2. Meine Wirksamkeit.

[147] Meine ärztliche Praxis blieb ziemlich beschränkt, wiewohl ich als Armenarzt für das eine Stadtviertel angestellt war. Ich trieb sie aber mit lebhaftem Interesse, insbesondere zu Zeiten, wenn ich gerade mehr Kranke hatte, so daß ich der Besorgung derselben mich mehr hingeben mußte, ohne durch anderweitige Beschäftigungen zu sehr zerstreut zu werden. Während ich erfahrungsmäßig nach den Vorschriften der speciellen Therapie die Krankheitsformen behandelte, suchte ich die allgemeinen therapeutischen Grundsätze in mir auszubilden; insbesondere bemühte ich mich, einerseits mir Ansichten über das eigentliche Wesen der specifischen Krankheitszustände so wie der specifischen Wirkungen der Heilmittel zu schaffen, andererseits durch die dem jedesmaligen Zustande angemessene Steigerung oder Herabsetzung der Gaben das Maß der Erregung gehörig zu stimmen. Ich war oft recht glücklich, und wo ich es nicht war, konnte ich mich damit trösten, daß ich nichts versäumt hatte. Nur einmal fehlte mir dieser Trost: in der Stube eines blutarmen Tischlers, die auch dessen Werkstatt so wie die Lagerstätte der ganzen Familie enthielt und voller Unrath war, lagen im Winter sechs Kinder an den Blattern krank, und als der Ausschlag abheilte, zeigte es sich, daß das eine, das neben einem andern an der Wand lag und das ich dieserhalb nicht hinlänglich untersucht hatte, erblindet war; es war mir eine Beruhigung, daß das Kind nach wenigen Wochen starb. – Die Schutzblatternimpfung veranlaßte einen Briefwechsel mit Dr. Bremer, der mir eine[147] schauderhafte Schilderung von dem damals in Berlin herrschenden Elende gab.

Als Docent war ich ununterbrochen thätig. Ich las Propädeutik, Anthropochemie, Physiologie, Pathologie, Arzneimittellehre und Nosologie, letztere mehr fragmentarisch und eigentlich bloß als Mittheilung meiner Studien. Ich hatte im Durchschnitte 15 Zuhörer; daß unter diesen Puchelt, Niemeyer, Carus, Stapf waren, gereicht nicht zu meinem Ruhme, da ich nicht sagen kann, ob sie etwas von meinen Lehren angenommen haben.

Noch im Jahre 1805 beendigte ich den ersten Theil meiner Beiträge zur nähern Kenntniß des Gehirns, dem bald auch der zweite Theil folgte1.

Um mit seinem Zeitalter an Förderung der Wissenschaft Theil nehmen und in den lebendigen Gang ihrer Entwicklung auch mit eingreifen zu können, ist es natürlich die erste Bedingung, daß man weiß, was gerade an der Zeit ist, und voraus sieht, welche Richtung jetzt eben eingeschlagen werden wird; daß man erkennt, sowohl welcher Gegenstand einer weitern Bearbeitung bedarf und schon dazu reif ist, als auch, in welchem Sinne die Behandlung desselben vor sich gehen muß, auf daß sie mit den in der nächsten Zukunft zu erwartenden oder doch zu wünschenden Bestrebungen der Zeitgenossen zusammenstimmt. Es ist dies das Bewußtsein des Gelehrten, als eines Gliedes im lebendigen, auf der Bahn seiner Entwicklung fortschreitenden Organismus der Wissenschaft; und dies Bewußtsein war mir nicht fremd. Ich sah sehr wohl ein, daß ich, um etwas Tüchtiges zu leisten, bei Gewinnung eines umfassenden Gesichtskreises zugleich die genaue Untersuchung eines speciellen Gegenstandes unternehmen müsse, und daß insbesondere die Lehre vom Gehirne einer weitern Bearbeitung eben sowohl bedürfe, als auch[148] entgegensehe. In meiner damaligen Lage aber konnte ich an Bearbeitung der Hirnlehre nur insofern Theil nehmen, daß ich aus den bisher gemachten Beobachtungen über das Zusammentreffen von bestimmten Abnormitäten des Gehirns mit bestimmten Krankheitszuständen Resultate zu ziehen suchte, welche die Basis für weitere Forschungen abgeben könnten. Ich studirte also mit großem Fleiße die Beobachtungen von Chirurgen über Kopfverletzungen, und von Aerzten über Seelenkrankheiten und Sectionsbefunde. Vorzüglich kam mir die reichhaltige Bibliothek des Dr. Kapp zu Statten, aus der ich, nachdem Dr. Schlegel in Merseburg sie an sich gebracht hatte, die gewünschten Werke kistenweise geliehen bekam. Meine Excerpte schwollen zu einem ansehnlichen Ballen an, der mich nach Dorpat und endlich auch nach Königsberg begleitete, um hier zehn Jahre später ausgearbeitet zu werden. Eine Uebersicht der Abnormitäten der Hirnhäute macht den Inhalt der beiden Theile aus, die von dem weit aussehenden Werke erschienen sind. – Ich hatte um diese Zeit die Bekanntschaft des Dr. Tobias gemacht, und war mit demselben in ein freundschaftliches Verhältniß getreten, das mich sehr interessirte, dabei aber in eine ganz eigene Lage versetzte. Tobias nämlich, ein geübter Anatom und trefflicher Zeichner, lebte damals ganz für Untersuchung des Gehirns und besaß außer einer schönen Sammlung menschlicher und thierischer Schädel eine Menge Zeichnungen vom Gehirne; er schien in Umständen sich zu befinden, wo er dem Studium ungehindert sich hingeben konnte, wie er denn eine eigene Reise nach Krain und Steiermark unternahm, um den gefährlichen Versuch zu machen, ob er nicht Leichen von Cretins zur Zergliederung sich verschaffen könne. Wie begierig war ich nun von den Ergebnissen seiner Forschungen etwas zu erfahren! Mit welch gespannter Aufmerksamkeit betrachtete ich das, was er von seinen Zeichnungen mich sehen ließ! Er sprach von den gewonnenen Ansichten im Allgemeinen mit einer Bestimmtheit und Sicherheit, die mich in die größte Unruhe versetzte, da ich in ihm den Inhaber des goldenen Vließes zu sehen glaubte, zu dessen Eroberung ich auf unsicherem Meere herumtrieb. Ueber seinen[149] eigentlichen Fund war er verschwiegen wie das Grab, und ich vermied jeden Schein eines Verlangens, ihn auszuforschen, aus Discretion, zum Theil auch, weil ich versuchen wollte, was ich mit eigener Kraft ausrichten könne. Tobias ist 1813 zu Dresden am Typhus gestorben, ohne der Welt seine Bemerkungen mitgetheilt zu haben. Medicinalrath Seiler, an den ich mich deshalb wendete, hatte in seinem Nachlasse nichts Schriftliches darüber gefunden, und vom Prof. Kühn erfuhr ich nur so viel, daß er eine materialistische Erklärung der Seelenthätigkeiten versucht, besonders die Zahl der Hirnwindungen mit dem Grade der geistigen Kräfte verglichen, und davon 60 Zeichnungen entworfen, übrigens auch eine noch unbekannte Hirnhöhle entdeckt zu haben geglaubt hatte.

Auch hinsichtlich der Tendenz glaubte ich, die Forderungen des Zeitalters verstanden zu haben. Die Schelling'sche Naturphilosophie hatte mich vermöge ihrer Aufgabe im höchsten Grade interessirt, und der in ihr waltende lebendige, frische Sinn hatte auch auf mich anregend gewirkt, aber mit der Methode hatte ich mich nicht befreunden, noch auch von der Richtigkeit der allgemeinsten Sätze über die Naturkräfte mich überzeugen können. So dachte ich denn auch an eine philosophische Bearbeitung der Naturwissenschaft, blickte aber über die damals herrschende Schule der Naturphilosophie schon hinaus in eine künftige Bildungsperiode, und legte im ersten Bande der genannten »Beiträge« Proben davon vor. In dem hier gegebenen »ersten Umrisse eines psychologisch deducirten Systems der Naturwissenschaft« gehe ich von dem Principe aus, daß der Theil den Grundcharakter des Ganzen an sich tragen, und, wenn er in seiner Reinheit und Vollständigkeit erkannt werde, auch über das Wesen des Ganzen Aufschluß geben müsse; da nun das Leben unsres eigenen Ich's das Einzige ist, was wir unmittelbar, mit voller Sicherheit und in seinem ganzen Umfange kennen, so müßten wir aus demselben die allgemeinen Formen altes Bestehens und Wirkens abzuleiten vermögen. Was ich hier gab, sind eigentlich nur Studienblätter, die unzeitig und an einer unpassenden Stelle – unmittelbar vor einer[150] Aufzählung von Abnormitäten der Hirnhäute – veröffentlicht wurden; sie hatten bei weiterer Ausarbeitung einer der Psychologie parallel laufenden Physiologie des Gehirns zur Einleitung dienen sollen.

Ziemlich zu gleicher Zeit gab ich einen Nachtrag zu der Segnitzischen Arzneimittellehre heraus2. In der vorausgeschickten Abhandlung suchte ich darzuthun, wie, abgesehen von rein chemischen und mechanischen Wirkungen, die specifische Kraft der Heilmittel auf deren Affinität zur Lebensthätigkeit bestimmter Organe beruht, welche nach Maasgabe der Dosen in verschiedenen und selbst entgegengesetzten Erscheinungen sich äußert, so daß darin das ursprüngliche Princip der Homöopathie seine Erklärung findet. In Bezug auf die specielle Heilmittellehre legte ich die Lehre vom Gegensatze, als von der Bedingung aller Thätigkeit, zum Grunde, und theilte die dynamisch wirkenden Heilmittel in solche mit vorstechendem Sauerstoffe, welche specifische Reize für das Muskelsystem sind, und in solche mit prävalirenden brennbaren Stoffen, die ihre Wirkung auf die Nerventhätigkeit richten. In der Vorrede äußerte ich, aus Achtung für das Publikum hätte ich eigentlich diese Abhandlung noch länger zurückbehalten wollen, um sie in der Folge weniger unvollkommen bekannt machen zu können; doch scheine es mir auf der andern Seite zu egoistisch, eine Idee dem Publicum nicht eher mittheilen zu wollen, als bis man sie in ihrem ganzen Umfange zu vertheidigen sich getraue, und schloß mit folgenden Worten: »Die gegenwärtige Generation der Naturforscher schreibt nicht für die Unsterblichkeit, nicht für die kommenden Jahrhunderte, greift aber desto kräftiger in den gegenwärtigen Zustand der Wissenschaft ein; das Individuum leistet Verzicht darauf, vollkommne Werke zu liefern, trägt aber dadurch[151] um so mehr zur vollkommnern Organisation der ganzen Wissenschaft bei; und daher kommt es denn, daß, indem wir selten ein einzelnes classisches Werk erhalten, ein classischer Geist sich in der Gesammtheit unserer literarischen Tendenzen regt.« – Unter den einzelnen Heilmitteln ist der Galvanismus am umständlichsten (auf 130 Seiten) und, wie mich dünkt, für die damalige Zeit erschöpfend abgehandelt.

In den folgenden Jahren lieferte ich nun das System der Arzneimittellehre, welches im Ganzen genommen die in der oben erwähnten Abhandlung angedeuteten Principien zur Grundlage hat3. – Die Arzneimittel streben in chemischer Richtung auf den menschlichen Organismus zu wirken; ihre Kräfte liegen also in ihrem Mischungsverhältnisse, welches in seiner allgemeinsten Beziehung auf der Proportion der Grundstoffe beruht. Nun ist, wie alle Thätigkeit, so auch die chemische, durch den Gegensatz bedingt, der hier am durchgreifendsten in Sauerstoff und Brennstoff erscheint. Diesen Grundstoffen müssen Grundkräfte entsprechen. Da nun die Welt die Offenbarung des absoluten Seins unter der Form der Besonderheit und Mannichfaltigkeit ist, so muß es zwei Grundkräfte geben, wovon die eine auf Entwickelung der Mannichfaltigkeit aus der Einheit ausgeht und im Reiche der Stoffe durch den Wasserstoff repräsentirt wird, die andre auf Zurückführung der Mannichfaltigkeit zur Einheit gerichtet ist und dem Sauerstoffe entspricht. Der Organismus stellt diese Grundkräfte dar im Gegensatze der nach Mannichfaltigkeit strebenden Muskelthätigkeit und der auf Einheit gerichteten Nerventhätigkeit. In der galvanischen Kette verhält sich der Muskel als das positive, brennstoffige Glied, der Nerve als das negative, sauerstoffige; da nun jede Thätigkeit nur durch Gegensetzung erregt wird, so muß der specifische Reiz für den Nerven in den Brennstoffen, der für den Muskel im Sauerstoffe enthalten sein. Zwischen dem organischen Gegensatze von Nerven und Muskeln steht als Indifferenz[152] und Grundlage die Plasticität; dies bildet den eigenen Körper aus fremden Stoffen, vermag solches aber nur, wenn diese durch gegenseitige Mäßigung oder Bindung der in ihnen wirkenden Grundstoffe indifferenzirt sind, so daß denn auch dergleichen indifferente Substanzen als specifische Reize für das plastische Leben wirken. – Dies ist das Gerippe meines Systems, wie ich es namentlich in der zweiten Ausgabe dargelegt habe, und welchem man wissenschaftlichen Charakter und Consequenz nicht absprechen kann. Es ist dabei ausgesprochen, daß das aufgestellte oberste Gesetz nicht als eine einfache Formel gelten kann, nach welcher die Wirksamkeit jedes Arzneimittels ohne Weiteres zu bestimmen wäre, sondern daß vermöge der überall vorkommenden Mannichfaltigkeit in der Mischung der Arzneimittel, so wie in der Natur der organischen Theile das Princip auch überall modificirt sich darstelle. Im Speciellen habe ich mich überall rein an die Erfahrung gehalten, und wenn ich diese unter den Gesichtspunct meines Princips zu stellen mich bemühte, so ist mir dies, wenigstens hin und wieder, offenbar gelungen. Uebrigens ist meine Arbeit von Manchem meiner Nachfolger, der entweder das Wissenschaftliche abstreifte und sich rein an das Empirische hielt, oder auf eine den Fortschritten der Chemie angemessne höhere Stufe der Wissenschaftlichkeit sich stellte, wohl benutzt worden.

Im Jahre 1808 erschien mein Handbuch der Pathologie4, welches durch eine streng systematische Anordnung, so wie durch die Bemühung, Speculation und Empirie zu vereinen, das Gepräge meiner geistigen Individualität trägt, dessen Unvollkommenheiten ich aber nach den in der Vorrede gegebenen Erklärungen schon bei der Herausgabe lebhaft fühlte. In der Pathogenie oder Lehre von den Elementen der Krankheit stelle ich als Abnormitäten der Reizbarkeit Pyrexie und Paralysis, als die des[153] Wirkungsvermögens Sthenie und Asthenie auf, und erkläre, wie Pyrexie und Paralysis Formen sind, denen bald Sthenie, bald Asthenie zum Grunde liegt; die Abnormitäten der Bildung theile ich in die der Mischung, wobei ich die Humoralpathologie nach chemischen Ansichten abhandle, und in die der Form. In der Aetiologie weiche ich von der herrschenden Ansicht ab, nach welcher der Organismus im Kampfe mit einer auf seine Zerstörung ausgehenden Außenwelt begriffen sein soll, und erkenne eine Harmonie der Natur an, als des Gesammtorganismus, der sich selbst unbeschränkt, die individuellen Organismen aber einen ihrem Wesen proportionirten Zeitraum hindurch zu erhalten strebt; die Potenzen aber, welche, im Gleichmaße wirkend, das Leben fördern, werden, wenn sie entweder an sich davon abweichen oder im Mißverhältnisse zum gegenwärtigen Zustande des Organismus stehen, zu Schädlichkeiten. Darauf folgt die Lehre von der Anlage, dann die Symptomatologie und endlich die allgemeine Nosologie, in welcher die Natur und der Gang der Krankheit betrachtet wird. – Vermöge seiner systematischen Gliederung könnte das Buch vielleicht jetzt noch einen schicklichen Leitfaden für Vorlesungen abgeben, da es eine leichte Uebersicht des Ganzen gewährt und manche der darin auseinander gesetzten Ansichten wohl beachtet zu werden verdienen. Uebrigens finde ich im Hinrichsschen Bücherkataloge von 1808 zum Titel meines Buchs den Zusatz: »nach eigenen Ansichten zum praktischen Gebrauche entworfen«; und da derselbe auf dem in Kupfer gestochenen Titel meines Exemplars fehlt, so habe ich allen Grund, anzunehmen, daß der Verleger mich hintergangen, wider meinen Willen jene Worte zugesetzt, und um meinen Protestationen vorzubeugen, ein Titelblatt hat in Kupfer stechen lassen, da es ihm weniger Kosten verursacht hat, als der Umdruck eines ganzen Bogens.

Im Sommer 1809 arbeitete ich mein Lehrbuch der Physiologie aus5. In den an der Spitze stehenden allgemeinen[154] Betrachtungen ist ebenfalls der Gegensatz als die Form alles Erscheinens und die Bedingung aller Thätigkeit dargestellt, aber dabei die Synthesis als Eigenes, die entgegengesetzten Richtungen Umfassendes betrachtet, und so überall das Princip der Triplicität durchgeführt. Hier stand ich offenbar unter dem Einflusse der Schellingschen Lehre; indeß bewies ich dabei immer meine Selbstständigkeit. Die Ansicht nämlich, daß das Wesen der Natur und des Organismus in einer nothwendigen und unzertrennlichen Verbindung von Vielheit, Einheit und Allheit bestehe, leitete ich nach dem oben (S. 150 fg.) aufgestellten Grundsatze aus der Beschaffenheit unseres Erkenntnißvermögens ab, welches Sinn, Verstand und Vernunft in sich schließt; auch nahm ich das Axiom der Schellingschen Schule von dem dreifachen Naturprocesse in Magnetismus, Elektricität und Chemismus nicht an. Ueberall leuchtet die Ansicht von der Herrschaft des ideellen Princips durch. In der allgemeinen Physiologie ist der Organismus in seiner mechanischen, chemischen und dynamischen Seite aufgefaßt und in letzterer Beziehung eine Entwickelung der jetzt so vernachlässigten Gesetze der Erregung gegeben. Darauf folgt eine Betrachtung der allgemeinen organischen Thätigkeiten, Sensibilität, Irritabilität und Reproduction, welche letztere einen indifferenzirenden, auf Blutbildung ausgehenden und einen differenzirenden, in Nutrition und Secretion bestehenden Proceß in sich begreift.

Im speciellen Theile nahm ich die Lehre vom thierischen Magnetismus und die Gallsche Schädellehre zuerst in den Vortrag der Physiologie auf, und suchte beiden Gegenständen eine wissenschaftliche Begründung zu geben.

Bei meiner Sinnesweise hatten mich die Beobachtungen von Gmelin, Wienholt, Petzold und Anderen sehr interessirt. Die Mondsucht hatte ich an mir selbst kennen gelernt; nachdem ich früher bisweilen im Schlafe Verschiedenes handthiert hatte, wurde ich in meinem 29sten Jahre auf einer solchen Wanderung mit der Frage, was ich suche, geweckt, und nun ging das Bewußtsein des somnambulen Zustandes zum Theil in das Wachen über: zunächst fand ich die Frage sonderbar, da[155] der Zweck klar sei, meinte jedoch, ich dürfe diesen nicht verrathen; sogleich aber, indem ich zu wachen begann, fragte ich mich, worin derselbe bestehe und mußte, da nun der somnambule Zustand vorüber war, mir die Antwort schuldig bleiben. Dann beobachtete ein Freund von mir, Dr. Redlich, die Erscheinungen des thierischen Magnetismus an seiner Gattin, und diese stattete mir selbst Berichte darüber ab. Durch solche Veranlassungen auf diesen Gegenstand aufmerksam gemacht, bildete ich mir folgende Theorie. Die animalischen Organismen stehen ohne unmittelbare Berührung vermittelst der Wirkung ihrer Nervensysteme in die Ferne (der sogenannten sensiblen Atmosphäre) unter einander in Verkehr; beim Magnetisiren verschmelzen die Nervensysteme zweier Individuen dynamisch zu einem Ganzen, es ist Neurogamie: der Magnetiseur (Neurander) knüpft durch seine Manipulationen die peripherischen Enden seines Nervensystems an das der Magnetisirten (Neurogyne), so daß diese nun ganz peripherisch, mithin durch Vorherrschen des Gangliensystems sich ihrer leiblichen Zustände heller bewußt, und vermöge prädominirender Receptivität von dem Neurander, der das Centrale ihres Nervensystems darstellt, abhängig wird.

Was die Gallsche Lehre anlangt, so schien mir das Thatsächliche derselben zu bedeutend, als daß man es in der Physiologie ignoriren könnte. Einerseits traten mir Beobachtungen entgegen, welche diese Lehre bestätigten: die Schädelsammlung von Tobias lieferte mehrere Belege dazu; Graf Harrach suchte sich in Taubers physikalischem Magazine, wohin ich ihn bei seinem Aufenthalte in Leipzig begleitete, eine Brille aus, und da von den meisten die Bügel ihm zu weit, dem Magister Tauber aber zu eng waren, fand er dies sehr natürlich, da das mechanische Talent, welches Letzterer in hohem Grade besaß, ihm ganz abgehe; als er hierauf im weiteren Gespräche über Galls Lehre meinen Kopf untersuchte, schrieb er mir ein ausgezeichnetes Inductionsvermögen, eine eigene Mischung von Circumspection mit Unüberlegtheit und viel Familienliebe zu, was ich Alles willig unterschrieb. – Andererseits fand ich in den vereinzelten, rein empirischen Aussprüchen Galls einen systematischen[156] Zusammenhang und suchte sie demnach wissenschaftlich zu deuten. Ich ging davon aus, daß, wie überall in der Natur, so auch im ganzen Organismus das Ideelle mit dem Materiellen verknüpft, und das Seelenorgan nur der Punkt ist, wo das persönlich gewordene Ideelle, die zu Freiheit und Bewußtsein gesteigerte Psyche in das Materielle eingreift und hinwiederum von ihm bestimmt wird. Dieser Punkt könne, meinte ich, nur in den Hirnhöhlen mit ihrem Gas sich finden, da sie die Einheit der verschiedenen Hirntheile darstellen; bei der Seelenthätigkeit trete eine Wechselwirkung dieses Gas mit der Höhlenwandung, also eine Expansion des Gehirns ein, welche nach Beschaffenheit der Seelenthätigkeit diese oder jene Richtung nehme, und indem eine solche Richtung habituell werde, treibe sie bestimmte Gegenden des Gehirns, dadurch aber auch des Schädels hervor. Hiernach nahm ich nun eine Region des Geistes an der vorderen und eine des Gemüths an der hinteren Fläche des Schädels, dazwischen aber Seitengruppen für gemischte Thätigkeiten an, in jeder dieser Regionen aber der Höhe nach verschiedene Zonen, von denen jede höhere einer gesteigerten, edleren Seelenthätigkeit entspreche; ich zeigte nun, wie die empirischen Sätze Galls mit dieser Theorie übereinstimmen.

Mein Buch fand im Ganzen eine nicht ungünstige Aufnahme. Unter Anderem legte es Rudolphi eine Zeitlang seinen physiologischen Vorlesungen zum Grunde, wobei er denn freilich manchen Anstoß finden mußte an der streng systematischen Anordnung, nach welcher die Thätigkeit des rechten Herzens bei dem indifferenzirenden, die des linken bei dem differenzirenden Bildungsprocesse abgehandelt wurde, so wie an den speculativen Sätzen, dergleichen er überhaupt von sich fern hielt, und an der Neurogamie und Kranioskopie, die er beide für leere Fictionen erklärte. – Eine schnöde Recension, welche Oken in der Jenaischen Literaturzeitung gab, erwähne ich, weil sie die einzige in meinem Leben ist, die mich geärgert hat und die ich ihrem Verfasser trotz meiner sonstigen Versöhnlichkeit nie ganz verziehen habe, so daß sie wohl einigen Antheil an der Bitterkeit hat, mit welcher ich mich späterhin in meinem größeren physiologischen[157] Werke über Oken erklärt habe. Er sagte nämlich in jener Recension, »mein Buch habe gar keine wissenschaftliche Bedeutung, und eigne sich nur zum Unterrichte von Chirurgen; ich würde besser thun, wenn ich, ohne mich in höhere Sphären zu wagen, bei pharmakologischen Arbeiten bliebe.« Einige Zeit darauf besuchte er mich, wo ich ihn denn sehr kalt aufnahm; da ich auf seine Einladung, bald einmal nach Jena zu kommen, erwiderte, ein von der Jenaischen Literaturzeitung in den Lehrkreis für Barbiergesellen verwiesener Schriftsteller passe nicht in die Gesellschaft wissenschaftlicher Männer, versetzte er, solch eine Aeußerung könne nicht so ernsthaft gemeint sein. – Als 1831 P.F. von Siebold durch Königsberg ging, erzählte er, mein Lehrbuch der Physiologie sei ins Japanische übersetzt. Ich nahm dies anfänglich als einen Pendant zur Aufnahme meines Bildes in das Museum des Wundervollen; späterhin fiel mir eine Beziehung jenes Urtheils der Jenaischen Literaturzeitung auf die holländischen Chirurgen in Japan ein. –

Gegen Ende des Jahres 1808 schrieb mir Brockhaus von Amsterdam aus, er trage sich seit langer Zeit mit dem Gedanken, ein encyklopädisches Handbuch der gesammten Arzneikunde in höchstens vier Bänden zu verlegen, forderte mich auf, ihm meine Meinung darüber zu eröffnen und mich zu erklären, ob ich die Redaction und außerdem die Bearbeitung der einen oder der anderen Abtheilung übernehmen wolle. Da nun systematische Einheit, Ordnung, Consequenz und Vollständigkeit immer das Ziel meiner literarischen Thätigkeit gewesen war, so sprach ein solches Unternehmen mich sehr an. Ich theilte Brockhausen den Plan zu einem solchen Werke ausführlich mit, und er antwortete mir unterm 20. März 1809, er sei ganz mit mir einverstanden, namentlich auch darin, daß erst in kommendem Jahre der Anfang mit der Herausgabe gemacht werden sollte, übrigens rechne er auf das Vergnügen, mich zur Ostermesse zu sprechen und sich noch über andere Pläne, z.B. zu einer deutschen médecine domestique und zu einem Handwörterbuche über die gesammte Arzneikunst mit mir zu unterhalten. Aber zu derselben Ostermesse brachte er bereits den ersten Band jenes[158] Werkes, von Sprengel bearbeitet, unter dem Titel: institutiones medicae. Wie dies zusammenhing, habe ich nicht erfahren, auch mich nicht darum bekümmert. Indeß hatte ich mich einmal in den Plan hinein gedacht, und wollte ihn darum nicht aufgeben, indem ich meinte, auch gegen Sprengel wohl in die Schranken treten zu können. So war es denn eigentlich eine Buchhändler-Speculation, was mich zu dem Wagestücke bestimmte, die Encyklopädie der Heilkunst auszuarbeiten6. Ich erdreistete mich, hier zuvörderst einen Umriß der gesammten Naturwissenschaft als der Grundlage des ärztlichen Wissens zu liefern. In der allgemeinen Naturwissenschaft gehe ich davon aus, daß in den Erscheinungen der Welt die Vielheit, im Gesetze derselben die Einheit sich darstellt, und daß das gemeinschaftliche Band beider sich als das dritte Princip, die Allheit, darstelle. Die Einheit ist geistig und das Urprincip, aus welchem die Vielheit (die Materie) so wie die Allheit (das Naturganze) hervorgeht, wie Antithesis und Synthesis erst durch eine Thesis möglich werden. Das Ideelle ist also der höchste Grund des All, das Materielle, Erscheinende ist seine Außenseite, und die Natur ist der Inbegriff des Erscheinenden sammt seinem Grunde. Von dieser Ansicht ausgehend, verfolge ich die allgemeinsten Prädicate der Natur in den Gesetzen des Seins und der Thätigkeit. Hierauf trage ich in der Phänomenologie im Umrisse zunächst die Mechanik vor, worin das Sein der Materie und ihre Thätigkeit (Bewegung) betrachtet wird. Zweitens die Dynamik, die Lehre vom Magnetismus als der Entzweiung eines Körpers in seine beiden Factoren ohne Störung seiner materiellen Existenz; von der Elektricität, wo zwei Körper durch Wechselwirkung dynamisch eins werden, so daß die Factoren an beide vertheilt sind; und von den drei in stetem Flusse befindlichen[159] Erscheinungen der Expansivkraft: dem Schalle, als der innerlichen Bewegung eines Körpers; der Wärme, als der aus dem Conflicte mit Contractivkraft hervortretenden und den Cohäsionsgrad bestimmenden Expansivkraft; und dem Lichte, als der höchsten Aeußerung freier Expansivkraft, bei welcher die Contractivkraft in anderer Beziehung herrschend wird. Drittens folgt die Chemie. – Jedenfalls zeigt es sich, daß ich das Lückenhafte und Ungenügende in der bisherigen Physik, die ihren Ruhm vorzüglich nur in Berechnungen sucht, erkannt und mich bemüht habe, durch Zusammenfassung der betreffenden Thatsachen bestimmte Begriffe vom Wesen der Erscheinungen zu erlangen: ist dieser Versuch zum Theil oder auch ganz mißlungen, so muß er meines Erachtens von denkenden Physikern so lange wiederholt werden, bis eine vollgültige Ansicht gewonnen ist. – Die besondere Naturwissenschaft begreift Kosmologie, Geologie und Biologie. – Im zweiten Bande wird der Mensch zuerst im Allgemeinen nach seinen Verhältnissen zum Weltorganismus und in der Reihe der organischen Wesen betrachtet; darauf werden die Erscheinungen seines materiellen und animalen Lebens einzeln durchgegangen, worauf eine Geschichte des Individuums und der Gattung folgt. – Der dritte Band war zum vereinten Vortrage der Pathologie und allgemeinen Therapie bestimmt. Die erste Abtheilung begreift 1) Pathogenie und Hygeiogenie, indem allgemeine Begriffe vom Erkranken (absoluter und relativer Gesundheit, Anlage und Schädlichkeit, Abnormität, Krankheit und Krankheitsform) und Genesen (Heilkraft der Natur und Heilkraft der Kunst, sich bethätigend in Erkenntniß, Festsetzung eines Heilplans und Behandlung), von den allgemeinsten Verschiedenheiten, so wie vom Gange der Krankheit und der Heilung gegeben werden. 2) Die Aetiologie mit Jamatalogie verbunden, betrachtet die Einflüsse, insofern sie bald als krankmachende Schädlichkeiten, bald als Mittel der Heilung wirken. 3) Die Lehre von den Abnormitäten und den ihnen entgegen zu setzenden Heilarten blieb wegen meines Wegganges von Leipzig ungedruckt, so wie aus demselben Grunde die Fortsetzung des Werks unterblieb. – Ich war vielleicht nicht der Mann dazu,[160] dies Unternehmen zu Stande zu bringen; indeß glaube ich, daß der Plan, namentlich der, welcher dem dritten Bande zum Grunde liegt, wohl verdiente, in umfassendem, wissenschaftlichem Sinne ausgeführt zu werden.

Daß es mir um Förderung des ärztlichen Wissens Ernst war, und daß ich den genannten Arbeiten in wahrhaft wissenschaftlichem Interesse meine Kräfte widmete, liegt wohl vor Augen. Freilich hätte ich lieber meine Kräfte concentrirt und mich der gründlichen Untersuchung einzelner Gegenstände hingegeben: allein meine Umstände erlaubten es mir nicht, und ich mußte an allgemeine Darstellungen (wozu ich allerdings auch überwiegendes Talent hatte) mich halten, welche durch Verwebung einer Masse fremder Beobachtungen mit meinen Gedanken die gehörige Breite erhielten; und diese Darstellungen mußte ich auch um des Erwerbs willen früher herausgeben, als ich zu ihrem Vortheile gewünscht hätte. Ich finde noch einen Bogen, auf welchem ich mir im Winter 1810 bis Juni 1811 anmerkte, wie viel Seiten Manuscript vom zweiten und dritten Bande der Encyklopädie ich an jedem Tage geschrieben hatte, und woraus ich meine Emsigkeit erkenne. Das Blatt ist mir, im Vorbeigehen gesagt, darum noch lieb, weil meine Frau, im Begriffe auf einige Tage zu meinen Verwandten aufs Land zu gehen, heimlich darauf geschrieben hatte: »mein guter Burdach, Du mußt recht hübsch viel an mich denken.«

Fußnoten

1 Beiträge zur nähern Kenntniß des Gehirns in Hinsicht auf Physiologie, Medicin und Chirurgie, von Dr. K.F. Burdach. Leipzig bei Breitkopf und Härtel 1806. I. Theil XX und 292 S. II. Theil VIII und 295 S. 8.


2 Handbuch der neuesten Entdeckungen in der Heilmittellehre. Nebst einer Abhandlung über die Principien dieser Disciplin, von Dr. K.F. Burdach. Leipzig bei Hinrichs 1806. 372 S. 8. – Auch unter dem Titel: Handbuch der praktischen Arzneimittellehre u.s.w. von F.L. Segnitz. Dritter und letzter Band.


3 System der Arzneimittellehre, von K.F. Burdach. Leipzig bei Dyck. I. Bd. 1807. 570 S. II. Bd. 1808. 502 S. III. Bd. 1809. 484 S. 8.


4 Handbuch der Pathologie von Dr. K.F. Burdach. Leipzig bei Hinrichs 1808. XXVIII und 426 S. 8.


5 Die Physiologie, bearbeitet von K.F. Burdach. Leipzig in der Weidmannschen Buchhandlung. 1810. XX und 867 S. 8.


6 Encyklopädie der Heilwissenschaft von K.F. Burdach. Leipzig bei Mitzky und Compagnie. I. Band. Die Propädeutik der Heilwissenschaft und die Natur wissenschaft. Mit 2 Kupfertafeln 1810. XXIV und 634 S. II. Band. Die Naturwissenschaft des Menschen. 1811. X und 746 S. III. Band. Krankheit und Heilung. 1. Abtheilung 1812. 368 S.


Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 161.
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