Sprachmeister (Hypolais polyglotta)

[199] In Südeuropa, von Portugal an bis Dalmatien, wie in Nordwestafrika wird der Gartensänger durch den etwas kleineren und lebhafter gefärbten Sprachmeister (Hypolais polyglotta, Sylvia und Ficedula polyglotta) vertreten, welcher sich außer den angegebenen Merkmalen noch dadurch von ihm unterscheidet, daß die dritte und vierte Schwinge, nicht die dritte allein, die längste ist. Die Länge beträgt einhundertsiebenunddreißig, die Breite zweihundert, die Fittiglänge achtundsechzig, die Schwanzlänge fünfundfunfzig Millimeter.

Unter seinen Verwandten ist der Gartensänger der weichlichste und zärtlichste. Er erscheint bei uns zu Lande erst, wenn alle Bäume sich belaubt haben, niemals vor Ende des April, und verweilt in Deutschland höchstens bis zu Ende des August. Den Winter verbringt er in Afrika. Er wohnt gern in unmittelbarer Nähe des Menschen, bevorzugt Gärten und Obstpflanzungen dem Walde, bevölkert mehr die Ränder als die Mitte desselben, fehlt im Nadelwalde gänzlich und steigt auch im Gebirge nicht hoch empor. Gärten mit Hecken und Gebüschen, in denen Hollunder-, Flieder-, Hartriegel- und ähnliche Gesträuche dichte und nicht allzuniedrige Bestände bilden, oder Obstpflanzungen, welche von Hecken eingefaßt werden, beherbergen ihn regelmäßig.

Sein Gebiet wählt er mit Sorgfalt aus; hat er aber einmal von ihm Besitz genommen, so hält er mit Hartnäckigkeit an ihm fest und kehrt alle Sommer zu ihm zurück, so lange er lebt. Wir haben einen, welchen wir wegen seines wenig ausgezeichneten Gesanges halber »den [199] Stümper« nannten, sieben Jahre nach einander in einem und demselben Garten beobachtet. Im Laufe des Tages ist er bald hier bald dort, so lange ihn nicht die Sorge um das brütende Weibchen oder um die Brut selbst an eine bestimmte Stelle fesselt. Gewöhnlich hüpft er in dichten Bäumen umher, immer möglichst verborgen, und es kann geschehen, daß man viele Minuten lang ihn vergeblich mit dem Auge sucht, trotzdem er sich beständig hören läßt. Gewisse Bäume, gewöhnlich die höchsten und belaubtesten seines Wohnraumes, werden zu Lieblingsplätzen; sie besucht er täglich mehrere Male, und auf ihnen verweilt er am längsten. Im Sitzen trägt er die Brust aufgerichtet; wenn er etwas auffälliges bemerkt, sträubt er die Scheitelfedern; im Hüpfen hält er sich wagerecht und streckt dabei den Hals vor. Der Flug ist rasch, gewandt und jäher Wendungen fähig. Auf den Boden herab kommt der Gartensänger selten. Nur während des Singens verweilt er längere Zeit an einer und derselben Stelle; sonst ist er, sozusagen, beständig auf der Wanderung begriffen. Die Lockstimme ist ein sanftes »Teck teck«, welchem ein wohllautendes »Terüt« angehängt wird, wenn besonderes Verlangen, Eifersucht oder Zorn, auch wohl drohende Gefahr ausgedrückt werden sollen; seinen Aerger oder vielleicht auch seine Kampfeslust pflegt er durch die Silben »Hettettett« kundzugeben.


Gartensänger (Hypolais icterina). 2/3 natürl. Größe.
Gartensänger (Hypolais icterina). 2/3 natürl. Größe.

Der Gesang spricht nicht jedermann an und wird deshalb verschieden beurtheilt; auch singt keineswegs ein Gartensänger wie der andere: dieser ist vielleicht ein ausgezeichneter Spötter, welcher die verschiedensten Laute der umwohnenden Vögel in seine Weise mischt, jener nur ein erbärmlicher Stümper, welcher bloß wenige wohllautende Töne vorträgt und die minder angenehmen gewissermaßen zur Hauptsache macht. Ich muß sagen, daß ich den Gesang ansprechend finde und die abgebrochenen und schwatzenden Laute über die herrlich flötenden vergesse. Er singt von der Morgendämmerung an bis gegen Mittag hin und abends bis zu Sonnenuntergange, am eifrigsten selbstverständlich, während das Weibchen brütet oder wenn ein [200] Nebenbuhler zum Kampfe auffordert, läßt sich auch so leicht nicht beirren, nicht einmal durch einen Fehlschuß zum Schweigen bringen, als wolle er, wie Naumann meint, »den mißlungenen Anschlag auf sein Leben aller Welt verkündigen oder den ungeschickten Schützen verhöhnen«. Zwei Männchen, welche neben einander wohnen, eifern sich gegenseitig nicht bloß zum Gesange an, sondern raufen sich auch sehr häufig. »Es darf sich«, sagt Naumann, »kein anderer seiner Art blicken lassen; er wird sogleich mit grimmigen Bissen verfolgt und sofort wieder aus dem Gebiete gejagt. Der Eindringling widersetzt sich aber meistens, und dann gibt es heftige Schlägereien, so daß man nicht selten ein Paar solcher Zänker, welche sich gepackt haben, im Streite zur Erde herabpurzeln, hierüber dann aber gewöhnlich erschreckt, plötzlich aus einander fahren, und nun einen jeden seinem Standorte zueilen sieht. Auch andere Vögel, welche um sie wohnen, necken und jagen sie gern.«

Die Hauptnahrung besteht aus Käferchen und anderen kleinen fliegenden Kerbthieren, welche von den Blättern abgelesen oder aus der Luft weggefangen werden. Deshalb sieht man ihn auch häufig in den Baumkronen umherflattern oder selbst über die schützenden Zweige hinausflattern. Wenn die Kirschen reif werden, besucht er die fruchtbeladenen Bäume und erlabt sich an dem weichen Fleische der süßen Früchte; wenn es Johannisbeeren gibt, erhebt er sich von ihnen seinen Zoll: irgendwie nennenswerthen Schaden richtet er hierdurch aber nicht an.

Ungestört brütet er nur einmal im Jahre und zwar zu Ende des Mai oder zu Anfang des Juni. Das Nest steht regelmäßig in dem dichtesten Busche seines Gebietes, am liebsten in Flieder-, Hasel-, Hartriegel-, Faulbaum-, selten oder nie in Dornen tragenden Büschen, nicht gerade verborgen, aber doch immer durch das Laub verdeckt und geschützt. Es ist ein sehr zierlicher, beutelförmiger Bau, dessen Außenwandung aus dürrem Grase und Queggenblättern, Bastfasern, Pflanzen- und Thierwolle, Birkenschalen, Raupengespinst, Papier und ähnlichen Stoffen äußerst kunstreich und dauerhaft zusammengefilzt, und dessen Inneres mit einigen Federn ausgepolstert und mit zarten Grashalmen und Pferdehaaren ausgelegt wird. Die vier bis sechs länglichen, siebzehn Millimeter langen, dreizehn Millimeter dicken Eier sind auf rosenrothem oder rosenroth-ölgrauem Grunde mit schwärzlichen oder rothbraunen Punkten und Aederchen gezeichnet. Männchen und Weibchen bebrüten sie wechselweise, zeitigen sie innerhalb dreizehn Tagen und füttern die ausgeschlüpften Jungen mit allerlei kleinen Kerbthieren auf.

Der Gartensänger zählt zu den hinfälligsten Stubenvögeln, verlangt die sorgsamste Pflege und ausgewählteste Nahrung, hält aber trotzdem, zum Kummer aller Liebhaber, selten längere Zeit im Käfige aus; doch kenne ich Beispiele, daß einzelne mehrere Jahre ausdauerten, fleißig sangen und leicht mauserten. Solche werden ungemein zahm und zu einer wahren Zierde des Gebauers.

Bei uns zu Lande verfolgt man den ebenso munteren als nützlichen Vogel nicht, schützt ihn eher, in einzelnen Gegenden unbedingt, und hat dadurch wesentlich beigetragen, daß er sich stetig vermehrt. Hauskatzen dürften seiner Brut gefährlich werden; ihn selbst sichert sein verstecktes Leben vor den meisten Nachstellungen der gewöhnlichen Feinde des Kleingeflügels, nicht aber vor den Netzen der auch ihm auflauernden Wälschen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 199-201.
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