Pieraas (Arenicola piscatorum)

[72] Mit dem Sandwurme (Pieraas, Arenicola piscatorum, Figur, S. 71) kommen wir zu einer sehr natürlichen, abgeschlossenen Familie, deren Glieder eine ähnliche Lebensweise führen wie die Glyceren. Die genannte Musterart war bis zu Lamarck als ein Regenwurm betrachtet worden. Unsere Abbildung zeigt, daß der Körper nach vorn stark zugespitzt ist, und daß er in drei Hauptabschnitte zerfällt. Er erreicht eine Länge von 22 Centimeter und variirt sehr in der Färbung; grünliche, gelbliche und röthliche Tinten herrschen vor, es gibt aber auch sehr helle und fast dunkelschwarze Individuen. Die Nüancen dieser Färbungen stehen im offenbaren Zusammenhange mit der Beschaffenheit des Aufenthaltes, indem die helle Varietät nur in fast reinem Sandboden, die schwarze in einem durch starke Beimischung organischer, sich zersetzender Stoffe fast schlammigen Boden [72] vorkommt. Ich fand diese dunkel gefärbten Sandwürmer mit einem Stiche ins Grün, z.B. in dem schlammigen Hafen von Nizza. Ueber den kleinen dreieckigen Kopf hervor kann der einem Becher gleichende Rüssel gestreckt werden. Die vorderen Körpersegmente tragen auf dem Rücken bloß die in Höcker eingepflanzten Borstenbündel, hinter welchen auf den dreizehn mittleren Segmenten die äußerst zierlich verzweigten Kiemenbäumchen stehen. Das letzte Drittel des Körpers ist ganz drehrund, ohne Kiemen und Fußhöcker.

Der Fischer-Sandwurm lebt fast an allen Küsten von Europa und von Grönland. An vielen sandigen Uferstrecken kommt er in ungeheueren Mengen vor, indem er die Zone liebt, welche bei der Ebbe bloßgelegt wird. Da die Fischer ihn gern als Köder benutzen, so wird ihm eifrig nachgestellt. Die Jagd ist zwar nicht schwierig, erfordert aber eine gewisse Kenntnis seiner Lebensgewohnheiten. Gleich den Regenwürmern verschlingt der Sandwurm große Mengen des Bodens, in dem er lebt, um damit die zu seiner Ernährung dienende organische Materie in den Magen zu bekommen.


Arenia fragilis. Natürliche Größe.
Arenia fragilis. Natürliche Größe.

Gleich den Regenwürmern kommt er an die Oberfläche, um sich des durch seinen Leib gegangenen Sandes zu entledigen. Diese Häufchen werden zu Verräthern des Wurmes, indem sie das eine Ende des Ganges bezeichnen. Derselbe biegt sich sehr tief in die Erde, und bei der geringsten Erschütterung versenkt sich in ihm der Sandwurm mit außerordentlicher Geschicklichkeit. Man muß also mit dem Haken zwischen die beiden Oeffnungen der Röhre möglichst tief eingehen und wirft den Sand häufig vergeblich auf. Aus seinem Verstecke herausgenommen, bewegt sich der Sandwurm sehr langsam. Er sondert dann eine reichliche, die ihn berührende Hand grüngelblich befleckende Flüssigkeit ab. Setzt man ihn auf Sand, so beginnt er sogleich, sich einzugraben. Er verfährt dabei folgendermaßen. Die vorderen Körperringe nehmen nach einander an Umfang ab, so daß jeder ganz in den nächst folgenden eingeschoben werden kann. Sind sie alle zurückgezogen, so erscheint das Vorderende abgestutzt; im anderen Falle bilden sie einen regelmäßigen Kegel, und damit ist der Bohrapparat hergestellt. Nachdem die Ringe eingezogen, stemmt der Wurm den Kopf gegen den Sand und öffnet sich durch kräftiges Vorstrecken des Kegels einen weiteren Weg. Da der so gewonnene Raum aber zu eng und der Entfaltung der Kiemen hinderlich sein würde, so wird er durch eine unmittelbar auf das Vorstecken erfolgende Anschwellung der Ringe erweitert. Nun rückt der Körper nach, und die einzelnen Arbeiten wiederholen sich. Während dieses Eindringens sondert der Vorderkörper eine kleberige Masse ab, durch welche die innerste Sandschicht zu einer zarten Röhre verkittet wird, die jedoch ausreicht, den Einsturz der Höhlung zu verhindern. Diese ist nun also so weit, um dem weder durch Sand noch Schlamm verunreinigten Wasser den Zutritt zu den Kiemen zu gestatten. Das Aufsteigen der Arenicola in der Röhre geschieht natürlich mit Hülfe der Borstenbündel.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 72-73.
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