2. Amtliche Wirksamkeit.

[225] Mein Hauptcollegium war Anatomie. So lange ich mich wieder in sie einstudiren mußte, trug ich nach ausgearbeiteten Heften einzelne Sätze vor, über die ich dann Demonstrationen hielt. Da nach der dasigen Einrichtung der akademische Cursus mit der bürgerlichen Einrichtung übereinstimmte, so daß jedes Semester ein Sommer- und ein Wintervierteljahr in sich schloß, so richtete ich mich so ein, daß ich im zweiten Semester des Jahres (vom 1. August bis Ende Decembers) mit allgemeiner Anatomie, Osteologie und Syndesmologie begann und mit Myologie schloß, dann im ersten Semester des folgenden Jahres (vom 1. Februar bis Ende Juni's) zuerst Splanchnologie, dann Neurologie und Angiologie vortrug. – Der Prosector, Prof. Cichorius, war, wie ich weiter unten auseinandersetzen werde, für mich gänzlich unbrauchbar. Zu meinem Glücke war mein Amanuensis Pietsch geschickt, eifrig und mir ergeben: er präparirte an den Leichnamen die zu demonstrirenden Organe, lieferte manch' hübsches Präparat zu der von Isenflamm durch Ankäufe und eigene Arbeiten angelegten, für den Anfang nicht unbedeutenden Sammlung, stellte eigene Untersuchungen für sich an und war mir bei den meinigen behülflich. Während des Jahres, wo ich ihn an meiner Seite hatte, führte ich ein ausführliches Tagebuch über die Verwaltung des anatomischen Theaters; wir zergliederten in dieser Zeit dreißig Leichname, brachten die Präparatensammlung in eine bessere Ordnung, fertigten einen nach dem Locale ihrer Aufstellung geordneten Katalog derselben und vermehrten sie nicht ganz unbedeutend. – Nach Pietschens Abgange stand ich in Bezug auf die anatomische Anstalt allein und konnte für diese seitdem weniger leisten.

Ferner las ich medicinische Propädeutik, Physiologie, Geschichte[225] des Lebens, und (im zweiten Semester von 1813) Bildungsgeschichte des Embryo.

Ich fand Beifall: in meinen Vorlesungen über Geschichte des Lebens hatte ich 60 Zuhörer aus verschiednen Facultäten, was nicht unbedeutend war, da die Gesammtzahl der Studirenden nur 255 betrug; in den anatomischen und physiologischen Vorlesungen waren 23 bis 26 Zuhörer. Die sogenannten Kronstudenten, die zum großen Theile wenig gebildet waren, abgerechnet, fanden sich unter den Medicinern viel talentvolle oder doch für wissenschaftliche Bildung sehr empfängliche junge Männer, die ein sehr dankbares Auditorium bildeten und mir mit Wärme zugethan waren. Eine Zahl von ihnen begleitete mich täglich aus der Vorlesung nach meiner Wohnung, und ich meiner Seits stieg jedesmal, mochte der Schnee noch so hoch liegen, mit Vergnügen auf den Domberg zum anatomischen Theater, denn ich hatte nicht nur an den Vorträgen selbst, sondern auch an dem, worüber mein Vorgänger am meisten geklagt hatte, an dem zu ersteigenden Berge meine Freude: hatte ich ja doch von da aus eine freie Aussicht, so daß ich Bergluft zu athmen glaubte. Ich verwendete allen Fleiß auf die Vorbereitung zu meinen Vorlesungen, und da ich mich jetzt bei gesicherter Existenz von den früher getragenen Fesseln befreit fühlte, mochte mein Vortrag lebendiger und anziehender sein; auch hatte die Philosophie und Naturwissenschaft in Dorpat damals noch nichts von dem Einflusse Schellings und seiner Schule erfahren, und mein Streben, der Empirie einen tiefern Sinn abzugewinnen, fand bei den einer höhern Bildung fähigen jungen Männern viel Anklang. Es war die schönste Periode in meinem akademischen Docentenleben.

Um meinen Zuhörern mehr zu nützen, kam ich auf den Gedanken, ein Conversatorium und Journalisticum für sie zu stiften. Ich beabsichtigte damit, das angeregte geistige Leben unter ihnen zu fördern, daß es nicht allein in ihrer Studienzeit, sondern auch in ihrer Laufbahn als Praktiker sich erhalte und Frucht bringe. Wissenschaftlicher Ernst sollte hier herrschen, gegenseitiges achtendes Vertrauen sollte zu freien Mittheilungen[226] ermuntern, und durch die Form eines geschlossenen Vereins sollte auch der jugendlichen Phantasie etwas gewährt und das Interesse erhöht werden. Die Theilnahme sollte eine Ehrensache sein, und zu Vermeidung von Störungen der Rohe und Unfähige davon abgehalten werden. – Mein Plan wurde von denjenigen Studirenden, die mir näher gekommen waren, mit Freuden angenommen, und ich entwarf die »Statuten der ärztlichen Gesellschaft.« Nach diesen war der nächste Zweck: Beförderung ärztlich wissenschaftlicher Bildung, – der spätere: Unterstützung gemeinnütziger Wirksamkeit für das öffentliche Gesundheitswohl und für die Wissenschaft. Die ordentlichen Mitglieder sind ein Professor als Vorsteher und Studirende. Zur Aufnahme der Letztern wird erfordert: Sinn für die Wissenschaft und Fleiß, anständiger Lebenswandel und humanes Betragen gegen die Commilitonen. Ueber die Aufnahme wird durch Abgabe von weißen oder schwarzen Zetteln gestimmt; wer einen schwarzen Zettel giebt, muß seine Gründe dem Vorsteher im Vertrauen anzeigen, der, wenn er sie unstatthaft findet, die Aufnahme beschließt; sind aber drei oder mehr schwarze Zettel eingegangen, so ist die Verweigerung der Aufnahme entschieden. Bei einem mit den Zwecken der Gesellschaft in Widerspruch stehenden Benehmen kann ein Mitglied ausgeschlossen werden, und zwar so, daß es ersucht wird, die Gesellschaft nicht mehr zu besuchen, und sein Austritt freiwillig zu sein scheint, wie denn auch die Verweigerung der Aufnahme als Geheimniß behandelt werden muß. Der Vorsteher leitet den Gang der Unterhaltung, sorgt für Stoff derselben, stellt Probleme auf, macht auf Gegenstände, die noch einer besondern Untersuchung bedürfen, aufmerksam, und besorgt die allgemeinen Geschäfte der Gesellschaft. Von den übrigen ordentlichen Mitgliedern sind zwei Secretäre, welche über die Verhandlungen ein ausführliches Protokoll führen; ein Bibliothekar, der periodische und andre Schriften circuliren läßt und aufbewahrt; und ein Cassirer. Die Zahl der ordentlichen Mitglieder darf nicht über zwanzig sein; sind mehr annehmbare Competenten gemeldet, so werden sie aggregirte Mitglieder, die an den Debatten und am Lesen der circulirenden[227] Schriften keinen Theil nehmen. Außerordentliche Mitglieder sind geachtete, wissenschaftlich gebildete Männer. Durchreisende können auf vorherige Meldung die Gesellschaft besuchen. In Dorpat wohnende Personen können nicht hospitiren. – Die Gesellschaft versammelt sich wöchentlich einmal. Die Unterhaltung beginnt mit einer Disputation, deren Zweck aber nicht in Darlegung dialektischer Gewandtheit, vielmehr in Begründung einer festen Ueberzeugung durch Betrachtung eines Gegenstandes von verschiednen Seiten her besteht. Daran knüpft sich freie Unterhaltung über das Thema der Disputation oder über einen andern Gegenstand, der zur Sprache gebracht wird. Hierauf folgt Mittheilung von schriftlichen Aufsätzen, entweder eigenen Arbeiten oder Auszügen aus gelesenen Schriften, was wieder zu gemeinsamen Erörterungen Anlaß geben kann. – Für die weitern Zwecke in der Zukunft, wo die Gesellschaft auch für die Beförderung des öffentlichen Gesundheitswohls und für die Fortschritte der Wissenschaft in Wirksamkeit treten sollte, waren ebenfalls Bestimmungen getroffen.

Die Gesellschaft kam zu Stande, und zählte außer zwanzig ordentlichen und elf aggregirten Mitgliedern fünf außerordentliche, nämlich den Professor Styx, den Oberpastor Lenz, den Gymnasiallehrer und Lector Rosenberger, den Doctor Lehmann und den Medico-Chirurg Löffler. Zu meiner großen Freude herrschte in unserem Vereine ein frischer, ernster Sinn und ein reger Eifer. Von ihrer Hingebung gaben mir die Studirenden unter Andrem bei folgendem Ereignisse einen Beweis. In den Statuten war festgesetzt: »Die Mitglieder der Gesellschaft verpflichten sich als Männer, in dem Falle, daß einem Studirenden die gewünschte Aufnahme versagt wird, weder gegen denselben, noch auch gegen irgend Jemanden von der geschehenen Abstimmung sich etwas merken zu lassen; auch wird im Protokolle der Name des Erstern nicht angegeben, und überhaupt das ganze Ereigniß nicht mehr erwähnt. Der Vorsteher giebt dem Bewerber gar keine Antwort, oder sagt ihm, wenn er darum fragt, daß seine Aufnahme vor der Hand nicht[228] vor sich gehen könne.« Als nun ein solcher Fall vorgekommen und gegen einen Studirenden, der beizutreten gewünscht hatte, abgestimmt worden war, erfuhr ich eines Tages, daß derselbe den ganzen Hergang wußte. Sogleich rufte ich alle ordentlichen Mitglieder der Gesellschaft zusammen, stellte ihnen – ich glaube mit lebendiger Beredtsamkeit – vor, daß wenn demjenigen, der die Aufnahme gewünscht, die Verweigerung derselben und der Name derjenigen, die gegen ihn gestimmt hätten, bekannt würde, Streitigkeiten daraus entspringen müßten, bei denen die Gesellschaft nicht bestehen könnte; im Vertrauen, daß sie als Männer verschwiegen sein würden, hätte ich ihnen das Abstimmen über ihre Commilitonen übertragen; das Gesetz müßte durch Ausschließung Dessen, der es übertreten, aufrecht erhalten werden, und ich forderte ihn auf, als Ehrenmann, der sein begangenes Unrecht einsehe, sich mir zu erkennen zu geben und die Exclusion über sich ergehen zu lassen; solange dies nicht geschehen, bleibe die Gesellschaft ausgesetzt. Einige Stunden darauf kam der, welcher die Unvorsichtigkeit begangen hatte, zu mir, um reuig sein Geständniß abzulegen.

Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 225-229.
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