3. Wissenschaftliche Thätigkeit.

[229] Hatte ich meine wissenschaftliche Thätigkeit bisher auf die Bearbeitung der von Andern gelieferten Thatsachen beschränkt, so war dies blos durch meine Verhältnisse geboten gewesen. Jetzt erst war ich in einer Lage, welche es mir gestattete, eigene empirische Forschungen anzustellen, und ich fühlte mich dabei glücklich. Ich stellte mir zwei Hauptaufgaben, die ich als zeitgemäß und als meiner geistigen Individualität besonders zusagend erkannte: die Bearbeitung der Lehren vom Gehirne und von der Erzeugung.

Ich stellte genaue Zergliederungen des Gehirns an, wobei ich die individuellen Verschiedenheiten zu bemerken und mit eingezogenen Erkundigungen über die Lebensverhältnisse zu vereinen mich bemühte; ich untersuchte die Veränderungen, welche die verschiedenen chemischen Agentien in der Substanz des Gehirns[229] hervorbringen, besonders insofern sie die Erkenntniß seiner Textur erleichtern, wobei ich selbst die Schimmelarten, die nach Maasgabe der Umstände darauf wachsen, beachtete; auch fing ich an, das Gehirn von Embryonen und einigen Thieren zu untersuchen.

Eben so bereitete ich mich zu Bearbeitung der Entwicklungsgeschichte vor, zergliederte Embryonen und studirte die bisherigen Beobachtungen, insbesondere die von Harvey und Autenrieth. Unter meinen Zuhörern waren Pander und von Baer, welche Beide späterhin durch ihre trefflichen Forschungen die erste Grundlage dieser Lehre in ihrem gegenwärtigen Zustande geschaffen haben.

Außerdem benutzte ich jede Gelegenheit, die sich mir darbot, meine Kenntnisse zu erweitern, versuchte mannichfaltige Injectionsmethoden, bemühte mich, den Bau der Blutganglien zu erforschen, war auf die krankhaften Veränderungen des Gewebes aufmerksam, untersuchte das Verhältniß der Blutgefäße zu den anliegenden Scirrhen, und nahm überall chemische Mittel zu Hülfe.

Durch den Leichnam eines Mädchens mit hermaphroditischen Formen, namentlich mit einer noch nicht beobachteten Einmündung der Vagina in die Urethra, veranlaßt, machte ich die abnormen Bildungen dieser Art zum Gegenstande meines Studiums, sammelte dahin gehörige frühere Beobachtungen, und stellte selbst dergleichen an, namentlich an einem Kryptorchiden, einem Epispadiäus, einem solchen mit Harnblasenspalte und einer Virago, indem ich kleine Reisen zu derartigen Individuen in der Umgegend von Dorpat machte, die mir durch meine Zuhörer ausgekundschaftet waren. Ich stellte diese Beobachtungen unter allgemeine Gesichtspuncte, vereinte sie mit mei nen physiologischen und morphologischen Ansichten, und schrieb eine Abhandlung unter dem Titel: »Die Metamorphose der Geschlechter, oder Entwicklung der Bildungsstufen, durch welche beide Geschlechter in einander übergehen.«

Ungeduldig, diese Arbeit bekannt zu machen, beschloß ich, sie als den Anfang einer Reihe von Abhandlungen, in welchen ich die Resultate meiner Untersuchungen niederzulegen gedachte,[230] herauszugeben. Hiernach mußten einige andre Aufsätze, welche die Früchte meiner Studien während des ersten Jahres meines Aufenthaltes in Dorpat waren, hinzugefügt werden, und so war denn das erste Heft dieser Sammlung noch im Jahre 1812 druckfertig, erschien aber wegen Verspätigung des Kupferstechers erst im folgenden Jahre1.

Ein zweiter Aufsatz, mit der Ueberschrift: »Untersuchung unverwester Leichname« war dadurch veranlaßt, daß ich in der Sammlung des anatomischen Theaters die mumienartig ausgetrockneten Leichname von zwei 1652 verstorbenen Gliedern der Familie von Groot vorfand und durch Vermittlung von Freunden einen erst kürzlich bemerkten ähnlichen Körper aus Lauenhof erhielt, wobei ich mein Augenmerk besonders auf die Beschaffenheit des Gewebes und der Mischung der einzelnen Organe richtete.

Ferner gab ich in »Fragmenten über die Verhärtung der Organe« einige Beobachtungen über Scirrhen, Knochenconcremente und Verhärtung von Lymphganglien.

Zur Einleitung schrieb ich den »Umriß einer Methodik der Morphologie des menschlichen Körpers.« Auch hier sprach ich das Thema meines geistigen Lebens aus. Unter Anderem sagte ich: »Wie die Natur in einem ewigen und innigen Bunde von Innerem und Aeußerem, Ideellem und Materiellem besteht, so beruht auch der Werth des Menschen und alles seines Schaffens nur auf der harmonischen Beziehung wie zu seinem Innern, so zum Aeußern. Jedes innere Streben, das außer aller Beziehung zur Welt steht, macht den Menschen, der nur in der Gemeinschaft mit den ihm beigeordneten Gliedern des Weltalls seine Existenz hat, sich selbst verlieren und gebiert einen Fiebertraum, welcher die Menschenkraft ins Bodenlose versinken läßt und die Natur zu einem Mährchen macht. Und alles Ringen nach dem Aeußern, was nicht auf ein Inneres sich gründet, ist ein fader, hohler Schein, welcher vor dem Glanze des Weltlichtes in sein Nichts zerfließt. Keine rein menschliche und[231] des allgemeinen Interesses würdige Disciplin kann es demnach geben, welche nicht die Doppelseite des Menschen berührte, und in der einen Richtung auf sein inneres Leben, die Wissenschaft, und in der andern auf sein äußeres Wirken und Handeln sich bezöge.«

Um meinem Versprechen nachzukommen, arbeitete ich in den Ferien zu Anfange des Jahrs 1812 die zweite Abtheilung des dritten Bandes der Encyklopädie aus, welche ungedruckt geblieben ist, da der Verleger seine Handlung aufgegeben und das Werk einer andern Buchhandlung überlassen hatte, welche sich für die Fortsetzung nicht besonders interessirte, wie denn dies auch meinen Wünschen vollkommen entsprach.

Fußnoten

1 Anatomische Untersuchungen, bezogen auf Naturwissenschaft und Heilkunst, von K.F. Burdach. Erstes Heft mit 4 Kpfrn. Leipzig 1814, bei Hartmann, IV u. 81 S. 4.


Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 232.
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