft in Berlin, gerade um die Stunde, in der das Theater seinen Anfang nimmt, erfährt Mozart, daß eine seiner Opern, Belmonte und Constanze, gegeben werde. Sogleich eilte er dahin, ohne sich zum Umkleiden Zeit zu nehmen. Er horcht, horcht und zwar so aufmerksam, daß er nach einigen Minuten Alles um sich vergißt, und laut zu denken anfängt. Bald freut er sich zu sehr über den Vortrag einzelner Stellen, bald wird er wieder unzufrieden mit dem Tempo, bald machen ihm die Sänger und Sängerinnen zu viele Schnörkeleien. Der Beifall und Tadel des Maestro sprechen sich Anfangs nur in Geberden und durch eine Art von Brummen aus; bald aber übermannt ihn das musikalische Fieber. Er drängt sich, ohne es zu wissen, immer näher und näher dem Orchester zu, stößt seine Nachbarn, vergißt sich zu entschuldigen, brummt und summt die Melodieen des Werkes vor sich hin, das er in Gedanken selbst leitet, [198] und läßt bei jedem Fehler ein kräftiges Wort ertönen oder spricht sein Mißfallen aus. Alle Augen folgen dem kleinen, unscheinbaren Männchen im schlechten Oberrocke, das sich während der Darstellung so auffalende Freiheiten herausnimmt. Einige lachen ihm in's Gesicht, andere, welche er im Genusse störte, werden ärgerlich. Schon spricht man davon, den Störefried zum Theater hinaus zu werfen, der es wagt, in der Vorstellung einer Oper Mozart's einen solchen Lärmen zu machen. Er merkt nichts, hört nichts als die Sänger und das Orchester. Endlich kam es zu Pedrillo's Arie. »Frisch zum Kampfe, frisch zum Streite etc.« Die Direction hatte entweder eine unrichtige Partitur, oder fehlten die Musiker, genug, die zweiten Violinen griffen bei den Worten: »Nur ein feiger Tropf versagt,« jedes MalDis statt D. Hier konnte Mozart sich nicht länger halten; er rief in seiner, freilich nicht sehr verzierten Sprache aus Leibeskräften: »Verflucht! wollt ihr D greifen?« Alles sah sich um, auch mehrere aus dem Orchester wollten wissen, wer sie so schonungslos angeredet hatte. Einige Musiker erkannten den Mann in dem alten Ueberrocke. Die Nachricht von seiner Anwesenheit verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch das ganze Theater, und vom Orchester auf die Bühne, wo sie große Unruhe verbreitet. Die Sängerin, welche die Rolle Blondinens hat, erklärte, daß sie nicht weiter singe, indem sie eine plötzliche Unpäßlichkeit vorschützt. Als die Nachricht an den Musikdirector gelangt, weiß dieser sich nicht anders mehr aus seiner Verlegenheit zu helfen, als daß er sich an den Urheber der ganzen Unordnung wendet, welcher unterdessen bis in seine Nähe vorgedrungen ist. In einem Augenblicke ist Mozart hinter den Coulissen und tritt mit den Worten zu der eingeschüchterten Sängerin: »Madame, was treiben Sie für Zeug? Sie haben herrlich, vortrefflich gesungen, und damit Sie's ein andermal noch besser singen, [199] will ich die Rolle mit Ihnen einstudiren.« Dieses Compliment sammt dem Versprechen befreite die Musikfreunde aus der Gefahr, die ihnen drohte.

Den folgenden Tag sprach man in Berlin von nichts, als von der Veranlassung, welche beinahe die Vorstellung unterbrochen hätte. Mozart ist hier, hieß es überall. Er wurde bei Hofe vorgestellt und von dem Könige Friedrich Wilhelm II. äußerst gnädig aufgenommen. Dieser Fürst schätzte und bezahlte nicht nur die Musiker ungemein, sondern war, wenn auch nicht tiefer Kenner, doch geschmackvoller Liebhaber, und es hätte, wie man sagt, nur von Mozart abgehangen, das außerordentliche Wohlwollen zu benützen, welches er ihm zu Theil werden ließ. Es verging fast kein Tag, an welchem er nicht in die Gemächer des Königs gerufen wurde, wo er entweder allein spielen oder mit einigen Mitgliedern der Hofcapelle Quartetts vorzutragen hatte. Friedrich Wilhelm wünschte seine Meinung über diese Capelle, eine der ersten in Europa, zu hören. Mozart erwiderte: »Sie hat die größte Sammlung von Virtuosen in der Welt; auch Quartett habe ich nirgends so gehört, als hier; aber wenn die Herren alle beisammen sind, könnten sie es noch besser machen.« Der König freute sich über seine Aufrichtigkeit und sagte ihm lächelnd: »Bleiben Sie bei mir, Sie können es dahin bringen, daß sie es noch besser machen! Ich biete Ihnen jährlich dreitausend Thaler Gehalt an.« Dreitausend Thaler für einen, der nicht mehr als achthundert Gulden sicheres Einkommen hatte. Ueberdieß sprach sich in den Worten des Königs die Absicht deutlich aus, daß er ihm die Stelle eines ersten Capellmeisters zu geben beabsichtige. Endlich sollte er die seiner würdige Stellung erlangen, um die er sich so lange und stets vergeblich bemüht hatte. Man kann es fast nicht begreifen, wie Mozart auf ein eben so verführerisches als [200] ehrenvolles Anerbieten mit Rührung erwidern konnte: »Kann ich meinen guten Kaiser verlassen?« Der König, welcher seine Verhältnisse in Wien wohl kannte, wurde bei dieser Antwort ebenfalls gerührt, und setzte nach einer Pause hinzu: »Ueberlegen Sie sich die Sache; ich halte mein Wort, auch wenn Sie in Jahr und Tag erst kommen sollten.« Mozart kam aber nicht.

Das Wahre kann zuweilen nicht wahrscheinlich klingen. Was sollen wir von dieser Unterhaltung denken? Sie als wahr anzunehmen, wäre schwer; sie für eine reine Erfindung zu halten, wäre es vielleicht noch mehr. Erwägen wir einmal, was Mozart durch seine freie Wahl sich erhielt und was er zum Opfer brachte.

In Wien mußte er Unterricht geben, für Musikverleger, ja für den Ersten Besten, dem es in den Sinn kam, ein Lied oder einen Walzer zu bestellen, also förmlich in der Frohne arbeiten. – In Berlin konnte er alle diese elenden Aushilfsmittel, die für einen musikalischen Gewerbsmann, aber nicht für einen Künstler, wie er, passend waren, gegen eine ehrenvolle Stellung und einen Gehalt nebst Nebeneinkünften vertauschen, welche seine Einnahmen sogleich verdreifacht haben würden. – In Wien mußte er Jedermann zu Diensten stehen, und seufzend über seine Sklaverei, in den, dem Schlafe abgebrochenen Stunden, die Zeit einbringen, welche er den Tag über zum Broderwerbe auf die traurigste Art von der Welt hatte verwenden müssen. – In Berlin hätte er keinen andern Herrn als den König, seinen Wohlthäter, gehabt; keine anderen Pflichten, als solche, welche mit seinem hohen Berufe und seinen Neigungen übereingestimmt haben würden; keine anderen Befehle auszuführen gehabt, als Meisterwerke zu schreiben, was er auch ohne Befehl von selbst gethan haben würde. – In Wien waren seine dramatischen Werke ganz in den Händen einer[201] nie ruhenden Cabale, die unumschränkt über sämmtliche materielle Hilfsmittel des Theaters, über das Orchester und die Sänger verfügte. – In Berlin sicherte eine Gesellschaft von Gesangs- und Instrumentalkünstlern, deren oberste Direction er erhalten sollte, denselben Werken die glänzendste und best verstandene Ausführung. – In Wien war, wie ihm wohlbekannt, die Meinung des Publicums über ihn sehr getheilt, weil die Leute, welche den musikalischen Ton in der Gesellschaft angaben, alle seine Feinde, Neider und Lästerer waren. – In Berlin konnte er selbst den Commandostab schwingen, selbst den Ton bei einem Publicum angeben, das aufgeklärter, überlegter und reifer für seine Entwürfe war, als dasjenige, welches Cosa rara einem Don Juan vorzog. – Mit einem Worte, in Wien war er arm, abhängig, erniedrigt, verfolgt und mißkannt; in Berlin dagegen wäre er reich, mächtig, frei von jeder seiner nicht würdigen Beschäftigung, anerkannt, bewundert, geehrt und stets gegen jede Cabale und allen Neid, wenn diese je zum Vorscheine zu kommen gewagt hätten, geschützt gewesen.

Konnte unter solchen Umständen von einem Schwanken in der Wahl die Rede sein? Man müßte geradezu an seinem Verstände zweifeln, wenn er, zwischen allem erdenklichen Elende auf einer Seite und einer vollkommen glücklichen Lage auf der andern, in der Wahl hätte verlegen sein können. Daß Mozart in dem Augenblicke, in welchem ihm der Vorschlag gemacht wurde, den Kaiser Joseph zu verlassen, sich mit Rührung der huldreichen Worte erinnerte, die dieser schon an ihn gerichtet hatte, war bei seinem weichen und gefühlvollen Herzen ganz natürlich. Allein sollte durch diese Kundgebung seiner Empfindung nicht Alles, was dieser Fürst für ihn gethan hatte, der ihn nur als Ueberzähligen in seiner Capelle beibehielt, und ihm unter einem Titelchen[202] ohne Functionen ein Almosen ausgeworfen hatte, ausgeglichen worden sein? Der Kaiser hatte der Aufführung des Figaro und Don Juan angewohnt und Beifall gezollt36, aber dennoch blieben die Italiener im Besitze der ersten Stellen, in einer deutschen Stadt, in der sich kein Platz für Mozart fand. Und Mozart sollte dem freigebigen Monarchen, der ein lange geübtes Unrecht und die Tücke, mit welcher ihn das Schicksal verfolgte, gut machen wollte, ein Nein geantwortet haben? Der Künstler und Familienvater sollte seinen künftigen Ruhm und das Wohl seiner Kinder so geopfert haben? Und wem hätte er beides zum Opfer gebracht? Offenbar nichts Anderem, als dem Vergnügen, gebackene Hähnel im Prater essen, und dem unschätzbaren Vortheile, seine Uhr nach der Stephanskircke richten zu können.

Dieselben Schlüsse, wie ich, werden ganz gewiß auch meine Leser ziehen, die wir uns sämmtlich für Leute von Verstand halten. Allein soviel ist ebenfalls gewiß, daß weder sie noch ich im Stande sind, einen Don Juan, oder die Ouverture zur Zauberflöte, oder das Requiem zu machen. Derjenige aber, der alles dieß gemacht hat, konnte aus eben diesem Grunde auch andere Schlüsse machen, und anders handeln wie wir. Was zuerst das Geld anbelangt, so hing es nur von Mozart ab, sich viel davon zu verschaffen, ohne erster Capellmeister des Königs von Preußen zu werden. Er durfte nur auf seine Kindheit zurückgehen und eine italienische Opernfabrik im Geschmacke des Zeitalters anlegen. Das Stück hätte ihm die Arbeit einer Woche gekostet, und der Absatz in ganz Europa wäre ungeheuer gewesen. Sein Ruf würde sich mit seinem Vermögen in gleichfortschreitendem Verhältnisse vermehrt haben; und der Vorrath seines Genies, dessen ungemeine [203] Verschwendung seine Lebensgeister sehr rasch erschöpfte, wäre dabei beinahe unberührt geblieben. Er wollte aber nicht37. Auf der andern Seite erscheint die Anhänglichkeit an einen Monarchen, dessen geborener Unterthan er nicht einmal war, und der ihm nicht einmal die wohlverdientesten Gnadenbezeugungen zukommen läßt, in den Augen eines practisch denkenden Menschen als ein schwaches Band, weil er durch das Verlassen dieses Fürsten an Ehre und Belohnung viel gewinnen konnte. Ich denke darüber ebenso; aber ich wiederhole nochmals, Mozart war, weit entfernt, kein practisch denkender Mensch. Er hatte für Kaiser Joseph eine Herzens-Zuneigung, er liebte ihn wie einen Freund. Warum hätte er seinem Freunde Joseph nicht ebenfalls ein Geldopfer bringen sollen, so gut wie jedem seiner anderen Freunde, so lange er noch einen Gulden in der Tasche hatte. Dazu kommt noch in Betracht, daß, wenn ihm der Kaiser auch wenig gab, er ihm wenigstens nichts nahm, während die anderen ihn scham- und mitleidslos ausplünderten. Und wer weiß, ob die Uhr von St. Stephan und der Prater nicht viel auf die Entschließungen eines Menschen einwirkten, der vom Practischen des Lebens so wenig verstand. Auch mochte die Atmosphäre einer lutherischen Stadt ihm nicht so gut behagen wie die der katholischen Stadt Wien. Die Sitten und Gewohnheiten der Wiener sagten in mehr als einer Hinsicht seinen Sitten und Gewohnheiten mehr zu, als der militairische und wissenschaftliche Ton, der in Berlin herrschte. Ein angenehmeres Klima, eine viel schönere Natur, der gemüthliche Menschenschlag; namentlich aber die hübschen, muntern Wienerinnen, die süße Macht der Gewohnheit, alles dieß zusammen konnte ihn wohl an einem Orte zurückhalten, wo seine höheren Interessen [204] allerdings möglichst tief verletzt wurden, der aber seinem Geschmacke vollkommen zusagte.

Es bleibt uns jetzt noch etwas Wesentliches zu prüfen übrig, nämlich das Zeugniß, auf welchem die Angabe dieser Unterhaltung zwischen Friedrich Wilhelm und Mozart beruht, und welches wir, als Biograph, weder verwerfen, noch als vollgültig annehmen dürfen. Unsere Autorität ist Herr v. Nissen, der im Namen seiner Frau spricht. Er sagt folgendes: »Der König erzählte nachher dieses Gespräch verschiedenen Personen, unter anderen auch der Gattin Mozart's selbst, als sie nach ihres Mannes Tode nach Berlin kam, und von dem Gönner ihres verstorbenen Mannes sehr ansehnlich unterstützt wurde.«

Es ist also die Wittwe Mozart selbst, welche behauptet, vom Könige eine Sache erfahren zu haben, welche derselbe schon mehreren Personen zuvor erzählt hatte. Wir haben keine Veranlassung, an der Wahrheitsliebe der Frau v. Nissen im Allgemeinen zu zweifeln, und wenn wir sie in der Folge auch einmal von der Wahrheit abweichen sehen, so ist dieß in einem Falle, in dem wir Alle uns von ihr entfernen, das heißt, wenn wir vor dem Publicum ein an und für sich unbedeutendes Unrecht zu verbergen haben. Hier lag es aber nicht im Interesse der Frau v. Nissen, Etwas zu erfinden. Im Gegentheile, die Ablehnung einer Anstellung mit dreitausend Thalern mußte der Mutter einer Familie, die nahezu darbte, völlig als Wahnsinn erscheinen. Wie hätte sie es überhaupt wagen können, einem Könige Worte in den Mund zu legen, welche tausend Zeugen zu widerlegen sich bemüht hätten? Bei Hofe erfährt man Alles, die Wände haben Ohren.

Nachdem der dänische Biograph die eben besprochene Unterredung erzählt hat, setzt er hinzu, daß Mozart später, man merke sich wohl, später, vom Kaiser Joseph aus freiem Antriebe, [205] wahrscheinlich, um unseren Helden für seine Ergebenheit mit der stets sichern Münze dramatischer Gerechtigkeit zu entschädigen, eine Stelle in seiner Capelle erhielt. Und was war das für eine Stelle? achthundert Gulden und nichts dafür zu thun. Hierauf folgt ein Brief, in welchem Mozart diese Ernennung seiner Schwester anzeigt. Der Brief ist vom August 1787 datirt, und die Unterredung, die uns so lange aufgehalten, fällt in das Jahr 1789. Ist es nicht für einen Geschichtschreiber ein Unglück, an den glänzendsten Stellen seiner Uebersicht mit der einfältigsten Chronologie in Widerspruch zu gerathen.

Unter vorliegenden Umständen bleibt mir nichts übrig, als den Leser zu bitten, das Für und Gegen zu erwägen, und selbst zu entscheiden, was er von obiger, so oft erwähnten Unterredung denken soll.

Quelle:
Alexander Ulibischeff: Mozart's Leben und Werke. Stuttgart 2[1859], S. 198-206.
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