V.

[549] Meine »Psychologie« ist seit einiger Zeit eine Speise für mehrere rezensierende Würmer geworden, die sich bald lobend, bald tadelnd daran ergehen, ohne mich eben sonst in meinen Forschungen wesentlich zu fördern. Wolfgang Menzel hat meine Liebe zu Goethe abermals durchaus nicht verwinden können, und was wird er erst sagen, wenn er das ihn Betreffende im »Goethe-Zelterschen Briefwechsel«, [Band] V, selbst liest.

Diese Zelterschen Briefe beschäftigen mich übrigens vielfach; so ist Goethes Wolken- und Wettertheorie in eben jenem Bande mir doch sehr merkwürdig gewesen. Dagegen, was seine Kunstschemata betrifft, so kann ich ihnen[549] im ganzen keine große Bedeutung beilegen; denn es kommt ja wohl hier vor, daß er, der Bequeme, dem mitunter etwas ignoranten Zelter als »neuesten Philosophen« ein Schema hinstellt, was jenem vielleicht deshalb um so absonderlicher vorkommen mußte, da es ihm gerade »klar wie die Sonne« entgegenleuchten sollte. Nach meiner Ansicht ist aber der Sinn seiner Darstellungen kürzlich folgender: Die mittlern Werke verschiedener im Gegenschein befindlicher Literaturperioden setzen sich allerdings schnurstracks in Opposition und verhalten sich somit völlig polar. Die vortrefflichsten Werke derselben Perioden hingegen, in ewigem Äther der Schönheit schwebend, deuten zwar auch einen gewissen Gegensatz des Sinnes an, jedoch nur in sanften Schönheitswellenlinien, und dadurch wie in elastischer Biegung zu unmerklichem Übergange sich vermählend.

Der Herbst dieses Jahres führte mir nun wieder mannigfaltige Fremde herbei. Der eine, Buchhändler Mainoni aus Leipzig, in dessen Hände damals der Verlag meiner »Gynäkologie« übergegangen war, kündigte mir abermals eine notwendige Arbeit an, nämlich eine neue (die dritte) Auflage dieses Werkes vorzubereiten, wobei er denn mit einer Art von Entsetzen von fünf Nachdrucken sprach, welche die ersten beiden Auflagen desselben im Württembergischen und in Wien nach und nach erfahren hatten. Ein anderer Gast war der Pastor Schwarz aus Rügen nebst Familie, der mehrerwähnte alte Freund Friedrichs, welchen Dresdens Kunstschätze einmal wieder hierherzogen; ein wunderlicher, ästhetisch-gemütlicher, mild-guter Seelenhirt, an dem, als Nachfolger Kosegartens auf jener stillen Insel, man alles studieren konnte, was Ruhe, Einsamkeit und weithin hallendes Meer in dem Menschen an Fühlung, aber oft auch an Beschränkung hervorrufen. Er war ein rechtes Gegenstück zu einer dritten Individualität,[550] deren ich hier nun, mehrere andere übergehend, etwas ausführlicher zu gedenken habe; nämlich zu der des Bildhauers David d'Angers aus Paris. David hatte bereits vor mehrern Jahren durch einen gewissen kosmopolitischen Kultus Deutschlands sich bemerklich gemacht, indem er plötzlich in Weimar eintraf, um die kolossale Büste Goethes zu modellieren, welche er dann in Marmor von Paris aus wieder nach Weimar sendete, wo sie jetzt noch auf der großherzoglichen Bibliothek aufgestellt ist. Ebenso kam er nun nach Dresden, um von Tieck eine ähnliche Büste auszuführen und gleichzeitig für seine »Galerie des Contemporains«, in welcher er, in Form kleinerer Medaillons, die Porträts aller irgend in Kunst und Wissenschaft berühmten Personen auszuführen beabsichtigte, mehrere Porträts zu vollenden. Für letztern Zweck kam er denn auch zu mir mit der Bitte, ihm einige Stunden zu sitzen, damit er mein Reliefprofil machen könne, und so lernte ich ihn zuerst kennen. Ich darf sagen, wir kamen uns bald näher und sagten uns wechselseitig zu. Er verband eine gewisse Tüchtigkeit des Künstlers mit der Liebenswürdigkeit und Frische des gebildeten Franzosen, und die Großartigkeit, mit welcher er von der Kunst dachte, fand in mir ihren vollkommenen Widerklang. Tieck mußte sich nun auch entschließen, ihm ausführlich für die Kolossalbüste zu sitzen, und zwar geschah dies im Atelier des Professors Vogel, welcher denn nicht versäumte, diese Gelegenheit zu benutzen, um von Tieck ein hinsichtlich des Kopfes sehr befriedigendes, lebensgroßes Bild zu malen und zugleich die ganze Gruppe des Originals, der Büste und des modellierenden Künstlers nebst den im Atelier versammelten Freunden des Dichters zu einem kleinhistorischen Bilde zu verarbeiten, welches sich noch in der nachgelassenen Sammlung König Friedrich Augusts II. befindet.[551]

Ich unterließ nun bei dieser Gelegenheit natürlich nicht, David auch zu Friedrich zu führen und ihn, der noch von dessen neuer und eigentümlich poetischer Art der Behandlung der Landschaft gar keinen Begriff hatte, in diese Vorstellungsweise einzutauchen. Die Wirkung war schlagend! David war, womit vielleicht überhaupt seine Verehrung Deutschlands zusammenhing, einer der wenigen Franzosen, welche dergleichen Richtungen unsers Genius wirklich verstehen können, und so brach denn auch vor einem der neuern seltsamen Bilder Friedrichs jenes von mir anderweit schon erwähnte hübsche Wort hervor: »Voilà un homme, qui a découvert la Tragédie du paysage!«

Auch manche von meinen Bildern wirkten in diesem Sinne bedeutend auf unsern neuen Freund, welcher denn nicht verfehlte, einige Gemälde Friedrichs anzukaufen und ein paar andere von mir anzunehmen, gegen welche er mir später seine kolossale Büste von George Cuvier und einige seiner lebensvollen kleinen Statuetten sendete.

Es verflossen uns somit die paar Wochen, welche unsere fränkischen Freunde hier weilten, ganz angenehm, und da ich jetzt schon Pläne hatte, vielleicht nächstes Jahr selbst einen Monat in Paris zuzubringen, so wurden noch, bevor sie uns verließen, manche Vorsätze durchgesprochen, welche bei diesem Gegenbesuche zur Ausführung kommen sollten. Vor seiner Abreise führte David noch eine kleine Statuette des in seinem Armsessel sitzenden Tieck aus, von welcher ich einen Abguß noch verwahre, welche zwar bei der gebrechlichen Bildung dieses Freundes keinen ästhetisch erwünschten Eindruck machte, aber doch von seiner gesamten Haltung immerhin ein sprechendes Abbild uns erhalten hat, was nie fehlen kann, seinen Freunden stets ein wertes Andenken zu bleiben.

Von Tieck selbst machte um diese Zeit die Novelle, welcher[552] unter dem Namen der »Vogelscheuche« gewisse ihm vielfach zur Belästigung gereichende Dresdener Zustände und Personen ironisch und humoristisch scharf abzeichnete, vieles Aufsehen. Er hatte sie uns zum Teil selbst vorgelesen, wir hatten sie größtenteils mit Gemütsergötzung gehört, und wenn wir auch nicht alles überall billigen konnten, so waren doch wieder dichterisch bewundernswürdige Sachen darin, so daß wir denn nicht unterlassen durften, wo immer möglich den oft genug geärgerten und hier endlich zu einer kleinen ästhetischen Rache schreitenden Poeten gegen männiglich zu verteidigen. Man muß, indem man sich wirklich auf einem zum Echten und Tüchtigen führenden Wege befindet, es erfahren haben, von Überlästigen und Unzulänglichen auf hundertfältige Weise gekreuzt und behindert zu werden, um nachsichtig zu werden, wenn der Pegasus gegen solche Mückenschwärme einmal etwas derber ausschlägt; gingen doch auch so viel schöne und leuchtende Strahlen von ihm aus! – Jedenfalls konnten wir übrigens mit solchen Arbeiten Tiecks uns besser befreunden als mit andern belletristischen Neuigkeiten, wie sie damals die Zeit herbeiflutete. Erinnere ich mich doch zum Beispiel, daß ich von dem neuen Berliner »Musenalmanach« in jenen Tagen schrieb: »Auch in diese Sammlung habe ich geblickt, es war mir aber gerade, als sehe ich in eins der großen offenstehenden italienischen Spitäler hinein; mitunter wohl eine interessante Physiognomie, aber alles krank!« Nur den Liebesgedichten Rückerts in dem 1834 erschienenen Bande gestand ich eine tiefere Wirkung zu, wobei jedoch auch manches Individuelle der Situation entschiedenen Anteil haben konnte. Und so näherte denn auch dies Jahr sich seinem Ende. Im neuen Hause waren wir völlig eingerichtet, ein eigenes, nach Norden gelegenes Malerzimmer, so ich mir gebaut hatte, lud mich zu fernern Studien[553] auf das beste ein, der Druck meiner »Italienischen Reise« näherte sich seiner Vollendung, der der »Landschaftsbriefe« wurde vorbereitet, vielfältige praktische Tätigkeit nahm mich außer dem Hause in Anspruch, und im Hause waren Großeltern, Eltern und Kinder heiter vereinigt – kurz, das Schiff des Lebens lief damals mit dankenswert günstigem Winde!

Mit dem Anfang des Jahres 1835 erhielt ich jetzt von Regis als Glückwunsch zum 3. ein merkwürdiges Heft »Proben aus altenglischen Schauspielen«, welches er zur Förderung eigener Studien aus alten Originalien übersetzt und zusammengestellt hatte und womit er denn mir, der ich nicht dazu kam, dergleichen selbst aufzusuchen, eine besondere Freude bereiten mußte. War mir doch an diesem wunderlichen Freunde das immer so bedeutend und durch und durch antik vorgekommen, daß er in seinen Lukubrationen eine Menge Arbeiten vornahm und mühevoll durchführte, keineswegs wie jetzt all dergleichen getrieben zu werden pflegt, nur um eilig damit zum Buchhändler zu laufen und den Druck, ja wenn das Glück gut ist, ein Honorar zu erlangen, sondern in Wahrheit rein um der Sache selbst willen und aus Anerkennung eigenen daher zu entnehmenden Wachstums! So hatte er auch hier Vorgänger und Zeitgenossen von Shakespeare ernstlich durchgearbeitet und Bruchstücke aus Thomas Middleton und John Cook übersetzt, welche in ihrem entschiedenen, kecken, humoristischen und sehr lebensvollen Stil gar wohl geeignet sind, zu zeigen, daß ein gewisser Teil von dem, was wir hinsichtlich des Schwunges der Form an jenem Genius bewundern, schon vollkommenes Eigentum der Zeit gewesen ist. Diese Fragmente nenne ich wahrhaft lehrreich, denn sie erheben wieder den Blick vom Menschen auf die Menschheit und zeigen uns Shakespeare nicht mehr als das vom Himmel herabgekommene Meteor,[554] sondern als den aus dem Pflanzenwalde seiner Zeit allein in ganzer Vollendung aufschießenden Blütenschaft.

Dieser damals noch so lebhafte Verkehr mit Regis hatte übrigens auch Einfluß darauf, daß die Briefe über »Faust«, deren schon oben gedacht worden ist, in diesem Winter weiter fortgeführt und als an Regis gerichtet wirklich vollendet wurden. Selbst die darin enthaltene Schilderung jenes schönen radierten Blattes von Albrecht Dürer, welches unter dem Namen »Melancholia« allen Liebhabern mittelalterlicher Kunst bekannt ist, wurde dadurch veranlaßt, daß mir dasselbe (ebenfalls an diesem 3. Januar) als Liebesgabe dargebracht worden war; ein Blatt, in welchem ein seltsamer Anflug Faustschen Geistes mit der Individualität dieser frommen, stillen Künstlerseele wunderbar genug kontrastiert.

Was sonstige Literatur betraf, so gab der damals herausgekommene »Briefwechsel Goethes mit einem Kinde« meiner Korrespondenz mit Regis mancherlei Nahrung. Letzterm hatte doch das Seltsame und Überschwengliche des Buchs eigen imponiert, und ich antwortete ihm einst: »Was Sie über ›das Kind‹ schreiben, hat mir wohlgefallen, und auch ich lese den Briefwechsel nicht ohne Interesse. Hätte er Ihnen auch nur den Gedanken gegeben: ›daß in der Menschheit viel himmlische Seelen verborgen sind‹, so wäre das schon mir für Sie viel wert, und es gibt deren doch noch andere als diese! Übrigens stimme ich Ihnen wirklich insoweit bei, daß herrliche Sachen dort vorkommen, dagegen ist eine gewisse forcierte Überreife und eine Ostentation mit karikierter Natürlichkeit auch das wahrhaft Unglückliche dabei, und das, wodurch jeder Gedanke an einfache, wahre Seelenschönheit mir gänzlich getrübt wird. Tieck ist zumal für dergleichen ein unerbittlicher Richter! Einmal drückte er mir seinen Unwillen über diese Art Frauen, deren anderer aber wirklich[555] geisttiefere Repräsentant die Varnhagensche Rahel ist (ich weiß nicht, ob Sie die drei Bände ihrer geistreichen und doch oft etwas verwirrten Briefe durchgesehen haben), nicht übel dadurch aus, daß er sagte: ›Es sind aus dem Paradiese entlaufene Affen!‹, und wirklich sieht bei diesem liebenswürdigen ›Kinde‹ doch das Schwänzlein oft merklich genug heraus.« – Es fällt mir dabei ein, daß ich zu jener Zeit einmal selbst gesprächsweise von Bettina sagte: »In ihren Schriften sind selbst die guten und auserlesenen Gedanken doch immer etwas von der Art wie im Tanz ›el Olé‹: fein das Röckchen aufgehoben und auf die Wade aufmerksam gemacht!« Denn der Kultus, der mitunter mit diesen Sachen getrieben wurde, ging damals wirklich oft zu weit. – Daß ich überhaupt jenem Buche gegenüber etwas kälter blieb, mochte auch darin begründet sein, daß ich ein paar Jahre früher der Verfasserin einmal in der Wohnung Stackelbergs begegnet war, wo sie in Gestalt einer alten Virago, die Brille auf der Nase, dessen Zeichnungen durchsah und in ermüdender Suada dabei sich hören ließ. Wurde doch damals von ihr erzählt, sie selbst sei es gewesen, die einmal, Goethe adorierend, zu Tieck gesagt haben sollte: »Von Goethe muß ich ein Kind haben!« – Einleitungen, welche nun freilich nicht eben gemacht waren, dem romantischen Schwung ihrer neuern kindlichen Mitteilungen großen Sukzeß bei mir zu verschaffen.

Im Mai konnte ich endlich meine drei Briefe über »Faust«, zierlich ins reine geschrieben, an Regis absenden, nachdem auch der Kanzler von Müller vorher beiläufig Einsicht davon genommen hatte, und die Antwort, die ich darüber aus Breslau zurückerhielt, war im hohen Grade anerkennend, obwohl hier und da durchleuchtete, daß man dort mitunter dem Gedanken Raum gab, der Faust, von welchem in jenen Briefen die Rede war, sei vielleicht mehr[556] »der von mir Gedachte« als der Goethesche selbst; worauf ich denn freilich erwidern mußte: »Niemand kann am Ende völlig aus seiner Individualität heraus! Sie waren ja immer einer von denen, die die Blumen am liebsten pflücken, wie sie Gott wachsen ließ! Und so mögen Sie denn auch mit diesen fürliebnehmen.«

Den Frühling brachten wir wieder bis zum Juni in Pillnitz zu, und ich hatte dort gerade Muße genug, um manche Arbeiten noch abzuschließen, deren Beendigung um so dringender erschien, als mir im Juli eine Reise in die böhmischen Bäder und dann im August die Reise nach Paris in Aussicht stand.

In nächster Zeit gab es sodann alle Hände voll zu tun, um mich zur Pariser Reise hinreichend vorzubereiten. Wie ein Segen aus anderer Welt erschien es mir dabei, als gerade jetzt, wo nun auch der Druck meiner drei Briefe über den Faust beginnen sollte, ich ganz unerwartet durch Kanzler von Müller aus Weimar, nebst seinem herzlichen Schreiben über jene Briefe selbst, noch einen liegengebliebenen letzten Brief Goethes zugeschickt erhielt, der sich auf die frühere Übersendung meiner »Vorlesungen über Psychologie« bezog und somit noch in den letzten Monaten seines Lebens mir die ungetrübt erhaltene freundliche Gesinnung des verehrten Mannes bezeugte. Ich nahm das teuere Blatt als günstiges Omen für die Reise an, welche ich denn wirklich am 17. August antrat und über welche ich hier kein Wort weiter zu sagen habe, da alles Gute, was mir das Durchstreifen der Rheingegend, alles Bedeutende, was drei Wochen meines Aufenthalts in Paris mir brachten, sowie alles, was noch auf dem Rückwege mir durch den Besuch der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Bonn und eines kurzen Verweilens in Göttingen an Interessantem zuteil wurde, in den beiden Bändchen niedergelegt ist, welche späterhin[557] (1836) unter dem Titel »Paris und die Rheingegenden« bei Gerhard Fleischer erschienen sind und hier und da manchen freundlichen Leser gefunden haben.

Mit dem Anfange Oktober hatte ich mich jetzt in Dresden wieder ganz eingearbeitet, sah mich dort wie sonst in gewohnter Weise tätig und fing nun auch an, die Reiseerinnerungen sorgfältig in Ordnung zu legen. Der Ausflug hatte mir im ganzen gut getan; obwohl ich nach und nach bei dem damaligen langsamen Reisen 13 Nächte durchfahren hatte, fühlte ich mich frisch und gekräftigt, und insofern war es ein guter Moment gewesen, den David d'Angers, der früher gedachte Freund, gewählt hatte, um in Paris auch meine Kolossalbüste zu modellieren, welche er mir dann späterhin, ebenso wie früher an Tieck dessen Büste – beide vielleicht mehr in einer tüchtigen als sehr ähnlicher Weise in Marmor ausgeführt –, nach Dresden übersendete.

Wie es immer nach längern Abwesenheiten zu gehen pflegt, hatten auch diesmal die Geschäfte sich sehr gehäuft, und in erster Zeit kam ich daher selten dazu, in der Literatur nachzuholen, was unterdessen eben der Zeitstrom wieder Neues herangeflutet hatte. Eins der ersten Bücher, die unter den nichtmedizinischen nachhaltige Anziehungskraft übten, waren die Briefe von Merck, welche aus der Goethe-Periode so viel des Dankenswerten enthalten. Alles in allem genommen macht mir Herder doch oft und vielfach den Eindruck einer gezierten Natur, ich habe mich über einige seiner Briefe wahrhaft geärgert; Goethe dagegen erscheint hier immer wieder hoch zu Roß, und auch der erste Brief von Schlosser hat mir einen schönen Begriff von dieser Individualität gegeben.

Meinen alten Freund Friedrich hatte ich nach meiner Rückkehr leidend und fast unfähig zum Malen gefunden. Die Folgen eines Schlagflusses machten sich in quälender[558] Weise kenntlich, und ich schöpfte nur daraus einige Hoffnung, daß eben jetzt die Gelegenheit sich ihm geboten hatte, für 1200 Taler seine Bilder nach Rußland zu verkaufen und somit nun die Möglichkeit sich herausstellte, doch etwas mehr für seine Gesundheit tun zu können. – Zu eigenen künstlerischen Versuchen fehlte mir jetzt die Zeit gänzlich.

So kam denn das Jahr 1836 heran; es sollte in mancher Beziehung mir ein merkwürdiges, inhaltschweres sein! Meine geliebte Charlotte schied in ihm, erst lebend und liebend aus unserm Hause, um dann kaum zwei Jahre später uns aus dem Leben selbst hinweggenommen zu werden; in meinem praktischen Wirkungskreise, früher fast immer und überall mit Glück gekrönt, häuften sich einzelne schwere Unglücksfälle, das höherwerdende Alter meiner Eltern rückte die Aussicht auf Verluste in dieser Richtung ebenfalls näher; kurz, mehr und mehr kamen Mahnungen an die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge, denen freilich später noch schwere, ja zerreißende Entbehrungen folgen sollten; und doch nicht so, daß nicht auch zeitweise Herrliches wieder erschienen wäre, genug, um aufrecht zu halten, was dem Menschen immerfort das Unentbehrlichste genannt werden darf: den liebenden Mut, die Hoffnung und den Glauben!

Außerdem arbeitete ich in diesem Jahre mehreres für die Berliner »Kritischen Jahrbücher«, wodurch mir manche Wechselwirkung mit Varnhagen von Ense und Henning entsprang. Bemerken darf ich wohl, daß insbesondere meine Kritik des großen Schadowschen Werkes »Polyklet«, in welcher ich eigentlich die ersten Keime von dem niedergelegt hatte, was ziemlich zwanzig Jahre später in meiner »Proportionslehre« über den wahren organischen Modul der menschlichen Gestalt veröffentlicht worden ist, ganz aus jener Zeit datiert; und so ging denn das Schaffen[559] und Treiben und Arbeiten nach wie vor immer unausgesetzt weiter, wurde mir gelegentlich auch dadurch mit vergolten, daß der ehrwürdige preußische Veteran Dr. Johann Nepomuk Rust mir den 47. Band seines vielgelesenen »Magazins für die gesamte Heilkunde« dedizierte, ihn durch mein nach dem Zöllnerschen Steindruck in Stich ausgeführtes Porträt zu zieren die Güte hatte und mir den Band mit freundlichem Schreiben zusendete.

Im Anfang Juni erkrankte jetzt schwer unser greiser König Anton; ich befand mich gerade zum Dienst in Pillnitz, meine Kollegen Francke, Kreysig und Hedenus waren verreist oder selbst krank, kurz, ich hatte einige schwere Tage und Nächte mit der Pflege des würdigen alten Herrn zu bestehen, welcher denn am 6. Juni früh, umgeben von der gesamten königlichen Familie, endlich wirklich den Geist aushauchte und dadurch den Prinzen Friedrich als König Friedrich August II. auf den Thron rief.

Es war vielleicht schon kein gutes Omen, daß nun gerade mitten in der tiefen Landestrauer, welche jetzt folgte, sich in meinem Hause der Brautstand meiner geliebten Charlotte erklärte. Mehrere Monate früher nämlich hatte sich ein schon damals geschätzter Künstler, dessen Ruf späterhin indes von Jahr zu Jahr sich erhöht hat, Professor Rietschel, in meiner Familie einführen lassen, wie man sagte aus Verlangen, meine Büste, nebst denen einiger andern Notabilitäten Dresdens, ausführen zu wollen, in Wahrheit aber wohl mehr, weil ihn die große Liebenswürdigkeit unserer Charlotte gerührt hatte, und er wünschte, sein durch den Tod seiner ersten Frau verödetes Haus durch eine so schöne Blüte neu zu beleben. Der erste Wunsch war nicht wohl abzulehnen, und wirklich ging man denn auch bald ans Werk; ich mußte zu mehrern Sitzungen mich entschließen, bei welchen Lottchen zum Vorlesen veranlaßt wurde, und die Büste wurde nach und nach ein recht schönes[560] Werk, wodurch vielen, die sie namentlich späterhin der Büste Davids weit vorzogen, besondere Freude erwachsen ist; und nur dem noch später ebenfalls von Rietschel ausgeführten lebensgroßen Profilmedaillon, welches dem Bilde vor der »Psyche« als Original gedient hat, gab man dann an geistreich aufgefaßter Ähnlichkeit abermals den Vorzug. Wir wußten übrigens alle gar wohl, daß der Künstler durch den Verlust seiner Frau sehr gebeugt worden war, und die Meinigen nahmen ihn ebendeshalb mit besonderer Aufmerksamkeit auf, auch ich selbst erfreute mich vielfach sowohl an seinem redlichen, tüchtigen Wesen als an seiner echten Kunstbegeisterung; bald aber schien denn doch die Schönheit und Lieblichkeit meiner ältesten Tochter ihn weit mehr zu beschäftigen als die Aufgabe, die er für meine Büste sich gestellt hatte. Lottchen sah ihn denn auch gern, beide kamen sich bei häufigen Besuchen und Einladungen näher – kurz, schon in der zweiten Hälfte des Juni und, wie gesagt, mitten in der allgemeinen Landestrauer wurde unter heißen Segenswünschen, die freilich nur unvollkommen in Erfüllung gingen, die Verlobung erklärt.1

Im Juli zogen wir von Pillnitz wieder zur Stadt, und wenn[561] dies dem jungen Paare der Verlobten einerseits erfreulich war, so durfte auch ich damit zufrieden sein, da es mir zunächst Gelegenheit gab, nun auch einige künstlerische Erinnerungen an die letzte Reise, die mich schon im Frühjahr abwechselnd beschäftigt hatten, mit Sorgfalt zu vollenden. Das eine Bild war das der alten Wernerikirche von Bacharach, welches noch jetzt bei mir den Freunden einen Schatten der Schönheit der Rheinumgebung zurückruft, das andere gab eine seltsam phantastische Erinnerung an Paris, von der ich jetzt fast beklage, daß ein begüterter Russe mir einst keine Ruhe ließ, bis ich sie ihm überlassen. Als ich nämlich in jener Weltstadt einstmals einen Künstler aufsuchte, welcher in der Nähe des Vendômeplatzes die sechste Etage bewohnte, überraschte es mich eigen, über einem Meer von Dächern, Schornsteinen, Kuppeln und Türmen die Vendômesäule mit der Bildsäule Napoleons geisterhaft heraufragen zu sehen. Der Eindruck blieb mir lange in der Seele und wandelte sich endlich in ein Bild um, welches diese Szene im bleichen Mondschein dem Beschauer vergegenwärtigte. Dies Bild sowie jenes von Bacharach durfte ich wohl unter meine besten Arbeiten zählen, und so veranlaßte das erstere mich späterhin, es mit Abänderungen noch einmal mit Abenddämmerung zu malen, aber ich war wenig dazu geeignet, abgetane Sachen zum zweitenmal mir zurechtzulegen, und so ist denn auch diese Wiederholung mir wenig zu Dank geraten.

Im Anfang August kam Alexander von Humboldt wieder einmal zu mir. Schon war ihm der indes vollendete Druck meines Pariser Tagebuchs zu Gesicht gekommen, und als ich ihm von dem im zweiten Bändchen abgedruckten Briefe über Erdentstehung aus den »Erdlebenbriefen« sprach, ließ er es sich nicht nehmen, diesen Brief zur Anbahnung mehr ausführlicher Diskussionen darüber selbst[562] mir vorzulesen, so daß ich das eigene Gefühl hatte, meine eigenen Denkversuche über solch ungeheuere Vorgänge hier aus dem Munde eines Mannes wiedergegeben zu hören, der späterhin dieselben Aufgaben in seinem »Kosmos« mit so viel größerer Ausführlichkeit und Vollständigkeit bearbeiten sollte. Ich verlebte damals mit ihm, dem ich auch bei meinem Pariser Aufenthalte so viel zu danken gehabt hatte, einige sehr angenehme und interessante Stunden, und es war namentlich der erste allgemeinere Teil meiner »Physiologie«, der dabei vielfältig besprochen wurde.

Von Regis bekam ich dazumal seinen Shakespearealmanach zugeschickt, bekanntlich die merkwürdigen und früher in Deutschland wenig beachteten Sonette des Dichters enthaltend. Die Sendung beschäftigte mich viel, und ich pries mit Recht das Talent des Übersetzers; dagegen ließen die Sachen selbst durch ihre innere etwas seltsame Richtung es nicht zu dem kommen, was mir in Dichterwerken immer das Liebste bleibt und was ich am besten vielleicht mit dem Namen der Lebenswirkung bezeichne; eine Wirkung, die gerade bei Shakespeare in seinen übrigen Werken eine so ungeheuere zu sein pflegt und auch mir eine solche vielfältig gewesen war.

Im September ging ich zur Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte nach Jena. Es lag mir am Herzen, bei dieser Gelegenheit Jena, an welches sich bei mir Erinnerungen aus so frühen Jahren knüpften, einmal wiederzusehen und zugleich Weimar wieder aufzusuchen, wo ich 15 Jahre früher jene merkwürdige Stunde mit Goethe verlebt hatte. Die Versammlung selbst bot des wahrhaft Interessanten nicht sehr viel dar; namentlich zeigten auch hier die eigentlich ärztlichen Verhandlungen großenteils jenen halb trivialen, halb banalen Charakter, der so häufig in diesem an sich so ehrenwerten Stande das große[563] Wort führt. Merkwürdig war vorzüglich Humboldts fortgesetzte Mitteilung der Einleitungen zu seinem »Kosmos«. Ich selbst trug damals in einer der öffentlichen Versammlungen meine Beobachtungen vor über das Gefühl eines aufgehenden Bläschens im Ohr beim Ersteigen hoher Gebirge und dessen barometrische Bedeutung. Am dritten Tage waren wir durch den Großherzog sämtlich nach Weimar eingeladen; alle die dortigen Sammlungen waren uns geöffnet, und in den Nachmittagsstunden, in den jetzt leeren und eigens zum Feste geschmückten Orangeriehäusern von Belvedere, war ein großes Diner bereitet, an welchem der Großherzog selbst teilnahm; auch hatte später eine Elite der Gesellschaft, unter welcher ich mich befand, die Ehre, auf dem Schlosse der Frau Großherzogin vorgestellt zu werden, wobei es indes, da die hohe Dame sehr schwer hört, zu wenig geistiger Mitteilung kommen konnte. Am wichtigsten war mir, daß ich, ehe man nach Belvedere fuhr, noch Zeit gewinnen konnte, Goethes Haus noch einmal zu besuchen und in der Stadtkirche des Lukas Cranach großes Altarbild gründlich zu betrachten. Das erstere machte mir einen wunderbaren Eindruck! Ich habe manchmal wohl im Scherz gesagt: »Es müßte hübsch sein, wenn man Häuser aus Gummielastikum zu bauen wüßte, damit sie nach dem Bedürfnis der Bewohner bald erweitert, bald zusammengezogen werden könnten«; nun, dies Haus schien mir wirklich jetzt ganz zusammengeschrumpft und klein, wie es mir damals, als Goethe dort noch waltete, mächtig und palastartig erschienen war. Dabei war es zur Hälfte vermietet, die Statuen auf der Treppe sah man hier und da ausgebrochen, das »Salve« oben am Eingange erschien fast verwischt; alles verstaubt! Es gab ein eigenes, wehmütiges Gefühl, das seinen Höhepunkt erreichte, als das kleine Kämmerchen sich öffnete, worin das alte Hölzerbett stand, auf welchem er starb! Ist[564] nicht jedes solches letzte Schmerzenslager, worauf irgendein Genius oder Heiliger der Menschheit die letzten Atemzüge verhauchen muß, auch eine Art von hölzernem Kreuz gleich jenem, an welches der größte der Heiligen geschlagen wurde! Ob uns diese letzte Qual auf einem Golgatha trifft oder in solchem kleinen Kämmerlein, es ist immer nur eine relative Verschiedenheit, und selig der, welcher, wenn auch nicht wie jener Größte, mit der Bitte um Vergebung für die Sündigen, doch mit einem Gedanken scheiden kann gleich dem: »Mehr Licht!«

Als ich von Jena wiederkehrte, war eben meine kolossale Marmorbüste von David aus Paris angekommen und wurde im großen Salon zu ebener Erde aufgestellt. Die Künstler erfreuten sich an der Vollendung der technischen Behandlung des Marmors; an Ähnlichkeit zogen alle die Büste Rietschels vor.

Nun aber bereitete sich denn wirklich Lottchens Trauung, welche am Tage der unserigen, den 2. November, gehalten werden sollte. Ich schrieb darüber später an Regis: »Ihren Glückwunsch habe noch nachträglich Lottchen mitgeteilt. Ach, ich wünschte, Sie hätten sie noch einmal als Braut gesehen! Diese reine jungfräuliche Gestalt mit den schönen braunen Locken, dem Myrtenkranze und sanft herabwehenden Schleier und dem weißen Atlaskleide mit leichtem Überwurf von violetter, mit braunem Pelz zierlich verbrämter Seide! Mir war es eine schwere Fahrt zur Kirche! Dies liebe, liebe Kind so aus meinen Armen zu entlassen! Nun, Gott wende alles zum Besten, sie ist sehr heiter und glücklich!«

Konnte etwas sein, was mir damals die Lücke, welche durch Lottchens Fortziehen und Alberts Universitätsleben in dem weiten Hause entstanden war, doch leichter ertragen ließ, so war es die Freude an der frischen Entwicklung und Liebe der übrigen Kinder, unter denen insbesondere[565] die jüngstgeborene Eugenie eine Anmut und eine heitere geistvolle Lebendigkeit entfaltete, welche machten, daß ich dies neunjährige holde Kind, wenn es mit seinen feinen blonden Locken sich an mich schmiegte, wohl im Scherz »den wahren Philosophen« zu nennen pflegte und gern einzelner hypochondrischer Gedanken mich schämte, wenn ich in dies Gesichtchen sah. Dabei dachten wir auch bereits daran, daß im nächsten Jahre die goldene Hochzeit meiner Eltern, welche beide in ihrem stillen Zimmerchen ein gesundes kräftiges Alter friedlich verlebten, sich vorbereiten müsse, und so war denn immer noch hinreichend für Leben und Bewegung gesorgt.

Was mein Verhältnis zu den höchsten Personen unserer königlichen Familie betraf, so durfte ich es ein durchaus erfreuliches und günstiges nennen. Die Gesundheit meines königlichen Herrn, dem seit seiner Thronbesteigung von allen Orten Beweise von Anhänglichkeit und Vertrauen entgegenkamen, war seit seinen zwei Badereisen eine sehr zufriedenstellende; die Königin umgab ihn mit Liebe und Sorgfalt und veranlaßte auch jetzt, wie schon als Prinzessin, vielfältig freiere und geistvollere Unterhaltungen, als der königliche Hof seit langem gesehen hatte; ja ich selbst fand mich nicht selten wieder veranlaßt, in diesen Abendzirkeln kleine Vorlesungen zu geben, wozu namentlich das Pariser Tagebuch in der letzten Zeit mannigfachen Stoff darbot. Auch Tieck hatte wieder mehreremal das Glück, seinen trefflichen dramatischen Lesungen dort Gehör zu verschaffen, und überdies sah Prinz Johann fast allmonatlich einmal in der Stunde von 6 bis gegen 9 Uhr kleine Abendgesellschaften von Gelehrten und Künstlern bei sich, an denen zuweilen auch der König teilnahm und in welchen mitunter die interessantesten, freiesten und vielseitigsten Diskussionen zustande kamen, Diskussionen, zu welchen jetzt, bei wieder herannahendem Winter, namentlich[566] ein neues und merkwürdiges Phänomen in der Kunstwelt Veranlassung zu geben pflegte, ein Phänomen, welches übrigens selbst einer der wichtigsten Wendepunkte werden sollte, den das Künstlertreiben in Dresden seit vielen Dezennien erfahren hatte.

Man erinnert sich nämlich, daß in jenen Jahren Düsseldorf anfing, durch die in seinen Mauern aufblühende neue Malerschule das größte Aufsehen zu erregen. Der älteste Sohn des greisen Direktors Schadow in Berlin hatte dort am Rhein als Akademiedirektor und als einer der in Italien von altkatholischer Kunstbegeisterung Ergriffenen eine Anzahl junger, feuriger Gemüter um sich versammelt; rheinisches Leben, deutsche Romantik in Musik und Poesie und eine tüchtige, akademische Schulbildung hatte mancherlei Werke hervorgerufen, von welchen ganz Deutschland mit Aufmerksamkeit sprach, und so waren nun im Herbst 1836 eine Reihe Gemälde von daher zur großen Kunstausstellung nach Berlin geschickt worden, welche nicht verfehlten, auch dort, wo in Hinsicht der Malerei seither sehr wenig des Erfreulichen zustande gekommen war, sich viele Freunde und Bewunderer zu erwerben.

So kam es denn bei dem hiesigen akademischen Senat und im Komitee des Kunstvereins, dessen Vorstand ich damals geworden war, sehr in Frage, ob man nicht veranlassen könne, daß die vorzüglichsten jener Düsseldorfer Gemälde, bevor sie wieder in ihre Heimat gesendet oder den Eigentümern ausgehändigt werden möchten, auf einige Wochen nach Dresden zur Ausstellung gesendet würden. Natürlich taten wir alles Mögliche, um das projektierte Unternehmen zur Ausführung zu bringen. Die Mittel, um den Transport zu decken, wurden beschafft, der Ausstellungssaal auf der Brühlschen Terrasse eingeräumt, dem Publikum gegen mäßiges Entree der Eintritt eröffnet,[567] und bald versammelte sich nun dort alles, was in Dresden irgend auf Kunstbildung Anspruch machte; insbesondere aber waren es der »Jeremias auf den Ruinen Babylons«2 von Bendemann und die »Hussitenpredigt« von Lessing, welche eine mächtige Anziehungskraft auf sämtliche Beschauer ausübten.

Es liegt nun in jeder neu aufblühenden Kunstperiode immer ein eigentümlicher Zauber; jedes neu Hervortreibende, weil es doch irgendeine innere Schöpferkraft beurkundet, ist gleich dem Frühlinge selbst allemal von einer gewissen, freilich bald mehr, bald weniger nachhaltigen Wirkung, und dies Gesetz machte sich denn auch hier und auch bei mir in hohem Grade geltend. Was aber jedenfalls bedeutender genannt werden konnte: unser kunstliebender König selbst war durch diese Ausstellung eigentümlich bewegt worden, und ohne daß er darüber irgend weitere Mitteilungen vorläufig gemacht hätte, veranlaßte er jetzt in der Stille durch Minister von Lindenau, daß Unterhandlungen eröffnet würden, ob es wohl möglich sei, einige der bedeutendern Kräfte dieser neurheinischen Schule auf hiesigen Boden zu verpflanzen; Unterhandlungen, aus welchen es später hervorgegangen ist, daß die Professoren Bendemann und Hübner nach Dresden berufen wurden, denen dann bald noch einige andere sich anschlossen und was denn alles zusammen nach und nach dahin gewirkt hat, die Kunstakademie Dresdens auf eine Höhe zu bringen, wie sie sie zuvor noch unter keinem der frühern sächsischen Regenten irgend erreicht hatte.

Was nun sonstiges Dresdener Leben betraf, so hatten wir diesmal einen sehr kalten Winter, und die Folge davon[568] mochte es mit sein, daß im Februar 1837 eine sehr heftige Influenza in der Stadt ausbrach, welche auch mich nicht ganz unberührt ließ, aber besonders mit ärztlichen Geschäften dergestalt überhäufte, daß für einige Zeit alle andern Arbeiten beiseite gelegt werden mußten. Trotz des im allgemeinen schnellen und gutartigen Verlaufs der Krankheit erlagen ihr doch so viele namentlich ältere Personen, daß die Sterbelisten fast auf das Doppelte sich steigerten. Auch die schon seit längerer Zeit von Wassersucht heimgesuchte Frau unsers Tieck unterlag ihrem Übel im Februar, er selbst jedoch erhielt sich fortwährend kräftig. Am 3. Januar hatte er uns noch namentlich durch die Lektüre eines altmönchischen Fratzenspiels, die »Sündflut« genannt, erfreut, wo er so recht seinem verwegenen Humor den Zügel schießen lassen konnte und viel dazu beitrug, die Gesellschaft von Freunden und Freundinnen, welche sich abends zur Ehre des Tages eingefunden hatten, in die heiterste Stimmung zu versetzen.

Eine Nachwirkung meines vorjährigen Besuchs in Weimar durfte ich es ferner nennen, daß ich jetzt endlich auch den Gipsabguß von Schillers Schädel von dort zugeschickt erhielt, nach welchem ich so lange gestrebt hatte. Ist doch von Goethe mit Recht dieses merkwürdige Gebäude, in welchem eine so begabte Psyche lange gewirkt hat, in einem eigenen Gedichte verewigt worden, und mir war nur aufgegeben, als Gegengabe dafür eine lebensgroße Kreidezeichnung meines eigenen Angesichts für das Goethe-Album nach Weimar zu schicken, was ich denn auch mittels eines von Rietschel ausgeführten Profils richtig vollbrachte, späterhin dafür aber von Schillers Schädel selbst eine sehr sorgfältige Abbildung in meinem »Atlas der Kranioskopie« dem Publikum übergab. Überhaupt beschäftigten mich in jenen Tagen die Reminiszenzen an Weimar viel, denn eben war mir der zweite Teil des[569] Literaturwerks von Gervinus zu Händen gekommen, wo das, was dort über Goethe gesagt ist, mir ganz eigene Betrachtungen erregen mußte. Wie gering doch alles, was man hier von ihm erfährt! Ein Bestreben zum Nivellieren dieses Geistes mit so viel Schwächern ist sicher gar nicht zu verkennen! Die Deutschen haben sich von jeher etwas lumpig gegen ihre großen Geister benommen, und so frappiert mich auch dies so wenig als die Weimarische Auktion.3 Freilich kann man sagen, daß, so interessant auch Goethes Sammlungen waren, sie doch immer, gleich dem Hause selbst, an und für sich klein und dürftig bleiben, wenn man sie gegen Museen hält. Wie daher die arme Form des Leibes in Asche verwehen soll, wenn der Geist entschwand, so mögen auch immerhin diese Sammlungen sich zerstreuen und das Haus zerfallen, nachdem der Begründer gestorben; in der Erinnerung werden dann auch sie um so mehr groß und unvergänglich bleiben!

Was Tieck betrifft, so hat er uns neulich auch wieder einmal »Das Leben ein Traum« vorgelesen, und ich bin abermals in wahrer Andacht bei diesem Werke verweilt! Das ist jedenfalls das Schlimme in unserer stets druckfertigen Zeit, daß von unsern großen Geistern gegenwärtig nun auch jegliches Geringste aufbewahrt wird und nicht bloß ihre mächtigsten Sachen! Muß es doch künftig der Nachwelt immer ein wunderliches Bild geben, wenn dem Geiste, der jetzt nicht mehr durch die Macht seiner lebendigen Persönlichkeit wirken kann, fortan auch noch alle seine Windeln und Kinderkleidchen nachgetragen werden! Hätte man von Calderon nur obiges Stück und noch einige[570] andere seiner besten und ebenso auch von andern immer nur das Beste, mir deucht, es wäre gesünder, konzentrischer und begeisternder!

Mitten aber im Strom all dieser Tätigkeit trat plötzlich mir ein Hemmnis heran, welches auf einmal meinen Bahnen ganz andere Richtungen anwies und eine Reise mir herbeiführte, von welcher ich den Tag zuvor, ehe ich sie antrat, auch noch nicht die leiseste Ahnung haben konnte. Der König nämlich, welcher diesen Sommer wieder, wie schon mehrmals in vorausgegangenen Jahren, eine Reihe von Sommerwochen sich zu einer Gebirgsreise ausgewählt hatte und diesmal einige Gegenden Oberitaliens mit besuchen wollte, war, zurückkehrend aus den Küstengegenden um Triest, in Laibach ernstlich erkrankt. So kam es denn, daß, als ich am 31. Juli mittags ganz unbefangen von meinen Besuchen aus der Stadt zurückkehrte, mir ein Bote eilig entgegenkam, meldend, daß der Kämmerer des Königs mich erwarte und wegen Erkranken des königlichen Herrn meine schleunige Abreise sich unbedingt notwendig machen werde. – Die Lage der Dinge war schwierig genug. In wenigen Wochen sah meine Charlotte ihrer ersten Entbindung entgegen, und daß dabei das liebe Kind die Anwesenheit des Vaters sehr vermissen würde, fiel mir freilich am schwersten aufs Herz.

Auch von dieser Reise hielt ich schon unterwegs ein sorgfältiges Tagebuch, welches später ins reine gebracht wurde, ohne darüber bisher irgend etwas zu veröffentlichen. Da ich indes gegenwärtig bei wiederholter Durchsicht doch gewahr werde, daß so manches darin auch andern Lesern sicher nicht uninteressant sein dürfte, so habe ich nun angemessen gefunden, auch von diesen Aufzeichnungen alles Wesentliche hier einzureihen und es als Vervollständigung meines Lebensbildes hinzustellen.


1

Ich bringe hier gleich bei, daß, nachdem unser Lottchen und noch eine dritte Frau verstorben waren, Rietschel anfing, immer ernster brustleidend zu werden, dergestalt, daß ich ihn, bevor er die Verbindung mit einer vierten Frau eingehen konnte, auf einen Winter nach Palermo sendete und daß denn dessenungeachtet das Lungenleiden doch allmählich sich mehr und mehr vergrößerte, bis es ihn endlich im Februar 1861 trotz aller erschöpften Kunstmittel hinwegnahm; wobei denn seltsamerweise, neben seiner großen Aufgabe des Luthermonuments, eine seiner letzten Nebenarbeiten wieder meine im Frühjahr 1860 vollendete Büste gewesen ist. Sie wurde natürlich weit trefflicher als die erste; das Original aber hatte freilich indes auch weit tiefere Falten bekommen als im Jahre 1836.

2

Es muß heißen: Jerusalem. Wahrscheinlich Verwechslung mit Bendemanns »Trauernden Juden im Exil«, die (nach dem 137. Psalm) »an Babylons Flüssen saßen und um Jerusalem weinten«. (Anmerkung des Herausgebers.)

3

Nachdem damals Goethes Enkel das Gebot des Bundestags für Ankauf des Ganzen als Eigentum Deutschlands abgelehnt hatten, da es ihnen nicht groß genug schien, so war wirklich von Veranstaltung einer Auktion des Goetheschen Nachlasses die Rede, zu welcher es indes glücklicherweise doch nie gekommen ist.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 549-571.
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