[326] Wenn die Bewohner des Binnenlandes mit dem Worte »Schnecke« sogleich die Vorstellung eines auf breiter Sohle kriechenden, mit deutlichem Kopfe ausgestatteten Weichthieres verbinden, so sind wir durch das Vorangegangene schon vorbereitet, diese von den sogenannten typischen Formen entlehnte Vorstellung mannigfach modificiren zu müssen. Wir wissen, daß das Thierreich und seine einzelnen Abtheilungen nicht nach einem fertigen Schema geschaffen sind, sondern daß Uebergänge vom Niedrigeren zum Höheren, vom Unentwickelten zum Entwickelten stattfanden, und daß es mehr oder weniger von der Willkür des Betrachters abhängt, welche Stufe in diesem Formenreichthume er festhalten will, um daraus gewisse Merkmale zu gewinnen, nach denen man jene größeren Abtheilungen, die Klassen z.B., zu charakterisiren versucht, während in der Wirklichkeit nichts stabil ist und fast ebensoviele Ausnahmen als Regeln zu sein scheinen.

Eine solche die Regel Lügen strafende Ausnahme sind nun auch die sogenannten Flossenfüßer oder Ruderschnecken, »an Kopf, Fühlern, Fuß, meist an den Kiemen und oft auch am Mantel noch unausgebildete Kriechschnecken«, wie Bronn sie bezeichnet. Wer muß dabei nicht an [326] das Messer ohne Klinge, welchem der Griff fehlte, denken! Wenn wir uns den Schneckenkopf als einen durch Mund und Lippen, Fühler und Augen kenntlichen, äußerlich hervortretenden, oft ganz deutlich von einem Halse abgesetzten Körpertheil vergegenwärtigen, so trifft diese Eigenthümlichkeit für die neue Ordnung nicht mehr. Nur die Mundöffnung gibt die Stelle an, wo der Kopf beginnen sollte; auch zwei oder vier unvollständige Fühler dienen zur Orientirung. Eine im einzelnen durchgeführte Vergleichung der inneren Organe mit den gleichnamigen Theilen der anderen Ordnungen zeigt überall die gesuchten Anknüpfungspunkte; etwas wesentlich Neues sind aber die seitlichen flügelförmigen oder flossenförmigen Anhänge, welche bald am vordersten Kopftheile des Körpers, bald etwas weiter rückwärts in der Gegend entspringen, welche dem Halse der übrigen Schnecken entspricht. Es sind dünne häutige Lappen, von sich kreuzenden Muskelfasern durchzogen, welche wie die Flügel der Schmetterlinge auf und nieder, häufig auch fast ebenso schnell bewegt werden können und ihren Trägern bei den Fischern des Mittelmeeres den treffenden Namen Farfalle di mare (Seeschmetterlinge) verschafft haben.

Wir erwähnen für ihre allgemeine Charakteristik nur noch, daß sie im Baue ihrer Fortpflanzungsorgane sich eng an die Zwitterschnecken anschließen, und daß ihre zarte Körperbeschaffenheit und ihre Flossen sie auf das offene Meer weisen. Wie sie sich dort geberden, soll erst unten, nachdem wir einzelne kennen gelernt, zusammengefaßt werden oder auch bei der Beschreibung der Arten kommen. Unser Führer wird, wie bei den Kielfüßern, hauptsächlich Gegenbaur sein, dem wir meist wörtlich folgen.


Hyalea tridentata. Natürliche Größe.
Hyalea tridentata. Natürliche Größe.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 326-327.
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