VIII.

[292] So rückten wir denn nach und nach wieder in das volle Frühjahr 1856 hinein und verlebten vom Juni an wieder eine Reihe von Wochen in Pillnitz, wo ich nun, seit vorigem Jahre, durch eigene Umstände bestimmt worden war, noch ein zweites kleines Gut unmittelbar neben dem schon lange besessenen ersten anzukaufen und neu einrichten zu lassen. Es war nämlich nahe daran, daß diese Nebenbesitzung, welche ein nicht unbedeutendes Stück Feld und Garten enthielt, in die Hände von Spekulanten übergegangen wäre, welche es dann würden parzelliert haben, so daß um mein altes Grundstück her bald manche mir sehr unliebe Neubauten würden aufgestiegen sein, mir aber dadurch nach und nach alle Freude am Eigentum verdorben worden wäre. – Da es also möglich war, jetzt um mäßigen Preis das Nebengut zu erhalten, so hatte ich es sofort angekauft, hatte auch das fast zerfallende Haus[292] neu aufrichten lassen und erhielt nun für mich und die Meinigen, besonders an diesem Feld und Garten ein Stückchen Landwirtschaft, welches der Familie erwünschte Zerstreuung gab und auch manchen Nutzen für die Zukunft in Aussicht stellte.

Und so kamen hier noch einige andere interessante Begegnungen vor! – Ich rechne dahin zuerst, daß meine ärztliche Tätigkeit mich neben andern [1857] in nähere Berührung mit Frau Ottilie von Goethe, Goethes Schwiegertochter, und deren Schwester Ulrike von Pogwisch brachte und daß mir daraus eine Menge lieber und bedeutender Erinnerungen an Weimars schönste Zeit erwuchsen, indem sie, bei einem gewissen geistreichen Pli des vorigen Jahrhunderts, so erfüllt waren von Reminiszenzen jener großen Periode, daß nun durch sie, zumal da es gelang, bei meiner ärztlichen Behandlung manche Verbesserung kränklicher Zustände herbeizuführen, auch in vieler Beziehung für uns alle beigetragen wurde, das Trübe und Schwere dieses Winters zu lindern. – Ein zweites hierher Gehöriges brachte ein deutscher Physiker, Dr. Fritzsche; früher in Dresden angestellt und jetzt in Petersburg als kaiserlich russischer Staatsrat sich einer schönen Wirksamkeit erfreuend, war er wieder von der Regierung nach Paris gesendet worden, um allen neuen Erfindungen seines Fachs nachzuforschen, Stoffe und Apparate anzukaufen und so stets das Neueste und Beste davon nach der nordischen Hauptstadt zurückzubringen. Er hielt sich eine kurze Zeit hier auf, und so erwarb auch ich mir einen Einblick in diese wichtigen Neuigkeiten. Einer der interessantesten und jetzt auch schon im großen bereiteten Stoffe war damals das Metall der Tonerde – Aluminium –, eine Substanz von eigentümlicher Leichtigkeit und einem weichen milden Silberglanz; ebenso neu waren Ichthyne und Chitine, aus organischen Stoffen[293] gezogen, sodann verschiedenes an neuen Mikroskopen, Manometern, mikroskopisch-photographischen Bildern usw. – Mir fiel bei alledem die Stelle des »Faust« ein:


Ich stand am Tor, ihr solltet Schlüssel sein; –

Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel.


Um diese Zeit beendete übrigens jetzt unser Rietschel auch die Schiller-Goethe-Gruppe für Weimar und gab mir manche Gelegenheit, diese große und schwere Aufgabe sowohl als die Eigentümlichkeit und Schönheit ihrer Lösung zu verfolgen. Ich freute mich damals besonders über ein Wort von Ulrike von Pogwisch, welche ich zum Besuche des nun vollendeten Gipsabgusses des Ganzen veranlaßt hatte und die in ihrer eigen lebendigen Art nun ausrief: »Das ist recht goethisch!«; ein Wort, das mehr in sich schließt, als die meisten bei dessen erstem Klange wohl denken mochten! Ist es doch keine Kleinigkeit, wenn ein Künstler, und noch dazu ein innerlich so schwer erkrankter1, die lastende Wucht irdischer Materie so weit bändigen und verfeinern soll, daß von den Stirnen der Bilder solcher Dichterfürsten, wie sie Deutschland schwerlich jemals wiedersehen wird, der göttliche Funken dergestalt hell wiederleuchtet, daß ein großes Volk darin seine wahren Dioskuren der Poesie anerkennen darf! – Denn gewiß, gegen den Bildhauer, wie ätherisch leicht ist denn der Stoff des Dichters, ja selbst des Malers! – Ich habe immer mit eigenen Gedanken zusehen müssen, wenn für solche Kolosse die großen Eisengerüste und die zentnerweise verbrauchten Tonmassen nötig wurden, um nur erst bis dahin zu gelangen, daß überhaupt eine wirklich[294] menschliche Form anfing aus chaotischen Zuständen hervorzuleuchten! – Und all das muß überwunden werden, ehe es nur zum Anfangen der Lösung der eigentlichen und höchsten Aufgabe kommen kann!

Indem ich somit hier einmal bei künstlerischen Gedanken verweile, erinnere ich mich, daß die Kunstwelt zur selben Zeit auch durch eine Aufstellung vom Karton des Jüngsten Gerichts von Cornelius vielfach aufgeregt war. Die einen, völlig in die Grundsätze der Nazarener versunken, erhoben das Werk zum Himmel, während die andern, an den schroffen und oft wirklich unschönen Formen Anstoß nehmend, es ziemlich laut als eine Art von Verirrung bezeichneten und herabsetzten. – »Was mich betraf«, schrieb ich damals, »so mußte ich wohl anerkennen, daß wie in vielen andern seiner, so auch in diesem Werke der ernste, große, durch und durch tüchtige Stil mir einen sehr bedeutenden Eindruck hinterließ, und wird dies Ganze dereinst groß ausgeführt, so muß es gleich den übrigen Kartons zum Campo santo, welche der Künstler mir früher in Berlin selbst vorstellte, einen Eindruck machen, der an den der ›Divina commedia‹ des Dante wesentlich heranreichen kann. Andererseits jedoch konnte auch ich nicht bergen, daß zwischen ernster religiöser Erhebung und mönchischer Kirchensatzung doch stets ein scharfer Gegensatz anzunehmen bleibt und daß das Ideal, dem gerade hier Cornelius offenbar zustrebt, mir doch großenteils mehr auf der Seite der letztern als der der erstern zu liegen scheint. Ist nun aber das der Fall, so kommt es freilich zuletzt allemal auch leicht dahin, daß nun wirklich jene besondern Satzungen zum trockenen, harten Kreuzesholz werden, woran der lebendige Leib des Kunstlebens nur gleichsam wie zur Strafe geschlagen wird; was denn zuletzt mit meinen Begriffen von Kunst und Erhebung durch das Kunstwerk freilich wenig übereinstimmen könnte.«[295]

Übrigens wird man jedenfalls dies eben angeführte Fragment noch besser verstehen, wenn ich nun beifüge, daß in jenen Tagen zugleich die neue, so vollendete Aufstellung der in so ganz anderer Weise erhabenen Sixtinischen Madonna auf unserer Galerie zustande kam, mich in höchstem Grade in Anspruch nehmend, ja mich eigentlich zuerst zu jenem ziemlich viel gelesenen und zunächst im Jahrbuch der Schillerstiftung abgedruckten Aufsatze über dies Bild begeisternd. Es ging dies nämlich so zu, daß ich mich einst bei Majestät dem König in einigen Besprechungen gerade über diese Aufstellung verbreitete, mir halb unwillkürlich der Ausruf entfloh: »Dies ist doch eigentlich das erste Bild der Welt!«

Schon im Fortgehen, und noch mehr in stiller Stunde zu Hause, fragte ich mich dann: Hast du auch nicht zu viel ausgesprochen, und läßt sich ein so hohes Wort auch wirklich beweisen?

Natürlich knüpften sich jetzt daran viele Betrachtungen – alles, was ich in langen Jahren über dies Bild gedacht, an wirklich Gutem gehört und selbst ausgesprochen hatte, besonders die wunderbare, fast mystische Eigenschaft des Bildes, gegen alle Regel der Perspektive drei Horizonte zu enthalten und doch so ganz als Einheit zu erscheinen, strich an meinem Geiste vorüber, und dies war dann das Material, aus welchem jener Aufsatz entstand, ein Aufsatz, den ich alsbald den Galeriedirektoren und Professoren wie sämtlichen ersten Autoritäten des hiesigen Kunstlebens vorlas und der als Beweis für die Wahrheit des zuerst ausgesprochenen Wortes allgemeine Billigung fand und noch findet.

Übrigens sollte mich dieser Aufsatz jetzt auch noch in persönliche Beziehung mit einem Manne bringen, dessen literarische Verdienste ich schon lange in Ehren hielt, dem ich aber zufällig im Leben noch nicht begegnet war –[296] mit Varnhagen von Ense. Ich hatte ihm einen Abdruck jenes Aufsatzes zugesendet, und er schrieb mir mit besonderm Dank zurück, zugleich anzeigend, daß er in kurzem nach Dresden kommen und mich besuchen würde. – Wirklich hatte ich somit diesmal gehofft, nun ihn öfter zu sehen, und doch beschränkte sich zuletzt das Ganze auf einen Abend, den er in Gesellschaft mehrerer Freunde bei mir zubrachte. Die Eisenbahnen gewöhnen die Menschen an eine gewisse Hast, der nur zu schwer einiges Verweilen abgekämpft wird!

Varnhagen ist vier Jahre älter als ich, etwas kränklicher Natur, aber von guter, bedeutender Kopfbildung, die Stirn mehr breit als stark vorgebaut; im Munde viel Feinheit des Ausdrucks; die Augen wohlwollend, das lange weiße Haar gibt ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit Thorwaldsen.

Da ihm meine Betrachtungen über unsere Galerie zuzusagen schienen, so las ich den Abend meine Aufsätze über Ferdinand Bol und Claude Lorrain, woran sich dann manche interessante Gespräche knüpften. Auch bei unserm kleinen Herrensouper war er ganz heiter. Ich habe ihn aber später nie wiedergesehen.

Ich hatte bei ihm außerdem meine eigenen Gedanken über seine Rahel, deren Erinnerungen er mir schon im Jahre 1833 zugeschickt hatte. – Mochten sie wohl manches Wunderliche haben, aber es finden sich doch auch viele tiefe Gedanken bei ihr. Den folgenden habe ich immer hoch angeschlagen:

»Das Fühlen ist etwas Feineres als das Denken. Das Denken hat das Vermögen, sich selbst zu erklären, das Fühlen kann das nicht und ist unsere Grenze, und diese Grenze sind wir selbst, es weiß nur, daß es existiert. Mit Grenzen ließe sich alles definieren; die Grenze aber, die das nicht mehr erlaubt, umschließt unser eigenes Wesen und ist folglich ein Teil von uns.«[297]

Man wird aber nun schon aus den im vorigen aufgeführten mannigfachen Kunstbetrachtungen abnehmen können, daß der Fluß unsers eigenen Familienlebens, nachdem vorher des Schweren viel überstanden worden war, in all dieser Zeit still und befriedigend dahinging; denn auch darin gleicht das Leben des Sterblichen dem Gewässer, mit dem schon Goethe es einmal so schön verglichen hat, daß all solche Spiegelungen des Äußern im Leben wie im Wasser nur bei innerer Klarheit und ruhiger Oberfläche sich erzeugen.

Noch, waltete ja damals in meinem freundlichen Hause die sorgliche Hausfrau, meine treue Lebensgefährtin; den beiden geliebten Töchtern Mariane und Karoline zur Seite stand noch, außer meinem ältern, als Arzt nun schon so tätigen Sohne mit seiner lieben Frau, ein jüngerer kräftiger Bruder. Alles erfreute sich eines leidlichen Wohlseins, und eben diese jetzt eingetretene Ruhe nebst liebevollen oder besonders ehrenvollen Einladungen bedingte es denn auch, daß ich in diesem Jahre, und zwar zuerst schon für den Frühling und dann für den Herbst zu Ausflügen mich entschloß, deren Erinnerungen mir noch vorliegen und die vielleicht am besten geeignet sein möchten, die gesamte bunte Reihe aller dieser Lebensbilder jetzt abzuschließen.

Beide Ausflüge richteten sich nach der Gegend, von wo ich vor ziemlich einem halben Jahrhundert gen Dresden ausgezogen war, und indem so gerade ein ganzer Rundgang der Lebensspirale sich von ungefähr hier wieder erfüllte, möchten die Aufzeichnungen von beiden – einem kürzern nach Leipzig selbst und einem nicht viel längern nach Weimar und Jena – gegenwärtig wohl die passendste Gelegenheit geben, von meinen freundlichen Lesern Abschied zu nehmen und alles hier Mitgeteilte fernerer, wohlwollender Teilnahme zu empfehlen.

1

Wir verloren ihn ja nur drei Jahre später, trotz allem, was die Kunst für seine Erhaltung versucht hatte, im Februar 1861, nachdem er vorher, im Dezember 1857, noch den Tod von Rauch überleben mußte.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 292-298.
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