[170] Zur Zeit meiner Übersiedlung nach Berlin war die wissenschaftliche Chemie hauptsächlich vertreten durch die deutsche chemische Gesellschaft, die Hofmann gegründet und 25 Jahre in musterhafter Weise und mit großem Erfolg geleitet hatte.
Die Feier ihres 25-jährigen Bestehens, die früher schon erwähnt wurde, war das erste wissenschaftliche Fest, das ich in meiner neuen Stellung miterlebte. Bald nachher begann die Alltagsarbeit, an der ich namentlich während der ersten 10 Jahre regelmäßig teilnahm, nicht allein, weil ich wiederholt zum Präsidenten und Vizepräsidenten gewählt wurde, sondern weil die chemische Gesellschaft damals noch in unserem Institut in der Georgenstraße zu Gast wohnte. Ihre Büroräume waren nämlich die Dienstwohnung des ersten Assistenten des Instituts, auf deren Benutzung früher F. Tiemann und später S. Gabriel zugunsten der Gesellschaft verzichtet hatten. Für die regelmäßigen Sitzungen diente der Hörsaal des Instituts, und die Gesellschaft bezahlte dafür eine ganz geringe Miete und eine kleine Entschädigung für Beleuchtung und Heizung. Da außerdem die meiste Arbeit für die Geschäfte des Präsidiums, des Sekretariats und der Redaktion der Berichte ehrenamtlich geleistet wurde, so waren die Ausgaben der Gesellschaft abgesehen von dem Druck der Berichte sehr klein, und dadurch ist es ihr möglich gewesen, im Laufe von etwa 25 Jahren durch Ersparnisse ein Barvermögen von 200000 M. zu erwerben.
Durch den Tod von Hofmann war zunächst keine Störung der Geschäfte eingetreten, da F. Tiemann in gewohnter Weise die beiden Ämter als Sekretär und Redakteur fortführte. Ich selbst hielt mich anfangs zurück und beteiligte mich nur an den Vorstandssitzungen, um die Art der Geschäftsführung und die daran beteiligten Personen als möglichst neutraler Beobachter kennen zu lernen. Aus demselben Grunde lehnte ich es auch Ende des Jahres 1892 ab, für die Wahl zum Präsidenten als Kandidat aufgestellt zu werden. Infolgedessen fiel die Leitung der Präsidialgeschäfte an Landolt. Das war allerdings ein Fehler, wie ich hinterher eingesehen habe; denn trotz aller seiner guten[171] Eigenschaften war Landolt zu sorglos, und auch wegen seiner Schwerhörigkeit in bewegter Debatte zu ungeschickt, um einem Sturm vorzubeugen, der für die Gesellschaft zu großem Schaden hätte werden können. Dieser wurde heraufbeschworen durch die Meinung einiger zu den Gründern der Gesellschaft gehörigen Vorstandsmitglieder, daß Tiemann seine Ämter zu autokratisch verwalte. Den äußeren Anlaß dazu bot der Vorschlag, M. Berthelot und C. Friedel in Paris zu Ehrenmitgliedern zu ernennen. Ich hatte ihn zusammen mit Tiemann überlegt und er war in einer Vorstandssitzung besprochen worden, bei der leider die meisten Mitglieder fehlten, angeblich, weil die Ernennung von Ehrenmitgliedern nicht auf der Tagesordnung gestanden habe. Als es dann bei der Generalversammlung zur Wahl kam, wurde der Vorschlag von der Opposition, die sich ganz im stillen organisiert hatte, bekämpft, und die Wahl mußte vertagt werden. Dabei kam es zu stürmischen Szenen, die der Vorsitzende Landolt nicht meistern konnte, und die Versammlung schloß in recht unerfreulicher Weise mit einem Mißton, der die Gefahr einer dauernden Spaltung im Vorstand anzuzeigen schien. In derselben Sitzung wurde ich zum Präsidenten gewählt, nahm auch die Wahl an, aber mit dem Gefühl höchsten Unbehagens und dem Entschluß, unter allen Umständen ähnliche Auftritte unmöglich zu machen.
Ich habe dann mehrere Monate im stillen ziemlich schwere Arbeit tun müssen, um die Gegensätze, die im Vorstand so stark aufeinander geplatzt waren, wieder auszugleichen und es zu ermöglichen, daß Tiemann vorläufig Redaktion und Sekretariat behielt. Dazu war es nötig, daß ich mich als Präsident mit dem ganzen Material der Verwaltung, namentlich auch mit der Tagesordnung und den Protokollen der wissenschaftlichen Sitzungen und der Vorstandssitzungen genau vertraut machte. Das geschah im besten Einvernehmen mit Tiemann, dessen große Arbeitskraft und treue Fürsorge für die Gesellschaft ich stets anerkannt habe. So hat sich auch ein persönliches Verhältnis freundschaftlicher Art zwischen uns entwickelt, und als er im Herbst 1899 plötzlich starb, hielt ich mich für verpflichtet, die Gedenkrede auf ihn zu halten1, die später durch einen ausführlichen Nekrolog von Witt in einigen Punkten ergänzt wurde. Es ist deshalb nicht nötig, daß ich ihm hier noch weitere Worte freundschaftlichen Gedenkens widme.
Eine unserer ersten gemeinschaftlichen Aufgaben war die Propaganda für die Wahl von Berthelot und Friedel, die bis zur nächsten ordentlichen Generalversammlung vertagt war. Wir hielten uns dazu um so mehr verpflichtet, als an beide Herren schon die private Anfrage ergangen war, ob sie eine solche Wahl annehmen würden. Um die[172] Opposition des kleinen Kreises Berliner Fachgenossen zu beseitigen, wandten wir uns an die große Zahl der auswärtigen Mitglieder, die ausnahmslos dem Vorschlag zustimmten. Ende 1894 wurden dann die beiden französischen Gelehrten zusammen mit Mendelejeff und Beilstein mit einer ungewöhnlich großen Majorität gewählt.
Bald nachher wurde die Gesellschaft vor eine ganz neue und weitreichende Aufgabe gestellt durch das Anerbieten des Herrn F. Beilstein, ihr alle seine Rechte an dem eben in 3. Auflage erschienenen Handbuch der organischen Chemie zu übertragen, falls sie bereit sei, Ergänzungsbände dazu erscheinen zu lassen und später eine neue Auflage zu veranstalten. Beilstein fühlte sich damals schon zu alt, diese große Arbeit selbst noch zu leisten. Er hatte sich zuerst an Herrn Paul Jacobson gewandt mit der Anfrage, ob er die Redaktion des Buches übernehmen wollte. Obschon Jacobson durch die Herausgabe des bekannten vortrefflichen Lehrbuches der organischen Chemie von Victor Meyer und Paul Jacobson besonders gut vorbereitet war, so schien ihm doch die neue Aufgabe für eine einzelne Person zu schwierig, und er machte deshalb den Vorschlag, daß die chemische Gesellschaft sich der Sache annehmen und durch Schaffung eines Zentralbüros für chemische Berichterstattung noch erweitern sollte. Zugleich erklärte er sich bereit, unter passenden Bedingungen an die Spitze eines solchen Büros zu treten. Damit gewann ein Gedanke praktische Form, der mir schon lange vorgeschwebt und den ich auch wiederholt mit Tiemann und anderen Fachgenossen im kleinen Kreise besprochen hatte, Zentralisierung der bis dahin stark verzettelten Berichterstattung für die wissenschaftliche Chemie, wodurch eine Verbilligung und eine weitere Verbreitung der referierenden Organe möglich werde. Bis dahin gab es den altbewährten Jahresbericht für Chemie, von Liebig und Wöhler begründet, der seit dem Jahre 1848 regelmäßig erschien und unmittelbar an den Jahresbericht von Berzelius anknüpfte. Daneben existierte das von Arendt gegründete Zentralblatt, das allwöchentlich erschien, jede einzelne Publikation besonders behandelte und dadurch die Literatur den Chemikern zwar nicht systematisch, aber nach kurzer Frist übermittelte. Etwas Ähnliches, aber in viel unvollständigerer Form boten die Berichte der chemischen Gesellschaft in ihrem Referatenteil. Endlich fanden sich noch solche Referate in der Zeitschrift des Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie, der Chemikerzeitung, der Apothekerzeitung und ähnlichen Organen. Es lag auf der Hand, daß diese Zersplitterung der Berichterstattung unzweckmäßig war, und daß mit denselben Mitteln viel Vollkommeneres geschaffen werden könnte.
Tiemann kam zu der gleichen Ansicht, und so haben wir beide 1895 den Entschluß gefaßt, den Vorschlag von Jacobson zu verwirklichen[173] und dafür die Zustimmung des Vorstandes und später der Generalversammlung der Gesellschaft zu erwirken. Das ist nicht ohne erhebliche Mühe und Sorge gelungen. Schon im Vorstand erklärten sich einige vorsichtige Mitglieder, z.B. der sonst so wohlwollende C. Liebermann, gegen den Plan, weil sie in dem neuen buchhändlerischen Unternehmen eine Gefahr für das Wohlergehen und besonders für die Finanzen der Gesellschaft erblickten. Andererseits konnten wir durch Kalkulation feststellen, daß die chemische Gesellschaft in der Lage wäre, für das chemische Zentralblatt und für das Beilstein-Handbuch eine viel größere Anzahl von Abnehmern zu gewinnen und dadurch eine erhebliche Herabsetzung des Preises zu ermöglichen. Niemand konnte leugnen, daß das ein Gewinn für unsere Wissenschaft sei und auch das Ansehen der Gesellschaft vergrößern müsse. So mehrte sich denn rasch die Zahl der Anhänger des neuen Planes, und in der Generalversammlung vom 13. Dezember 1895 konnte ich als Vorsitzender die erste öffentliche Ankündigung davon machen. Die Entscheidung fiel in einer außerordentlichen Generalversammlung vom 19. Juni 1896. Unter Leitung von Dr. Jaffé trat hier die Opposition nochmals scharf in die Erscheinung. Aber ich konnte als Vorsitzender alle Klagen und Befürchtungen widerlegen, und schließlich wurde die für den Plan nötige Änderung der Statuten mit großer Majorität genehmigt. Zuvor war es notwendig gewesen, für beide Werke von der Verlagsbuchhandlung der Firma Leopold Voß in Hamburg das Verlagsrecht zu erwerben. Den entscheiden den Schritt dazu hatte ich zusammen mit Schatzmeister Dr. Holtz, der von Anfang an dem Plane wohlgeneigt war und ihn jederzeit energisch gefördert hat, in den Herbstferien 1895 getan. Im Anschluß an eine Versammlung des Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie zu Kiel, an der ich teilnahm, fuhr ich mit Dr. Holtz nach Hamburg und vereinbarte dort mit dem Leiter der Firma L. Voß für das chemische Zentralblatt einen festen Kaufpreis von 15000 M. und für die Ergänzungsbände des Beilstein eine recht günstige Gewinnbeteiligung der Firma. Als diese dann später zögerte, die mündliche Vereinbarung schriftlich anzuerkennen und wir in Sorge kamen, den fertigen Vertrag der entscheidenden Generalversammlung im Juni 1896 nicht rechtzeitig vorlegen zu können, bat ich Tiemann, die Verhandlung mit gröberem Geschütz wieder aufzunehmen und zu Ende zu führen. Das gelang ihm auch, indem er die widerstrebende Firma durch höchst energische Telegramme zur Vernunft brachte.
Inzwischen waren mit Paul Jacobson und dem bisherigen Redakteur des chemischen Zentralblattes Professor R. Arendt in Leipzig Verhandlungen gepflogen worden. Beide traten anfangs 1897 in den Dienst der chemischen Gesellschaft. Arendt blieb in Leipzig und[174] besorgte von dort aus bis zu seinem Tode die Redaktion des chemischen Zentralblattes. Jacobson siedelte nach Berlin über und übernahm nicht allein die Redaktion des Beilstein-Handbuches, sondern löste auch Tiemann ab als Generalsekretär der Gesellschaft in der Redaktion der Berichte und der Erledigung der Sekretariatsgeschäfte. Damit schied Tiemann aus den beiden Ämtern, die er fast 20 Jahre lang unbesoldet verwaltet hatte, und der Vorstand fühlte sich verpflichtet, ihm seinen wärmsten Dank durch die Überreichung einer stattlichen Adresse und durch Veranstaltung eines Festessens auszudrücken.
Diese Neuordnung der Geschäftsführung mit den erweiterten literarischen Aufgaben bezeichnet den Anfang einer neuen Periode in der Entwicklung der chemischen Gesellschaft. Für die Richtigkeit der Veränderung spricht der Erfolg. Zu den 4 Bänden der dritten Auflage des Beilstein-Handbuches hat die Gesellschaft inzwischen die gleiche Anzahl Ergänzungsbände herausgegeben und eine neue Auflage vorbereitet, die ein Wertobjekt von mindestens 1,2 Millionen sein und an Umfang die großen Konversationslexika erreichen wird.
Auch das chemische Zentralblatt hat sich in erfreulicher Weise entwickelt, erst unter der Leitung von Arendt und dann nach dessen Tode unter Führung von Professor A. Hesse. Die Zahl der Abnehmer ist auf mehr als das dreifache gestiegen, der Umfang fortwährend gewachsen und auch die Qualität der einzelnen Referate verbessert. Erst durch den Krieg ist in allen Punkten wieder eine Verminderung eingetreten. Dazu hat die chemische Gesellschaft noch zwei neue Werke übernommen, das Literaturregister der organischen Chemie, gegründet als Lexikon der Kohlenstoffverbindungen von M.M. Richter und jetzt weitergeführt von Professor Stelzner, ferner ein ähnliches Literaturregister der anorganischen Chemie, gegründet und geführt von Dr. M.K. Hoffmann.
Die Bedeutung und Nützlichkeit dieser verschiedenen Unternehmungen wird von keinem deutschen Chemiker geleugnet werden, und die chemische Industrie hat dieser Überzeugung später Ausdruck gegeben durch reiche materielle Unterstützungen. Sie begannen 1909 mit einer Spende der Firma Cassella & Co. in Frankfurt a.M. von 60000 M. Bald nachher folgte eine durch den neuen Schatzmeister Dr. F. Oppenheim eingeleitete Sammlung von 200000 M. als Beilstein-Fond, dazu kamen 2 Sammlungen für das Lexikon der anorganischen Verbindungen und für das Literatur-Register der organischen Chemie im Betrage von 75000 M. und 120000 M. Endlich ist während des Krieges der chemischen Gesellschaft bei ihrem 50jährigen Jubiläum zur Sicherstellung ihrer literarischen Bestrebungen die Riesensumme[175] von 21/2 Millionen Mark von der Industrie und einigen Privaten gestiftet worden. Gleichzeitig ist ein ganzer Stab von wissenschaftlichen Beamten hauptsächlich für diese literarischen Dinge gebildet worden. Dadurch hat auch das nach dem Gründer Hofmann benannte Haus der Gesellschaft einen würdigen und ernsten Zweck erhalten. Der Plan seiner Gründung wurde sofort nach Hofmanns Tode gefaßt und fand auch im Kreise der auswärtigen Mitglieder vielfache Unterstützung. Ich selbst war für diesen Plan anfangs recht eingenommen, und habe das auch mit einem für meine damaligen Verhältnisse ziemlich hohen Beitrag (2000 M.) bekundet. Als ich aber nach Berlin kam, und in die Kommission zur Gründung des Hauses gewählt wurde, bin ich erschrocken über die nach meiner Ansicht leichtfertige Weise, in der das Unternehmen finanziert werden sollte. Die Sammlung hatte nur ungefähr 200000 M. ergeben und nun sollte ein Haus errichtet werden, das einschließlich des Bauplatzes auf 800000 bis 1 Million Mark geschätzt wurde. Damit wäre nicht allein das ganze Vermögen der chemischen Gesellschaft verbraucht worden, sondern auch noch eine erhebliche Schuldenlast entstanden. Ich hielt mich für verpflichtet, dagegen energisch Einspruch zu erheben, und habe es auch fertig gebracht, daß im Vorstand die Mehrzahl der Mitglieder zu der Ansicht kamen, das Hofmann-Haus müsse aus anderen Mitteln erbaut und der chemischen Gesellschaft kostenlos überwiesen werden. Dadurch ist der Bau sicherlich verzögert worden, aber das war kein Schaden, da die Gesellschaft in unserem Institut ein zwar bescheidenes, aber doch auskömmliches Heim besaß. Gleichzeitig wurden die Anhänger des luxuriösen Baues genötigt, eine andere Form der Finanzierung zu finden. Das ist auch den Bemühungen der Herren Holtz, Krämer, Martius und Tiemann gelungen, indem sie eine Gesellschaft m.b.H. zur Erbauung des Hauses ins Leben riefen, dessen Mitglieder Anteile von mindestens 5000 M. zu übernehmen hatten. Ursprünglich war dafür eine Verzinsung in Aussicht genommen, aber später haben die Herren es doch fertig gebracht, daß die meisten Besitzer der Anteile auf jede Entschädigung und Rückzahlung der Summe verzichteten. Ich selbst habe an diesem Geschäft keinen Anteil genommen. Auch der Bau des Hofmann-Hauses ist ohne meine spezielle Mitwirkung entstanden, nur bin ich, um einem Wunsch des Herrn Jacobson und der anderen wissenschaftlichen Beamten zu entsprechen, dafür eingetreten, daß in dem Hause ein kleines Laboratorium eingerichtet wurde, dessen Hilfsmittel auch den Experimentalvorträgen im großen Sitzungssaale zustatten kommen. Das Haus wurde 1900 mit einer Festsitzung eröffnet unter dem Vorsitz des Präsidenten J. Volhard, und A.v. Baeyer hielt damals die Hauptrede über die Geschichte des Indigos.[176]
Die Schöpfung des Hofmann-Hauses ist in erster Linie das Verdienst von J.F. Holtz, der mit Tatkraft und Geduld die Sammlung des Geldes betrieb und auch später im Hofmannhaus-Verein die Hauptrolle spielte. Allerdings trug er auch die Schuld dafür, daß der Bau recht kostspielig ausfiel und daß die ursprüngliche Bausumme um etwa 80000 M. überschritten wurde. Die Verzinsung einer Hypothek von 100000 M. und die nicht unerheblichen Unterhaltungskosten fielen natürlich der chemischen Gesellschaft zur Last, so daß ihr das Haus doch jährlich 12 bis 15000 M. Kosten macht. Ich habe keine Bedenken getragen, gegen die im wesentlichen durch das Hofmann-Haus stark gewachsenen Ausgaben der chemischen Gesellschaft Einspruch zu erheben, und es ist dadurch zeitweise zu einer Verstimmung zwischen Holtz und mir gekommen. Da aber die Finanzen der Gesellschaft trotz der vergrößerten literarischen Unternehmungen sich im neuen Jahrhundert günstig gestalteten, und durch die wachsende Zahl der Beamten der Bau immer besser ausgenützt werden konnte, so habe ich mich zufrieden gegeben und bin jetzt über das finanzielle Schicksal der Gesellschaft beruhigt. Aus Sparsamkeit wurde in den ersten Jahren der obere Teil des Hauses an die chemische Berufsgenossenschaft vermietet. Seitdem diese aber ihr direkt neben dem Hofmann-Haus gelegenes eigenes Heim bezogen hat, werden auch die oberen Räume nur von der chemischen Gesellschaft benutzt. Allerdings bildet einen Teil davon die Dienstwohnung von Professor Jacobson, die ihm in Anbetracht seiner Verdienste um die chemische Gesellschaft auch gelassen wurde, nachdem er vor einigen Monaten den größeren Teil seiner Ämter zugunsten seines Lehrbuches aufgegeben hat. Diese Dienstwohnung bildet aber eine Reserve an Raum, die später sicherlich zu den geschäftlichen Aufgaben der Gesellschaft herangezogen werden wird.
Der Hörsaal des Hofmann-Hauses ist durch zahlreiche Bilder verstorbener Chemiker geschmückt. Dasjenige von Georg Ernst Stahl, dem Begründer der Phlogistontheorie, habe ich gestiftet. Es ist eine von Walter Miehe ausgeführte Copie des im Besitz der Kaiser Wilhelm-Akademie für kriegsärztliche Wissenschaft befindlichen Originals. Das Bild zeigt den hervorragenden Mediziner und Chemiker, der in Berlin als Leibarzt des Königs Friedrich Wilhelm I. eine große Rolle spielte, in der kleidsamen Tracht des 18. Jahrhunderts, mit Sammetrock, Spitzenkragen und einer großen Allongeperrücke. Eine zweite Copie dieses Bildes, die ich von Fräulein Chales de Beaulieu vor 2 Jahren ausführen ließ und für das deutsche Museum zu München bestimmt hatte, ist weniger günstig ausgefallen, deshalb von Herrn Oscar von Miller als nicht geeignet für das Museum erklärt worden und befindet sich noch in meinem Besitz.
An den wissenschaftlichen Sitzungen der chemischen Gesellschaft habe ich in den ersten 8 Jahren meines Berliner Aufenthaltes, wo wir[177] unter demselben Dache wohnten, fast ausnahmslos teilgenommen und auch einen großen Teil meiner wissenschaftlichen Versuche dort vorgetragen. Die erste Mitteilung im Januar 1893 betraf die Entdeckung des Amidoacetaldehyds. Mein Vorschlag, die physiologische Wirkung des salzsauren Salzes zu prüfen, gab Anlaß zu einer kleinen Debatte in der Sitzung. Es war mir aber leicht, die Opposition ad absurdum zu führen durch die Bemerkung, daß die Pflanzen meines Wissens Lebewesen ohne Nerven seien, und daß man alle physiologischen Fragen ohne vorgefaßte Meinung behandeln müsse. Von da an sind die jungen Chemiker in Berlin etwas vorsichtiger geworden, wenn sie in der chemischen Gesellschaft meine Mitteilungen kritisierten, obschon ich immer bereit war, jede vernünftige und in richtiger Form vorgebrachte Opposition anzuerkennen und sachgemäß zu behandeln. Die Sitzungen waren damals fast ausschließlich von Originalvorträgen ausgefüllt, die deshalb vielfach in übertriebener Weise ausgesponnen und langweilig wurden, während die von auswärts eingelaufenen zahlreichen Mitteilungen, deren Inhalt in der Regel viel interessanter war, von dem Schriftführer mit wenig Worten abgemacht wurden. Auf meinen Vorschlag wurde im Jahre 1896 die Änderung getroffen, daß die auswärtigen Mitteilungen von einer größeren Anzahl junger Chemiker in viel ausführlicherer Weise vorgetragen wurden, wodurch die Sitzungen zweifellos an Inhalt und Interesse gewannen. Andererseits bemühte sich der Vorstand mit vollem Rechte, die schon einige Jahre vor Hofmanns Tode eingeführten zusammenfassenden Vorträge über größere Arbeitsgebiete von den besten Fachleuten halten zu lassen. An der Auswahl der Redner habe ich in den ersten 26 Jahren ziemlich regelmäßig mitgewirkt. In besonderer Erinnerung sind mir geblieben die Vorträge von van't Hoff über die neue Theorie der Lösungen und von W. Ramsay über die Edelgase, van't Hoff kam bei der Gelegenheit zum ersten Mal nach Berlin, und ich habe bei dem kleinen Festmahl, das nach der Sitzung ihm zu Ehren veranstaltet wurde, anknüpfend an seinen Namen »vom Hofe« ihn als einen König der Wissenschaft gefeiert. Der Eindruck, den er damals bei uns hinterließ, war nicht ganz ohne Einfluß auf seine spätere Berufung nach Berlin.
Noch mehr wurde Ramsay gefeiert; denn an seiner Entdeckung nahm auch das große Publikum teil, und er konnte seinen Vortrag in modifizierter populärer Form einerseits vor dem Kaiserpaar im Hörsaal des chemischen Instituts und andererseits in der Urania wiederholen. An dem Vortrag für den Kaiser nahm nur das Präsidium der chemischen Gesellschaft teil, und es war das erste Mal, daß ich mit Wilhelm II. und der Kaiserin, allerdings nur ganz kurz, in Berührung kam. Der Wunsch des Kaisers, einen Vortrag von Ramsay zu hören, war uns von Professor Slaby übermittelt worden, und ich übernahm es, bei Ramsay telegraphisch[178] anzufragen, ob er dazu bereit sei. Darauf kam die lakonische und für den Engländer charakteristische Antwort »Yes«. Ramsay war während seines Berliner Aufenthaltes mein Gast, und ich bin ihm während dieser Tage, wo wir stundenlang zusammen plaudern konnten, persönlich nahe getreten.
Er war nicht allein ein vortrefflicher Naturforscher, sondern auch ein allgemein gebildeter, sehr sprachgewandter, kluger und besonnener Mann. Ein zweites Mal hat er während des internationalen Chemikerkongresses 1903 bei mir in der neuen Dienstwohnung, Hessischestraße 2 gewohnt, und der günstige Eindruck von früher wurde dadurch nur noch verstärkt. Ich habe ihn später in London wieder besucht und in ziemlich regelmäßigem Briefwechsel mit ihm gestanden. Insbesondere berichtete er mir mehrmals über seine radio-aktive Forschung. Der letzte Brief, den ich von ihm 6 Wochen vor Ausbruch des Weltkrieges empfing, war in einem ungewöhnlichen Ton gehalten und gab Kunde von der Leidenschaftlichkeit, mit der er politische Fragen ergriff. Damals war er aufs höchste erregt über die Homerulepolitik der englischen Regierung in Irland und stand auf Seiten der Ulster-Partei, die nach seiner Meinung dem Homerule bewaffneten Widerstand leisten müsse, und für die er entschlossen war, persönlich alle Hilfe zu leisten. Das war der Vorläufer der maßlosen Angriffe, die er bald nachher, veranlaßt durch den Krieg, gegen Deutschland richtete, und auf die ich einstweilen nicht eingehen werde.
Bei seinem ersten Besuch im Dezember 1908 veranstaltete ich für ihn eine Abend-Herrengesellschaft, zu der einige Berliner Chemiker und eine größere Anzahl von Akademikern eingeladen wurden. Ramsay hatte die Zeit vergessen und kam deshalb erst nachhause, nachdem die ganze Gesellschaft längst versammelt war. Ich habe dann die Geschwindigkeit bewundern müssen, mit der er den Straßenanzug ablegte und sich in den Evening-dress stürzte. Ich glaube, daß die ganze Verwandlung keine 3 Minuten in Anspruch genommen hat.
Ein größeres Festmahl war ihm Tags zuvor von der chemischen Gesellschaft gegeben worden, und ich mußte dabei die Tischrede auf den Gast halten, die ich in eine launige Form kleiden konnte. Sie ist gedruckt worden, und ich habe mir erlaubt, einige Exemplare an hervorragende auswärtige Fachgenossen zu schicken. Die merkwürdigste Wirkung hat sie in München ausgeübt; denn Pettenkofer, dem ich ein Blatt zugeschickt hatte, sandte dieses an W. von Miller, der damals schon schwer krank war und dem er einen kleinen Spaß bereiten wollte. Miller, der an Darmkrebs litt, hatte den Ehrgeiz, die Vorlesung über Chemie an der technischen Hochschule mit Aufgebot aller Energie so lange zu halten, als seine erschöpften Kräfte es irgendwie gestatteten. Er ließ sich zu dem Zweck zuletzt auf einer Bahre in den Hörsaal tragen.[179] Eine seiner letzten Vorlesungen hat er hauptsächlich mit dem Vorlesen meiner Tischreden ausgefüllt, an die er allerdings belehrende Bemerkungen über die Edelgase und ihre Entdeckung knüpfte. Das hat mir verschiedene Zuschriften seiner Zuhörer, die davon sehr belustigt waren, eingebracht.
Weitere bemerkenswerte Vorträge wurden gehalten von Nernst, Wallach, Buchner, Willstätter, Richards, Sabatier, Brunck, Knietsch usw., die alle mit lebhaftem Interesse gehört und für die ich zuweilen als Vorsitzender den Rednern den Dank der Gesellschaft abstatten mußte. Einen Vortrag sonderlicher Art hielt R. Fittig über ungesättigte Säuren, Laktone usw., sehr inhaltreich, aber in der Form so merkwürdig, daß die Jugend sich belustigte und wir Älteren alle Mühe hatten, den Ernst zu bewahren.
Mein erster Vortrag über Kohlenhydrate, der auf diejenigen von Baeyer und Victor Meyer folgte, ist früher schon erwähnt. Einen zweiten habe ich im Januar 1906 über Aminosäuren, Polypeptide und Proteine gehalten. Er erregte einiges Aufsehen unter den Fachgenossen. Etwa 8 Tage nach dem Vortrag wurde durch eine Notiz aus Wien die Aufmerksamkeit der Presse und des großen Publikums darauf gelenkt, und nun erlebte ich etwas sehr Merkwürdiges. Meine vorsichtig gehaltene Rede wurde von der Presse in der phantastischsten Weise ausgeschmückt, die Synthese des Eiweiß als eine fertige Sache dargestellt und mit der Lösung der Nahrungsfrage das goldene Zeitalter proklamiert. Ich habe versucht, dagegen Einspruch zu erheben, aber ohne jeden Erfolg. Wie eine Sturzwelle ging die Flut der Zeitungsartikel über mich und alle Vernunft hinüber, und schließlich erhielt ich aus den Vereinigten Staaten Amerikas Zeitungsartikel, die ganze Seiten bedeckten und durch Bilder illustriert waren, auf denen man die Verwandlung der Kohle in die schönsten Erzeugnisse eines eleganten Speisehauses sehen konnte. Selbstverständlich waren alle diese Bilder von mir selbst, meinem Laboratorium, den Versuchstieren usw. frei erfunden. Ich habe damals vor der fürchterlichen Macht und Zügellosigkeit der Presse einen Schrecken bekommen.
Den dritten zusammenfassenden Vortrag hielt ich im September 1913 in einer Sitzung, die von der chemischen Gesellschaft auf der Naturforscherversammlung zu Wien veranstaltet wurde. Das Thema war die Synthese von Depsiden, Flechtenstoffen und Gerbstoffen. Assistiert wurde ich bei dem Vortrag von meinem Sohn Hermann O.L. Fischer, der an der Synthese der Flechtenstoffe experimentell beteiligt gewesen war. Die Sitzung fand statt in dem Hörsaal des chemischen Instituts der Universität Wien, das damals von Guido Goldschmidt geleitet wurde. Der Saal war derartig überfüllt, daß mir hinter dem Experimentiertisch kaum Raum blieb, um die zahlreichen Tabellen zu erläutern und die Präparate zu demonstrieren. Zudem herrschte eine derartige[180] Hitze, daß ich nach 11/2 stündigem Vortrag so naß war, als hätte ich die Donau durchschwommen. Es war die erste besondere Sitzung, welche die chemische Gesellschaft auf einer deutschen Naturforscherversammlung abhielt und ist bisher auch die einzige geblieben, weil infolge des Krieges keine Naturforscherversammlung mehr zustande kam.
Als im Jahre 1900 das chemische Institut in den Neubau an der Hessischenstraße verlegt war, wurde die bis dahin bestehende fast tägliche Berührung der chemischen Gesellschaft und mir unterbrochen. Auf meinen Antrag erhielt zwar die Gesellschaft vom Kultusministerium die Erlaubnis, noch ein Jahr in den alten Räumen der Georgenstraße zu bleiben, bis das Hofmann-Haus ganz fertiggestellt war, aber mit der räumlichen Trennung hatte ich das Gefühl, daß ich nicht mehr im gleichen Maße wie bisher für die Schicksale der Gesellschaft verantwortlich sei, sondern daß die Sorge für sie sich jetzt mehr gleichmäßig auf alle Mitglieder des Vorstandes verteilen müsse. Ich habe dementsprechend nur selten mehr die mir angetragene Wahl zum Vorsitzenden angenommen und mich auch an den Sitzungen der Gesellschaft in loserer Form beteiligt, als es früher der Fall war. Nur wenn wichtige Interessen auf dem Spiele standen, habe ich mich nicht gescheut, meinen ganzen Einfluß aufzubieten, um das, was ich für richtig hielt, durchzusetzen.
An dem 50-jährigen Jubiläum der Gesellschaft, das im Mai d. Js. gefeiert wurde, konnte ich mich nicht beteiligen, weil ich damals zur Erholung von einer Lungenentzündung in der Südschweiz weilte. Ich hatte aber vorher beim Kultusminister einen Antrag gestellt, den wissenschaftlichen Beamten der Gesellschaft, an der Spitze Herrn P. Jacobson, durch Verleihung von Titeln eine öffentliche Anerkennung zu erwirken. Das ist auch geschehen, und zu meiner großen Überraschung wurde auch mir bei der Gelegenheit ein hoher preußischer Orden verliehen. Offen gestanden hätte ich es lieber gesehen, daß das nicht geschehen wäre.
Die von mir angeregte und auch ursprünglich übernommene Gedächtnisrede auf A. von Baeyer hatte ich leider wegen Krankheit wieder abgeben müssen. Sie ist dann aber von R. Willstätter in sehr würdiger Weise gehalten worden.
Auch beim 40jährigen Bestehen der Gesellschaft war ein kleines Fest veranstaltet worden, und ich hatte das Vergnügen, bei der Gelegenheit Herrn Professor Henry Armstrong, den Abgesandten der Chemical Society zu London, bei mir zu Gast zu haben. Freundschaftliche Beziehungen zu ihm hatte ich längst, teils durch seinen Sohn, der mehrere Jahre mein Mitarbeiter war, und auch durch meinen eigenen Sohn Hermann, dem er und seine Familie während eines halbjährigen Aufenthaltes in England viele Freundlichkeiten erwiesen hatten.
1 Berichte der Deutschen chemischen Gesellschaft Bd. 32 S. 3239.
Ausgewählte Ausgaben von
Aus meinem Leben
|
Buchempfehlung
Der lyrische Zyklus um den Sohn des Schlafes und seine Verwandlungskünste, die dem Menschen die Träume geben, ist eine Allegorie auf das Schaffen des Dichters.
178 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro