2. Sippe: Torrea

[71] Eine folgende Familie, Phyllodocea, hat die Rücken-und Bauchfühlfäden blattartig erweitert. Ihr Körper ist sehr verlängert und aus zahlreichen Ringen, die ihr als Ruder dienen, zusammengesetzt. So zählt z.B. der Körper von Phyllodoce laminosa (Figur, S. 71) von den französischen und englischen Küsten gegen drei-bis vierhundert Ringe, und Quatrefages versichert, daß sie über 60 Centimeter lang würde. Rymer Jones hat Recht, wenn er sagt, daß sie mit unbeschreiblicher Eleganz schwimmt. Wie viele andere Raub-Anneliden liegt sie während des Tages ruhig in einem Verstecke. Erst mit der Dunkelheit macht sie sich hervor, um nach Beute umherzuschwimmen, wobei der ganze Körper horizontale Wellenbewegungen ausführt, unterstützt von den Rudern. Diese werden gestreckt und angezogen in jener Aufeinanderfolge, wie man sie an den Beinen der Tausendfüßer sieht, also in von hinten nach vorn laufenden Wellen. Indem nun alle diese in zierlichster Unruhe befindlichen Theile fortwährend ihre Stellung gegen das Licht ändern, geht über den im ganzen grünen Körper ein wundervolles Irisiren in Violett, Blau und Gold. Eine andere, an der sicilischen Küste lebende Gattung und Art, Torrea vitrea, ist so durchsichtig, daß man bei ihren Bewegungen im Wasser nur ihre Augen als zwei rothe Punkte und zwei Reihen violetter Punkte sieht, drüsenartige Organe am Grunde der Fußstummel. Wie vollkommene Gesichtswerkzeuge jene beiden Augen seien, davon überzeugte sich der oben genannte Pariser Naturforscher auf folgende überraschende Weise. Die Güte der Augen hängt unter anderem in erster Linie davon ab, daß der lichtbrechende Apparat, im menschlichen Auge Hornhaut, wässerige Flüssigkeit, Linse und Glaskörper, ein getreues, wirkliches Bild der Gegenstände entwerfe. Wenn man ein frisch ausgeschnittenes Ochsenauge, dessen hintere Fläche man vom Fett gereinigt hat, mit dieser Fläche sich zuwendet und das Licht auf dem gewöhnlichen Wege in dasselbe treten läßt, so sind in der That die vor uns liegenden Gegenstände, Bäume, Vorübergehende, im verkleinerten Maßstabe, aber umgekehrter Stellung auf der durchscheinenden Rückenwand des Auges abgebildet. Der Zoolog betrachtete mit dem Mikroskope das Auge der Torrea, und siehe, auf dessen Hintergrund projektirte sich das zierlichste und genaueste Bild eines Theiles der vor dem Fenster des Beobachters sich ausbreitenden Landschaft. Die eine Bedingung der Vollkommenheit des Gesichtsorganes war erfüllt und die andere Bedingung, eine Netzhaut zum Auffangen des Bildes und ein Nerv zur Uebermittelung des Eindruckes an das Gehirn, war auch da. Wir fügen hinzu, daß eine ähnliche Vollkommenheit dieser Organe für die meisten der freilebenden Rückenkiemer gilt.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 71-72.
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