Kreischraubmöve (Lestris crepidata)

[557] Ihre nächste Verwandte ist die Kreischraubmöve (Lestris crepidata, spinicauda, coprotheses, thuliaca, Richardsonii, Bojei, Schlegelii und Benickii, Larus crepidatus und cepphus, Stercorarius crepidatus, cepphus, spinicaudus, tephras, asiaticus und Richardsonii, Catarrhactes Richardsonii). Sie unterscheidet sich von der Schmarotzerraubmöve durch geringere Größe, kürzeren Schnabel und außerordentlich lange, gegen funfzehn Centimeter über die anderen Steuerfedern verlängerte und in feine Spitzen auslaufende Spießfedern. Auch ihr Kleid kann einförmig rußbraun oder dem der Schmarotzermöve täuschend ähnlich sein. Ihre Länge beträgt einschließlich der Spießfedern fünfundfunfzig, ohne sie vierzig, die Breite neunzig bis fünfundneunzig, die Fittiglänge dreiunddreißig, die Schwanzlänge dreißig, beziehentlich funfzehn Centimeter.

Selbst der ungeübte Beobachter wird die Schmarotzerraubmöve augenblicklich von jedem anderen ihm bekannten Vogel unterscheiden, am ersten, wenn er sie fliegen sieht. Ihr Gang ist zwar sehr hurtig, hat aber nichts besonderes, und schwimmend ähnelt sie, abgesehen von der dunkleren Färbung, den kleineren Möven sehr; im Fluge aber unterscheidet sie sich nicht nur von diesen, sondern in gewisser Hinsicht auch von ihren Verwandten. Naumann sagt mit Recht, daß ihr Flug einer der merkwürdigsten und veränderlichsten in der ganzen Vogelwelt sei. Oft fliegt sie längere Zeit wie ein Falk dahin, bald langsam die Flügel bewegend, bald wieder auf weitere Strecken hinschwebend, bald wiederum mit ziemlich steil aufgerichtetem Leibe nach Art eines Thurmfalken rüttelnd, so daß man sie, von fern gesehen, wohl mit einem Weih verwechseln kann; plötzlich aber zittert oder wedelt sie ungemein hastig mit den Flügeln, stürzt sich in einem Bogen hernieder, steigt wieder aufwärts, bildet eine schlängelnde Linie, welche aus größeren und kleineren Bogen zusammengesetzt wird, schießt mit rasender Eile nach unten, fliegt langsam wieder nach oben, erscheint in dem einen Augenblicke matt und schlaff, in dem anderen »wie vom bösen Geiste besessen«: dreht und wendet sich, zappelt und flattert, kurz, führt die wechselvollsten und mannigfachsten Bewegungen aus. Ihr Geschrei klingt dem des Pfaues ähnlich, also etwa wie ein »Mau«, laut und gellend; während der Liebeszeit aber vernimmt man sonderbare Töne, welche man fast einen Gesang nennen möchte, obgleich sie nur aus der einfachen, obschon sehr verschieden betonten Silbe »Je, je« bestehen. Das geistige Wesen kommt mit dem der Skua in vieler Hinsicht überein: im Verhältnisse zu ihrer Größe ist die Schmarotzerraubmöve ebenso dreist, zudringlich, muthig, neidisch, hab- und raubgierig wie jene. Nur in einer Hinsicht scheint sie sich zu unterscheiden: sie liebt Geselligkeit mit anderen ihrer Art. Außer der Brutzeit sieht man sie öfters zu kleinen Gesellschaften vereinigt, während derselben, im Gegensatze zu Verwandten, paarweise so getrennt, daß jedes einzelne Pärchen ein gewisses Gebiet bewohnt. Von den kleineren Möven wird sie ebenso gefürchtet wie die Skua von größeren Seefliegern; auffallenderweise aber nisten Brachvögel, Schnepfen und Austerfischer oder Sturmmöven regelmäßig mit ihr auf einer und derselben Moorfläche.

Auf den Lofoten wie in der Tundra der Samojedenhalbinsel habe ich die Schmarotzerraubmöve wochenlang tagtäglich beobachtet und dabei bemerkt, daß sie während des Hochsommers in der Nacht ebenso thätig ist als bei Tage. Oft schien es mir, als ob sie sich stundenlang mit Kerbthierfangen beschäftigte; trotzdem fand ich in den Magen der von mir erlegten nur kleine Fische und Lemminge. Als Nesterplünderer habe ich sie nicht kennen gelernt; dagegen verfolgte auch sie die Sturmmöven beständig und zwang diese, ihr die eben gefangene Beute abzutreten. Seeschwalben und Lummen [557] sollen noch mehr von ihr geplagt werden als die Möven. Demungeachtet bildet die erpreßte Beute schwerlich den Haupttheil der Nahrung einer Schmarotzerraubmöve, wie man wohl glauben möchte; denn ebenso oft, als man sie bei der Verfolgung anderer Vögel beobachtet, sieht man sie über dem Moore oder am Strande des Meeres beschäftigt, dort auf Lemminge jagend oder allerlei Gewürm und Beeren, hier das von den Wellen an den Strand geworfene Seegethier auflesend.

Um die Mitte des Mai erscheint auch die Schmarotzerraubmöve auf dem Festlande, und zwar in der Tundra, um zu brüten. Auf einem größeren Moore kann man funfzig bis hundert Paare bemerken; jedes einzelne aber hat sich ein bestimmtes Gebiet abgegrenzt und vertheidigt es gegen andere derselben Art. Das Nest steht auf einem Hügelchen im Moore und ist eine einfache, aber wohl ausgeglättete Vertiefung in der Spitze desselben. Die Eier, welche man selten vor Mitte des Juni findet, erinnern entfernt an die gewisser Schnepfenvögel, sind durchschnittlich etwa fünfundfunfzig Millimeter lang, zweiundvierzig Millimeter dick, feinkörnig, schwach glänzend und auf trüb öl- oder braungrünem Grunde mit düstergrauen und dunkelöl- oder röthlichschwarzbraunen Klexen und Punkten, Schlingen und seinen Haarzügen gezeichnet. Naumann sagt, daß die Schmarotzermöve nie mehr als zwei Eier lege, während ich versichern darf, wiederholt deren drei in einem Neste gefunden zu haben. Beide Gatten brüten abwechselnd und zeigen die lebhafteste Besorgnis, wenn ein Mensch dem Neste naht, kommen schon von weitem dem Störenfriede entgegen, umfliegen ihn im Kreise, werfen sich auf den Boden herab, suchen die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nehmen zu Verstellungskünsten ihre Zuflucht, hüpfen und flattern unter sonderbarem Zischen auf dem Boden fort, fliegen, wenn man an sie herangeht, auf, beginnen aber sofort das alte Spiel von neuem; so kühn sind sie jedoch nicht wie die größeren Arten ihrer Familie, wenigstens habe ich nie erfahren, daß sich eines der von mir beobachteten Pärchen dreister gezeigt hätte als die etwa gleichgroßen Sturmmöven. Dagegen verfolgen sie Raubvögel mit Todesverachtung und treiben selbst den Wanderfalken in die Flucht. Das Jugendleben der netten Küchlein verläuft in ähnlicher Weise wie bei den verwandten Arten.

Der Norman ist zwar kein besonderer Freund der Schmarotzerraubmöve, läßt sie aber unbehelligt, wenn auch wohl nur deshalb, weil er durch ihre Jagd am Brutplatze die anderen ihm nützlichen Vögel nicht stören will. Ihre Eier werden ebenso gern gegessen wie die der Möven, stehen diesen auch an Wohlgeschmack nicht nach. Nur die Lappen jagen den Vogel, um sein Wildpret zu benutzen, und zwar mit Angeln, welche durch ein Stückchen Fisch oder Vogelfleisch geködert werden. Der Naturforscher erlegt sie am leichtesten in der Nähe des Nestes oder in der Fremde, beispielsweise also bei uns in Mitteldeutschland, auf dem Meere dagegen nicht ohne vorhergehende Lockung; wenigstens habe ich sie in Norwegen immer vorsichtig gefunden. Naumann erzählt, daß einer seiner Freunde eine Schmarotzermöve anschoß und zu seinem größten Befremden von dem Vogel angegriffen, wenigstens in sehr engem Kreise tollkühn umflogen wurde. Ich habe etwas ähnliches nie beobachtet. Ueber ihr Gefangenleben sind mir keine Mittheilungen bekannt.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 557-558.
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