II.

[98] Das denkwürdige Jahr 1813 eröffnete sich mir in ziemlich heiterer Weise. Man sagt, die Deutschen haben, neben manchen Erinnerungen in der Sprache, auch das mit den Persern gemein, daß es bei ihnen üblich ist, die Geburtstage[98] festlich zu begehen. Ebenso war es denn von alten Zeiten her in unserm Hause gehalten worden, und an diesem 3. Januar hatten die Meinigen unter Beirat von Freund Dietz auch mir eine solche besondere Festlichkeit zugedacht. Es war nämlich damals durch Goethes »Wahlverwandtschaften« eben zuerst jene Art von Unterhaltung vorbereitet worden, welche bald geschmackvoll, bald auch sehr geschmacklos in den folgenden Jahren nur fast zu vielfältig sich wiederholt hat – nämlich das Stellen lebendiger Bilder. Unser Freund hatte denn für diesen Abend einige bedeutsame Gruppen nach Bildern von Rubens und Riepenhausen, freilich mit wenig Mitteln, aber doch sehr originell und durch Anwendung farbigen Lichts besonders wirksam geordnet und mir, dem dergleichen hier zum erstenmal erschien, eine wirklich erfreuliche Überraschung bereitet.

Darf ich daher bei dieser Gelegenheit auch noch eine andere Erfahrung dieser Art einfügen, so sage ich, daß ich in meiner angeborenen Neigung für Kunstübung und Kunstwerke in gleicher Weise die merkwürdigste Steigerung erfahren habe. Es erweckte nämlich damals, wo doch meine Mittel so sehr beschränkt waren, zuerst die Sehnsucht nach Besitz von Kunstwerken ein Bild, das ich eben unter einer Sammlung alter und großenteils wertloser Ölgemälde fand, welche auf der Leipziger Börse versteigert werden sollten, als wohin denn auch mich der Auktionsanschlag gelockt hatte. Das Werk stand als ein Guido Reni im Katalog und war das lebensgroße Brustbild der Mater dolorosa mit dem Dolch im Herzen. Wunderbar zog es mich an, es war, als ob es mir das Geheimnis aller der Schmerzen andeuten sollte, die kein längeres Leben verschonen und die auch mir neben vielem Schönen in reichem, damals noch nicht geahntem Maße zugeteilt sein sollten. Das Bild ließ mir keine Ruhe, ich sprach davon[99] mit meinen Eltern und erhielt endlich die Billigung, einige zurückgelegte Goldstücke dazu anzuwenden, wenn es eben für so weniges erlangt werden möchte. Glücklicherweise für mich waren kaum einige Käufer vorhanden, und ich erhielt somit ein schönes, ernstes altes Bild, welches, wenn es nicht von Guido selbst sein sollte, jedenfalls eins der besten aus seiner Schule ist, und gründete damit den Anfang einer Sammlung von Kunstschätzen, die jetzt ein geräumiges Haus ziemlich erfüllen. Es begleitete mich später nach Dresden, hat immer in meinem Studierzimmer gehangen, und wie oft haben nicht seitdem meine Augen auf dem tränenreichen Antlitz der göttlichen Schmerzensmutter gehaftet, wenn auch mir wieder ein Schwert des Schmerzes das Herz durchschnitt.

Sowie nun aber das Frühjahr weiter vorrückte, begannen auch drohende Gewitter erneuten Kriegs von allen Seiten aufzuziehen und von Tag zu Tag sich mehr zu nähern. Im März sahen wir die ersten russischen Truppen in Leipzig, und mit welchen ungeheuern Anstrengungen Napoleon zu gleicher Zeit in Frankreich eine neue große Armee hervorgerufen hatte, ist tief in die Tafeln der Geschichte eingezeichnet. Aber auch Preußen rüstete gewaltig, und in ganz Deutschland regte sich stärker und stärker das Gefühl, daß jetzt oder nie der günstige Moment herannahen werde, die eisernen Bande zu sprengen, welche französischer Despotismus lange und hart über unsere Gaue gelegt hatte. Schiller lebte schon nicht mehr, aber die Freiheitsgedanken, welche im »Don Carlos« und »Teil« vielfach ausgesät waren, sie hatten tief im Herzen Deutschlands Wurzel geschlagen, überall regte es sich in Schrift und Rede und Gesang, damit das Volk erwachen und seine Ketten abschütteln möge, Freiwillige erhoben sich überall, große freie Gaben wurden zugleich dem Vaterlande geboten, und eine mächtige Begeisterung[100] machte sich fühlbar durch das ganze Land. Im April zogen sich gegen Leipzigs Ebenen von Ost und West große Heere zusammen; man erzählte von neuen Gewalttaten der Unterdrücker, in Niederschlesien hatte man für die Sache der Freiheit zu den Waffen gegriffen, und dreiundzwanzig Bürger, in solchem Beginnen verraten und gefangen, wurden dort von den Franzosen gerichtet und erschossen, kurz, die Unruhe, die Aufregung, der Haß, alles stieg auf eine Höhe, die keinen mehr in seinem gewöhnlichen Leben unangefochten lassen konnte.

Allgemein erwartete man Anfang Mai eine Schlacht. Unsere Vorstadt konnte leicht beim Vorrücken der Gefechte gefährdet werden, und so brachte ich meine Frau, deren Umstände damals besondere Schonung forderten, nebst dem wenigen, was wir besaßen, in die Stadt zu Verwandten, und daß in solcher bewegten Zeit nun auch meine wissenschaftlichen Arbeiten mehr und mehr gestört und unterbrochen werden mußten, mag man sich leicht denken. Am 2. Mai hörte man eine heftige Kanonade, die Franzosen rückten von Merseburg her immer weiter vor, man sah die fechtenden Linien bereits vom Boden unsers Hauses, der Lärm wuchs, die Franken drangen fechtend zum Tore herein, ein paar Kanonenschüsse fielen auf unserer Straße. Endlich war die Stadt geräumt, sie wurde förmlich besetzt, und eine Deputation ging ins französische Lager ab, um Schonung bittend.

Aber noch blieben die Franzosen nicht, den 3. Mai zogen sie nach Lützen zu ab, und Kosaken mit preußischen Husaren rückten wieder bei uns ein, die fröhlichsten, täuschendsten Siegesnachrichten mitbringend. Zugleich hieß es, auf dem Schlachtfelde bei Lützen, wo die Deutschen den Sieg erfochten hätten, fehle es an Wundärzten, und sogleich hatten wir jüngern Ärzte uns unter der Leitung von Clarus am 4. Mai früh an der Börse versammelt, wo[101] requirierte Leiterwagen bereitstanden, uns nach dem Schlachtfelde zu führen, wo die Tausende, in ihrem Blute liegend, nach chirurgischer Hilfe sich sehnten. Mir war es besonders ein eigenes Gefühl! Mein Bindezeug und Charpie hatte ich wohl in Ordnung, aber nie hatte ich in meinen Studien, bei der dazumal ganz schlecht versorgten Professur der Wundarzneikunde an der Universität, Gelegenheit gehabt, mich in diesem Fache praktisch zu üben. Was ich wußte, verdankte ich meinen Büchern und meinem Studium allein, und nun sollte ich auf einmal ausüben, was nur theoretisch mir eigen geworden war. Natürliches Geschick und Begeisterung würden indes doch das Ihrige getan haben, allein – das ganze Vorhaben scheiterte. Wir bekamen Order, nicht abzugehen, denn andere Gerüchte drangen heran, und nur gar zu bald bestätigte sich der abermalige Sieg des französischen Kaisers. Noch am selbigen Tage zog das Neysche Armeekorps in Leipzig ein, und tief getrübt schien wieder auf längere Zeit der Horizont für Deutschlands Hoffnungen.

Große Truppenmassen wälzten sich jetzt durch die von neuem bedrängte Stadt, die Häuser waren mit Einquartierung belastet, Spitäler mußten errichtet werden, und mit Anfang des Monats Juni erging auch an mich die Anfrage: ob ich geneigt sei, die Einrichtung und Leitung eines französischen Militärspitals zu übernehmen. Mein Entschluß war bald gefaßt. An ernste Wissenschaftsarbeiten war in dieser Zeit so nicht zu denken, ich las kein Kollegium diesen Sommer, meine Familie bedurfte der Unterstützung; der Gefahr der Ansteckung, der jetzt so manche Ärzte unterlegen waren, setzte ich Mut und ein höheres Vertrauen entgegen, und so erklärte ich mich bereit.

Westlich von Leipzig, an dem stillen Wasser der Parthe, liegt am Rande des Rosentals ein großes sogenanntes[102] Vorwerk, ein Meierhof, mit weitläufigen Ställen, Speichern und Scheunen, genannt Pfaffendorf; dort wurde mir diese für mich ganz neue Tätigkeit angewiesen, und einer der Flügel mit seinen ehemaligen Kornböden und Schuppen sollte das Lokal abgeben, aus welchem durch schnell eingezogene Wände nun Krankensäle, Pharmazie und Wärter- und Chirurgenbehausung hergestellt werden mußten.

So war ich nun mit einemmal aus den stillen Kreisen meines Hauses, meiner Studien und meiner Vorträge in ein vielbewegtes Treiben gedrängt. Die Krankensäle füllten sich rasch, und ich hatte täglich gegen zweihundert Kranke zu sehen. Den größten Teil des Vormittags brachte ich so in meinem Spital zu und hatte oftmals auch nachmittags wiederholten Besuch dort zu geben; außerdem versahen ein paar beigegebene Unterärzte den Dienst, und bald fehlte es auch nicht, daß diese gewechselt werden mußten, indem sie Typhus bekamen und der eine starb. Später mußte ich noch eine neue Abteilung einrichten, in welcher kranke und verwundete russische Gefangene untergebracht wurden, und nach der Schlacht von Dresden namentlich häuften sich die Leidenden in allen Abteilungen so sehr, daß der Magistrat genötigt wurde, in größter Eile hinter Pfaffendorf noch ein eigenes weites Gebäude aufführen zu lassen, worin nun ein Spital, bloß von französischen Ärzten verwaltet, eingerichtet wurde. Im September war auch dies im Gange, und ich verfehlte nicht, zuweilen dort an den Visiten teilzunehmen, wobei ich denn freilich oft mit Schrecken gewahr wurde, mit welcher Gleichgültigkeit da über Hunderte von Kranken hingeeilt wurde, kaum einmal mit Ernst bedenkend, um was es sich eigentlich handele.

Erwäge ich jene Zeit recht, so war es im Grunde hier zum erstenmal, daß es mir deutlich fühlbar wurde, wie gering[103] ein menschliches Dasein oft auf der großen Rechentafel der Welt zu zählen scheint. Ein reiches Land gab hier die Blüte seiner jungen Mannschaft her, Tausende von Familien mußten hierher senden, was lange Jahre mit Liebe und Sorgfalt und voller Hoffnung von ihnen gepflegt worden war, und wie sorglos wurde damit umgegangen! Unzählige hatten kaum vor einem Jahr in Rußlands Eisfeldern ihren Tod gefunden, sehr viele waren jetzt wieder dem feindlichen Geschütz geopfert worden, und nicht wenigere hatten harte Verwundungen oder schwere Erkrankungen sich geholt und lagen nun auf dem Stroh der Spitäler, großenteils unwissenden Ärzten und ungenügender Kost und Pflege anheimgegeben, so daß, wer äußern Feinden entgangen war, oft den innern erlag! Ganze Generationen wurden so niedergemäht von dem unerbittlichen Engel der Verwüstung, und niemand war, der da schien des einzelnen zu achten. Gewiß, es ist nicht möglich, von dem wundervollen Bau des Menschen und von der Würde der Anlagen des menschlichen Geistes einen hohen Begriff erlangt zu haben und sich nicht tief erschüttert zu fühlen, wenn man solcher – man kann es nicht anders ausdrücken – Mißachtung der Menschheit in Massen gewahr wird! Und greift dies dunkle Geheimnis nicht etwa noch viel weiter! Sehen wir nicht oft die kostbarsten Blüten echt menschlicher Individualitäten und Verhältnisse auf eine rohe Weise geknechtet, zerrissen, ja gänzlich zerstört, auch ohne daß es sich dabei um Volkerherrschaften handelte!

Hier liegt der tief umnachtete Abgrund, der uns in erster Jugend wohl lange verborgen bleibt und der allemal, wenn wir irgend zuerst an seinen Rand geführt werden, die Seele mit einem eigenen Schauder erfüllt! Die Weisen aller Zeiten haben vergebens versucht, eine solche Tiefe mit Gründen auszufüllen, und es dauert lange und fordert[104] eine hohe Reife des Geistes, bis daß man dahin gelangt, einzusehen, es gebe doch zuletzt, und könne für uns nur geben, eine einzige Decke über diesen Abgrund, und diese Decke werde allein gewoben aus dem Geheimnis der göttlichen Liebe und aus dem höhern Mute zu lieben.

Allerdings geschah es nun aber auch, daß die nächste Zeit noch manches heranführte, das als wahrer Prüfstein jener höhern Gesinnung gar wohl angesehen werden durfte, denn jetzt steigen nun auf vor meinem Geiste die Schreckenstage jener gewaltigen Schlacht, in welcher das Schicksal von Europa entschieden und der Held vieler vergangenen Jahre gestürzt werden sollte. Bevor ich indes dazu übergehe, ein Bild jener ungeheuern Erlebnisse zu entwerfen, muß ich noch einiges nachtragen über die ihnen zunächst vorausgehende Lebensperiode und die innerlichen Zustände derselben.

Zuerst darf ich es hier seltsam genug nennen, daß gerade in diesem Sommer, wo mit vermehrter Gewalt durchaus praktische Geschäfte mich so viel mehr als früher fesselten, eine Neigung wieder stärker hervortrat, welche durch die rein wissenschaftlichen Bestrebungen der vorausgehenden Jahre bedeutend zurückgedrängt worden war, nämlich die Neigung zur Kunst. Indes immerfort, nur einmal mehr, einmal weniger, erscheint das Leben des Menschen aus Gegensätzen, ja oft genug aus Widersprüchen zusammengewoben, und ebendeshalb mag wohl auch hier gerade die nach einer Seite überschlagende Richtung eines unmittelbar tätigen Eingreifens ins wirkliche Leben schon Grund genug gewesen sein, die Seele zeitweise wieder in das gerade entgegengesetzte Element stiller und tiefer Betrachtung und Empfindung zu versenken. So fand ich also nicht nur hier und da noch Zeit, landschaftliche Studien zu zeichnen, sondern ich begann auch, mich im Ölmalen zu versuchen, wobei ich denn, da[105] ich ganz als Autodidaktos verfahren mußte, mit Behandlung der Farben, Trocknen und Anwendung der Firnisse usw. Not genug mir bereitete. Erst später gelang es mir, ein paar kleine Gemälde von Klengel in Dresden, dem damals berühmtesten Landschaftsmaler Sachsens, zu erhalten, und die ganz sauber gelungenen Kopien nach denselben verwahre ich noch jetzt, dankbar für alles, was ich daran gelernt habe, als Zeichen jenes Fleißes und an sich als ganz anmutige Bilder.

Kam ich übrigens dazu, an stillen Nachmittagen mich ein paar Stunden in die Waldeinsamkeit des Rosentals zu versenken und an Studien nach alten Baumstämmen, Laubmassen und üppigen Pflanzengruppen mich zu erholen, so veranlaßte es mich zugleich nicht selten zu besondern Betrachtungen, wenn ich bedachte, wie ruhig und groß das Naturleben in seinem Gange dahinzöge, während der Mensch mit seinen Eroberungsplänen, Völkerbewegungen und Kämpfen gern glauben machen möchte, daß er die Gestaltung der Erde zu verändern imstande sei, indem er das zu schaffen glaubt, was wir mit dem stolzen Namen einer Weltgeschichte belegen. Da lag der große Eichenwald in seiner tiefen Ruhe, das Leben der Vögel drang durch die Zweige, die Wiesen wallten in dem vollen Wuchse ihrer Pflanzen, die Wolken zogen so ruhig ihren Weg, gleichgültig, ob die ganze Menschheit schlafe oder wache, und so hatte man das Gefühl, die Erde lebt ihr stilles unbewußtes Leben nach ewigen Gesetzen von Tag zu Tag dahin, und alles, was wir Übermütigen als Weltbegebenheiten preisen, es drängt sich auf schmalen Landstraßen und in verhältnismäßig so kleinen Ortschaften zusammen, dergestalt, daß kein eben sehr entfernter Standpunkt von der Erde dazugehören würde, um gar nichts mehr davon gewahr zu werden.

Ein anderes ist noch, auf welches ich hier einen rückwärts[106] gewandten Blick richten möchte: es ist der Standpunkt meines geistig-wissenschaftlichen Ringens und die Stimmung meiner Gemütswelt zu jener Zeit. In ersterer Beziehung habe ich schon früher bemerkt, daß die Schriften von Schelling, Oken, Troxler und ähnlichen nicht ohne Einfluß auf meine physiologisch-philosophische Richtung geblieben waren. Das nähere Verhältnis dieser Strebungen zur Natur, das Festhalten an einem gewissen genetischen Gange der Betrachtung und der Charakter einer frischen, der Zeit überhaupt angehörigen Regung hatten daran indes entschieden mehr teil als die pantheistische Gesinnung dieser Schule; im Gegenteil, ich darf sagen, daß diese letztere mir immer sehr unbefriedigend vorgekommen ist, obwohl ich damals noch nicht so bestimmt das in meinem Geiste ausgebildet hatte, was ich späterhin mit dem Namen des Entheismus am angemessensten bezeichnen zu können glaubte. Bedenkt man es genauer, so dürfte man überhaupt vielleicht am richtigsten Pantheismus einerseits und den personifizierenden Monotheismus andererseits als zwei gleich unhaltbare Ansichten betrachten, und wie mir es früh schon unmöglich gewesen wäre, den Begriff eines alttestamentarischen Gottes, welcher als ein menschlicherweise denkendes und handelndes besonderes Wesen dem Weltall gegenübergestellt wird, zu dem meinigen zu machen, so war mir auch jene Vorstellung, welche Natur und Gott vollkommen identifiziert und das eine gleichsam nur als Kehrseite des andern betrachtet, ebensowenig genügend und störte mich in den Schriften der neuern Naturphilosophen vielfältig. Dagegen war ich in jener Periode wieder zu der dritten, zwischen den genannten Ansichten liegenden innern und tiefern Anschauung eines höchsten göttlichen Mysteriums, in welchem wir zugleich mit dem All »leben, weben und sind«, noch keineswegs hindurchgedrungen, und manche einsame[107] Stunde rang deshalb der Geist in mir mit Unruhe und Zweifel.

Da es nun zuletzt doch allemal bewußt oder unbewußt maßgebend für die Seelenzustände und das geistige Leben eines Menschen sein muß, wie er sein Verhältnis zum Höchsten auffaßt, so fühlte ich allerdings die Einwirkung jener innern Schwankungen überall, und ein Gefühl eines mir selbst noch nicht recht gemäßen, eines innern unvollkommenen Zustandes, die Ahnung, daß es überhaupt eine Lebensführung geben müsse, welche anders, vollendeter, befriedigender und schöner sei, versenkte mich häufig in jene eigentümliche, tief melancholische Stimmung, welche so oft ein Zeichen von Unreife ist und in der Jugend daher besonders leicht vorkommt. Ist nun aber diese Verstimmung nicht auf wahrer innerer Unfähigkeit für ein Höheres basiert, so wird man meistens auch finden, daß es dem Menschen früher oder später gelingt, nach und nach sich von ihr frei zu machen und jene Trübungen zu überwinden.

Wie es nämlich bei einer wahren Liebe und einem echten rein gegen das Höchste gewandten Streben nur zur Förderung einer solchen Richtung und Festigung des Geistes gereicht, wenn wir uns möglichst vielfältig äußern, das heißt unser Inneres im Äußern uns gegenständlich machen können, so kann auch hinwiederum nichts mehr geeignet sein, uns von halben und ungemäßen Zuständen zu befreien und falsche Umnachtungen aufzuklären, als daß wir sie uns recht unverschleiert und deutlich in einem Spiegelbilde zur Anschauung bringen. Vielfältig ist daher in Lagen dieser Art schon empfohlen worden das Niederschreiben aller unserer Gedanken darüber; aber noch weit mächtiger wirkt ohne Zweifel, eben weil so die gemütliche Stimmung mehr auszudrücken ist, das Ausfuhren und Darlegen derselben durch die Entwerfung[108] eines Kunstwerks; eines Kunstwerks, welches gleichsam als Ausdruck und Gleichnis des gesamten Seelenzustandes dem Geiste dann wirklich einen Spiegel vorzuhalten vermag. Wie oft ist es mir daher nicht auch noch späterhin gelungen, das innerste Geheimnis der Seele von schwerer Trübung zu reinigen, indem ich dunkle Nebelbilder, in Schnee versunkene Kirchhöfe und Ähnliches in bildlichen Kompositionen entwarf, welche, wenn sie auch manchen andern gleichfalls umflorten Seelen zusagten, doch endlich immer am meisten mir selbst Erleichterung, ja Befreiung zu schaffen pflegten.

Freilich muß ich nun auch noch hinzufügen, daß die wissenschaftlichen Strebungen selbst, so gewiß von ihnen einerseits jene Trübung mit ausging, doch andererseits ohne Widerrede zu einem wahren Halt und Trost mir gereichten. Ich darf mich dabei glücklich preisen, daß meine Laufbahn überhaupt noch in eine Periode des Werdens aller Naturwissenschaft und namentlich der Morphologie und Physiologie gefallen ist. Wo noch so viel unbearbeitetes Feld vorliegt, da ist immer leichter Land zu gewinnen, und der erste Entdecker, der auf einer wüsten Insel des Ozeans seine Fahne, aufsteckt und seinen Namen eingräbt, hat leichteres Spiel, sich selbst unsterblich zu machen und große Eroberungen zu erlangen, als irgendein noch so trefflich ausgerüsteter späterer Reisender, der in längst kultivierte und in geordneten Besitz genommene Länder einzieht. Ich sah also damals auch in der Wissenschaft noch nach allen Seiten viel unerobertes freies Land vor mir, und indem auch dies mir Tatkraft und Lust bedeutend erhöhte und wirklich manches mich rascher erwerben ließ, war auch darin ein Gegengewicht gegen alles Versinken in müßige Schwermut hinreichend dargeboten.

Unter der Besorgung meines französischen Spitals und bei[109] einem stillen einfachen Leben, teils mit den Meinigen, teils unter meinen Büchern, anatomischen Arbeiten und hier und da unter malerischen Studien, hatte ich den Sommer 1813 verbracht, da kam zuerst die Nachricht von der Schlacht bei Dresden, und bald darauf erfolgte der Waffenstillstand, währenddessen der Kaiser auf einen Tag in Leipzig weilte und uns in dessen Folge angesagt wurde, in den Spitälern parat zu sein, da es wohl sein könne, daß er in einem oder dem andern sich selbst umsehe. Nachmittags war große Parade auf dem Markt, und hier ist es, wo ich den merkwürdigen Mann zum ersten- und letztenmal in meinem Leben flüchtig gesehen habe. Sonderbar ist es, mit welcher Gewalt und mit welchem Nachhalt in solchem Falle das Sinnesorgan eine Erscheinung zu fixieren vermag! Noch jetzt, wenn ich die Augen schließe, kann ich genau den Ort, wo der Kaiser stand und wie er stand, mir visionsartig hervorrufen! Sein Bild, gleichsam das Phantasma von ihm, besteht noch, während seine eigene Erscheinung längst in die zeugenden Elemente wieder aufgelöst ist!

Die Visite der Spitäler erfolgte nicht, doch waren die Berichte über deren Bestand vorgelegt, und der französische Oberarzt Dr. Choppart eröffnete mir bald nachher, daß nebst einigen andern Ärzten wegen vorzüglicher Krankenbesorgung auch ich für den Orden der Ehrenlegion in Vorschlag gebracht worden sei, ein Vorschlag, dem freilich damals die Umstände nicht Folge zu geben erlaubt haben. (Vierzig Jahre später wurde er mir durch Napoleon III. nachträglich verliehen.) Bekanntlich hatte der Waffenstillstand keine lange Dauer, und mehr und mehr zogen sich nun die kriegführenden Heere gleich finstern Wetterwolken gegen die weiten Ebenen von Leipzig heran.

Schon seit dem 14. Oktober hörte man von ferne starken[110] Kanonendonner; allein immer näher wogte das Ungewitter heran, und mit dem 16. begann nah und fern in der Umgegend eine der fürchterlichsten Schlachten, welche die Geschichte aufgezeichnet hat. Schon am 17. war der Sieg für die Alliierten kaum mehr zweifelhaft, und der Rückzug der Franzosen hob an, sich durch die Straßen Leipzigs und den Ranstädter Steinweg hinauszuwälzen, fast vor unsern Fenstern vorbei, eine der schrecklichsten Szenen, die man sehen konnte; denn die halbaufgelösten Regimenter drängten sich, untermischt mit Packwagen, Vieh, Munitionskarren und Geschütz, in vielfacher Verworrenheit und immer unter dem Rollen des Kanonendonners dahin. Die ganze Nacht durch dauerte der grauenvolle Zug, und als wir am 18. früh ans Fenster traten, lagen in dem breiten Mühlgraben, welcher die Straße durchfließt, umgestürzte Wagen, standen brüllende Rinder und wieherten einzelne Pferde, während immer Zug um Zug auf der Straße sich vorbeidrängte. Am selben Tage sahen wir vom Boden des Hauses über Pfaffendorf hin die schwedischen Truppen anrücken, wir konnten das Aufführen der Geschütze sehen und den Blitz des Pulvers gewahr werden; einzelne Haubitzen fielen in die Stadt und zündeten an einigen Orten, so daß denn dies alles wenig dazu stimmte, daß man noch kurz zuvor zugunsten unsers unglücklichen, hier verweilenden Königs Friedrich August sich mit Siegesnachrichten für Napoleon getragen und mit allen Glocken geläutet hatte. Um diese Zeit war nun auch eine französische Batterie im Löhrschen Garten am Wasser, Pfaffendorf gegenüber, aufgefahren worden, und weil man fürchtete, die Schweden würden sich in jener Meierei, vor kurzem noch meinem Spital, festsetzen, so schoß man von dort aus diese Gebäude in Brand, so daß ich bald aus denselben Dächern die Flammen aufsteigen sah, welche noch vor drei Tagen[111] meine Kranken und Verwundeten bedeckten. Die Ordre, sie zu entlassen und wegzuschaffen, war mir eben noch kurz vor der Schlacht zugekommen, und von allen waren vielleicht nur einzelne Leichen unter dem Stroh der Lager hier und da zurückgeblieben; kurz, das Gemälde des Tags wurde in jeder Beziehung immer grauenvoller.

Was mich und die Meinigen betraf, so hielten wir uns jetzt zumeist in einem festgewölbten Parterreraum des Hintergebäudes auf, denn schon wurde die Existenz in den obern Räumen unsicher. Am 19. vormittags begegnete es mir, daß, während bereits von allen Seiten her die Tirailleure der Alliierten in die Gärten der Vorstädte eindrangen, ich wieder einmal auf den Boden des Vorderhauses stieg, um die Umgegend zu überblicken, und ebenda, als ich die Treppen wieder herabkam, fand sich, daß unterdessen eine Büchsenkugel durchs Fenster geflogen und gerade über den Stufen in die Wand eingeschlagen war, so daß ich, wäre ich ein paar Minuten früher herabgegangen, jedenfalls die Kugel in die Brust bekommen hätte. Nachmittags, als wir eben wieder nach sparsamem Mahle in unserm Gewölbe beisammensaßen, hörten wir einen furchtbaren Knall, der sich von dem steten Rollen des Kanonendonners deutlich unterschied: es war die Explosion, welche die Brücke am äußern Ranstädter Tore sprengte, um die Flucht des fränkischen Heeres zu decken. Was noch von Franzosen in der Stadt war, verteidigte sich jetzt nur noch schwach; von allen Seiten drangen preußische und russische Truppen herein, hier und da wurde geplündert. Ein preußischer Offizier, den wir an der Haustür mit einem Trunk gelabt hatten, wurde unser Schutz gegen die Plünderungslust russischer Jäger, die vom Rosental her über die Planken der Gärten hereinkamen; aber dawider natürlich konnte nichts uns schützen, daß nicht gegen Abend das ganze Haus voll Soldaten[112] gelegt wurde. Im Vorderhause lagerten Preußen sich in die Zimmer, im Hofe zogen Kosaken ihre Pferde ein, und sie selbst biwakierten in Menge um die Kessel der Färberei, Kessel, in denen jetzt weniger Farben als Fleisch und Gemüse und Suppen gekocht werden mußten.

Wie in solchen Fällen ein ruhig und friedlich geordnetes Familienleben plötzlich umgestürzt, zum Teil aus allen Fugen gerissen werden kann und doch gewissermaßen in organischem Gange sich fortbewegt, ist seltsam genug zu sagen. Alles Hergebrachte, in gewisser Regelmäßigkeit durch Gewohnheit Geheiligte ist aufgehoben, nur dem Drange des Augenblicks, nur der eben jetzt gebieterisch geforderten Notwendigkeit wird gehorcht, und doch, auch so lebt man weiter und sieht abends fast mit Erstaunen, daß der Tag vorübergegangen ist, den man kurz zuvor fast unübersteigbar wähnte.

Wirklich hatte indes die nun folgende Nacht leicht genug unserer gesamten Existenz ein Ende machen können. Da nämlich fast alle Betten für die Einquartierung in Anspruch genommen waren, so hatten wir, nachdem an Lebensmitteln hergegeben worden war, was immer vorhanden, erst nach Mitternacht auf die wenigen noch übriggebliebenen Strohsäcke uns niederlegen können. Kaum war ein Uhr vorbei, so weckte uns Lärm und gewaltiger Feuerschein; wenig Häuser von uns entfernt brannte ein Dach hell auf, und daß an regelmäßiges Wirken der Löschanstalten nicht zu denken war, mußte jedes sich sagen. Zum Glück war die Nacht ziemlich klar und windstill. Ein mäßiger Luftzug nur, und die ganze Straße war verloren; zumal da auf dem Steinwege alles voll Munitionswagen stand, durch die gesprengte Brücke bis zu deren Wiederherstellung dort aufgehalten. Für alle Fälle blieb uns nichts übrig, als mitten durch die unten biwakierenden[113] Kosaken und Pferde hindurch unsere besten Habseligkeiten in den Garten zu schaffen und abzuwarten, ob das Feuer sich ausbreiten oder in sich erlöschen würde. Auch aus den Nachbarhäusern erfolgte solcher Auszug mit schlaftrunkenen Kindern und Alten in die Gärten, und da lagen wir nun auf mitgenommenen Wolldecken und warteten unsers Geschicks.

Als sich nun der Zustand der Stadt nur etwas wieder geordnet hatte (am Morgen des 21.), ging ich aus, um mich umzusehen und einiges Nötige zu besorgen. Welcher Anblick aber bot sich mir dar! Der Platz vor der Mühle am Ranstädter Tore war mit weggeworfenen verrosteten Gewehren und umgestürzten Wagen bedeckt, hier und da, kaum kenntlich, lagen im Schmutz des Bodens Leichen französischer Soldaten und gefallener Pferde, überall war das freie Holzwerk an Barrieren usw. zu Wachtfeuern weggebrochen, einzelne Bäume umgehauen, selbst in den Gräben an der Promenade sah man hier und da unter den Büschen menschliche Leichen, und eben als ich wieder nach Hause zurückkehrte, landete dort in der Nähe ein kleiner Fischerkahn, in dem ein stattlicher Leichnam ausgestreckt lag, bekleidet mit polnischer Generalsuniform: es war der des Fürsten Poniatowski, welcher nach gesprengter Brücke mit seinen Lanciers durch den Reichenbachschen Garten die Heerstraße wiedergewinnen wollte und bekanntlich ertrank, als er mit seinem Pferde in das tiefe Wasser der trügerischen Elster gesprengt war. Ein Anblick, der sonst Hunderte von Zuschauern herbeigezogen haben würde, er erregte jetzt kaum das Umsehen einzelner Vorübergehenden.

Den nächsten Tag ging ich nun hinaus nach Pfaffendorf, wo ich fünf Monate hindurch als Arzt nach Kräften gewirkt hatte, und betrachtete die große Brandstätte. Auch die Ställe, in welchen das Vieh der Meierei stand, waren[114] in Feuer aufgegangen; niemand hatte die armen Tiere herausgezogen, und so lagen sie reihenweise halb verbrannt zwischen den zusammengestürzten Mauern, und man sah, daß hier und da von hungrigen Bewohnern des neu aufgebauten und erhalten gebliebenen Spitalflügels Stücke abgerissen oder abgehauen waren, damit sie zur Nahrung dienten. Ich ging hinüber, wo sonst die französischen Ärzte eine weit größere Anzahl Kranke behandelt hatten. Das Wegtransportieren aller war unmöglich gewesen, aber jede Sorge für die zurückgebliebenen Kranken während der Schlacht hatte aufgehört, und so traf ich nun nur noch auf wenig Lebende, aber auf hochgeschichtete Berge von herabgeschleppten, ja teilweise aus den Fenstern geworfenen Leichen.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 98-115.
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