1. Heirath.

[69] Ich war von Natur mit einem eben sowohl für weibliche Reize als für weibliche Würde sehr empfänglichen Sinne begabt und diese in meiner psychischen Complexion gegründete Hinneigung zum andern Geschlechte war von meiner frühesten Jugend an durch die Verhältnisse genährt worden. Ich mußte sehr bald den hohen geistigen und sittlichen Werth meiner guten Mutter erkennen, die im Kampfe mit der Armuth sich frisch und von aller Gemeinheit frei erhielt, nur in geistiger Beschäftigung und im Wohlthun die Freude ihres Lebens fand, für mich kein Opfer scheute und am Wohle ihrer Freunde den wärmsten Antheil nehmend, dasselbe auf alle ihr mögliche Weise zu fördern sich bemühte. Eben so flößten mir die Matronen, denen ich für ihr Wohlwollen Dank schuldig war, hohe Achtung ihres Charakters ein: in meiner vormaligen Amme erschien mir ein Muster von unermüdlicher und einsichtsvoller Thätigkeit, von hoher Ordnung und Anständigkeit; dem harten und rauhen Großvater gegenüber stand meine sanfte, wohlwollende, den eigenen Druck still ertragende und den fremden überall zu milde sich bemühende Großmutter; und neben dem steifen, überall[69] den kaufmännischen Sinn bekundenden Herrn Schindler erblickte ich dessen geistvolle, liebreiche Gattin als das wahrhaft belebende Princip des Hauses. So keimte die hohe Achtung für ächte Weiblichkeit in mir auf, welche ich stets behalten und z.B. bei der Charakterschilderung der Geschlechter in meiner Physiologie ausgesprochen habe. Andrerseits wurde ich als Knabe von mehreren jungen Frauen, die sich mit mir unterhielten und mich zu ihrer Kurzweil als ihren Liebhaber betrachteten, an diese Rolle so gewöhnt, daß ich sie auch späterhin zu spielen geneigt blieb und ein freundliches Entgegenkommen als eine Aufforderung betrachtete, welcher zu entsprechen ich für eine Ehrensache und angenehme Pflicht hielt.

Eine ernstere Liebe entwickelte sich in mir um die Zeit, als ich daran denken mußte, eine selbstständige Stellung im Leben einzunehmen. Der russische Collegienassessor Hager aus Chemnitz, welcher, bestimmt eine Thierarzneischule in Rußland zu errichten, in Wien die Thierarzneikunst studirt und daselbst mit der Tochter des Gastwirths Pichler auf dem Leopoldsberge sich verheirathet hatte, kam im Herbste 1797, an der Lungensucht leidend, nach Leipzig, wurde von dessen Jugendfreunde, dem Professor Hübner, in einer Gartenwohnung, die ich mit diesem gemeinschaftlich inne gehabt hatte, einquartirt und starb nach wenigen Wochen. Hübner verschaffte der jungen Wittwe mit ihrem halbjährigen Kinde eine Wohnung bei seiner Hauswirthin und meine Mutter machte ihre Bekanntschaft, zunächst aus rein menschlicher Theilnahme an ihrem Schicksale, sah sie, um sie aufzuheitern, öfters bei sich, gewann sie mit jedem Tage mehr lieb und wurde bald ihre warme Freundin. Madame Hager war recht hübsch, bewies viel gesunden Verstand, warmes Gefühl und einen festen, ehrenwerthen Charakter; unter Anderem bezahlte sie von der geringen Verlassenschaft ihres verstorbenen Mannes alle Schulden desselben, ungeachtet man ihr vorstellte, daß sie nicht dazu verpflichtet sei. So wuchs denn unsere Achtung gegen sie, und da sie hierbei sich in unserem Hause sehr wohl fühlte, so erwachte bald ihre muntere Laune und ihre liebenswürdige Wienerische Naivetät gab dem Umgange[70] mit ihr großen Reiz. Ihr Kind erkrankte und ich war so glücklich, es herzustellen, sowie mir den lebhaftesten Dank seiner liebenswürdigen Mutter zu erwerben. Indeß machte ihr Hübner den Hof und fühlte sich sehr verletzt, als seine Bemühung ungünstig aufgenommen wurde; andererseits bemerkte seine Hauswirthin, ebenfalls eine junge Wittwe, feine Bewerbungen mit großem Mißfallen und suchte nun dem Gegenstande ihrer Eifersucht das Leben möglichst zu verbittern. Da schlug sich meine Mutter ins Mittel und nahm die Fremde, die ihr so werth geworden war, zu sich, um sie von diesen Quälereien zu befreien, und ich war damit ganz einverstanden. Indeß hörten die Anfeindungen von Seiten des verschmähten Liebhabers und der eifersüchtigen Dame nicht auf, ja es kam selbst noch Bigoterie hinzu, indem unsere Hauswirthin darüber aufgebracht war, daß wir eine Katholikin in ihr unbefleckt lutherisches Haus aufgenommen hatten. Ich mußte nun als Beschützer der Angefeindeten auftreten und hielt mich zugleich für verpflichtet, Alles aufzubieten, um ihr Leben zu erheitern. Da war es denn aber auch um mein Herz geschehen: ihr Charakter hatte mir Achtung abgenöthigt, die Annehmlichkeit ihres Umganges hatte mich angezogen und gegen ihre körperlichen Reize konnte ich auch nicht unempfänglich sein; das erhebende Gefühl, ihr Beschützer zu sein, hatte mein Interesse für sie erhöht und ihr Dank war so schmeichelhaft. Es war Weihnachten 1797, als ich ihr meine Liebe erklärte; daß die junge Wittwe den nicht übel aussehenden und auch Aussichten gewährenden Burschen, den sie von ganz guten Seiten hatte kennen lernen und dem sie Dank schuldig war, nicht zurückwies, war natürlich, daß aber die herzlichste Liebe daraus sich entwickelte, ist gewiß. Ich war hoch beglückt und sie war sicher auch recht zufrieden. In dieser Stimmung lebten wir denn heiter beisammen bis zum 19. Mai 1798, wo sie nach Wien zu ihren Eltern abreiste. Ich begleitete sie bis Borsdorf und gab ihr beim Abschiede (was ich erwähne, weil es theils charakteristisch ist, theils später bedeutungsvoll wurde) ein kleines Päckchen mit der Bitte, die darin enthaltene Chocolade an ihrem übermorgenden Geburtstage zu genießen, wobei sie mir[71] aber ihr Wort darauf geben mußte, das Packet nicht eher zu eröffnen. Sie hat, und ich war im Voraus davon überzeugt, ihr Wort gehalten. Sie betrachtet das Päckchen: es hat die Form von Chocoladentafeln, ja es riecht nach Chocolade, aber es ist doch nicht zu glauben, daß ich ihr zu solchem Tage, und noch dazu so geheimnißvoll, sollte Chocolade gegeben haben. Sie legt am 20sten Mai in Dresden beim Schlafengehen das mysteriöse Päckchen neben sich, erwacht in der ersten Dämmerung, verschiebt ihr Morgengebet, löst die Siegel und findet – Chocolade; wie gelähmt, sinkt sie auf ihr Lager zurück; aber solche Trivialität ist doch unmöglich; sie nimmt das Päckchen wieder, um es näher zu besehen, und siehe da! ein Gedicht; das ist recht artig und versöhnend, – aber die letzten Zeilen sind unverständlich; der Schlüssel dazu muß doch noch gesucht werden, und richtig wird er gefunden, indem die zwei Tafeln getrennt werden und ein in sie eingegraben gewesener Ring mit meinen Haaren, mit den vereinten Anfangsbuchstaben unserer Namen auf einem Schilde und innen mit dem Worte: Wiedervereinigung herausfällt.

Meiner Mutter hatte das Verhältniß nicht verborgen bleiben können, aber sie hatte dazu geschwiegen. Nur einmal ließ sie sich den Wunsch merken, daß es nicht zu einer Verbindung fürs Leben führen möge, da sie voraussehen konnte, wie sehr ich mir meine Laufbahn dadurch erschweren würde, und da sie in dieser Hinsicht wohl eine Schwiegertochter aus einem angesehenen und wohlhabenden Hause Leipzigs sich wünschen mochte. Doch sie schätzte meine Geliebte hoch, vertraute meinen Kräften und störte mich nicht durch Warnungen, von denen sie voraussehen konnte, daß sie nur schmerzlich sein und doch nicht befolgt werden würden. Sie wurde in der zweiten Hälfte des Mai von einem unregelmäßigen schleichenden Nervenfieber befallen. In dieser Zeit sagte sie einmal zu mir: »ob ich wohl den Todestag Deines Vaters erleben werde?« Zwei Tage war sie bettlägerig, dann besserte sich ihr Zustand; gleichwohl äußerte sie, sie könne einmal plötzlich sterben, während ihre beiden Aerzte mit mir jetzt an keine Gefahr mehr dachten. Am 3ten Juni[72] war sie, wie Tages zuvor, heiter und von dem früheren Schwindel und Kopfweh befreit, hatte nur etwas kurzen Athem, aß mit mir am Tische, ließ sich von mir ein Schauspiel vorlesen und theilte mir ihr Urtheil darüber mit. Als sie Abends zu Bette ging, nahm ihre Kurzathmigkeit zu und die mancherlei Mittel, die ich ihr dagegen gab, halfen nichts; endlich schlief sie nach elf Uhr ein, nachdem sie gesagt hatte, sie werde mich morgen recht früh wecken, damit ich bei Zeiten könne Kaffee machen lassen. Früh um drei Uhr weckte sie mich, da ich mein Lager an den Füßen ihres Bettes hatte und sagte mir, daß ich Kaffee bestellen solle. Ich stehe an ihrem Bette; da höre ich ein leises Rasseln auf ihrer Brust; ich rufe zur Thüre hinaus, daß Thee aufgegossen werden solle; wie ich wieder an ihr Bett trete, fängt ihr Auge an zu brechen: es währt keine Minute, und sie war entschlummert, ohne Röcheln, ohne Stöhnen, ohne das leiseste Zucken. Sie war am Todestage meines Vaters und in derselben Tagesstunde gestorben. Das war es unstreitig, was sie sich gewünscht hatte, und ihre lebhafte Phantasie, die Herrschaft ihres Geistes über den Körper hatte die Erfüllung dieses Wunsches vermittelt, während eine ungestörte Seelenruhe nichts davon ahnen ließ. Sie war mit demselben heitern Bewußtsein gestorben, wie mein Vater; aber als liebende Mutter hatte sie mich durch obige Aeußerungen auf ihren Tod vorbereiten und doch mir die Schmerzen eines Abschiedes ersparen wollen: war ja doch jeder Gedanke an mich ein Segen. Was mag sie wohl in ihrem letzten Schlafe geträumt haben?! – Indem ich meiner Geliebten schilderte, wie dieser Tod offenbar den Charakter des Ueberganges zu einem bessern Leben an sich trug, setzte ich hinzu: »was wären wir für jämmerliche Geschöpfe, wenn wir nur für diese Erdenwelt lebten und uns mit jedem Tage unserer gänzlichen Zerstörung näherten! Wenn diese fromme Dulderin mit solchem Heldenmuthe ihre Leiden bekämpft, ihre Freuden so willig für das Wohl Anderer aufgeopfert, ihren Geist so gebildet, ihr Herz so veredelt, alle ihre Pflichten so gewissenhaft erfüllt hätte, um – vernichtet zu werden, so möchte ich dies Leben nicht des kleinsten Wunsches mehr werth achten,[73] und wahrlich! das erste, beste Messer müßte mich von dieser verächtlichen Erde befreien. Nein, wir sind unsterblich! Dies allein ist das Band, das denkende und fühlende Menschen an dies Leben ketten kann. Woher nähme ich sonst Trost beim Tode meiner Mutter? Und wie würde ich die Leiden, die meiner noch warten, ertragen können, wenn ich nicht jene feste Ueberzeugung hätte?«

Wenn theure Menschen von unserer Seite gerissen sind, genügen uns schon die Beweise der Liebe nicht, die wir ihnen gegeben, und wir möchten gern ihnen noch viel mehr wohl gethan haben. Um so schmerzlicher ist es, wenn wir uns eines an ihnen begangenen Unrechts bewußt werden, und habe es auch nur darin bestanden, daß wir das uns durch Irrthum zugefügte Unrecht nicht mit Sanftmuth, sondern im Zustande der Aufregung zurückgewiesen haben. Wohl muß ich mir dergleichen Vorwürfe machen. Besonders erinnere ich mich eines Umstandes, durch den ich meine gute Mutter einige Zeit vor ihrem Tode kränkte: ich hatte ihr von der erfolgten Auszahlung des ersten schriftstellerischen Honorars nichts gesagt und sie erfuhr dieselbe auf anderem Wege. Ob ich aus Leichtsinn davon zu sprechen unterlassen, oder um eine Ueberraschung vorzubereiten davon geschwiegen habe, ist mir entfallen, nur die Erinnerung, daß ich meine Mutter gekränkt habe, ist mir geblieben.

Von meinem damaligen Zustande mag noch eine andere Stelle aus jenem Briefe an meine Geliebte zeugen: »Jetzt bin ich also allein und leer ist es um mich her. So manche gute Menschen stehen neben mir, und doch ist es mir bei ihrem Anblicke so todtenkalt im Herzen; unter meinen Freunden ist es mir beklommen; vor einer größeren Gesellschaft ekelt mich; selten spreche ich mit Jemandem von meiner Mutter, – die Meisten verdienen es nicht; nur bei der Arbeit werde ich zufrieden. – Hannchen! Du hast eine schwere Aufgabe: unter allen Lebenden sollst Du die einzige Nachfolgerin meiner Mutter in meinem Herzen sein; von Dir erwarte ich alle eigentlichen Freuden meines Lebens; Du sollst mich aufrichten, wenn ich matt werde im Kampfe für Menschenwohl, matt im Kampfe gegen[74] das widrige Geschick; die Freuden, die aus mir selbst hervorgehen, sollst Du mir würzen; in Dir will ich auf dieser Erde meine Belohnung finden, denn von anderen Menschen erwarte ich keine. – Und wenn Du das Alles nicht könntest! – Auch dann würde ich handeln, wie mein Herz es mich lehrt und Gutes stiften, soviel ich vermag Sonst dachte ich anders; ich meinte, wenn mich einst kein liebendes, braves Weib beglücken, wenn nicht meine Kinder einst meine grauen Locken bekränzen sollten, so wollte ich lieber gar nicht leben. Allein über diesen Gedanken habe ich mich jetzt erhoben: ich bin hier zu handeln, nicht zu genießen. Freilich wäre ein herziges Weib das einzige äußere Glück, das meinen Muth zum Handeln belebte, meine Kräfte erhöhte; doch auch mit meinem Innern, mit dem Bewußtsein meines Willens könnte ich mich begnügen. – Aber nein! nein! nein! Du wirst mich beglücken und als treue Gefährtin auf dem Wege durchs Leben begleiten« u.s.w.

Ich brachte zunächst einige Wochen in Mittweide zu, wo ich bei einer bedeutenden Krankheit der Tante Trost und Beistand gewährte und beschloß zu Anfange Juli's, nachdem ich mich habilitirt haben würde, nach Wien zu gehen. Der Onkel war etwas bedenklich, doch widersprach er nicht. Daß an meinem Entschlusse die Liebe ihren gehörigen Antheil hatte und daß ich nach meiner Ankunft in Wien alsbald nach dem Leopoldsberge zu meiner Geliebten eilte, versteht sich von selbst. Ich fand hier eine interessante Familie, aus deren Geschichte ich einige Momente herausheben will.

Ignaz Pichler, ein durchaus rechtschaffener, thätiger und verständiger Mann von sanguinischem Temperamente und leichtem Sinne, unternehmend, lebhaft, lebensfroh, war ein wohlhabender Leinwandshändler in Ottensheim bei Linz gewesen. Seine älteste Tochter, Kathrine, eine schwarzäugige Schönheit, war an einen Negocianten in Wien, Namens Gaugler, verheirathet, welcher mit Juwelen handelte, Geldgeschäfte machte, mit dem hohen Adel viel verkehrte und auf einen großen Fuße lebte. Sie hatte gewünscht, ihre zweite Schwester, Johanna, bei sich zu sehen und der Vater hatte gern eingewilligt, da ihm[75] dies als ein Glück für dieselbe erschienen war. Die arme, etwa zehn Jahre alte Johanne war aber von der hochmüthigen, dabei bigoten Schwester und deren Gemahl hart, ja tyrannisch behandelt worden, hatte wie eine Magd sie bedienen, schwere Arbeiten verrichten und wegen kleiner Versehen die empfindlichsten Scheltworte erdulden müssen. Indeß hatte Pichler, nachdem er in seinem ausgebreiteten Geschäfte viel Glück gehabt, sein Haus durch eine Feuersbrunst verloren, dann aber durch einen zweiten Brand mit einem neu aufgebauten Hause ein ansehnliches Waarenlager und somit den größten Theil seines Vermögens eingebüßt. Als nun auch Gaugler durch gewagte Speculationen und durch Fallissements bedeutende Verluste erlitten hatte, beredete dieser seinen Schwiegervater 1785, das Handelsgeschäft aufzugeben und eine Gastwirthschaft auf dem Kahlenberge anzulegen, wo Joseph II. das daselbst befindliche Camaldulenser-Kloster eben aufgehoben hatte. Pichler wendete den Rest seines Besitzthums dazu an und gab Johannen nach Wien in Pension, wo sie in der fürstlich Paarschen Küche die Kochkunst erlernte. Gaugler gab größere Summen zur Einrichtung her und bedang sich außer hohen Zinsen einen bedeutenden Antheil an dem Gewinne aus, richtete aber hinterlistiger Weise die Berechnungen und Contracte so ein, daß er als der alleinige Eigenthümer der ganzen Wirthschaft erschien und die rückständigen Schulden nur seinem Schwiegervater zufielen, denn da er außer Stand war, sein Geschäft in der Stadt in früherer Weise ferner zu betreiben, ging er darauf aus, sich in den alleinigen Besitz der Wirthschaft auf dem Kahlenberge zu setzen. Pichler, der ihm ein zu großes Vertrauen geschenkt und, einzig mit der Anordnung und Verwaltung beschäftigt, sich gar nicht gesichert hatte, erkannte zu spät, daß er schändlicher Weise betrogen war; er mußte weichen und beschloß nun, sich auf eigene Rechnung auf dem angränzenden Leopoldsberge zu etabliren. Um sich die nöthigen Summen zu Befriedigung der Gläubiger und zu dem neuen Etablissement durch Eintreibung von seinem Leinwandsgeschäfte her außenstehender Schulden zu verschaffen, reiste er nach Polen und nahm Johannen[76] mit, die er zu einem Oheim in Pogoce bei Krakau brachte; durch seine Abwesenheit gab er nun Gauglern freien Spielraum, Alles an sich zu reißen und Kathrine half auf die empörendste Weise ihre Eltern plündern. So kam es denn, daß Johanne, als sie nach etwa einem Jahre nach Wien zurückkehrte, zu ihrem Schrecken Mutter und Geschwister auf dem Leopoldsberge in der dürftigsten Lage, mit einem ärmlichen Mobiliar und ohne alle Vorräthe, den Vater aber im Schuldthurme fand. Da entwickelte das neunzehnjährige Mädchen eine bewundernswürdige Entschlossenheit und Thätigkeit und wurde die Retterin der Familie. Sie fing damit an, mit dem baaren Gelde, welches ihr die Verwandten geschenkt hatten und wozu sie noch den Erlös aus dem Verkaufe ihrer entbehrlichen Kleidungsstücke nahm, das Nöthigste an Mobiliar, Geschirr und Vorräthen anzuschaffen und sich bei den Verkäufern dieser Dinge Credit auszumachen; dann ging sie zu einigen Familien in Wien, die öfters auf den Kahlenberg gekommen waren und lud sie auf den Leopoldsberg ein; sie kamen auch in größeren Gesellschaften, anfangs aus Neugierde und Theilnahme und mit Victualien, die hier zubereitet wurden, fanden Alles sauber und nett, die Speisen vortrefflich bereitet, die Bedienung durch Franz, Johannens Bruder, zu ihrer Zufriedenheit und wiederholten nun die Besuche zu ihrem Vergnügen. Mit dem ersten Erwerbe ging Johanne zum Vater ins Gefängniß, um ihn zu trösten, ihm den glücklichen Anfang ihrer Wirthschaft zu berichten und Taschengeld zu Bestreitung seiner kleinen Bedürfnisse zu bringen; so besuchte sie ihn nun jede Woche und schaffte ihm Schnupftabak, mit dem er, um auch etwas Beschäftigung und Erwerb zu haben, einen kleinen Handel unter seinen Mitgefangenen trieb. Johannens unermüdliche und verständige Thätigkeit ermangelte nicht des Segens, und als ihr Vater seine Freiheit wieder erlangte, konnte sie ihn schon in eine ganz gut eingerichtete Wirthschaft einführen, in der sie auch ferner die Hauptperson blieb. Wöchentlich ein- oder zweimal ging sie bei früher Tageszeit, einfach, aber äußerst sauber und geschmackvoll gekleidet, nach der Stadt, kaufte die nöthigen Victualien und[77] kehrte sammt der damit beladenen Magd noch Vormittags auf den Berg zurück. Hier begann nun ihr Geschäft am Herde und nach dessen Beendigung bedurfte sie nur einer kleinen Veränderung im Anzuge, um anständig unter den Gästen zu erscheinen, wenn solche, die sie für werth hielt, da waren, während der joviale Vater gewöhnlich mit den Gästen sich unterhielt, den Keller besorgte, den Kellner beaufsichtigte und die Zahlungen einnahm. So wie die Gesellschaft fort war, ließ Johanne schon wieder für den folgenden Tag Alles ordnen, reinigen und waschen, that aber selbst das Meiste dabei, da die Dienstleute es ihr immer nicht ordentlich und rein genug machen konnten. War sie auch nach der Verbindung mit Hager einige Jahre aus dem väterlichen Hause entfernt gewesen und durch ihre jüngeren Schwestern vertreten worden, so hatte sie, wiewohl von diesen unterstützt, nach ihrer Rückkehr diese Geschäfte wieder übernommen und so ward ich noch Zeuge ihres emsigen Wirkens zu Unterstützung ihres Vaters. Dieser ehrliche, kluge und heitere Alte flößte Achtung ein, so wie seine beiden jüngsten, schönen Töchter, die blonde, ungemein witzige Therese und die brünette, muntere Clara eine interessante Unterhaltung gewährten, so daß denn der Leopoldsberg mit seinen herrlichen Aussichten und lieblichen Spaziergängen mir in jeder Hinsicht ein höchst anziehender Aufenthalt wurde. Der benachbarte Kahlenberg wurde auch öfters besucht, hatte aber wegen der Familienverhältnisse etwas sehr Unheimliches für mich. Gaugler nämlich hatte bei seinem Hochmuthe es nicht ertragen können, aus seiner frühern, gewissermaßen glänzenden Stellung in die eines Traiteurs versetzt zu sein; er war in gänzlichen Stumpfsinn verfallen und lebte wie ein Einsiedler im abgelegensten Theile des Hauses; seine Gattin, die früher von ihm ganz unterjocht gewesen und mit Argusaugen bewacht worden war, ihm aber bei Beraubung des Vaters treulich beigestanden hatte und in Anfeindung der Familie noch immer ihre Mißgunst bewies, führte die Alleinherrschaft im Hause. Ein junger Arzt, der zu gleicher Zeit mit mir in Wien war, versprach ihr die Ehe; später hat seine Wortbrüchigkeit sie in[78] Wahnsinn gestürzt und sie hat im Irrenhause geendet, wo sie, da der Rest ihres Vermögens aufgegangen war, noch durch ihre Schwestern unterstützt worden ist.

Der Egoismus war mir seit jeher ganz besonders verächtlich erschienen, und da die natürliche Selbstliebe nur zu leicht in ihn übergeht, so hatte ich ein Asyl dagegen nur in der Familienverbindung erkannt. Ich hatte mit Betrübniß gesehen, wie die Theilnahme an dem Schicksale Anderer in so enge Grenzen eingeschlossen ist, und hatte es eingesehen, wie Jeder für sich am meisten zu sorgen hat und wie die Freundschaft durch die gebieterische Rücksicht auf das eigene Wohl gehindert werden muß, sich in ihrem ganzen Umfange zu äußern. Es hatte sich bei mir festgestellt, daß für mich nur da Glück erblühe, wo ich es mit einem andern Wesen theile, und daß nur ein Verhältniß mich befriedigen könne, ähnlich dem, in welchem ich zu meiner Mutter gestanden hatte: eine innige Verbindung, wo nur ein einiges, gemeinsames Interesse herrscht, wo eine Seele nur in der andern ihr Glück findet. Ohne eine solche unbedingte, das ganze Wesen durchdringende Liebe deuchte mir das Leben gehaltlos und fade. Meine Mutter, deren unbegrenzte Liebe ich genossen hatte, war mir entrissen; meinen trefflichen, mir so herzlich zugethanen Onkel sah ich im vollen Genusse des eigenen Familienglücks; und mich quälte im Gefühle meines Alleinstehens eine unüberwindliche Sehnsucht nach gleichem Glücke. Für die Möglichkeit aber, eine Familie zu ernähren, fehlte es mir nicht an Aussichten.

Einerseits hatte mein Gönner, Dr. Börner, mir seine Famulatur versprochen, da sein bisheriger Famulus (so hießen in Leipzig die Assistenzärzte) Müller einem vortheilhaften Antrage, sich in einer andern Stadt niederzulassen, folgen wollte. Da Börner einer der angesehensten und beschäftigtsten Aerzte Leipzigs war, so konnte es mir unter seiner Aegide nicht fehlen, bald zu einer reichlichen Praxis zu gelangen. Als ich ihn von Wien aus gebeten hatte, nach meiner Rückkehr die mir gemachten Hoffnungen zu erfüllen, antwortete er mir im December 1798: »Herzlich soll es mich freuen, wenn ich Gelegenheit finde,[79] Ihre Wünsche zu befriedigen. Allem Ansehen nach dürfte Herr Müller noch bis zu Michaelis k.J. in Leipzig bleiben: die Fortschritte zur Promotion gehen langsam von Statten. Ob Sie dies gleich nicht abschrecken soll, früher nach Leipzig zu kommen, so wünschte ich dennoch, daß Sie Herrn Müller freundschaftlich schrieben und ihn bäten, seine studia zu absolviren, da er Ihnen Hoffnung gemacht, daß sein Abgang Ihnen dessen Besorgung meiner Patienten verschaffen sollte«. Die zarte und selbst ängstliche Rücksicht, welche Börner gegen Müllern durch diese Wendung bewies, machte mir bei der Kenntniß seines Charakters keine Sorgen.

Andererseits hatte ich Hoffnung, ein kurfürstliches Reisestipendium zu erhalten, welches mir nicht nur die Möglichkeit gewährte, mich noch auf andern Lehranstalten weiter auszubilden, sondern auch die Aussicht auf baldige Beförderung bei der Universität mit sich führte, indem Der, welcher auf Kosten der Regierung eine wissenschaftliche Reise gemacht hatte, von ihr gemeiniglich auch ferner berücksichtigt wurde. Auf die von meinem Onkel deßhalb privatim gemachten Anträge schrieb der Minister von Burgsdorf, daß jetzt zwei Mediciner mit höchster Unterstützung reisten und ich an die Stelle eines von ihnen treten könne, indem die zweijährige Genußzeit für den einen mit Anfang, für den andern mit Ende des Jahres 1799 ablaufe; er gab dabei den Gang des Geschäftes an und gestattete mir, das Gesuch an ihn einzusenden. Eben so bezeugte er noch im Januar 1799, als mein Onkel ihn in Dresden besuchte, alle Bereitwilligkeit, mein Gesuch zu unterstützen.

So hielt ich mich denn schon für geborgen. Ich besaß die Gewogenheit Börners, die ich seiner Freundschaft mit meinem Vater verdankte, und die Gunst des Ministers, die mein Onkel mir zugewendet hatte. Die Hoffnung auf die daraus sich ergebenden glücklichen Verhältnisse gestaltete sich in meinem jugendlichen Sinne unter Hinzutritt eines lebhaften Gefühls meiner Kräfte und eines reinen Bewußtseins meines Willens zur Gewißheit und im Vertrauen auf meine Zukunft[80] schloß ich das mich beglückende Ehebündniß mit meiner geliebten Johanne.

Aber es währte nicht lange, so zeigte es sich, daß meine Hoffnungen gescheitert waren. Börner schrieb mir im Februar 1799, daß er seit vier Monaten unpaß und im kommenden Sommer ins Bad zu gehen genöthigt sei; daß die Familien, deren ärztliche Besorgung er Müllern übertragen habe, von diesem ferner behandelt zu werden wünschten, und daß er, falls er diesem Wunsche nicht entspräche, einen bedeutenden Verlust in seiner Praxis zu besorgen habe, da Müller in Leipzig bleiben werde. »Bei diese Lage der Umstände«, schrieb er, »leide ich in Ihrer Seele; ich kann diese aber, besonders bei fortdauernder Kränklichkeit, nicht ändern. Indessen werde ich zu ihrem Besten alles Mögliche beizutragen suchen. Mit wahrer Ergebenheit verbleibe ich unausgesetzt der Ihrige«. Dieser tröstende Zusatz war mir nur ein Beweis von dem Wohlwollen, welches der brave Mann in der Erinnerung an die Freundschaft meines Vaters mir schenkte und späterhin bethätigte, konnte aber die geschwundene Hoffnung, unter seiner Führung zur Praxis zu gelangen, nicht wieder beleben.

Noch schmerzlicher war mir die abschlägliche Antwort, die ich von der sächsischen Regierung erhielt, denn sie gründete sich auf ein ungünstiges Urtheil über mich. Die medicinische Facultät zu Leipzig nämlich hatte auf Befragen erklärt, sie finde mich nicht so ausgezeichnet, daß nicht mancher andere Mediciner auf solche Vergünstigung Ansprüche zu machen in gleichem oder auch höherem Grade berechtigt wäre. Ich hatte mich um die Gunst der Facultät nicht besonders beworben und sie im Gegentheile durch verschiedene Umstände verscherzt. Platner, der so viel auf elegantes Latein hielt war, als ihm meine oben angeführte Gelegenheitsschrift zur Censur vorgelegt worden war, über die Nachlässigkeit meines Stils ganz entrüstet gewesen und hatte sie mir mit Unwillen zu nochmaliger Durchsicht zurückgegeben. Hebenstreit war ein lebhafter Gegner der Brownschen Lehre und ich hatte durch öftere Vertheidigung derselben in dem unter ihm bestehenden Disputatorium[81] mir seine Unzufriedenheit zugezogen. Ludwig hatte an mir nicht die erwartete Dienstwilligkeit zum Skeletiren und zu ähnlichen Arbeiten gefunden und obendrein seinen Zorn erregt, indem er mich eines Tages ertappte, daß ich über einen gezierten Ausdruck in seiner Vorlesung lachte. Die übrigen Mitglieder der Facultät waren zu wenig mit mir bekannt und wohl indifferent. – Daß Platner und Ludwig (Hebenstreit starb bald) nach ihrer Ueberzeugung geurtheilt haben, geht daraus hervor, daß sie späterhin, ohne daß ich irgend einen Schritt zu Erlangung ihrer Gewogenheit gethan hätte, mich zu sich zogen und meine Gönner und Freunde wurden.

So waren denn die Stützen, die fremdes Wohlwollen mir gewährt und auf die ich vertraut hatte, mit einem Male mir entzogen. Doch ich verzagte nicht im Mindesten und schwankte keinen Augenblick, die Bahn, die ich durch Bildung zum praktischen Arzte und zum akademischen Lehrer sowie durch meine Verheirathung eingeschlagen hatte, zu verfolgen. Der Gedanke, daß ich mich nun bloß auf die eigenen Kräfte verlassen müsse, hatte selbst etwas Reizendes; einen ehrenvollen Wirkungskreis zu gewinnen und dabei ein glücklicher Familienvater zu sein, war ein begeisterndes Ziel; das jugendliche Kraftgefühl gab mir Muth und mein leichter Sinn schätzte die Schwierigkeiten, die ich zu besiegen übernahm, bedeutend geringer, als sie wirklich waren.

Ich reiste im Mai 1799 von Wien ab und zunächst nach Mittweide zu meinem theuren Onkel (der einen Augenblick daran gedacht hatte, ich sollte mich daselbst niederlassen) und dann erst nach Leipzig.

Jetzt galt es vor allen Dingen, mir hinlängliches Geld zu verschaffen, um die nöthigen häuslichen Einrichtungen machen zu können und meine Existenz für die erste Zeit zu sichern. Dies konnte ich nur von meinen väterlichen Verwandten durch mündliche Besprechung und unter Verschweigung meiner Verheirathung erlangen. Ich reiste also zu Anfange Juni's nach der Niederlausitz, wo ich auf das Freundlichste aufgenommen wurde. Gegen zwei Monate verlebte ich daselbst und arbeitete fleißig[82] in den Stunden, wo mich die Gesellschaft meiner Verwandten nicht in Anspruch nahm. Mit allerhand Geschenken von meines Vaters Schwester und mit 300 Thalern, welche mir deren Gatte, der Amtsverwalter Hänsel und der Bruder meines Vaters, Apotheker in Lieberose, geliehen hatten, kam ich im August wieder nach Leipzig. Hierzu nahm ich die von der mütterlichen Erbschaft mir noch übrigen 500 Thaler, schaffte davon Alles, was zu Einrichtung einer Wirthschaft nöthig war, an, zahlte für eine kleine, aber saubere Familienwohnung, die ich gemiethet hatte, den Zins auf ein halbes Jahr voraus und vertheilte den Rest des Geldes in wöchentliche Rationen für die Wirthschaftsführung, so daß ich mich auf beinahe ein Jahr für geborgen hielt.

Mein Onkel, den ich von Wien aus von meiner Lage und meinem Vorhaben benachrichtigt hatte, war, wie mir Hayner (der sich in Mittweide niedergelassen hatte) meldete, dadurch auf das Tiefste erschüttert, und hielt es anfänglich nicht für möglich, daß ich in solcher Weise mich würde behaupten können. Nachdem ich ihn darauf in Mittweide mündlich zu beruhigen gesucht und dann wieder von Leipzig aus schriftlich um seinen Rath wegen meiner Promotion gebeten hatte, schrieb er mir: »Du hast viel über Dich genommen; es wird die ganze Anstrengung eines Mannes dazu gehören, Dich durchzuarbeiten. Es muß jetzt Dein Trost sein, daß Viele schon durch ähnliche Anstrengungen zum Ziele gekommen sind. Möchtest Du mir bald schreiben können, daß auch für Dich solche Aussichten sich zeigen! Leider kann ich vor der Hand nichts als Dich bedauern und eine baldige Verbesserung Deiner Lage Dir wünschen.«

Ich war indeß ganz wohlgemuth. Die ersten Andeutungen, daß meine Frau guter Hoffnung war, hatten mich, den Hoffnungsreichen, entzückt. Es war bei mir ausgemacht, daß mir der Himmel eine Tochter schenken werde; bei meiner Ansicht von dem Werthe des Weibes gingen alle meine Wünsche dahin, eine Tochter zu besitzen und darüber wachen zu können, daß sie zu edler Weiblichkeit sich entwickele. Sie sollte meine Mutter zum Vorbilde haben und so auch nach ihr Karoline[83] heißen. So sprach ich denn nach meiner Abreise von Wien so zuversichtlich von »unserer Karoline« in den Briefen an meine Frau, daß diese am Ende ganz besorgt wurde und mich auf die Geburt eines Sohnes vorzubereiten suchte, indem sie angab, nach den Bewegungen, welche sie fühle, zu urtheilen, sei das unter ihrem Herzen lebende Kind für ein Mädchen zu wild. Ich schwieg darüber, um sie nicht zu beunruhigen, ließ mich aber nicht irre machen und deutete die lebhaften Bewegungen dahin, daß Karoline in freudiger Ungeduld den Augenblick erwarte, wo sie zu ihrem Vater kommen werde. Mein Vertrauen wurde durch den Erfolg gerechtfertigt.

Meine Frau sollte im August ihre Reise nach Leipzig antreten. Durch liebevolle Rücksicht auf die Verhältnisse ihres Vaters wurde sie bestimmt, ihre Abreise bis gegen Ende Septembers zu verschieben. Sie reiste über Prag, und als sie von da aus am 4. October das erste Nachtquartier im Dorfe Klitzram erreicht hatte, meldeten sich Wehen an. Kaum konnte sie in dem Gasthofe eine eigene Stube für sich gewinnen, und da hier Regen und Wind hereindrang, mußte sie selbst heraufsteigen und die zerbrochenen Fensterscheiben mit den aus ihrem Koffer ausgepackten Decken verhängen. Das Einzige, wodurch die unfreundliche böhmische Wirthin eine Theilnahme bewies, bestand darin, daß sie ein altes Hirtenweib als Hebamme schickte. Meine Frau entsetzte sich beim Anblicke dieses Weibes und wies solchen gefährlichen Beistand zurück; sie vertraute auf die Naturkräfte und wurde nicht getäuscht: sie gebar Morgens um 4 Uhr die gehoffte Karoline. Die Männer, die von Prag aus mit ihr in derselben Lohnkutsche gefahren waren, kamen vor ihrer Abreise an ihr Lager, um sich zu erkundigen, was sie für sie thun könnten; meine Frau konnte nichts von ihnen verlangen, als daß sie einen Brief, den sie nun an mich schrieb, auf der nächsten Station zur Post gäben. Nun lag aber die Aermste ganz verlassen in dem Hause, dessen Bewohner das Deutsche nicht verstanden oder, wie es in Böhmen nicht selten ist, es nicht zu verstehen vorgaben; als sie ihr Verlangen, etwas Warmes zu genießen, durch Zeichen ausdrückte, brachte man ihr eine Wassersuppe[84] mit Brod, Pfeffer und Salz. In diesem Augenblicke trat ein Frachtfuhrmann in die Stube und sagte, er habe von ihrer Noth gehört, und wolle, da der Schmidt an seinem Wagen etwas auszubessern habe, nach dem etwa drei Meilen entfernten Prag, von wo er gekommen, zurück reiten, um ihr die Hülfe, deren sie bedürfe, zu bringen. In freudigem Erstaunen nahm sie sein Anerbieten an und fragte, wie viel er dafür fordere, und da er lächelnd versetzte, er wisse, was Christenpflicht sei, habe übrigens auch Weib und Kinder, für die er den Segen des Himmels erflehe, so gab sie ihm meine Adresse mit der dringenden Bitte, wenn ihn sein Weg nach Leipzig führe, zu mir zu kommen, damit ich ihm danken könne. Der Mann nahm den Brief, den nun meine Frau an die Seilermeisterin Wagner in Prag schrieb, und bestellte ihn richtig, – aber vor uns hat er sich nicht wieder sehen lassen. – Frau Wagner, die meine Frau auf der gemeinschaftlichen Reise von Wien nach Prag kennen gelernt hatte, kam gegen Abend in Begleitung eines Arztes an, führte sie, in Betten soviel als möglich gehüllt, sammt ihren beiden Kindern nach Prag, nahm sie in ihrem Hause auf und pflegte sie, abwechselnd mit ihrer Tochter auf das Liebevollste. Die Wöchnerin und die Neugeborene legten durch ihr vortreffliches Befinden nach dem, was sie überstanden hatten, ein vollgültiges Zeugniß von ihrer guten Constitution ab. Die Neugeborene wurde schon am 6. October getauft, und meine Frau konnte die Taufe ganz nach meinen Wünschen einrichten: daß das Mädchen Karoline hieß, wußte sie längst, und zu Taufzeugen nahm sie außer der menschenfreundlichen Frau Wagner einen Kaufmann Meisner, an den, als einen ehemaligen Schulkameraden von mir, ich für den Fall, daß sie bei ihrer Durchreise durch Prag eines Beistandes bedürfte, sie adressirt hatte, und in Abwesenheit meinen Onkel.

Schon am 31. kam meine Frau in Dresden an, wohin ich ihr unser Dienstmädchen mit gehörigen Instructionen entgegen geschickt hatte. Am dritten November harrte ich ihrer in Borsdorf. Mit hoch klopfendem Herzen trat ich an den Wagen,[85] der sie mir zuführte, küßte sie flüchtig, empfing mein Kind aus ihren Armen, und trug es eilig ins Gasthaus, legte es auf den Tisch, löste die Bänder, welche es in seinem Bettchen hielten, war im Anschauen des wohlgebildeten, lieblichen, kräftigen und munteren Mädchens ganz selig, und stürzte dann erst in die Arme meiner Frau, die in stolzer Mutterfreude sich an dem Anblicke weidete, und dann mußte ich wieder mein holdes Kind betrachten. Was kümmerten mich die Menschen umher! Was kümmerte mich die ganze Welt! Ich war überglücklich. So gönnte ich auch meinen Reisenden nur eine kurze Rast, denn ich konnte ja nicht früh genug mein Eigenthum in Sicherheit bringen. Als ich nun meine Frau in die freundliche Wohnung, die der Schauplatz meines häuslichen Glückes werden sollte, einführte und sie über die Einrichtungen, die ich getroffen hatte, sich lebhaft freute, fand ich darin große Genugthuung und blickte so heiter in die Zukunft, als ob meine äußere Lage völlig gesichert wäre.

Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 69-86.
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