[114] Als ich im Frühjahre 1852 zum ersten Male die dalmatinische Insel Lesina besuchte, um dort niedere Thiere, namentlich Würmer, zu studiren, führten mich die vom gleichen Interesse beseelten und schnell gefundenen Freunde Botteri und Boglich über die Berge hinab nach der Bucht von Socolizza, an deren Strand wir zahlreiches Gethier würden sammeln können. Schon mancher Stein war umgewendet, Nereïden und andere Borstenwürmer in die Gläser gewandert, neue mikroskopische Ausbeute stand für daheim in Aussicht, als ich etwa einen Fuß tief unter Wasser unter einem großen Steine ein intensiv grünes, wurmartig sich bewegendes Wesen bemerkte. Ich faßte schnell zu, der Stein wurde weggehoben, und mein vermeintlicher Wurm erwies sich als der mit zwei seitlichen Flügeln endigende Rüssel eines bis dahin von sehr wenigen Zoologen gesehenen Wurmes, der Bonellia viridis. In einem Becken erhielt ich ihn einen Tag am Leben, und wir konnten uns zuerst an den wunderlichen Bewegungen nicht satt sehen. Ein grüner Farbstoff, der sich dem Weingeiste, in dem man das Thier aufhebt, mittheilt, färbt Körper und Rüssel. Ersterer ist mit vielen kleinen Warzen bedeckt und der mannigfaltigsten Zusammenschnürungen und Einziehungen fähig, bald kugelig, bald eiförmig, dann wieder gleiten Wellenbewegungen von hinten nach vorn, wo sie sich in leichten Schwingungen dem Rüssel mittheilen. Dieser ist womöglich ein noch größerer Proteus als der Körper, indem er von einigen Centimetern sich bei den größeren Exemplaren (von etwa 8 Centimetern Körperlänge) auf ein halbes Meter und darüber ausdehnen kann. Die Mundöffnung an unserem Wurme ist am Grunde des Rüssels, die Afteröffnung am Hinterende. Charakteristisch sind auch noch zwei kurze, starke Borsten unweit des Vorderendes.

Mehr als sich ausstrecken und zusammenziehen that meine Bonellia nicht, und auch die Zoologen, welche sie gründlicher beobachtet und zergliedert haben, berichten nichts weiter von ihren Thaten. Es hat sich später gezeigt, daß sie an dem Strande von Socolizza eines der gemeinsten Thiere ist; sie liebt aber nicht das volle Tageslicht, sondern die Morgendämmerung. Man findet sie aber jederzeit, wenn man in dem mit Sand gemischten Gerölle einen halben bis einen Fuß tief gräbt. Wir kennen nun ihr Vorkommen von Fiume bis zu den Balearischen Inseln.

Sie ist eines von den wurmartigen Thieren, über deren systematische Stellung man lange zweifelhaft war. Ihre derbe, lederartige Haut, einige Organisationsverhältnisse, die Fähigkeit, sich außerordentlich zusammenzuziehen oder gar den rüsselartigen Vordertheil ganz einzuziehen, erinnern so deutlich an gewisse Stachelhäuter, die Holothurien, daß sie eine vermittelnde Stellung zwischen diesen und den Würmern einnehmen. Und wenn wir sie als eine Ordnung den echten Gliederwürmern anreihen, so kann dies nur geschehen, weil bei einzelnen eine oberflächliche Ringelung der [114] Haut diese Bezeichnung allenfalls zuläßt. Im übrigen sind sie, wie schon ihre sonderbaren Gestalten zeigen, sehr aparte Geschöpfe. Sie leben sämmtlich in größter Zurückgezogenheit, machen, so weit man dahinter gekommen, auffallende Verwandlungen durch und werden selbst von den meisten Küstenbewohnern ihres Stillebens halber und weil sie völlig ohne Nutzen und Schaden sind, übersehen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 114-115.
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