1. Familienleben.

[138] Ein Mann, der in seiner Individualität mehr Genüge gefunden, sein Hauptaugenmerk auf das Verhältniß in der bürgerlichen Gesellschaft gerichtet und dem Aeußeren jede andere Richtung untergeordnet hätte, würde nicht so unklug gewesen sein, sich in die Lage zu versetzen, in welcher ich mich befand; aber in derselben würde er sich auch nicht so haben behaupten können, wie ich. Bei mir war das Gemüth vorwaltend und entscheidend. Bürgerlicher Wohlstand und bürgerliches Ansehen hatten allerdings auch für mich großen Werth, und ich ließ es nicht an Thätigkeit fehlen, um sie zu erlangen; aber sie waren mir nicht das Höchste und Letzte; ich blickte vielmehr darüber hinaus in die rein menschliche Sphäre, suchte und fand mein höchstes Glück in der liebenden Vereinigung der Herzen, und dachte mich endlich als Bürger einer geistigen Welt, in welcher die Satzungen der Convenienz schwinden. So fühlte ich mich denn wahrhaft glücklich in meiner Familie; ich hatte Sorgen, aber sie traten mir nicht ans Herz, sondern blieben nur im Kopfe, und auch aus diesem schlug ich sie, sobald ich mich aus einer augenblicklichen Verlegenheit gezogen hatte: daß ich ganz heiter und froh lebte, bezeugt der Sinn, der sich in meiner Diätetik ausspricht; man sieht es dem Buche gewiß nicht an, in welcher äußeren Bedrängniß es geschrieben ist. Mein Freund Hübner gestand mir, er bewundere meine Philosophie, die mich in den Stand setze, das schwere Loos so muthig zu ertragen: aber es war gar keine andere Philosophie als die des Herzens; es war keine Stärke des Willens, sondern blos die Befriedigung des Gefühls, was mich die Beschwerden des äußeren Lebens ertragen ließ. Meine frühe Heirath zu bereuen, ist mir nie in den Sinn gekommen; ich habe von selbst nicht einmal an die Möglichkeit solcher Reue gedacht.[138]

Voll Vertrauen auf den Erfolg meiner Anstrengungen zur Verbesserung meiner Lage, suchte ich mit dem Genusse meines Familienglücks auch den der Natur, der Geselligkeit und der Kunst zu verbinden, und die Liebe zu den Meinigen brachte es natürlich mit sich, daß ich mich bemühte, ihnen das Leben, so viel in meinen Kräften stand, zu erheitern. Ich wußte selbst das, was durch die Noth geboten war, dafür zu benutzen: als ich zu Ostern 1804 meine bisherige Wohnung verlassen mußte und wegen einer anderen verlegen war, miethete ich eine nette Sommerwohnung im Kohlgarten, wo wir öfters Freunde bei uns sahen und wo unsere Kinder das Landleben recht genossen; eben so benutzte ich 1806 den Wechsel der Wohnung, um mir und den Meinigen das Vergnügen eines Sommerlogis im Bose'schen Garten zu verschaffen. Da meine Frau gut sang, so wurde bei uns auch viel musicirt, und in dem einen Winter gaben wir einige musikalisch declamatorische Soirées.

Meine Frau hatte mir im Jahre 1801 einen Sohn geboren, der mit den beiden anderen Kindern zu unserer Freude heranwuchs unter der sorgsamen Pflege und eben so verständigen als liebevollen Behandlung ihrer Mutter, wobei ich den mir gebührenden Antheil an der Erziehung nahm. Indem ich erst zu gehöriger Zeit und vor Uebereilung mich hütend ihnen Lehrer gab, sorgte ich fortwährend für ihre freie Entwickelung durch Förderung ihrer Gesundheit und ihres Frohsinnes. Meine Frau machte mit ihnen öfters kleine Reisen zu Freunden und Verwandten, von wo ich sie meist abholte, und wo die Wiedervereinigung immer ein frohes Fest war. An Gespielen durfte es ihnen nicht fehlen, und wie ich kein Vergnügen ohne meine Frau genoß, so waren gemeiniglich auch unsere Kinder dabei, denn bei meiner Liebe zu ihnen gehörte ihre Theilnahme wesentlich zu meiner Befriedigung. Wenn ich, z.B. in dem Sommer, wo wir im Kohlgarten wohnten, aus der Stadt zu meinen Kindern zurückkehrte, war alle Noth vergessen, und wenn sie dann fröhlich und lieblich um mich her spielten, während ich, ins Gras gelagert, in den blauen Himmel schaute, die Herrlichkeit der Schöpfung und die ewige Liebe mir denkend, da[139] fühlte ich mich so selig, daß mir nichts zu wünschen übrig blieb.

Wie viel Freude machte es mir nicht, wenn die Meinigen durch ihr gefälliges Wesen sich Freunde erworben hatten, die ihnen wiederum mancherlei Vergnügen verschafften! Und wie glücklich war ich wieder, wenn ich selbst ihnen eine Freude bereiten konnte! Die hohen Familienfeste der Geburtstage und des Weihnachtsabends nahmen meinen Erfindungsgeist schon geraume Zeit vorher in Anspruch. Am bedeutendsten war natürlich das Weihnachtsfest, da hier Alle beschenkt werden mußten, und da mahnte denn spätestens der erste December, auf die nöthigen Mittel zu sinnen. Zwei Schriftchen verdanken diesem Umstande ihren Ursprung, oder entschuldigen vielmehr ihr Erscheinen mit diesem Umstande. Um nämlich zu Weihnachten 1805 eine Bescheerung mir möglich zu machen, wurde in aller Eile eine Abhandlung über den Schlagfluß geschrieben, indem ich meine für die Pathologie des Gehirns gesammelten Materialien benutzte. Ich halte das Büchelchen, wenn ich auf seine causam occasionalem billige Rücksicht nehme, nicht für ganz schlecht. Von dem Principe ausgehend, daß alle Lebendigkeit in Expansion sich äußert, sucht es den Grund des Schlagflusses in beschränkter Expansion des Gehirns, entweder von Collapsus der von Compression herrührend. Mein industriöser Verleger erlaubte sich, auf dem Titel hinzuzusetzen: nach neuen Ansichten bearbeitet, und setzte allen meinen Protestationen eine unbezwingliche Zähigkeit entgegen, so daß ich, da ich nun einmal von ihm abhängig war, am Ende doch nachgeben mußte1. – Im folgenden Jahre mußte ich, um für Frau und Kinder Weihnachtsfreuden bereiten zu können, ebenfalls ein Schriftchen fabriciren, und da ich um diese Zeit besonders mit Arzneimittellehre mich beschäftigt hatte, so kam als Abfall davon diesmal ein[140] Recepttaschenbuch an die Reihe2. Ein Leipziger Arzt, Brückner, hat in seiner Receptirkunst das Büchelchen streng kritisirt; ich gestehe, daß es nach Weihnachten mich wenig mehr interessirt hat, und ich daher auch um diese Kritik mich gar nicht bekümmert habe; indeß habe ich seine Brauchbarkeit loben hören, auch wurde ich späterhin aufgefordert, eine neue Auflage zu besorgen, was ich aber ablehnte.

Besonders erfinderisch war ich in Hinsicht auf die Wahl der Geschenke, um den Kindern etwas zu gewähren, was sie im Stillen gewünscht oder zu wünschen kaum gewagt hatten, oder ihnen etwas ganz Neues darzubieten, was ihnen großes Vergnügen machen konnte; das Interessante war aber dabei, daß ich mit geringen Mitteln etwas für sie Wichtiges herzustellen suchen mußte. So baute ich ihnen in dem einen Jahre ein kleines Theater, zu welchem einige Freunde die Decorationen und mehrere Freundinnen allerliebste Puppen lieferten; als ich nun am Weihnachtsabende ein Stück aufführte, waren die Kinder ganz erstaunt über diese Zauberwelt und rückten der Bühne immer näher, um den niedlichen Männchen, die so verständig und so spaßhaft sprachen, die Worte vom Munde abzulauschen. An einem solchen Abende hatte ich bis zum Anzünden der Lichter noch keine Ruhe; da genügte mir das Vorbereitete immer noch nicht, und indem ich Eines oder das Andere vermißte, oder zu bemerken glaubte, daß das eine Kind etwas weniger bedacht wäre, als die übrigen, lief ich noch fort und schaffte herbei, um mir selbst Genüge zu leisten. Wenn in den Wochen vorher meine Frau nach dem Schlafengehen der Kinder an deren Weihnachtsgeschenken arbeitete, saß ich neben ihr, mein Vorlesen durch Berathen und Helfen oft unterbrechend, während Jedes von uns seine eigenen Geheimnisse hatte, um dem Anderen zum festlichen Abende eine Ueberraschung zu bereiten.[141]

Am meisten hing unser Herz an unserer Tochter. Ihr ganzes Wesen war reine Harmonie. Lieblich gestaltet, von kräftiger Gesundheit, stets fröhlich, mit herzlicher Liebe den Ihrigen zugethan, freundlich und wohlwollend gegen Jedermann, anmuthig in allen ihren Bewegungen, mit ungekünstelter, natürlicher Sittsamkeit in ihrem ganzen Benehmen, empfänglich für Ausbildung ihres Geistes, bot sie mir das ersehnte Bild einer freien Entwickelung edler Weiblichkeit. Sie wurde nicht verzärtelt; ihre kleinen Unarten blieben nicht unbestraft und es wurden ihr keine äußeren Vorzüge vor ihren Brüdern eingeräumt; aber diese fühlten sich durch ihre Liebenswürdigkeit gezwungen, ihr den Vorrang einzuräumen und unterwarfen sich in fröhlichem Spiele willig ihrer anmuthigen Herrschaft. Ich genoß das Glück ihres Besitzes mit vollem Bewußtsein seines Werthes, betrachtete sie mit Wonne und war entzückt, wenn ich wieder einen neuen Zug eines schönen weiblichen Gemüthes an ihr beobachtete. Sie erkannte, auch bei ernster Behandlung, die ganze Tiefe meiner Liebe, vergalt sie mit inniger Anhänglichkeit und forderte sie mit muthwilligen Scherzen heraus: so hatte ich von ihren ersten Jahren an sie des Morgens gern aus ihrem Bettchen gehoben, und als sie schon acht Jahre alt war, stand sie oft von selbst auf, klopfte an das Glasfenster der in meine Arbeitsstube führenden Alkoventhüre und huschte schnell wieder in ihr Bett, um, wenn ich nun hinzukam, mit herzlichem Lachen sich in meine Arme zu werfen und sich von mir herausheben zu lassen, oder sie schlich sich hinter meinen Stuhl, stieg, während ich mich in meine Arbeit vertieft stellte, hinter meinem Rücken herauf, um dann jauchzend mir um den Hals zu fallen. Ich muß es mir versagen, von ihrer liebenswürdigen Kindlichkeit mehr zu erwähnen: sie war der schönste Schmuck meines Lebens und in ihrem Besitze fühlte ich mich bei aller Finanznoth unendlich glücklich.

Dabei hatte ich einen Freund im höhern Sinne des Worts, der Zeuge meines häuslichen Glückes war und an meinem Geschicke den wärmsten Antheil nahm. Gustav Hänsel war mir schon als Knabe sehr zugethan gewesen und beim Fortschreiten[142] unserer Ausbildung hatte die Uebereinstimmung der Gesinnungen einen Keim der Freundschaft erzeugt, der während meiner Universitätsjahre in seiner Entwickelung nur etwas gehemmt worden war, um dann desto kräftiger sich zu entfalten. Hänsel hatte an mir, der ich nicht nur an Alter und an Kenntnissen, sondern auch, durch ein freieres Verhältniß meiner Erziehung, an Gesammtbildung etwas voraus hatte, ein Muster gefunden, an dem er sich emporrankte. Das Band war etwas lockerer geworden in dem Zeitraume, wo der Unterschied von einigen Jahren am meisten ins Gewicht fällt, wo ich im Kreise von Studirenden mich bewegte, während er mit seinen Brüdern immerfort nur von Hauslehrern unterrichtet wurde. Nach meiner Verheirathung hatte er anfänglich unter dem Einflusse seiner Eltern und Geschwister mein Wagestück mit Bedenklichkeit betrachtet, allmälig aber, durch seine frühere Zuneigung geleitet, sich mir genähert und für mein Verhältniß Interesse gewonnen, während die übrigen Verwandten sich aus Vorsicht fernerhin von mir entfernt hielten, wie ich mich denn auch nicht um sie bekümmerte. Bei der Bekanntschaft mit meiner Frau legte er das Vorurtheil gegen sie, welches ihm eingeflößt worden war, bald ab; er lernte sie hoch achten und, sie immer mehr erkennend, wurde er ihr wärmster Freund. Er sah unsere Kinder, wie sie, in zwangloser Sittlichkeit heranwachsend, gute Anlagen zeigten und gewann sie sämmtlich lieb, während meine holde Karoline ihm besonders werth wurde. Zugleich achtete er meinen Muth, meine Freudigkeit und Zuversicht in schwieriger Lage, mein emsiges Streben in der Wissenschaft. So schloß er sich fest und innig an meine Familie an. Ich lernte ihn nun auch kennen, wie er in der Zeit, wo wir einander nicht so nahe gestanden, sich ausgebildet hatte. Bei seltener Klarheit des Geistes und Schärfe des Verstandes verband er mit Weichheit des Gemüthes eine ungemeine Festigkeit des Willens. Philosophisch gebildet, hatte er einen lebendigen Sinn für Poesie, und die reinste Sittlichkeit, im Bunde mit ächter Religiosität, bezeichnete jeden seiner Schritte. Mit Freuden erkannte ich es an, daß er sich auf eine Höhe der Bildung emporgerungen[143] hatte, die ich nicht erreichte. Er ward Advocat und zeichnete sich als solcher bald aus, insbesondere durch gediegene Defensionen. Seine Praxis wurde immer ausgebreiteter; dabei betrat er auch die akademische Laufbahn und las zunächst über Polizeiwissenschaft. Bei seiner Sinnesart mußte ihn das Criminalrecht besonders ansprechen und für sein Streben, dasselbe wissenschaftlich zu bearbeiten, zeugt seine Inauguraldissertation de natura delicti, so wie seine Schrift »über das Princip des Strafrechts« (Leipzig 1811). In unseren Unterhaltungen über wissenschaftliche Gegenstände tauschten wir unsere Gedanken aus, und ihn interessirten namentlich auch meine Ansichten von der Natur, die er mit philosophischem Geiste prüfte. Ich theilte ihm meine literarischen Pläne mit und er erzählte mir von seiner Wirksamkeit als Sachwalter. Er ergötzte sich mit mir und meiner Frau an den besseren Leistungen des Theaters und an den neueren Erzeugnissen der Poesie; durch die Gemeinsamkeit des Genusses erhöhten wir den Reiz unserer Vergnügungen und mit gleich warmem Eifer wirkten wir drei, Jeder auf seine Weise, zusammen, wo wir einer bedrängten Familie zu Hülfe kommen konnten. Er war leicht zu verletzen durch Alles, was den Schein der Gemeinheit an sich trug und zeigte sich hier nicht selten intolerant; er wollte alles Unwürdige von mir entfernt wissen und im Bewußtsein seines Werthes konnte er zürnen, wenn wir Jemanden, der in geistiger und sittlicher Hinsicht auf einer niedern Stufe stand, in unserer Nähe litten. So hatte er einige Zeit sich zurückgezogen, als er im December 1808 mir schrieb: »Ich fühle es lebhaft, daß es leichter ist, Lasten allein zu tragen, als im Glücke sich nicht mitzutheilen. Ich glaubte, meine Freundschaft, die freilich oft sehr zudringlich war, von Dir gering geschätzt: aber jetzt, wo mich die Liebe des reinsten weiblichen Gemüths beglückt, finde ich für diese Meinung keine zureichenden Gründe mehr.« – Im Juli 1810 schrieb er mir nach Wien: »Das Wesen meines Seins gehört mit zu dem Deinen. Wie lebhaft habe ich nicht schon unsere Trennung gefühlt, wenn ich in den Besten meiner Bekannten so[144] zerstreut und so unvollkommen wiederfand, was mir nur aus Dir so voll und so lebendig wiedertönt!« –

Meine Karoline wurde gegen Ende des Jahres 1807 von einer Krankheit befallen, die anfangs die Form eines rheumatischen Fiebers hatte. Mein Freund Clarus behandelte sie. Ihr Zustand wurde bedenklicher und räthselhaft; Dr. Kapp wurde zur Consultation gezogen. Bei ihrem körperlichen Leiden war ihre geistige Thätigkeit ungeschwächt und ihre kindlichen Aeußerungen hatten oft einen ernsteren Sinn; als sie mich z.B. eines Tages zu meiner Frau sagen hörte, ich würde durch Erlangung einer Collegiatur ein gemachter Mann sein, rief sie unwillig: »Vater, wie kannst Du doch so närrisch reden, als ob Du nicht ein wirklicher Mann wärst!« – Ihre Sensibilität war widernatürlich erhöht: als eine Dame, die in hohem Grade hysterisch und etwas widerlich war, sich theilnehmend an ihr Bett setzte, sah man ihr an, welchen Zwang sie sich anthat, die widrige Nähe mit Freundlichkeit zu dulden; aber plötzlich versagte ihr die Kraft und sie mußte sich mit einem heftigen Schrei Luft machen, wo sie denn nach Entfernung der Dame sich wieder erholte; eine Büste von Schiller erregte ihr Grauen und mußte entfernt werden. In den ersten Tagen des neuen Jahres sehnte sie sich besonders lebhaft nach Hänsel, an dem sie überhaupt mit großer Liebe hing und der zu Weihnachten verreist war. Am 7. Januar 1808 Morgens trug ich sie auf meinem Arme herum und erzählte ihr von Wien, von ihren Großeltern und wie wir einmal dahin reisen würden. Nachdem ich sie so eine Weile unterhalten hatte, mußte ich mich mit ihr zu ihren Brüdern setzen, da sie zusehen wollte, wie diese frühstückten. Dann verlangte sie ins Bett, und kaum hatte ich sie darein gelegt, so richtete sie sich hastig auf mit dem Rufe: »ich kriege keine Luft!« und sie sank zurück: sie war todt. – Die Blüte meines Lebens war dahin. Die schönste, reinste Freude war mir erloschen. Ich hatte mir sie gewünscht und der Himmel hatte mich erhört, – hatte sie mir gegeben, ausgestattet mit allen den Anlagen, die mich zum glücklichsten Vater machten. In ihr die Erfüllung meiner heißesten Wünsche findend,[145] hatte ich mir gedacht, es sei mir nicht möglich, diese Tochter zu überleben. Aber ich ertrug den Schmerz an der Seite meiner braven Frau in frommer Ergebung, im Vertrauen auf Wiedervereinigung. Ich ließ einen Gipsabguß vom Gesichte der theuren Tochter nehmen zu Fertigung einer Büste, die seitdem immer über meinem Arbeitstische ihren Platz gehabt hat. Die Entschlafene lag im Sarge unter Blumen, Kränzen und Bändern mit sinnigen Worten, von zahlreichen Freunden und Freundinnen dargebracht. Denn von Jedem, der in ihre Nähe kam, war sie geliebt worden, und da ihre Liebe zu Hänsel so innig gewesen war und so ganz in jungfräulichem Geiste sich kund gegeben hatte, so erkannte ich an ihrem Sarge, daß ihr auch das Vorgefühl bräutlichen Glückes zu Theil geworden war, während ihre Träume von Mutterglück in den Spielen mit ihrem jüngern Bruder und mit ihren Freundinnen auf die ergötzlichste Weise hervorgetreten waren. Dabei hatte sie die Lehren von Gott und Tugend mit lebendigem Sinne in sich aufgenommen, so daß ihr von den besten Gütern des Lebens keines fremd gewesen war. – Ich und Hänsel, wir trugen den Sarg aus unserer Wohnung in den Wagen und aus diesem zum Grabe, während beim Aufgange der Sonne Klopstocks: »Auferstehen, ja auferstehen!« gesungen wurde. Es war das Grab, in welchem bereits die Leichen meiner Eltern lagen und zu welchen ich auch meine Karoline geführt hatte, ihr von ihrer Großmutter erzählend. Von nun an besuchte ich mit meiner Frau das theure Grab noch tiefer gebeugt. Unsere Freunde kannten unsern Schmerz: am nächsten Geburtstage unserer Tochter fanden wir auf ihrem Grabe ein tröstendes Gedicht mit der Ueberschrift: »Karoline im Himmel an ihren guten Vater auf Erden«; und an meinem letzten Geburtstage, den ich vor unserer Abreise nach Dorpat in Leipzig verlebte, lag eben so eine schriftliche Versicherung, daß auch in unserer Abwesenheit über das Grab sorglich gewacht werden sollte, daselbst. – Wie mein Schmerz vermöge meines ganzen Charakters nicht in wildes Toben ausbrach und auch durch religiöse Gesinnung so gesänftigt wurde, daß er nicht an meinem Leben zehrte, so ist[146] er darum auch desto tiefer und bleibender. Dreißig Jahre hindurch sind wenig Tage vergangen, an welchen ich nicht wenigstens einmal mit Innigkeit meiner Karoline gedacht hätte. Durch den Tod meiner Frau ward dieser Schmerz allerdings zurückgedrängt, doch jetzt tritt er wieder um so nagender hervor, indem ich den ganzen Umfang meines Verlustes mir vergegenwärtige.

Fußnoten

1 Die Lehre vom Schlagflusse, seiner Natur, Erkenntniß, Verhütung und Heilart. Nach neuen Ansichten bearbeitet von Dr. K.F. Burdach. Leipzig 1806 bei Hinrichs XIV und 177 S. 8.


2 Neues Recepttaschenbuch für angehende Aerzte oder Anleitung zur Verordnung der Arzneimittel in alphabetischer Ordnung, durch Beispiele erläutert, von Dr. K.F. Burdach. Leipzig bei Sommer. 1807. VIII und 312 S. 8.


Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 147.
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