Der Kreis der Würmer

[65] Eine neue Welt des Lebens thut sich vor uns auf, aber nur vor den Augen derjenigen, welche eifrig suchen. Das Vorhandensein der Säuger, Vögel, Fische, Insekten, theilweise auch der Krebse ist so aufdrängerisch, es ist so unmöglich, ihnen nicht zu begegnen, daß ihre Mannigfaltigkeit als etwas Selbstverständliches hingenommen wird. Der Name des Wurmes wird gebraucht, um etwas Verächtliches, Aermliches, nicht Beachtenswerthes zu bezeichnen, und jedermann denkt dabei an den sich hülflos im trockenen Staube krümmenden Regenwurm, wenn die aus dem täglichen Leben geschöpften Erfahrungen nicht etwa noch die nicht angenehme Erinnerung an Blutegel, eine Trichinenepidemie und finniges Fleisch mit sich bringen. Das sind unschöne, zum Theile widerliche Eindrücke, die man da empfängt; sie laden nicht gerade ein zu näherer Bekanntschaft.

Und doch, wie wir eben sagten, thut sich mit den Würmern dem Naturfreunde eine ganze neue Welt auf, welche an Mannigfaltigkeit des Baues, des Lebens, des Vorkommens die meisten größeren Abtheilungen des Thierreiches übertrifft, dort in der Einfachheit der Struktur und nach ihrer mikroskopischen Kleinheit an die Infusorien sich anschließend, hier den Weichthieren sich nähernd, hier wieder von den echten Gliederthieren nur schwer zu trennen. In der Tiefe des Meeres hausen die einen, am Ufer die anderen, andere in der Erde, einige steigen sogar auf die Gipfel der Bäume in den Tropenwäldern. Daß viele sich in die Eingeweide aller möglichen Thiere, leider auch des Menschen verirren, erweitert ihre geographische Verbreitung und macht ihre Uebersicht und systematische Bewältigung um vieles schwieriger. Wie haben sich doch seit Linné die Zeiten geändert! Damals lernte man, daß es sechs Thierklassen gäbe: Säuger, Vögel, Amphibien, Fische, Insekten und – Würmer. Was war nicht alles in diesen großen Topf »Würmer« hineingeworfen! Und wie sicher wußte man, daß die Würmer »ein Herz mit nur einer Kammer, ohne Vorkammer besäßen, kaltes, weißliches Blut und keine Fühlhörner, sondern bloß Fühlfäden«. Auf Regenwurm, Schnecke, Seestern, Polyp mußten jene Worte passen. Auch in dem System des großen Reformators der Thierkunde, Cuvier, sind die Würmer eine sehr verwundbare Stelle. Eine Abtheilung, die Gliederwürmer, deren Körper unverkennbar aus Ringeln zusammengesetzt ist, reihte er, und mit großem Rechte, an die Gliederthiere; die anderen, Eingeweidewürmer und dergleichen, verwies er zu den Strahlthieren, zu denen nur einzelne verborgene und höchst problematische Beziehungen obwalten.

Gegenwärtig handelt es sich nur darum, ob die Würmer mit den Gliederthieren zu einem großen Haufen zu vereinigen seien, oder ob sie eine selbständige Abtheilung, gleichwerthig mit den Wirbelthieren, Gliederthieren, zu bilden haben. Hat man zunächst die hoch entwickelten Würmer [65] im Auge, jene Fülle mit Borsten versehener Würmer, von denen wir im Regenwurme und dessen nächsten Verwandten sozusagen auf heimischer Erde einen schwachen Abglanz besitzen, die ihre eigentliche Entfaltung aber im Meere erhalten haben, so erscheint der unmittelbare Anschluß an die Gliederthiere natürlich. Cuvier und alle, welche ihm in diesem Punkte seiner Systematik folgten, waren im Rechte. Diese Gliederwürmer stehen aber in einem so unmittelbaren, untrennbaren Zusammenhange mit allen übrigen, nicht gegliederten, welche theilweise die Spuren einer niederen Organisation an sich tragen, daß in jenem Falle auch diese letzteren konsequenterweise mit den Gliederwürmern und durch sie mit den höchsten Gliederthieren in eine Reihe zu bringen sind. Zu diesem Schritte konnten sich die meisten Zoologen nicht entschließen. Sobald man sich indeß die in allen größeren Abtheilungen des Thierreiches zu machende Wahrnehmung vorhält, daß die Reihen von niedriger organisirten Wesen zu vollkommeneren aufsteigen, und ferner, daß die neueren Grundsätze und Theorien in der Wissenschaft die Ungleichheit verlangen und mit Erfolg erklären, so ist die innere Einheit einer Thierreihe, welche mit völlig ungegliederten Wesen beginnt, mit den gegliederten Würmern einen neuen Charakter annimmt und mit den höchst ausgebildeten Insekten diesen neuen Charakter und die ganze Erscheinung abschließt, eine Nothwendigkeit, welche auch in der Systematik ihren Ausdruck finden soll. Es müßte eigentlich für die Würmer und Gliederthiere in ihrer Zusammengehörigkeit ein neuer gemeinschaftlicher Name erfunden werden.

Ist man nun dieser Einheit eingedenk, so ist es jedenfalls erlaubt und der Uebersichtlichkeit halber zweckmäßig, neben den eigentlichen Gliederthieren einen Kreis oder Typus der Würmer bestehen zu lassen und für denselben einige charakteristische Merkmale hervorzusuchen.

Mit dem Worte Wurm verbindet jedermann die Vorstellung eines seitlich symmetrischen, mehr oder weniger gestreckten Körpers, welcher bald walzenförmig ist, wie beim Regenwurm, bald eine ausgeprägtere, platte Bauchseite hat, wie beim Egel, bald völlig platt ist, wie wir an den Bandwurmgliedern sehen. Im allgemeinen sind die Hautbedeckungen von weicher Beschaffenheit, und sehr allgemein sind wenigstens in einer gewissen Lebensperiode gewisse Stellen der Oberfläche mit Flimmerhärchen versehen. Der Mangel dieser mikroskopischen Organe bei allen Insekten, Spinnen, Tausendfüßern und Krebsen gegenüber den so reichlich damit ausgestatteten Würmern ist sehr bemerkenswerth. Unmittelbar mit der Haut pflegt ein zusammenhängender Schlauch der Quere und Länge nach sich kreuzender Muskeln verbunden zu sein. Die Zusammenziehungen des Körpers, die schlängelnden Schwimmbewegungen, die Bewegungen einzelner Körperabschnitte, z.B. der Hautstummeln, auf denen die Borsten stehen, werden von diesem Hautmuskelschlauche und seinen Theilen besorgt, und es beruht die Möglichkeit dieser Bewegungen darin, daß nicht, wie bei den Gliederthieren, die Hautbedeckungen zu einem Skelette verhornen. Daß ein Wurm keine Beine hat, mit diesem wichtigen Charakter ist auch der Laie befreundet. In Abwesenheit derselben schlängelt eben der Körper, einige Würmer mit horizontalen Wellenbiegungen, gleich den Schlangen, andere, z.B. die Egel, mit vertikalen. Auch bedienen sich viele Würmer beim Kriechen stummelartiger Hervorragungen der Haut und des Hautmuskelschlauches, in welche einzelne Borsten oder ganze Borstenbündel eingepflanzt sind. Endlich treten Saugnäpfe als Hülfsbewegungsorgane bei parasitischen und freilebenden Würmern auf.

Wenn der Wurmkörper eine Gliederung zeigt, so ist dieselbe von der der echten Gliederthiere dadurch wesentlich verschieden, daß diese Glieder gleichförmig (homonom) sind. Die anfänglich bei den Gliederthieren als gleichförmig auftretenden Segmente sind im fertigen Thiere sehr verschieden ausgebildet, nach dem Principe der Arbeitstheilung. Die niederige Stellung selbst des gegliederten Wurmes offenbart sich in der nicht oder weniger durchgeführten Arbeitstheilung und damit verbundenen Gleichförmigkeit der Körperglieder. Beim Insekt folgen hinter dem Kopfe die Brustsegmente, welche vorzugsweise die mächtigen Bein- und Flügelmuskeln beherbergen, und dann kommen jene Leibesglieder, in welchen der größte Theil des Darmkanales und die Fortpflanzungsorgane ihren Platz finden. Zu dieser scharf ausgeprägten Trennung in verschiedene Körperabschnitte [66] hat sich der Wurm nicht aufgeschwungen, oder noch richtiger müssen wir wohl sagen, soweit er sich dazu aufgeschwungen hat, ist er allmählich zum echten Gliederthiere geworden.

Das Nervensystem der höheren Würmer ist von demjenigen der Gliederthiere nicht zu unterscheiden, sobald man nur von jenem äußersten Zusammenziehen der Bauchganglienkette absieht, welche mit der Koncentration des Körpers bei Krabben, Spinnen usw. Hand in Hand geht. Zahlreiche niedere Würmer besitzen nur einen oder zwei Nervenknoten in der Nackengegend, mit zwei davon abgehenden, längs des Bauches verlaufenden Nerven. Die Sinneswerkzeuge, namentlich die Augen, sind in dem Maße entwickelt, wie die Lebensweise der betreffenden Würmer eine mehr oder weniger freie und umherschweifende ist. Wie bei den Höhlen bewohnenden Käfern und Krebsen eine Verkümmerung des Gesichtes Platz griff, haben auch die in das Innere anderer thierischen Organismen sich zurückziehenden Würmer mit dem Bedürfnis den normalen Bestand der Sinneswerkzeuge verloren.

Ueber den Verdauungsapparat aller Würmer zusammen ist kaum etwas zu sagen.

Manche parasitische Würmer sind gänzlich ohne Darm. Sie haben die Bequemlichkeit, nicht zu fressen zu brauchen und sich doch durch die unwillkürlich vor sich gehende Hautaufsaugung trefflich auf Kosten ihrer Wirte zu nähren. Andere niedere Würmer haben einen Darm gleich einem Beutel, andere wie ein Netz; bei denen, welche rasch verdauen und umsetzen, ist er schlank und kurz, die langsam verdauenden, welche auf einmal Massen von Nahrung aufnehmen, wie die Blutegel, haben entsprechende Magenerweiterungen, gleich Vorrathskammern. Gleichen Schritt mit der Entwickelung des Darmkanales hält das Blutgefäßsystem. An vielen höheren Würmern kann man es im Leben bis in die feineren Details beobachten. Man findet dann das meist röthlich gefärbte Blut in einige gröbere und viele feinere Adern eingeschlossen, und diese entweder vollkommene oder wenigstens relative Abgeschlossenheit des Gefäßsystems, in welchem die größeren Stämme an Stelle besonderer Herzen pulsiren, ist wiederum eine charakteristische Eigenthümlichkeit wenigstens dieser Gliederwürmer. Als Athmungsorgan dient bald die gesammte Hautoberfläche, bald finden sich an derselben kiemenartige Anhänge, bald sind gefäßartige innere Organe vorhanden, welche eine Vergleichung mit den Luftgefäßen der Insekten zulassen, indem sie das zur Athmung dienende Wasser tief in den Körper hinein leiten. Die komplicirtesten Fortpflanzungsorgane, gerade bei den niedrigeren Würmern verbreitet, wechseln mit sehr einfachen, und alle möglichen Formen der Fortpflanzung, Knospenbildung, Verwandlung, Entwickelung mit wechselnden Formen (Generationswechsel), Parasitismus vom Eie an bis zum Tode, Parasitismus im Alter bei freien Jugendzuständen, Parasitismus in der Jugend bei freier Lebensweise im Alter, Freiheit in allen Alterszuständen – alle diese Formen der Lebensweise und Entwickelung werden in buntester Mannigfaltigkeit an uns vorüberziehen.

Nach diesen Andeutungen kann es nicht Wunder nehmen, wenn man den Kreis der Würmer in fast ebensoviele Klassen zerspalten hat, als in den vorher gehenden Bänden des »Thierlebens« zusammen abgehandelt worden sind, und wenn wir innerhalb dieser Klassen weit größere Extreme antreffen als in dem Kreise der Wirbelthiere und der Gliederthiere. Welche Abweichungen und Umbildungen schon derjenige Parasitismus hervorbringt, welcher sich auf das Leben und Ansiedeln auf anderen Thieren beschränkt, haben die Schmarotzerkrebse genugsam gezeigt. Viel tiefere, den Bau und die Entwickelung treffende Veränderungen muß man also bei denjenigen Würmern erwarten, welche im Inneren ihrer Wirte in den verschiedensten Organen ihren Aufenthalt und ihre Nahrung finden. Man ist daher wohl geneigt, und auch die Thierkunde hatte diesen Weg eingeschlagen, anzunehmen, daß alle sogenannten Eingeweidewürmer eine zusammengehörige, abgeschlossene Klasse bildeten. Von dieser auf einseitiger Berücksichtigung des Aufenthaltes beruhenden Ansicht, bei welcher man sich schon großer Inkonsequenzen schuldig macht, ist die neuere Wissenschaft gänzlich zurückgekommen. Die Eingeweidewürmer sind unter einander so verschieden, wie die zeitlebens frei lebenden Würmer, und es bestehen noch viel zahlreichere Uebergangsformen[67] von den einen zu den anderen, als wir oben bei den Schmarotzerkrebsen und den übrigen freien Copepoden antrafen. Einer der neuesten und kenntnisreichsten Bearbeiter der Würmer, Dr. Ehlers, stellt nicht weniger als acht Klassen derselben auf. Wir werden von allen diesen Gruppen, und von einigen recht ausführlich, zu sprechen haben, ohne sie – in Uebereinstimmung mit anderen Zoologen – sämmtlich als Klassen zu behandeln. Soll uns ja hier die Systematik überhaupt mehr ein ordnender Führer durch die Windungen des Lebens und nicht selbst in ihren Einzelheiten Zweck sein.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 65-68.
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