II.

[38] Nicht lange nachdem wir in diesen neuen Räumen uns eingerichtet hatten, trat ich in die Thomasschule ein. Nach den Kenntnissen der alten Sprachen, die ich durch Privatstunden erhalten hatte, konnte ich in Sekunda aufgenommen werden und sah mich nun auf einmal aus meinem einsamen stillen Zimmer unter eine lärmende Menge bald älterer, bald jüngerer Knaben versetzt und entschiedener der alten Welt Roms und Griechenlands gegenübergestellt. Wir lagen in den Vorhallen der Philologie wie die Kranken um den Teich Bethesda und warteten auch, daß ein[38] Engel herabkäme und die Wasser bewegte, damit aus ihnen der Hauch des alten Heils aufstiege und uns kräftige.

So quälte denn auch ich mich durch die Alten hindurch, ich betrachtete es wie eine notwendige aufgegebene Arbeit, aber keine Freude ging mir dabei auf! Im ganzen hat mir überhaupt das Leben auf der Schule weder einen angenehmen noch einen anregenden Eindruck zurückgelassen, und es war mir ganz recht, als gegen das Jahr 1804 mir erklärt wurde, für die naturhistorischen und chemischen Studien, die ich damals allein auf der Universität zu verfolgen beabsichtigte, habe ich nun klassische Nahrung genug eingesammelt und ich könne denn unter die Zahl der akademischen Bürger jetzt aufgenommen werden.

Am 21. April 1804 also inskribierte mich der damalige Rektor, Domherr Keil, und von da an begann ich die Vorlesungen über Chemie, Physik, Botanik usw. eifrig zu besuchen. Eine neue Welt dämmerte mir jetzt herauf. Die größere Freiheit in Verfolg dieser Studien, anstatt mich zur Nachlässigkeit zu führen, entzündete nur regern Eifer, und abermals muß ich hier, wenn ich an diese Zeiten zurückdenke, mich überzeugen, wie sehr diejenigen im Irrtum sind, welche durch irgend eingeführten Zwang die höhere akademische Freiheit des Lebens und Lernens auf Universitäten beeinträchtigt wissen wollen. Wie in der menschlichen Natur überhaupt mannigfaltige Widersprüche vorkommen, so ist der Geist des Widerspruchs namentlich in der Jugend lebendig, und weit entfernt daher, durch irgendwie zwingende Maßregeln das größere Geistesstreben des Schülers zu heben, wird man bald finden, daß dadurch nur lähmend und hemmend eingewirkt wird. Angeregt will der junge Geist sein, ein höheres, ja ein im ganzen Sinn unerreichbares Ziel will er sich gesteckt sehen, und dann wird das Ringen, jenes lebendige feste Streben[39] anheben, wodurch die Entwicklung des vollendetern Wissens und Könnens allein ermöglicht und endlich verwirklicht werden kann.

Ich verfehlte aber nicht, neben diesen naturwissenschaftlichen Studien auch die Individualität eines Mannes auf mich wirken zu lassen, welcher zu jener Zeit als einer der beliebtesten Professoren von den meisten Studierenden gehört wurde und welcher, obwohl in einer geringern Höhe auf dem Felde der Philosophie sich bewegend, doch durch seine Leichtigkeit des Vortrags und eine gewisse scharfe Dialektik ganz geeignet war, einen Sinn für das Philosophieren in dem Neulinge zu erwecken. Dieser Mann war Ernst Platner, verfolgt in den »Xenien« ob mancher flachen Ansicht und lächerlichen Eitelkeit und von den Philosophen vom Fach ob seines Skeptizismus mit Recht verdächtigt, dessenungeachtet aber von der Menge mit Lust gehört. Unter den übrigen Professoren hatte jedenfalls Schwägrichen den meisten Einfluß auf meine Beschäftigungen; die milde Einfachheit seines Wesens, die völlige Anspruchslosigkeit des stillen Gelehrten, wie sie sich mir in ihm darstellte, sie trugen wesentlich bei, mich an ihn zu ketten. Ich ergriff die Botanik, die er vortrug, mit Leidenschaft, ich war der eifrigste im Kollegium und bei den Exkursionen, die Vergleichung verwandter Formen übte den Verstand, die genauere Kenntnis dessen, was mich im ganzen als Wald und Wiesen schon längst heftig angezogen hatte – es sprach mir nun auch im einzelnen immer mehr zu Herzen. Wie irrig es sei, daß das schärfere Wissen die poetische Wirkung im ganzen störe, er fuhr ich schon damals. Nach Meinung derer, welche nur auf dem Dunkel der Unkenntnis den Regenbogen der Kunst und Poesie leuchtend glauben, hätte mir sollen Flur und Hain verleidet werden, nachdem ich gelernt hatte, in welche Klasse die Gräser und Büsche und Bäume[40] gehörten und wie ihre Blüten gebaut waren und wie sie keimten und reiften, sie, die ich sonst nur massenweise aufgefaßt hatte; aber es war keineswegs so: sie behielten nicht nur die Wirkung ihrer gesamten Schönheit, sondern die Bewunderung der Gesetzmäßigkeit ihrer Gliederung und der Reihenfolge ihrer Entwicklung ließ mich sie nun auch im ganzen noch weit schöner und anziehender finden als vorher.

Damit es übrigens auch an dem Charakter des pedantischen veralteten Professors nicht fehle, erschien ferner an meinem akademischen Horizonte Ludwig, der die »Naturgeschichte der Menschenspezies« sonderbar genug vortrug und an welchem, als einem selbst originellen, etwas trockenen Exemplar der Menschenspezies, die Studierenden manche schwache Seite aufzutreiben und sich damit zu erlustigen wußten. Nahe verwandt in seinen Formen war demselben auch der Professor der Chemie Eschenbach, welcher in seinem gewölbten Laboratorium der Pleißenburg und umgeben von einigen weißen Spitzhunden ebenfalls manchen Mutwillen der Studenten zu erdulden hatte.

So huben denn also meine Studien an, die von hier an so einige Jahre in gleichem Sinne und mit um so größerer Freiheit fortgeführt wurden, dieweil ich damals noch immer nur für Fortsetzung der Geschäfte meines Vaters alle diese Kenntnisse einzusammeln die Aufgabe zu haben schien. Schon jetzt kam mir freilich oft der Gedanke, ob es mir nicht gar schwer werden würde, aus den Vorhöfen der Wissenschaft später wieder zu einer Beschäftigung zurückzukehren, welche doch großenteils mechanischer Art war und als eigentliches Fabrikwesen doch ganz andere Spekulationen als jene szientifischen, denen ich mich jetzt hinzugeben anfing, erforderte. Ich vermied indes diese Gedanken möglichst, ich fürchtete meinem Vater wehe zu[41] tun, wenn ich sie äußerte, ich glaubte auch mitunter, es möge sich ja gar wohl mit einem Geschäft, welches ganz auf chemischen Prinzipien ruht, vereinigen lassen, daß dabei fort und fort ein geistiges höheres Ziel angestrebt werde, kurz, ich ließ dies alles noch einstweilen auf sich beruhen und sammelte wie eine Biene im Frühjahr allen Honig des Wissens fleißig ein, den mir die Alma mater eben darbieten konnte.

Um diese Zeit fing ich auch an, das Zeichnen ernsthafter zu betreiben, und wesentlich fand ich mich darin gefördert durch einen Lehrer, den bereits während meiner Schulzeit mein Vater für mich angenommen hatte. Dieser Mann, mit dem ich eine lange Reihe von Jahren in naher Beziehung geblieben bin, hieß Julius Dietz. Er hatte sich teils auf der Leipziger Kunstakademie, teils bei einem Görlitzer Landschaftsmaler Nathe heraufgebildet, und wenn auch von ihm nicht zu sagen ist, daß er als Künstler selbst irgend etwas wahrhaft Bedeutendes hindurchgeführt und vollendet habe, so lebte dagegen ein eigentümlicher scharfer und regsamer Geist in ihm, welcher ihn teils antrieb, zugleich neben dem Zeichnen mit schöner Literatur und ernster Wissenschaft sich zu beschäftigen, teils seinem Gespräch und ganzen Wesen etwas Pikantes und Anregendes gab, was nicht anders als höchst wohltätig auf den Schüler wirken mußte, zumal wenn diesem selbst schon ein lebendiges Streben einwohnte, welches nur oft an einer gewissen mitunter zu großen Weichheit und Reizbarkeit des Gemüts ein Hemmnis fand. Er hat mich jedenfalls besonders dadurch gefördert, daß, sowie ich nur einigermaßen in Führung von Stift und Pinsel fester und fertiger geworden war, er mich mit hinausnahm ins Freie und mich veranlaßte, anhaltend im Zeichnen nach der Natur mich zu versuchen. Viele dieser Wege sind mir noch jetzt in heiterer Erinnerung! Es waren oft[42] schöne Sommerabende, da wir tief in die Leipziger Waldungen eindrangen, auf irgendeinem freien berasten Platze unser kleines Lager aufschlugen, gegen die uns übermäßig belästigenden Mücken aus dürren Blättern ein kleines Rauchfeuer entzündeten und nun bald einen malerischen alten Stamm, bald einige volle Eichenpartien, bald eins der jäh abstürzenden Ufer des den Wald durchziehenden Flusses mit Pinsel oder Stift eifrig verfolgten. Sank die Sonne, so wanderten wir auf eins der nahen Dörfer zum einfachsten Imbiß, und bei alle diesem ergingen sich denn die Gespräche über manch tüchtigen Gegenstand des Gefühls oder der schärfern Geistesrichtung. Es kam da wohl vor, daß ich mit Heftigkeit irgendeinem Gedankengange mich hingab, welcher mehr von einem heißen Gemüt als umsichtigen Verstande erregt war, und dann fehlte es nicht, daß ein schlagendes Wortspiel oder ein ironischer Scherz meines ältern Freundes dazwischenfuhr und mich einesteils verletzte, andernteils aber gerade am sichersten beitrug, mich auf richtigere Vorstellungen zu leiten. Auch kleine Reisen wurden zusammen ausgeführt; die schönen Saalufer bei Naumburg und die Muldentäler von Grimma sind so von mir zuerst zeichnend durchwandert worden, und wie ich auf diese Weise etwas später auch Dresden zuerst gesehen habe, davon werde ich weiter unten erzählen.

Die Kunst tat übrigens meinen naturwissenschaftlichen Studien nicht nur keinen Eintrag, sondern sie ging mit ihnen Hand in Hand und brachte sogar mannigfaltige Vorteile; denn einesteils gab es bei Botanik, Zoologie und Geologie manche Gelegenheit, wo bildliche Darstellungen höchst erwünscht und nützlich waren (so zeichnete und kolorierte ich Pflanzen für Schwägrichen und malte sauber in Gouache fast sämtliche in Leipzigs Flora vorkommenden Pilze), andernteils übte das Zeichnen den Sinn[43] für Formen ganz außerordentlich, und es wurde mir somit immer leichter, im Geiste Gestaltungsverhältnisse festzuhalten und den Metamorphosen derselben mit regsamer Phantasie nachzugehen, während dieselben von andern nur mit Mühe deutlich erkannt und nur unvollkommen begriffen zu werden pflegten. Werde ich doch späterhin noch oftmals auf das seltsame Verhältnis der Kunst und Wissenschaft zurückkommen, welches durch mein Leben immerfort sich hindurchgezogen hat – ein Verhältnis, über welches ich heimlich und öffentlich mit vielfachem Tadel oft genug angegriffen worden bin und welches doch allein imstande war, gerade in derjenigen Weise mich entwickeln zu lassen, in welcher ich endlich mich doch entwickelt habe.

Recht erwogen können wir indes im Lebensgange jedes irgend weitergekommenen Menschen einen zwiefachen Boden seines Wachstums unterscheiden. Wir können den ersten den für das unbewußte, den andern den für das bewußte Leben nennen. Der erste umfaßt die Verhältnisse, unter welchen der Mensch geboren wird, die Einflüsse, welche in frühester Zeit die Ausbildung seines Körpers und die Erweckung seines Geistes bedingen, er umfaßt den Stamm, dem er entsprossen, die Örtlichkeit, in welcher er zuerst gelebt hat, kurz alles, wodurch seine Individualität zuerst im ganzen und allgemeinen befestigt worden war. Was dagegen den zweiten betrifft, so gehört zu ihm alles, was in der Periode dieses Lebens irgend bedingend und mächtig einwirken konnte, in welcher zuerst ein kräftiges Wissen von sich selbst, ein bestimmtes Fühlen der gerade dieser Individualität bestimmten Lebensrichtung und das ernstere Wollen, einem gewissen Ziele mit Entschiedenheit nachzustreben, begonnen haben. Dies ist dann die Periode, wo der erwachte Geist gleichsam zum erstenmal sich umschaut und sich besinnt; dies ist die[44] Periode, von welcher an der Mensch nicht mehr sein Leben nur so hinnimmt als ein gegebenes; die, wo er die Geister, welche auf ihn wirken, bestimmter und freier aufzufassen anfängt, und von welcher an nun erst die reichere und eigentümlichere Zeit des Daseins gerechnet werden kann.

So sage ich denn zunächst von meiner Mutter, daß jedenfalls ihr Wesen von ganz besonderm Einflusse auf mich sich erzeigt hat. In ihr verband sich mit einer feinen und regelmäßigen Organisation jene liebenswürdige Entwicklung des Geistes, welche an Frauen uns immer so ganz besonders zu gefallen pflegt, jene gewisse poetische Weichheit des Gemüts, bei einer Fähigkeit, schnell und lebendig aufzufassen und mit Leichtigkeit ein richtiges Urteil über die Vorkommnisse des Lebens sich zu bilden. Sie hatte, wie das in jener Zeit an einem Ort wie Mühlhausen und in ihren Verhältnissen nicht anders möglich war, nur eine ganz einfache Erziehung erhalten, aber sie bildete sich selbst fort; die Liebe zu ihrem Bruder, der wissenschaftlich entwickelt war und vielfach in kleinen Poesien sich versuchte, hatte beigetragen, ihr am Lesen Freude zu geben und sie gegen Schönes empfänglich zu erhalten, und so ergab es sich denn, daß, unbeschadet einer unausgesetzten häuslichen Tätigkeit, ja regster Geschäftigkeit, sie doch von nichts unberührt blieb, was in der damals unter Goethe und Schiller neu aufblühenden Literatur Deutschlands Vortreffliches bervortrat. Es ist leicht zu denken, daß sie in ihrem lieblichen, das innigste Vertrauen erweckenden Wesen mir schon zu jener Zeit besonders nahe treten mußte, ich konnte alles, was mich von Gedanken über meine künftige Lebensrichtung oftmals beschäftigte, mit voller Unbefangenheit mit ihr besprechen, und die liebevolle Art, wie sie mir dann vieles mehr abfühlte, als daß ich nötig gehabt hätte, es ihr ganz auszusprechen, erwarb[45] ihr mein Herz, und sie hat es bis in ihr höchstes Alter mir treulich bewahrt.

Es war übrigens auch merkwürdig, wie lange sie in ihrem Äußern eine gewisse Jugendlichkeit sich erhielt. Gingen wir beide zu jener Zeit zusammen aus, so schien sie oft mehr eine ältere Schwester als meine Mutter; auch habe ich mich immer gern daran erinnert, daß von ihr, in noch viel frühern Jahren, als Perücken unter den Frauen sehr in Gebrauch gekommen waren, aus meinen eigenen abgeschnittenen Locken eine Perücke längere Zeit hindurch getragen worden ist, welche ihr ganz zierlich zu Gesicht stand. Ich selbst nämlich konnte als kleiner Knabe fast niemals Kopfbedeckungen leiden und war auch im Winter schwer an Mütze oder Hut zu gewöhnen; dafür ließ man mir denn mein weiches blondes Haar in langen Locken wachsen, die, als sie endlich doch abgeschnitten wurden, meine Mutter veranlaßten, der damaligen Mode zu huldigen und über ihr an sich reichliches dunkelbraunes Haar eine Zeitlang eine Perücke zu tragen, welche aus dem blonden Haar ihres geliebten einzigen Kindes gefertigt war.

War sonach meine Mutter ein recht liebes Bild feiner herzlicher Weiblichkeit, so mußte ich dagegen meinen Vater als Urbild einer kräftigen vollständigen Männlichkeit anerkennen. Seine Kopfmaße waren sehr bedeutend, seine Muskulatur die kräftigste, und noch später, in seinem vierundfünfzigsten Lebensjahre, als ich für das Bild des Marius auf den Ruinen von Karthago ein Urbild suchte, konnte ich kein besseres finden als das seinige. Dabei war er ein in seinem Fache durchaus tüchtiger Mann, tätig wie wenige, und ohne voreilig nach Neuem zu suchen, doch gegen keinen Fortschritt verschlossen, der aus den Bewegungen der chemischen Wissenschaft für die Kunst des Färbers irgend sich ergeben konnte. In seiner Gemütsart[46] herrschte das Cholerische vor, und es war daher wohl natürlich, daß, so lieb er mich auch hatte, doch gerade mein weicheres, mehr intellektuellen als materiellen Interessen zugewendetes Bestreben mitunter seinen scharfen Widerspruch hervorrief, so daß ich allerdings, nachdem ich hierüber zu klarern Anschauungen gekommen war, nicht mit demselben Vertrauen zu ihm wie zu meiner Mutter mich hinwendete. Nichtsdestoweniger habe ich die schöne Tüchtigkeit seines Wesens im ganzen und seine liebende Gesinnung für mich insbesondere gewiß zu aller Zeit mit wahrer und treuer Anhänglichkeit anerkannt. Hatte ich ihm doch nicht allein zu danken, daß er, selbst auf die Gefahr hin, daß ich künftig seinem Geschäft untreu werden könnte, auf keine Weise meiner wissenschaftlichen Entwicklung Schranken zu setzen versuchte, vielmehr als offenbar fördernd derselben sich bewies, sondern ich sah auch schon damals ein und habe späterhin freilich es noch viel deutlicher gewahr werden müssen, daß eine gewisse höhere Kraft meiner eigenen Organisation ganz und gar als eine Abspiegelung der seinigen angesehen werden durfte und daß ich ihm demnach ganz vorzüglich zu danken hatte, was der Mensch schwerlich je dankbar genug anerkennen kann: eine bessere und ausdauernde Energie des Lebens und der Gesundheit.

Um die Zeit, die ich oben geschildert habe, war übrigens unser Hausstand noch insofern verändert worden, als der jüngere Bruder meiner Mutter uns verließ und sich selbständig machte, nachdem er bis gegen das Jahr, wo wir in das neuerkaufte Haus zogen, bei uns gewohnt und meinem Vater beigestanden hatte. Jene Färberei am Rosental, in welcher wir vorher wohnhaft gewesen, sie war nun von ihm übernommen worden. Gleichsam als sollte daher dieses Ausscheiden durch ein Familienglied wieder ersetzt werden, machte es sich, daß gegen die Zeit, wo ich[47] die Vorlesungen der Universität zu besuchen anfing, mein Vater eine weit jüngere Stiefschwester zu uns rief und sie der Liebe meiner Mutter, fast an die Stelle einer ihr fehlenden Tochter, übergab.

Dies junge Mädchen, wenige Jahre älter als ich und Karoline genannt, war die Tochter der dritten Frau meines Großvaters Carus in Dahme, so wie mein Vater das Kind seiner ersten. So war mir denn mit einemmal gleichsam eine Schwester gegeben! Das freundliche hübsche Mädchen wollte niemand recht als eine Tante von mir gelten lassen, und bald hatten wir jungen Leute uns recht an einander gewöhnt; wir lasen abends, wenn ich mit meinen Arbeiten fertig war und sie für meine Mutter die Wirtschaft besorgt hatte, manches zusammen, und wir mochten uns in kurzem recht gern, obwohl ich damals noch nicht ahnte, daß mir in ihr dereinst eine so vieljährige treue und liebende Lebensgefährtin erwachsen sollte.

Auch dieses Verhältnis mußte übrigens für meine künftige Richtung von Wichtigkeit sein, denn wenn schon die vorherrschende Liebe zu meiner Mutter mich mehr zu einem weiblichen Herzen hinzog, so gewann bei meinem sonstigen Hange zur Einsamkeit die Neigung, mehr der gemütvollen Seele einer Frau mich zu offenbaren, entschiedene Nahrung darin, daß ich mich jetzt zugleich einem an Jahren mir näherstehenden weiblichen Wesen vertrauen durfte.

Wirklich, so stand ich also damals in den Vorhallen der Wissenschaft! Noch war mein Horizont ein ziemlich beschränkter, die nächst zu bewältigen Studien zogen mich in ihren Einzelheiten unbedingt an, und bei alledem fühlte ich doch etwas in mir, das, über alles Palpable und Reale hinaus, immer noch auf ein Übersinnliches, Höheres, Göttliches blickte und mit ungestillter Sehnsucht danach verlangte.[48]

Die Vergnügungen, welche angehenden Studierenden besonders lockend zu erscheinen pflegen, das Besuchen öffentlicher Vergnügungsörter, der Tanz, das Kommersieren der Burschen- oder Landsmannschaften – sie existierten für mich gar nicht. Ich hatte keine Art von Verlangen danach, ich fand auch gar keine Versuchung dazu; denn in meinen Kollegien war ich aufmerksam auf die Sachen gespannt, mit meinen Kommilitonen war ich freundlich, aber da sie fühlten, ich bedurfte ihrer nicht, so bekümmerten sie sich auch nicht um mich und überließen mich ruhig meinem stillen Treiben. Was dagegen die gewisse schwermütige Stimmung betraf, deren Grund ich oben berührt habe, so fehlte sie mir auch keineswegs. Sehr bald fand ich, daß dem Geiste Endziele vorschwebten, welche nur einigermaßen zu erreichen ich oftmals völlig verzweifelte. Ich fand die Wissenschaften von einem Umfange, zu welchem meine Kräfte mir unzulänglich erschienen, dabei waren mir meine Verhältnisse selbst zweifelhaft, ob sie jemals mir ein vollkommenes Sichhingeben an die Wissenschaft gestatten würden, und so kam es, daß mich oft ein Gefühl von verfehlter Lebensrichtung anwehen konnte, welches, wenn es bei einsamen Spaziergängen im Walde oder an den stillen Flußufern der Leipziger Umgegend mich befiel, mir eine Trübheit der Seele herbeiführen mußte, welche nicht selten in eine dunkle Sehnsucht nach dem Tode sich endigte. Lange dauerten jedoch damals diese Stimmungen noch nicht. Das Leben war im ganzen noch zu frisch, und die Abwechslung der Gegenstände, welche mich beschäftigten, war noch zu groß, als daß nicht immer bald wieder jene Wolken verscheucht worden wären.

So gingen denn also in den Jahren 1804/05 bis zum Anfang des Jahres 1806 meine Universitätsstudien ihren einfachen Gang fort. Botanik, wie gesagt, beschäftigte mich ganz besonders. Herbarien wurden angelegt; wie der[49] Schnee schmolz, forschte ich und sammelte die kleinen dann hervortretenden Moose; die ersten Frühlingsblumen wurden mit besonderm Eifer eingelegt, auch wohl gezeichnet und die leicht verderbenden Pilze sauber in Gouache gemalt, und eine besondere Stütze dieser Studien war dann noch eine angeknüpfte Bekanntschaft mit einem wohlhabenden jungen Manne namens Kaulfuß (er wandte sich späterhin nach Halle und hat schöne Arbeiten über die Farnkräuter herausgegeben), welcher, mit reicher Bibliothek und hübschen naturhistorischen Sammlungen ausgerüstet, Botanik mit besonderer Vorliebe trieb und somit mir vielfach nützlich geworden ist. Als wir späterhin auch Zoologie zusammen hörten, lieh er mir zuerst das damals neu herausgekommene »Handbuch der vergleichenden Anatomie« von Blumenbach und erschloß mir damit eine Welt, welche mich späterhin ganz besonders für sich gewonnen hat und der Botanik mich endlich ganz abwendig machte. Ich brachte manche Stunde bei ihm zu; er hatte auch, da er oft auf die Jagd ging, eine Sammlung von Vogelköpfen und Vogelskeletten angelegt, und alles dies verschlang ich mit den Augen und eignete mir das meiste geistig an. Die Chemie, für welche ich eigentlich, durch meinen Onkel und durch das Geschäft meines Vaters veranlaßt, eine besondere Vorliebe hätte gewinnen sollen, wurde damals sehr geistlos von dem obenerwähnten alten Professor Eschenbach – ganz in pharmazeutischer Weise – vorgetragen und gewann mir eben deshalb nur geringe Teilnahme ab. Etwas besser war es mit der Physik bestellt; Hindenburg, zwar auch ein alter, fast abgelebter Mann, trug diese wichtige Wissenschaft vor, und auch hier zwar vermißte man eine höhere und lebendigere Mitteilung; allein mindestens gelangen die verschiedenen Experimente, durch welche das eigene stille bewußtlose Leben der tellurischen Stoffe dem Schüler vor Augen gebracht[50] werden soll, fast allemal vortrefflich, und es blieb auch auf mich nicht ohne eine besondere Wirkung, als mir so die Gesetze des Falles und Stoßes, die strahlenden Erscheinungen der Elektrizität, die Eigenschaften des Luftdruckes, die wunderbaren Phänomene der Farben und so vieles andere leibhaft sinnlich vorgeführt wurde, zu welchem ich mir dann zum Teil erst späterhin den erklärenden Text durch eigenes Studium verschaffen mußte. – Am Ende sahen wir aber doch alle ein, ich müsse nun bei diesen fortrückenden Studien mir irgendein bestimmteres Ziel setzen, ich müsse mir deutlich machen, zu welchem Ende ich dereinst diesen Eifer für die Naturwissenschaften verwerten, wohin ich diese Lust an Naturbetrachtung wohl lenken möchte. Im Winter 1805/06 kam dies mehr und mehr zur Sprache, und mein Vater drang jetzt auf bestimmtere Entscheidung.

Dergleichen wird nun einem jungen Gemüt allemal schwierig! Der Plan des Lebens liegt zu sehr noch unter den Nebeln der Zukunft verborgen, die einzelnen Lebensverhältnisse, die Vorteile und Nachteile eines jeden Berufs – sie sind dem jugendlichen Verstande noch nicht klar, und so ist es denn gewöhnlich mehr irgendein äußerer Einfluß als eine feste innere Bestimmung, wodurch zuletzt die Entscheidung gegeben wird. Der Gedanke, mich der Besorgung eines Fabrikgeschäfts zu unterziehen, jetzt, nachdem ich die Freudigkeit der Wissenschaft, der freien Geistesübung an der Natur gekostet hatte – es hätte mich unglücklich gemacht, ich konnte es nicht! Schwerer war es zu bestimmen, was an dessen Stelle gesetzt werden dürfe. Hin und her schwankten die Pläne, zuletzt schien mir aber doch der Stand des Arztes der wünschenswerteste, deshalb namentlich wünschenswert, weil er die reichste Gelegenheit darböte, mit allen Zweigen des Naturstudiums stets in innigster Berührung zu verbleiben.[51]

Bei dem allen sollte die Entscheidung nicht erfolgen, bevor eine gewichtige Stimme noch gehört worden sei. Wir wählten hierzu den Professor Carus, und ich hatte denn mit ihm eine lange Unterredung, welche damit schloß, daß er mein Unternehmen billigte und nur ein ernstes Nachholen der auf der Schule unbeendigt gelassenen philologischen Vorbereitung mir zur Pflicht machte.

Denke ich an diese Unterredung zurück, so ist mir gar wohl erinnerlich, daß ich für meine Wahl auch das besonders in die Waagschale legte: »Diese Wissenschaft sei noch so wenig abgeschlossen und beendet, daß man viel Hoffnung hegen dürfe, hier könne es gelingen, manch Neues zu erfinden, manches Alte zu verbessern und manche unentdeckte Wahrheit aufzudecken.« Diese Äußerung, welche damals nicht ohne ein leichtes Lächeln aufgenommen wurde, ist mir übrigens späterhin nicht sowohl deshalb merkwürdig geblieben, weil ich wirklich hier und da einiges Neue aufgefunden habe, sondern vielmehr deshalb, weil sie mir den damaligen Drang nach selbsttätiger Forschung und überhaupt einen nach allen Seiten regen Produktionsbetrieb recht gegenständlich ausspricht, der sich also schon damals hervorzutun begann und späterhin so mannigfach sich bewährt hat.

Ich habe nun auch im weitern Gange des Lebens oftmals hören müssen: wie es doch gekommen sei, daß ich nie an eine Künstlerlaufbahn gedacht habe, da ein gewisses zeichnerisches und malerisch-erfindendes Talent mir allerdings nicht abgesprochen werden konnte. – Ich gestehe aber, daß ich eine besondere Antwort auf diese Frage durchaus nicht zu geben wüßte! Ich sage daher nur so viel: es sei mir auch nie im entferntesten beigekommen, daran zu denken, mich der Kunst als einem Lebensberufe zu widmen. Einesteils mochte wohl der gewaltige Vorschlag, den das Wissen als Wissenschaft immer in meinem Geiste gehabt hat, davon[52] die Ursache sein, und andernteils wäre mir auch, gerade bei einer feinen Verehrung für die Künste, es immer etwas Widerstreitendes gewesen, wenn ich meinen materiellen Lebensunterhalt gerade ihnen hätte verdanken müssen. Poesie und Kunst waren mir immer als etwas so Reines, Ätherisches erschienen, daß es mir ganz fern lag, daran denken zu dürfen, man könne davon wohl auch sich nähren und kleiden. Zudem lag im Anfange dieses Jahrhunderts die Kunst in Deutschland noch gleichsam gebunden, sie war noch fast unbeachtet, und es bedurfte späterhin so langer tiefer Friedensjahre, um ein lebhaftes Bedürfnis nach diesen geistigen Spiegelbildern der Wirklichkeit erwachen zu lassen; ja man dürfte wohl selbst jetzt fragen, ob dieses Bedürfnis wahrhaft er wacht sei und ob die Kunst nicht immer noch mehr als eine eigene Art von Luxus gepflegt werde.

Übrigens war allerdings noch im Sommer zuvor, ehe jene Entscheidung über meinen künftigen Lebensweg erfolgte, meine Liebe zur Kunst besonders genährt worden durch eine Reise nach Dresden, die ich mit meinem Freunde und Lehrer Dietz rüstig als Fußwanderer ausgeführt hatte.

Von der Wanderung selbst schweige ich, aber sie war auf den langen, meist baumlosen Wegen in heißen Sommertagen beschwerlich genug. Es hat mir späterhin, wenn ich unter den günstigsten Verhältnissen auf das bequemste reiste, manchmal eigene Gedanken gemacht, wenn ich hier und da ein paar müde Wanderer am Rande der staubigen Heerstraße liegen und ausruhen sah und ich zurückdachte, wie bei jener Reise ich manchmal ebenso gelegen hatte! Die Mühen waren damals gewiß größer, aber auch die Unabhängigkeit und die Freiheit! Ist doch alles im Leben, was uns glückverheißend, ja glückgewährend entgegentritt, auch immer in irgendeinem Maße uns Fesseln[53] anlegend! Und wahrhaft beglückt bleibt nur der, dem die Fesseln, welche die göttliche Tyche ihm bietet, zu einer Art von Naturnotwendigkeit werden, wie die unsers ganzen organischen Seins und Lebens.

Der erste anregende und belohnende Punkt der Reise war Meißen mit seinem Schloß und seinem schönen gotischen Dom. Das Bedeutende dieser ganzen Situation, die Reinheit und Größe dieses Baustils – sie wirkten doch ganz anders auf mich als früher die altertümlichen Bauten von Naumburg und Jena. Ich zeichnete schon damals die Verzierung über der nördlichen Tür des Doms, wo die gekrönte Madonna mit dem Kinde, umgeben von Heiligen, steht, und konnte mich nicht satt sehen an der Schönheit des Blätterwerks, an den Knäufen der Säulen und den Gesimsen im Chor und an der Schönheit der Aussicht von dem alten durchbrochenen Turm, dem einzigen vollendeten der Kirche.

Am Morgen des dritten Reisetags verließen wir Meißen und wanderten die schönen Elbufer bequem hinauf bis nach Neudorf, nahe vor Dresden, wo die Stadt in so guter Zeichnung über den breiten Spiegel der Elbe sich heraufhebt; aber anstatt nun eilig nach der Residenz hineinzuziehen, schlug in uns beiden dergestalt die Liebe zur freien Natur vor, daß wir sofort, begierig, die vielgerühmten Reize des Plauenschen Grundes kennenzulernen, in einem Kahn uns über die Elbe setzen ließen und quer durch die Reihen alter Linden des Geheges, hier und da fragend, um Friedrichsstadt herum gerade auf das Dorf Plauen zusteuerten. Der Grund, welcher dahinter sich eröffnet, enthält nun allerdings ganz eigentümliche und wahrhaft große Schönheiten, allein wer so bloß der Heerstraße folgend zuerst in ihn eindringt, dem bieten sie sich nur sehr unvollkommen dar. Was Wunder also, daß wir, die wir nur eben auf diesem Wege, und mit ganz besondern Erwartungen,[54] dort ein Stück hineingingen, uns nur wenig befriedigt erklärten. So kehrten wir denn um, traten durch den altfranzösischen Zwinger in die Stadt ein, erfreuten uns dann der schönen Brücke und fanden in Neustadt für die erste Nacht »Zur Stadt Leipzig« und dann für die folgenden Tage bei ein paar alten gutmütigen Leuten, welche neben der Brücke eine kleine Wirtschaft hielten, ein bequemes Unterkommen. Die Galerie war das, was uns am meisten gezogen hatte, und durch einen meinem Freunde bekannten Maler erhielten wir denn auch bald freien Zutritt zu diesen Schätzen.

Ich erfuhr dort, was die Jugend gewöhnlich erfährt und auch ganz eigentlich erfahren soll, nämlich zuvörderst nur die Freude an treuer, nie zuvor so gesehener Widerspiegelung der Natur und nächstdem das Ergriffensein durch eine gewisse warme Sentimentalität und irgend energische sinnliche Anregung eines erhebenden Gedankens. Da waren denn also die Niederländer von Gerhard Douw an bis zu Mieris und Ostade und zu Netscher und Metsu, was ich zuerst zu bewundern nicht müde wurde, dann aber rührte mich der sentimentale Ausdruck der Madonna des Grafen Rotari, und so wie einiges von Rubens mich beherrschend erfaßte, so stand ich auch lange vor dem »Genius des Ruhms« von Annibale Carracci, und wüßte ich freilich jetzt kaum noch zu sagen, ob mich dabei mehr der aufstrebende Blick des Genius selbst oder der brennende Wunsch, dereinst einen der Kränze zu erlangen, welche ihm am Arme hingen, bewegt hatte. Die ganz großen Sachen von Raffael, Tizian und ähnlichen – sie lagen mir noch zu fern und blieben mir zu jener Zeit noch großenteils fremd.

Außer der Galerie habe ich denn damals auch wenig von Dresden gesehen. Der reizende Blick auf Brücke und Umgegend von der jetzt längst zerstörten Bastio solis – sie lag[55] da, wo jetzt das Hôtel Bellevue steht und war die Fortsetzung des Zwingerwalles – und dann die Örtlichkeit des Zeughofs mit der alten, sonst dahinterliegenden Bastion, deren Seiten mit wilden Weinreben überzogen waren und deren alte große eiserne Kanonen mir um so sonderbarer vorkamen, weil – ein wahres Bild des damaligen langen Friedens für Dresden – wir an der einen, vorn zwischen Rohr und Lafette, ein kleines Vogelnest entdeckten – sie sind mir am meisten im Gedächtnis geblieben. Ich ahnte dazumal freilich nicht, daß gerade ein Gebäude des Zeughofs, dicht vor jener Bastei, der Ort sein sollte, wo ich späterhin dreizehn Jahre lang in stiller Tätigkeit zu verweilen die Aufgabe haben würde!

So hatte ich denn nun nach meiner Rückkehr nach Leipzig alle Hände voll zu tun, daß ich in den alten Sprachen mich hinreichend befestigte; einen Kursus über Mathematik richteten wir uns auch mit einigen Freunden und Studierenden bei einem wackern alten Leipziger Magister ein; die Psychologie hörte ich bei unserm Verwandten, dem Professor Carus, welchen übrigens bald darauf die Universität durch den Tod verlor; ich hörte ferner den trefflichen Philologen Hermann den »Ödipus auf Kolonos« vortragen und erklären, namentlich um an seiner Latinität mich zu erfreuen, und so, nachdem ich die Jahre zuvor in den Naturwissenschaften leidliche Kenntnisse mir erworben hatte, glaubte ich um Ostern 1806 mich sattsam vorbereitet, die eigentlichen medizinischen Wissenschaften mit dem Studium der Anatomie beginnen zu können.

Eine seltsame Fügung war es übrigens, daß gerade, als ich nun der größten äußern Ruhe und Sammlung bedurft hätte, um in die Flut der neuen Studien so recht tief und nachhaltig einzutauchen, die ersten Unwetter des Krieges Leipzig überzogen. Die kriegerischen Rüstungen Preußens, welche schon im Sommer 1806 auch in[56] Sachsen vermerkt wurden, hatten mich zwar noch wenig in meinen Kreisen stören können, nur kleine Truppenzüge hatten wir in Leipzig erblickt, man war dort den Frieden so gewohnt worden, und wie es denn geht, man hält gewissermaßen das Nahen des Krieges für unmöglich, soviel man auch aus entferntern Gegenden davon liest oder erzählen hört. Am 14. Oktober jedoch fand ich mich an einem schönen sonnigen Herbsttage im Rosental, hatte im Walde nach der Natur gezeichnet und saß dann umschauend auf dem welken Rasen der großen mittlern Wiese, als öfters wiederholte dumpfe Klänge, gleichsam wie aus der Erde aufsteigend, deutlicher und deutlicher mir zu Ohren drangen. Es war, wie es sich später ergab, der Kanonendonner der Schlacht von Jena gewesen. Den andern Tag liefen dann sofort die widersprechendsten Gerüchte in der Stadt um, und den darauffolgenden sah man schon die Avantgarden des Davoutschen Korps von den Türmen. Eine unheimliche Stille herrschte in der Stadt, noch wußte niemand, wie die Dinge sich wenden würden, da rückten plötzlich in dichtgedrängten Massen die fränkischen Truppen durch unsere Vorstadt herein, und alle Häuser waren bald mit Einquartierungen überfüllt.

Der Anblick dieser Züge hatte für mich einen welthistorischen Charakter. Es war gleichsam eine Neuzeit, die auf einmal hier durch die Straßen hereindrang. Wie ganz anders diese Völkermassen gegen alles das, was ich bisher als Militär hatte kennenlernen! Das waren noch die durch den Sturm der Revolution geborenen Heere, noch waren sie nicht niedergemäht von den unausgesetzten Kriegen ihres Kaisers, noch sah man in ihnen die Frucht einer ganzen, von einer großen Aufregung erfaßten Nation; es waren überall in den Vorderreihen der Regimenter markige gebildete Physiognomien, selbsttätige Mitwirkung und nicht bloß maschinenmäßiges Gehenlassen ausdrückend[57] und versprechend. Dabei das Große der Taktik im ganzen und das Freie in der Haltung des einzelnen! Scheinbar fast regellos drangen die Massen daher, zum Teil in sonderbarsten Aufzügen. Statt der gewöhnlichen soldatischen Capots Röcke von allen Farben übergeworfen, zinnerne oder blecherne Löffel auf die gekniffenen dreieckigen Hüte gesteckt, oft ein Brot oder andere Lebensmittel über den Tornister gebunden oder an die Bajonette gespießt, kurz, auch hier ganz das, was (wie ich freilich erst viel später einsehen lernte) alle Kunstvollendung charakterisieren muß, nämlich die Durchdringung eines im wesentlichen Rationalen von einem bis zu gewissem Grade Irrationalen.

Ich kam bald in manchen meist unangenehmen Verkehr mit diesen Leuten. Unser Haus ward mit Gästen solcher Art reichlich bedacht, und meine Übung, französisch zu sprechen, machte mich hier fast zum alleinigen Mittelsmann. Der einzige Vorteil erwuchs mir daraus, diese Individuen etwas näher beobachten zu können. Ich fand darunter Männer, die früher ihre Studien gemacht hatten, andere, die Kaufleute gewesen, andere auch, die gleich in erster Jugend das Feuer der Revolution unter die Waffen getrieben hatte. Eine gewisse Bildung war fast allgemein sichtbar, liegt doch eine Art von Politur schon im Blute der Franzosen; und gerade dadurch wurde am Ende auch das Lästige dieses Verkehrs nicht in dem Maße fühlbar, als ich es später noch, unter ähnlichen Verhältnissen, mit Deutschen oder Russen zu erfahren die widerwärtige Gelegenheit haben mußte.

Zuletzt gewöhnte man sich indes doch an all diesen Kriegslärm, und meine Studien schritten auch so ihren einfachen Weg immer weiter. – Glücklicherweise bedurfte ich keiner besondern Anregung, um mit lebendigstem Eifer alle mögliche dargebotenen Erkenntnisse einzusaugen:[58] ich schwärmte völlig für meine Wissenschaft. Über Osteologie hatte ich mir schon im Sommer ein Heft angelegt, in welches ich alle Knochen des menschlichen Körpers sauber mit Bleistift gezeichnet und mit den ausführlichsten beigeschriebenen Erklärungen versehen hatte. Der Winter eröffnete mir die Lehren über den Bau der Weichteile, und wie sehr ich danach strebte, für den nächstkünftigen Winter mich selbst auf dem Theatrum anatomicum im Zergliedern üben zu dürfen, mag man aus folgender kleiner Geschichte abnehmen:

Es war nicht lange, nachdem das französische Armeekorps des Marschalls Davoust in Leipzig sein Hauptquartier genommen, daß zwei als Marodeurs ergriffene Soldaten, Italiener, vor ein Kriegsgericht gestellt und zum Tode verurteilt wurden. An einem trüben regnerischen Morgen zog früh eine kleine Abteilung Truppen mit den Delinquenten vor unserm Haus vorüber, und unweit der hohen Brücke an der Lindenauer Chaussee erschoß man die Verurteilten und ließ sie dort einscharren.

Einer von den Leuten meines Vaters, einst selbst Soldat, hatte der Exekution beigewohnt, gab uns Bericht darüber und erweckte in mir und einem andern befreundeten Studierenden unwiderstehliches Verlangen, in Besitz eines dieser Körper behufs anatomischer Studien zu gelangen. Die Sache schien leicht ausführbar, und in der nächsten Nacht beluden wir unsern Arbeiter mit dem nötigen Gerät zum Ausgraben und Abtrennen etwa eines Kopfes und einiger Glieder und zogen bei falbem Mondschein dahinaus, im vollen glühenden Eifer für unsere Wissenschaft, wenig daran denkend, daß uns in so rauher Zeit ein Unternehmen dieser Art doch leicht sehr übel hätte bekommen mögen.

Als wir der Brücke uns näherten, in deren Gegend die Opfer des Kriegsgerichts gefallen waren, sahen wir im[59] ungewissen Mondenschimmer auf der andern Seite der Straße einige Männer mit einer Bahre uns entgegenkommen und vorüberziehen. Wohl denkend, daß man vielleicht schon mit einer Leiche uns zuvorgekommen sei, eilten wir um so mehr, an den bezeichneten Platz zu gelangen, und ließen anfangen, nach der andern zu graben. Die Stelle aber war leer: schon hatte unser nicht minder eifrige Professor Rosenmüller, jedoch mit Erlaubnis der französischen Behörde, beide Leichen auf das anatomische Theater entführen lassen, und wir fanden nur die Tschakos, von deren einem zum Zeichen dieser sonderbaren Kreuzfahrt ich das blecherne Schild mit dem Chasseurhorn und der Regimentsnummer abnahm und es lange bewahrt habe.

Soweit denn diese kleine Begebenheit, welche insofern mir immer merkwürdig bleibt, als sie den damaligen, noch etwas stumpfen, aber durchaus strebsamen und gerade so eigens für die Jugend unerläßlichen Zustand recht lebhaft mir wieder ins Gedächtnis bringt.

Gewiß, es dürfte gesagt werden, der Mensch durchlebe insofern die Geschichte des Planeten, auf dem er selbst einst entstand, metaphorisch mit, als – gleichwie in jener Schöpfung das Reich der Lebendigen mit wunderlichen ungeheuerlichen Geschöpfen beginnen mußte, denen erst später die feiner und höher organisierten gefolgt sind – so auch in seiner geistigen Entwicklung das erste Ergreifen und Produzieren rein massenhafter Vorstellungen und Willensregungen immer lange vorausgehen wird den feinern und bedeutendern Gedanken.

So rückte ich denn in den Studien aller im weitesten Sinne zur Medizin gehörigen Lehren mit anhaltendem Fleiße vor, aber ganz besonders war es das Geheimnis des menschlichen, ja überhaupt des tierischen Baues, welches mit stärkern Fesseln mich an sich zog. Ich zergliederte Tiere mit[60] Eifer und suchte, wie es nur immer ging, deren mir zu verschaffen. Es kam mir wohl vor, daß, wenn ich an der Straße ein totes Tier liegend fand, es entweder selbst mit nach Hause zu nehmen oder, wenn es größer war, es sofort durch einen von unsern Leuten mir holen zu lassen. Mich, der ich sonst Reinlichkeit und Ordnung liebte und sehr ekel sein konnte, störte dann das Widrige solcher Gegenstände gar nicht. Es ist das überhaupt das Merkwürdige einer tiefern Naturansicht, daß nichts so sehr den alten Satz bewahrheitet: »dem Reinen sei alles rein«, als sie. Doch überraschte es mich eigen, als ich später aus Goethes »Diwan« gewahr wurde, daß in der großartig sittlichen Naturansicht der Orientalen eigentlich ein ganz Ähnliches aus sehr wesentlich andern Gedankenfolgen hervorgehe. Ich meine da die Stelle, wo es heißt: »Dem Aas eines faulenden Hundes versteht Nisami eine sittliche Betrachtung abzulocken, die uns in Erstaunen setzt und erbaut«. Es ist hier die Parabel angezogen, wo Jesus redend eingeführt wird, als er am Markte das Volk gewahr wird, um einen toten Hund sich sammelnd und den Verwesenden mit Verwünschungen überhäufend, da, während alles nur Schmähungen auf der Zunge hat, sagt der Prophet in seiner milden Art:


Die Zähne sind wie Perlen weiß!


und beschämt von solchem Vorzuge eines verachteten Geschöpfes (da schöne Zähne namentlich im Orient sehr wertgehalten sind), kehren aller Gedanken sich bald nach einer andern Richtung.

Ähnliches erfuhr ich denn vollends, als ich im Winter 1807/08 auf den Präpariersaal der Anatomie eintrat und selbst nun mit der Untersuchung und Zergliederung menschlicher Leichen mich beschäftigen konnte. So sehr mir nämlich sonst schon die Luft eines Krankenzimmers[61] zuwider gewesen war und so sehr ich, bei Liebe zur Kunst und Poesie, mich gern tief in das Reich des Schönen eintauchen mochte, der Leichengeruch dieser kleinen, noch dazu geheizten Zimmer, wo oft drei und vier Kadaver, in Stücken verteilt, teils aufbewahrt wurden, teils unter dem Messer der Studierenden sich befanden – ich wurde davon durchaus nicht abgeschreckt, ja ich bemerkte ihn wirklich kaum. Ich erinnere mich eines späten Nachmittags, wo alles fortgegangen war, selbst der Aufwärter hatte sich beurlaubt, der Wind heulte durch die alten Klostergebäude des Paulinums, und graue Wolken ließen nur ein spärliches Licht zu den schlecht schließenden Fenstern herein; ich aber saß fest über einem Nervenpräparate, welches ich gern vollenden wollte, und als es nun tiefer dämmerte und ich doch aufhören mußte zu arbeiten, kam es mir allerdings eigen vor, aus allen Ecken diese zertrennten menschlichen Fragmente mich anblicken zu sehen, aber kein Schauder erfaßte mich, und nicht eine Spur von Abscheu wurde mir fühlbar.

Dieser Eifer hatte dann allerdings die Folge, daß ich in den Kenntnissen der Anatomie sehr fest wurde. Ich war überall genau bewandert, half mir noch mit vielfältigen Zeichnungen, die ich nach der Natur und nach guten Originalen ausführte, und so hatte ich denn später auch wirklich die Satisfaktion, bei einem Examen besser in der feinern Anatomie bewandert zu sein als mein Examinator. Weniger ging mir damals die Lehre vom Leben selbst, die Physiologie, auf. Freilich waren die Vorträge darüber, wie sie zu jener Zeit von Platner und von Kühn gehalten wurden, die trostlosesten, und wenn ich von dem gegenwärtigen Stande dieser Wissenschaft zurückblicke auf das sogenannte Ganze dieser Lehren, wie es uns dazumal auf der ersten Landesuniversität vorgetragen worden ist, so fühle ich, daß es durchaus nicht möglich sei, daß abermals[62] in vierzig Jahren von jetzt an diese Wissenschaft solche Fortschritte gemacht haben könnte, als sie in den vierzig Jahren von damals bis zum heutigen Tage im Jahre 1847 in Wahrheit gemacht hat. Unter meinen Arbeiten blieben jetzt auch die übrigen Naturwissenschaften nicht zurück. Botanik setzte ich immer noch fort, obwohl ohne in die so merkwürdige Geschichte der Pflanze lebensvoll einzudringen; in die Mineralogie und Chemie führten mich bessere Vorträge von Weiß ein, der mir auch später, als er Professor in Berlin geworden, immer ein geehrter teilnehmender Freund geblieben ist, und nach und nach rückte ich nun auch dem eigentlichen ärztlichen Wissen näher und ging über zum Studium der Pathologie, Arzneimittellehre und zur Therapie.

Komme ich nun zu diesen Fächern, so darf ich nicht unterlassen, gleich anfänglich zweier Lehrer besonders zu gedenken, obwohl deren Persönlichkeit und Schriften immer mehr Einfluß auf mich geübt haben als ihre Vorträge; es waren Burdach und Heinroth. In dem erstern wurde mir späterhin die physiologische Richtung bedeutend und anregend und der letztere hat mich in philosophischer und psychologischer Beziehung wesentlich und vielfach gefördert, obwohl eigentlich immer mehr antagonistisch, denn die meisten seiner Ansichten schienen mir schon damals sehr unzureichend; aber sein joviales teilnehmendes Wesen und sein präziser klarer Vortrag regten mich doch an und gaben mir vieles zu denken, was allerdings weit später erst zur eigentlichen Gedankenreife kommen konnte. Der junge Geist ist wie die noch schwankende Pflanze, welche der Stütze bedarf; er muß jemand vor sich haben, der ihn teilweise anregt und ermutigt und teilweise wieder bei vorherrschend werdender Selbstzufriedenheit zurückweist und widerlegt.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 38-63.
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