Die Akademie der Wissenschaften

[151] Die meisten Mitglieder der Akademie sind auch Professoren an der Universität. Zur technischen Hochschule hat die Körperschaft erst persönliche Beziehungen mit der Einrichtung der technischen Abteilung in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse im Jahre 1900 erhalten.

Dazu kommen in der Regel noch einige Männer, die keine Lehrtätigkeit ausüben, da die Akademie in der Wahl von Mitgliedern ganz frei ist. Zu meiner Zeit war die letzte Art von Mitgliedern vertreten durch den großen elektrischen Erfinder Werner von Siemens, den Botaniker Pringsheim, die Astronomen Auwers und Vogel und später durch den Elektriker von Hefner-Alteneck, sowie den Eisenbahnbaumeister Zimmermann.

In der Akademie herrscht noch heute der vornehme Geist ihres Gründers Leibniz, und ich habe mich während nunmehr der 25 Jahre, die ich ihr angehöre, stets über den unparteiischen und unabhängigen Sinn dieser Korporation gefreut. Jeder Versuch tatkräftiger Männer aus der Staatsregierung, die Maßregeln ihrer inneren Verwaltung zu beeinflussen, wurde einmütig abgewiesen. Auf der anderen Seite war man natürlich, sobald materielle Wünsche in Frage kamen, auf die Unterstützung der Staatsorgane angewiesen, und ich kann sagen, daß die Akademie in der mir bekannten Periode von Seiten des vorgeordneten Kultusministeriums dauernd großes Wohlwollen und tatkräftige Unterstützung gefunden hat. Früher war es Althoff im Kultusministerium, der ihre Geschäfte behandelte, und in den letzten 10 Jahren Fr. Schmidt, der heute selbst Kultusminister ist.

Die inneren Geschäfte der Akademie wurden fast ausnahmslos in rein sachlicher Weise und mit vornehmer Ruhe erledigt, die nicht selten einen Anflug von Langeweile zeigt. Zu erregten Debatten kam es nur zuweilen bei der Wahl neuer Mitglieder. Erst mit dem Krieg ist es anders geworden. Er hat in der ersten Zeit auch verwirrend auf die Denkweise mancher Akademiker zurückgewirkt; davon wird später noch die Rede sein.

Obschon von Leibniz gegründet und in den Einzelheiten von Friedrich dem Großen nach dem Muster der Pariser Akademie[152] reorganisiert, verleugnet die Berliner Akademie doch nicht ihren preußischen Charakter. Das zeigt sich in der außerordentlich peinlichen, manchmal pedantischen Form der Geschäfte und noch mehr in der Bestimmung, daß jedes Mitglied alljährlich an einem bestimmten Tage nach der sogen. Lesekarte einen wissenschaftlichen Vortrag zu halten hat. Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Zwang mit dem Wesen der wissenschaftlichen Forschung in Widerspruch steht. Er ist auch von manchem Mitglied der Akademie, wie mir bekannt, recht unbequem empfunden worden. Aber wiederholte Anläufe, ihn abzuschaffen, sind gescheitert. Ebenso überflüssig ist meines Erachtens die Bestimmung, daß Abhandlungen, die in den Schriften der Akademie veröffentlicht sind, von dem Urheber innerhalb der gesetzlichen Frist nur mit der Bewilligung der Akademie anderweitig publiziert werden dürfen. Allerdings wird sie von den Naturforschern wenig mehr beachtet, seit das Sekretariat derartige Verstöße gegen das Statut sehr milde handhabt. Das ist sehr vernünftig, denn der Naturforscher kann heutzutage nach einer Veröffentlichung in der Akademie nicht 1 bis 2 Jahre warten, bevor er seine Resultate auch in einer Fachzeitschrift mitteilt, da die Berichte der Akademie einen zu kleinen Leserkreis besitzen. Diese könnte sich wohl damit begnügen, die Priorität in der Veröffentlichung zu besitzen. Die erschwerten Bedingungen der Publikation haben zur Folge gehabt, daß ich ebenso wie die meisten anderen Berliner Naturforscher in den akademischen Schriften nur einen kleinen Teil meiner Untersuchungen niedergelegt habe, und das ist wohl der Grund, weshalb die Schriften der Akademie als Publikationsorgan nicht die Bedeutung erlangt haben, wie es bei ähnlichen ausländischen Akademieberichten der Fall ist. Im engeren Kreise haben wir öfter die Frage erwogen, ob es zweckmäßig sei, eine Änderung in der Redaktion der Sitzungsberichte eintreten zu lassen in der Weise, daß über alle wichtigen Untersuchungen, die in den von den Mitgliedern der Akademie geleiteten Instituten ausgeführt werden, kurze Mitteilungen in die Sitzungsberichte zu machen wären. Aber die geringe Neigung der Akademie, kurze, manchmal vorläufige Publikationen aufzunehmen, die besonders in der philosophisch-historischen Klasse zutage trat, ist derartigen Abänderungsplänen zu hinderlich gewesen. Dazu kommt die bei solchen Korporationen nicht seltene Macht der Gewohnheit, die alles Neue bekämpft, und die manchmal recht absonderliche Formen annehmen kann. Ein kleines Beispiel mag das illustrieren.

In dem alten Hause unter den Linden, das jetzt durch den Neubau ersetzt ist, waren die Versammlungsräume der Akademie auf viel kleinere Verhältnisse zugeschnitten. Beleuchtung und Heizung befanden sich ungefähr im gleichen Zustand wie vor 100 Jahren, und die Folge war,[153] daß besonders in den öffentlichen Sitzungen in dem überfüllten Saale eine entsetzliche Luft herrschte und manchem Akademiker, ebenso wie der anwesenden Zuhörerschaft die meist zweistündige Dauer der Sitzung zu einer kleinen Plage werden ließ. Man beschloß also eine Änderung eintreten zu lassen, und da ich damals durch die Studien für den Neubau des chemischen Instituts in Fragen der Heizung und Ventilation Kenntnisse erworben hatte, so wurde ich beauftragt, zusammen mit dem Physiker F. Kohlrausch eine solche Einrichtung auch für den akademischen Sitzungssaal zu planen. Mit Hilfe eines geschickten Ingenieurs war diese Aufgabe rasch gelöst. Aber als der Plan zur Begutachtung der gesamten Akademie vorgelegt wurde und sich dabei herausstellte, daß die Luft des Saales während der Sitzung 2 bis 3 Mal in der Stunde erneuert werden sollte, trat eine peinliche Sorge vor Zugluft ein, und als gar ein angesehenes Mitglied der Korporation erklärte, er würde dadurch kalte Füße bekommen, war trotz der Versicherung, daß die eingeführte Luft angewärmt sei und durch das Ausströmen aus zahlreichen kleinen Öffnungen den Charakter des Zugwindes ganz verliere, unser Vorschlag nicht mehr zu retten.

Einen zweiten Mißerfolg ähnlicher Art habe ich als Mitglied einer Kommission für den Neubau des Akademischen Hauses Unter den Linden gehabt. Zwar sind Heizung und Ventilation hier nach unseren Vorschlägen in vernünftiger Weise ausgeführt worden, aber bezüglich der Akustik konnte ich nicht durchdringen. Nach meinen Erfahrungen beim Neubau des chemischen Instituts hatte ich verlangt, daß die Sitzungssäle mit kassetierten Holzdecken und auch mit möglichst viel Holzbekleidung an den Wänden ausgestattet würden, da diese wie Resonanzböden wirken. Obschon die Mitglieder der Akademie diesmal auf meiner Seite waren, ist es mir nicht gelungen, den Eigensinn der Architekten zu überwinden. Sie behaupteten von Akustik sehr viel zu verstehen, haben unseren Rat in den Wind geschlagen und es auch richtig fertig gebracht, daß die Akustik in dem Neubau recht viel zu wünschen übrig läßt.

Im Sommer 1893, bald nach meiner Aufnahme in die Akademie, habe ich in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse meinen ersten Vortrag über die Synthese der Alkylglukoside gehalten, die der Ausgangspunkt für viele andere Arbeiten geworden ist.

In der Leibniz-Sitzung, die im Juli desselben Jahres stattfand, habe ich auch meine Antrittsrede gehalten, die in den Sitzungsberichten veröffentlicht ist und bei der ich nicht allein die Richtung meiner eigenen Untersuchungen kennzeichnete, sondern auch in ganz kurzer Form einen Überblick über die Entwicklung der Chemie während der letzten 50 Jahre gab. Die Antwort darauf erteilte Dubois-Reymond und[154] begrüßte mich als den zweiten Zuckerchemiker, gleichsam als den Erben von S. Marggraff in der Akademie. Ich habe daraus von neuem gesehen, welch populärer Stoff der Zucker ist, und als ich einige Zeit später einen Vortrag über die Stereochemie der Zucker hielt, kam Helmholtz zu mir, um seiner Freude Ausdruck zu geben, daß die Chemie derartige komplizierte Fragen des molekularen Baues behandeln könne. Selbstverständlich war das Urteil eines solchen Mannes für mich und meine Wissenschaft besonders ehrenvoll. Ich habe zwar gleich gemerkt, daß er die Sache nur halb verstanden hatte, weil ihm die Tatsachen, auf denen die Spekulation beruhte, zu fremd waren, aber mit dem Feingefühl des Genies hatte er doch den großen Fortschritt erkannt, den die Lehre von van't Hoff und Le Bel und ihre Spezialanwendung auf so komplizierte Gebilde wie den Zucker der Chemie gebracht haben. Seitdem ist mir, wie allen Mitgliedern der Akademie, alljährlich die Aufgabe zugefallen, an einem bestimmten Tage einen Vortrag abwechselnd vor der mathematisch-physikalischen Klasse und der gesamten Akademie zu halten. Ich habe mich dabei stets bemüht, allgemeine, meinem Arbeitsgebiet naheliegende Probleme in möglichst volkstümlicher Form zu behandeln und in der Regel auch die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft gefunden. Die in den Sitzungsberichten gleichzeitig von mir veröffentlichten Experimentalarbeiten geben davon kein richtiges Bild, da sie nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Vortrag waren.

In jüngerer Zeit, wo auch das Programm der öffentlichen Sitzungen durch wissenschaftliche Vorträge erweitert wurde, habe ich auf Einladung der Akademie als Erster der mathematisch-physikalischen Klasse in der Friedrichsitzung Januar 1907 über die Chemie der Proteine und ihre Bedeutung für die Biologie gesprochen.

Die Geschäfte der Korporation werden nach den Beschlüssen der Gesamtheit größtenteils von vier Sekretären geführt, aber wo fachmännischer Rat nötig ist, treten auch die einzelnen Mitglieder in Aktion, entweder für ihre Person allein, oder als Teile besonderer Kommissionen. Wo chemischer Rat nötig war, hat die Körperschaft nie versäumt, mich zu fragen. Einer meiner ersten Ratschläge hat leider eine peinliche Folge gehabt.

Bei der Verleihung des Ordens pour le merite Friedensklasse an ausländische Gelehrte wird nämlich die Akademie regelmäßig ersucht, Vorschläge zu machen, und als es sich hierbei um die Wahl eines Chemikers handelte, hielt ich mich für verpflichtet, in erster Linie L. Pasteur und außerdem noch Frankland und van't Hoff vorzuschlagen. Akademie und Regierung schlossen sich dem an, und der Orden wurde durch den deutschen Botschafter in Paris zuerst Pasteur angeboten. Dieser lehnte ab, was sein gutes Recht war. Aber er beging gleichzeitig[155] die Taktlosigkeit, seinen Entschluß nicht geheim zu halten. Die Sache kam in die Öffentlichkeit und wurde von der französischen Presse zu einer großen chauvinistischen Kundgebung ausgenutzt. Als ich einige Jahre später Paris besuchte, um die dortigen Laboratorien zu besichtigen und H. Moissan aufsuchte, richtete er an mich sofort die Frage, weshalb die Berliner Akademie keinen Franzosen mehr zum Mitglied wähle. Als ich ihm darauf antwortete, daran sei das Benehmen von Pasteur schuld und die Sorge der Berliner Gelehrten vor weiteren Skandalen, die der Würde der Wissenschaft nur schaden könnten, gab er mir recht und betonte, daß auch die große Mehrheit der französischen Forscher es für falsch halte, nationalistische Tendenzen in der Wissenschaft gelten zu lassen. Seitdem haben eine ganze Reihe von Franzosen, u.a. Marcellin Berthelot, nach Vorschlag unserer Akademie den Orden erhalten und angenommen.

Viel erfreulicher verlief ein anderer Antrag auf Ehrung eines Ausländers, den ich viele Jahre später gemeinsam mit Walter Nernst stellte. Er betraf die Verleihung der goldenen Leibniz-Medaille an Herrn Ernest Solvay in Brüssel und gleichzeitig an Herrn H. von Böttinger als Anerkennung ihrer Verdienste um die Förderung der Wissenschaften durch Zuwendung von reichen materiellen Mitteln. Beide Herren erschienen in der Leibniz-Sitzung an 1. Juli 1909, um diese Medaillen in Empfang zu nehmen, und abends hatten Nernst und ich das Vergnügen, in den Räumen des Automobilklubs zu Ehren der beiden Herren eine gesellige Zusammenkunft mit vielen Mitgliedern der Akademie, mit hervorragenden Chemikern und anderen Personen des wissenschaftlichen Berlins zu veranstalten. Mir fiel die Aufgabe zu, die beiden Herren in einer Tischrede zu begrüßen. Das Fest verlief in harmonischer und heiterer Stimmung, und die dabei gehaltenen Reden sind in einer kleinen Schrift »Festmahl zu Ehren der Herren E. Solvay und H.v. Böttinger am 1. Juli 1909 im Kaiserlichen Automobilklub zu Berlin« zusammengefaßt worden. Als Dank für die Ehrung machte Herr von Böttinger eine Stiftung von 30000 M., die er auf meinen Rat zur Erwerbung von Mesothorium bestimmte. Ich habe den Ankauf des Präparates besorgt und dasselbe verwaltet, bis die Akademie den Neubau Unter den Linden wieder bezog und dadurch die Möglichkeit erhielt, ihren gesamten materiellen Besitz im eigenen Hause aufzuheben. Das Mesothorium ist inzwischen auf meinen Rat von der Akademie mit großem Gewinn wieder verkauft und dafür ein entsprechender Vorrat des viel haltbareren Radiums angeschafft worden.

Außer dem Mesothorium habe ich auch länger als 20 Jahre die akademische Instrumentensammlung, die in meiner Dienstwohnung zuerst in der Dorotheenstraße und später in der Hessischenstraße unter[156] gebracht war, verwalten müssen. Die Inventarisierung der einzelnen Objekte war verhältnismäßig einfach, aber der Verkehr mit den Gelehrten, denen die Instrumente überlassen wurden, brachte zuweilen unbequemen Briefwechsel mit sich. Auch diese Verpflichtung bin ich inzwischen los geworden, weil die Instrumentensammlung ebenfalls in das neue Haus der Akademie übergeführt werden konnte, und jetzt von dem Archivar der Korporation verwaltet wird.

Als Inhaber des akademisch-chemischen Laboratoriums und der damit verbundenen Dienstwohnung in der Dorotheenstraße, einem der ältesten wissenschaftlichen Laboratorien Berlins, das von S. Marggraff erbaut und in dem Achard zum erstenmal Rohrzucker in größerer Menge (1700 Pf.) aus Zuckerrüben herstellte, stand ich zu der Akademie in einem besonderen Verhältnis. Das trat besonders scharf hervor, als der Plan eines Neubaues des chemischen Instituts gereift war, und die Verlegung des Instituts an eine andere Stelle nötig wurde. Für die Bewilligung der Bausumme stellte damals die Finanzverwaltung die Bedingung, daß die Akademie auf den Besitz in der Dorotheenstraße verzichten, und dafür einen Anteil an dem neuen Gebäudekomplex in der Hessischenstraße erhalten soll. Es ist begreiflich, daß die Aufgabe des alten Besitzes, der 150 Jahre der Akademie gehörte, und wo nicht allein der akademische Chemiker, sondern zeitweise auch der Astronom Unterkunft gefunden hatte, von manchem Mitglied der Korporation schmerzlich empfunden wurde, und daß deshalb die Zustimmung der Akademie zu dem neuen Plane von einer besonderen Verhandlung abhängig gemacht wurde. Als die Stimmung zu schwanken schien, traten zwei Männer auf das Entschiedenste für den Plan ein, der Mediziner Rudolph Virchow und der Theologe Adolf Harnack mit der Bemerkung, daß die Akademie verpflichtet sei, einer Wissenschaft wie der Chemie, wenn sie in eine Notlage geraten sei, zu Hilfe zu kommen. Diese großzügige Auffassung drang durch. Der Plan wurde einstimmig genehmigt, und ich habe mich dauernd der Akademie für diese vornehme Handlung verpflichtet gefühlt. Die Sympathie, die ich von Anfang an für sie gehabt habe, ist dadurch noch um ein Erhebliches gesteigert worden. Infolgedessen habe ich auch mit besonderer Freude eine Ehrung entgegengenommen, die mir von der Akademie durch Verleihung der Helmholtz-Medaille im Januar 1909 erwiesen wurde. Die Medaille wird nicht nach dem Statut, aber gewohnheitsgemäß alle zwei Jahre abwechselnd einem Physiker oder Biologen gegeben. Demnach habe ich sie in letzter Eigenschaft erhalten, weil meine chemischen Arbeiten die Biologie vielfach berühren. Durch den Besitz der Medaille erhält man gleichzeitig das Recht, für neue Verleihungen Vorschläge zu machen, und ich habe schon das nächste Mal davon Gebrauch gemacht, um [157] van't Hoff diese Ehre zuteil werden zu lassen. Er empfing die Medaille einige Wochen vor seinem Tode. Es war die letzte Ehrung, die ihm erwiesen wurde, und die ihm nach dem Zeugnis der Gattin noch viele Freude bereitet hat. Selbstverständlich habe ich auch immer mitgewirkt, wenn es sich um die Wahl von Chemikern zum ordentlichen oder korrespondierenden Mitglied handelte, und mit großer Befriedigung kann ich bezeugen, daß in allen diesen Geschäften bei den Chemikern der Akademie volles Einverständnis leicht zu erzielen war. Speziell erwähnen will ich die Wahl zu auswärtigen Mitgliedern, die auf meinen Vorschlag 1900 für M. Berthelot und 1905 für A. von Baeyer stattfand. Zusammen mit van't Hoff hatte ich das Vergnügen, die letzte Wahl bei der Feier des 70-jährigen Geburtstages von Baeyer im Oktober 1905 in München verkünden zu können.

An der Feier des 200-jährigen Stiftungsfestes der Akademie konnte ich leider nicht teilnehmen, weil ich wegen einer hartnäckigen Schwäche des Stimmbandes einen längeren Aufenthalt an der Riviera nehmen mußte. Die Feier brachte der Akademie eine Vermehrung der Mitglieder, speziell für die mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse die Abteilung für technische Wissenschaften, in die als erste Mitglieder die Herren Müller-Breslau, Professor an der technischen Hochschule zu Charlottenburg, Martens, Direktor des Materialprüfungsamtes zu Lichterfelde und von Hefner-Alteneck, elektrotechnischer Erfinder, früher Beamter der Firma Siemens & Halske, gewählt wurden. Dadurch erhielt die Akademie Gelegenheit, hervorragende auswärtige Vertreter der Technik durch Ernennung zu korrespondierenden Mitgliedern zu ehren, und ich habe mir wiederholt erlaubt, solche Wahlen für technische Chemiker, z.B. für Ludwig Mond, Ernest Solvay und Auer von Welsbach anzuregen.

Die Bedeutung einer wissenschaftlichen Akademie ist selbstverständlich in erster Linie bedingt durch das wissenschaftliche Ansehen der einzelnen Mitglieder. Zur Zeit meines Eintritts gehörten zur Berliner Akademie eine verhältnismäßig große Anzahl von Männern ersten Ranges. An der Spitze der Naturforscher stand Hermann von Helmholtz, ein wissenschaftliches Universalgenie; denn er hat nicht allein in der Physik, Physiologie und Mathematik grundlegend gewirkt, sondern auch in der Erkenntnistheorie Achtenswertes geleistet. Wenn man von Alexander von Humboldt absieht, so war er der vielseitigste Naturforscher des 19. Jahrhunderts, nicht allein in Deutschland, sondern wahrscheinlich in der Welt, und diese Vielseitigkeit hat der Gründlichkeit seiner Forschung nicht den geringsten Abbruch getan. Dazu besaß er in hohem Maße die Gabe, naturwissenschaftliche Erkenntnis in leicht verständlicher Form und vornehmer Sprache weiteren Kreisen zugänglich[158] zu machen, und ich kenne wenig naturwissenschaftliche Schriften, die auf mich in jüngeren Jahren so anregend gewirkt haben, wie die von Helmholtz publizierten Vorträge über verschiedene Zweige der Physik, Physiologie und Mathematik. Vielleicht hat Justus Liebig durch seine populären Schriften über die Bedeutung der Chemie für den Ackerbau, die Künste und Gewerbe größeren Einfluß auf die Entwicklung des wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland gehabt, aber an Feinheit der Darstellung und Schönheit der Form können sie den Vorträgen von Helmholtz nach meinem Empfinden nicht gleichgestellt werden. Zu der Zeit, als ich Helmholtz kennen lernte, war er schon 72 Jahre alt und eine in jeder Beziehung abgeklärte Persönlichkeit. Es war für uns Jüngere stets ein besonderes Vergnügen, wenn er in der Fakultät oder Akademie das Wort ergriff und in ruhiger besonnener Art seine Meinung äußerte. Ich habe wiederholt Gelegenheit gehabt, mit ihm Privatgespräche zu führen, bei denen er stets ein wohlwollendes Interesse an der Chemie kund gab. Diese persönliche und innige Berührung zwischen einzelnen Mitgliedern der Akademie vollzog sich in ungezwungener Form bei den Nachsitzungen, die in einem Kaffee stattfanden, zuerst im Hotel de Rome und später in verschiedenen anderen Kaffees Unter den Linden oder in der Potsdamer Straße. Diese Nachsitzungen waren nicht selten belehrender und vor allen Dingen unterhaltender als die amtliche Hauptsitzung. Als Helmholtz im August 1894 starb, war es mir als Vorsitzender der chemischen Gesellschaft, zu deren Ehrenmitgliedern er gehörte, eine angenehme Pflicht, ihm einen Nachruf zu widmen, der in den Berichten der Gesellschaft gedruckt wurde, und in dem ich meiner Bewunderung für den großen Mann vollen Ausdruck gegeben habe.

Eine zweite sehr interessante Persönlichkeit in dem akademischen Kreise war Rudolph Virchow, pathologischer Anatom, Hygieniker, Anthropologe und Politiker, ein Mann von einer ungewöhnlichen Arbeitskraft, der trotz der Zersplitterung seiner Tätigkeit alles, was er anfaßte, mit großer Gründlichkeit und Überlegung besorgte. Noch im Alter von 80 Jahren pflegte er nicht allein den ganzen Tag, sondern auch die halbe Nacht der Arbeit zu widmen, besaß dafür allerdings auch das Talent, jede freie Minute sogar in den Sitzungen oder bei Gesellschaften zum Schlaf benutzen zu können. Er war scharf in seinem Urteil und konnte gegen Auswüchse der Medizin und Hygiene oder gegen Mißgriffe der Staatsverwaltung in schärfster Weise auftreten. Aber ich habe stets den Eindruck bekommen, daß er sich nur durch sachliche Gründe und durch vornehme politische, soziale oder wirtschaftliche Grundsätze führen ließ. Zu mir persönlich ist er immer sehr freundlich gewesen, und seiner wirkungsvollen Unterstützung bei dem Neubau[159] des chemischen Instituts habe ich schon gedacht. Aus der Akademie erinnere ich mich eines scharfen und erfolgreichen Protestes, den er gegen die Aufnahme einer von S. Schwendener präsentierten Abhandlung eines gewissen Dr. Pinkus über den vermeintlichen Zusammenhang zwischen dem Wachstum der Kopfhaare und dem Schicksal ihres Trägers in die Sitzungsberichte erhob. Seine Kritik war in biologischen Kreisen gefürchtet, aber von der großen Mehrzahl als sachlich anerkannt. Bei mir hat er einmal an einem Abendessen teilgenommen, das ich zu Ehren von William Ramsay veranstaltete. Als wir aus dem warmen Eßzimmer in die etwas unterkühlten Gesellschaftszimmer übersiedelten, sagte er scherzhaft zu mir: »Sie scheinen wie der Schah von Persien über alle Klimatas zu verfügen«, worauf ich ihm erwiderte, daß in der Chemie die Periode der extremen Temperaturen begonnen habe.

Ein anderer hervorragender Mediziner in der Akademie war der Physiologe E. Dubois-Reymond, besonders bekannt geworden durch die zahlreichen akademischen Reden, die er als Sekretär der Korporation gehalten hat. Er war zweifellos auch ein geistreicher Mann und von ungewöhnlicher formaler Gewandtheit. Von Zeit zu Zeit lese ich noch heutzutage einzelne seiner Reden mit Genuß, wenn sich auch nicht leugnen läßt, daß die Effekthascherei dabei eine gewisse Rolle spielt, und die übertriebene mechanistische Tendenz einer überwundenen Periode der Wissenschaft angehört.

Von der Chemie verstand Dubois-Reymond wenig, aber er war doch einsichtsvoll genug gewesen, ihr in seinem neuerbauten physiologischen Institut eine ziemlich große Abteilung mit selbständiger Leitung zu gewähren, und wenn man sich daran erinnert, daß E. Baumann und A. Kossel als Vorsteher dieser Abteilung einen großen Teil ihrer wissenschaftlichen Arbeiten ausgeführt haben, so muß man Dubois-Reymond zugestehen, daß er in der Wahl seiner Mitarbeiter eine glückliche Hand gehabt hat.

Die allgemeine Vorlesung über die Fortschritte der Naturwissenschaften, die er jahrzehntelang als Publikum gelesen hat, war berühmt nach Inhalt und Form und wurde von den Mitgliedern aller Fakultäten gerne besucht. Daß sie seit seinem Tode in Berlin fehlt, ist zweifellos eine Lücke in dem naturwissenschaftlichen Unterricht der Universität, aber ich wüßte augenblicklich niemand in unserem Kreise zu nennen, der imstande wäre, wie Dubois diese Aufgabe zu lösen.

Unter den jüngeren Naturforschern der Akademie traf ich zwei alte Bekannte, den Botaniker Engler, der gleichzeitig mit mir Privatdozent in München gewesen war und den Physiker August Kundt, meinen lieben Lehrer aus Straßburg, dessen ich früher schon gedacht habe. Er hatte sich mit der ihm eigenen Energie in Berlin nicht allein in die[160] Aufgabe des Lehrers und Forschers, sondern auch in den Strudel des gesellschaftlichen Lebens gestürzt. Dem war seine Gesundheit nicht gewachsen. Ein schweres Herzleiden machte sich schon damals bemerkbar und im Mai 1894 ist er daran gestorben. Es war mir eine angenehme Pflicht, ihm in den Berichten der chemischen Gesellschaft einen kurzen Nachruf zu widmen. Die Chemiker werden immer dankbar anerkennen, daß er zusammen mit Warburg die Einatomigkeit des Quecksilberdampfes nach seiner allgemeinen Methode der Schallgeschwindigkeit eindeutig bewies und damit das gleiche für die später entdeckten Edelgase möglich machte. Kundt war ein ausgezeichneter Lehrer und lieber Mensch, der auf jüngere Naturforscher eine große Anziehungskraft ausübte und dessen Tod eine große Lücke in unseren naturwissenschaftlichen Kreis riß. Das zeigte sich sofort bei der Berufung eines Nachfolgers. Auf Anregung von Helmholtz präsentierte die Fakultät dem Ministerium nur einen Kandidaten, Friedrich Kohlrausch. Aber ehe er zusagte, starb Helmholtz und Kohlrausch wurde nun sein Nachfolger an der physikalisch-technischen Reichsanstalt zu Charlottenburg.

Die Wahl des Physikers an der Universität mußte dann einstweilen verschoben werden, weil keine Persönlichkeit in Deutschland vorhanden war, die alle Beteiligten befriedigte. Infolgedessen tauchte im Laufe des Winters der Gedanke auf, J.H. van't Hoff für die Stelle zu gewinnen, nachdem bekannt geworden war, daß er nicht ungern Amsterdam verlassen würde. Die Unterrichtsverwaltung ging rasch auf diesen Plan ein, und zunächst wurde Professor M. Planck nach Amsterdam geschickt, um mit van't Hoff die Möglichkeit einer solchen Berufung zu überlegen. Den weiteren Verlauf der Verhandlung habe ich in einer Gedächtnisrede auf van't Hoff geschildert, die ich bald nach seinem Tode in der Leibnizsitzung der Akademie hielt. Er lehnte die Professur an der Universität ab, wurde aber dafür ein Jahr später als Akademiker nach Berlin gerufen und erhielt nun eine außerordentliche Professur an der Universität mit dem Charakter als Honorarprofessor, um sein Gehalt auf eine angemessene Höhe bringen zu können. An der Berufung van't Hoffs habe ich selbstverständlich regen Anteil genommen und bin dafür durch ein schönes Freundschaftsverhältnis belohnt worden, das bis zu seinem Tode dauerte, und das mich mit diesem bedeutenden Naturforscher in nahe Berührung gebracht hat. Abgesehen von einigen kleinen Schwächen war er ein prächtiger Mann von origineller Denkart und kaum minder originell in seinen Lebensgewohnheiten. Eine öffentliche Vorlesung über chemische Theorien hat er regelmäßig in unserem Institut gehalten, während er sich für seine Experimentalstudien zusammen mit Meyerhofer ein bescheidenes Privatlaboratorium eingerichtet hatte.[161]

Nachdem van't Hoff die physikalische Professur an der Universität abgelehnt hatte, wurde Emil Warburg berufen. Als er 10 Jahre später als Nachfolger von Kohlrausch an die physikalisch-technische Reichsanstalt ging, wurde Drude Professor der Physik an der Universität, fand aber schon nach kurzer Zeit ein tragisches Ende. Seitdem ist Rubens, der Entdecker der Reststrahlen bei uns der Vertreter der Experimentalphysik, während die theoretische Physik in der ganzen Zeit meiner Berliner Tätigkeit in würdigster Weise von M. Planck geleitet und gepflegt wurde. Mit allen diesen Physikern, welche durchweg verständige, wohlwollende und ruhig denkende Menschen waren, habe ich im freundschaftlichen Verhältnis gestanden. Besonders gilt das von Friedrich Kohlrausch, mit dem ich schon in Würzburg befreundet war. In der großen Stadt ist zwar der ungezwungene leichte Verkehr, wie Würzburg ihn bot, kaum möglich, aber mit Kohlrausch bin ich doch wieder in sehr nahe persönliche Berührung gekommen durch einige Versuche, die wir im Jahre 1898/99 miteinander ausführten, und die nichts geringeres bezweckten, als eine Verwandlung chemischer Elemente ineinander. Lange bevor man solche Erscheinungen bei den radioaktiven Substanzen beobachtete, hatte ich mir die Meinung gebildet, daß auf der Sonne und anderen Fixsternen, nach den dort herrschenden extremen Temperaturen und den besonderen Druckverhältnissen sich elementare Verwandlungen vollziehen und daß der wirkliche Zustand der Sonne in bezug auf die chemischen Elemente ein Gleichgewichtszustand sei. Als Hypothese habe ich diese Ansicht auch häufig in meinen Vorlesungen geäußert, allerdings niemals darüber publiziert, weil ich keine tatsächlichen Gründe dafür anführen konnte. Ich war nun weiter auf den Gedanken gekommen, daß man vielleicht elementare Verwandlungen erreichen könne, wenn man auf eine kleine Menge von Stoff eine ungeheure Menge von Energie konzentriere und schlug Kohlrausch vor, solche Versuche mit Wasserstoff in sehr verdünntem Zustand bei langer Einwirkung von Kathodenstrahlen auszuführen. Der Gedanke schien nicht unsinnig, und wir hatten uns einen hübschen Apparat zusammengebaut, der es gestattete, den mit Kathodenstrahlen behandelten Wasserstoff auf den Druck von 6 bis 8 mm zu konzentrieren und dann spektralanalytisch zu prüfen. Speziell hatten wir die Hoffnung, den Wasserstoff ganz oder teilweise in Edelgas überzuführen. Die Herstellung des Apparates, der Kathodenstrahlen, der Vakuumpumpe usw. fiel natürlich dem Physiker zu. Ich übernahm dafür die sorgfältige Reinigung der Materialien, der Glasgefäße, des Quecksilbers und des Wasserstoffes, der zuletzt immer aus Paladiumwasserstoff bereitet wurde. Wir haben so manchen Nachmittag bis in die späten Abendstunden hinein zusammen gearbeitet, leider ohne ein[162] sicheres Resultat zu erzielen. Besondere Schwierigkeiten machten uns die Kathodenstrahlen, weil mit der Reinheit der Kathoden der Widerstand außerordentlich wuchs, und schließlich solche Spannungen angewandt werden mußten, daß die Gefäße es nicht mehr aushielten. Wir haben nichts darüber publiziert und das ist der Grund, warum ich hier so ausführlich darüber gesprochen habe. Etwa 10 Jahre später sind ähnliche Versuche von englischen Physikern veröffentlicht worden, welche der Meinung waren, daß sie dabei die Entstehung von Edelgasen sicher beobachtet hätten. Sie scheinen sich aber getäuscht zu haben; denn später hat man von dieser Entdeckung nichts weiter als abfällige Kritik gehört, und daß ein solcher Irrtum leicht eintreten kann, wird jeder, der sich mit ähnlichen Versuchen beschäftigt hat, zugeben.

Eine andere kleine Arbeit habe ich viele Jahre später mit Heinrich Rubens angestellt. Sie betraf die Prüfung der von dem Physiologen Rosenthal aufgestellten Behauptung, daß Wechselströme eine Hydrolyse von Stärke und ähnlichen Kohlenhydraten bewirken können, wenn die Schwingungszahl eine angemessene, aber für jeden Fall verschiedene Höhe erreicht hat. Unsere Versuche fielen ganz negativ aus, wurden aber nicht publiziert, weil uns die Sache nicht mehr interessierte, sobald der Irrtum von Rosenthal festgestellt war. Einige Jahre später hat ein Physiko-Chemiker die Rosenthal'sche Behauptung auch öffentlich widerlegt. Die Ursache des Irrtums ist ihm aber verborgen geblieben. Ich glaube dieselbe gefunden zu haben durch die Beobachtung, daß der verwandte Stärkekleister in der Tat reduzierende Eigenschaften annehmen kann, wenn man ihn im offenen Gefäß einer langen Behandlung mit Wechselstrom unterwirft; denn dann bildet sich in der umgebenden Luft Ozon, das die Stärke in der Wärme rasch angreift und in reduzierende Substanzen verwandelt. Man vermeidet diesen Fehler vollständig, sobald man die den Stärkekleister enthaltenden Gefäße verschließt. Die Wirkung des Ozons auf Stärkekleister, die meines Wissens schon in rohem Umriß bekannt ist, verdient übrigens eine nähere Untersuchung bezüglich der dabei entstehenden Produkte, und ich hoffe selbst noch Gelegenheit zu haben, darüber neue Erfahrungen zu sammeln.

Mein Spezialkollege sowohl in der Akademie wie Fakultät war der Chemiker Hans Landolt, ungefähr 20 Jahre älter wie ich. Wie früher erwähnt, hätte ich 1880 sein Nachfolger in Aachen werden können, als er an die Landwirtschaftliche Hochschule zu Berlin übersiedelte. Von dort wurde er als Nachfolger von Rammelsberg an die Universität berufen und mit der Direktion des II. chemischen Instituts der Universität in der Bunsenstraße betraut. Als Sachverständiger war er bei meiner Berufung nach Berlin und auch bei der Aufnahme in die Akademie besonders stark beteiligt.

[163] Landolt, der Sprosse einer alten Züricher Familie, verleugnete trotz seines langen Aufenthaltes in Deutschland nicht den Schweizer. Er war ein kluger, kritisch veranlagter Kopf und ein Mann von aufrichtigem angenehmen Charakter. Als Forscher nahm er keine hervorragende Stellung ein, aber seine Bücher, besonders die großen, mit Börnstein zusammen publizierten Tabellen erfreuen sich in den Fachkreisen großer Wertschätzung. Wir sind sehr gut miteinander ausgekommen und haben nur äußerst selten in geschäftlichen Dingen verschiedene Ansichten vertreten. Er war kein Führer, weder in der Wissenschaft noch in der Berliner Gelehrtenkorporation, aber er erfreute sich wegen seines besonnenen Urteils und seiner allgemeinen Charaktereigenschaften in unserem Kreise allgemeiner Beliebtheit. Das zeigte sich bei der Feier seines 70. Geburtstages, den er kurz nach einer schweren Gallensteinoperation erlebte. Mir war es bei dieser Gelegenheit ein Vergnügen, beim Festessen die Rede auf den Jubilar zu halten und darin auch des schönen kollegialen Verhältnisses zu gedenken, das zwischen uns dauernd bestanden hat. Auch zu seiner Gattin und der Tochter, die an Professor O. Liebreich verheiratet war, bin ich in ein freundschaftliches Verhältnis getreten. Frau Landolt hat sich ein Verdienst um den geselligen Verkehr der chemischen Privatdozenten und Assistenten erworben, die sie häufig zu sich einlud, und ihnen damit den gesellschaftlichen Anschluß ermöglichte, den ich leider bei meiner zurückgezogenen Lebensweise nicht bieten konnte.

Im Alter von 74 Jahren gab Landolt die Professur an der Universität auf und zog sich zurück in die physikalisch-technische Reichsanstalt zu Charlottenburg, um die subtilen Versuche über etwaige Gewichtsveränderung der Gesamtmaße bei chemischen Reaktionen fortzusetzen, die er während mehr als 10 Jahre im II. chemischen Institut angestellt hat. Für diese Versuche war er besonders veranlagt. Es machte ihm große Freude, die Wägungen immer mehr zu verfeinern und etwaige Fehlerquellen aufzuspüren. Nach manchen Schwankungen kam er, wie bekannt, zu dem Resultat, daß bei chemischen Vorgängen keine durch unsere jetzigen Hilfsmittel nachweisbare Gewichtsveränderung eintritt. Das war nichts Neues; denn derselbe Satz gehört zu den Grundlehren der Chemie, aber es ist doch ein zweifelloses Verdienst, wenn gerade solche fundamentalen Sätze von Zeit zu Zeit mit den fortgeschrittenen technischen Hilfsmitteln geprüft werden, und der Name Landolt wird sich wahrscheinlich in der Geschichte der Wissenschaft mehr an diese Versuche knüpfen als an seine sonstigen wissenschaftlichen Arbeiten.

Landolts Nachfolger an der Universität wurde Walter Nernst, der ausgezeichnete Physiko-Chemiker zu Göttingen. Bei dieser Gelegenheit[164] wurde das II. chemische Institut umgetauft in »Physikalisch-chemisches Institut der Universität« und damit verlor auch das I. chemische Institut seine I und erhielt wieder den alten einfachen Namen »Chemisches Institut der Universität«.

Wie begreiflich wurde Nernst auch bald in die Akademie der Wissenschaften gewählt und die Chemie war dann durch eine Gruppe von 4 Männern, Landolt, van't Hoff, Nernst und mich vertreten, die ihr in allen fachlichen Fragen den gebührenden Einfluß sichern konnten. Nernst, den ich schon von Würzburg her kannte, weil er dort beim Doktorexamen in Chemie von mir geprüft wurde, ist mir später ein lieber und hilfsbereiter Kollege gewesen. Sowohl in der Fakultät wie in der Akademie haben wir fast immer einmütig zusammen gehandelt und nur bei der Besetzung von chemischen Lehrstühlen an anderen preußischen Universitäten standen zuweilen die Ratschläge, die wir dem Kultusminister gaben, miteinander in Widerspruch. Am schärfsten trat das zutage bei der Besetzung der Professur in Breslau nach dem Abgang von Buchner. Die Fakultät hatte Abegg vorgeschlagen und dieser Kandidat fand die lebhafteste Unterstützung von Nernst. Ich war aber der Meinung, daß die Professur der Experimentalchemie und die Direktion des chemischen Instituts einem Experimentalchemiker übertragen werden sollte, während man für Abegg eine besondere ordentliche Professur für physikalische Chemie schaffen sollte. Nach langem Schwanken hat der Minister Professor Biltz aus Kiel nach Breslau berufen und damit den von mir ausgesprochenen Grundsatz als gerechtfertigt anerkannt. Nernst soll diese Wendung der Dinge nicht allein für die Person des Herrn Abegg, sondern auch für die physikalische Chemie als Zurücksetzung empfunden haben, wie mir allerdings nur auf Umwegen bekannt geworden ist. Ich will hier offen bekennen, daß ich niemals der Entwicklung der physikalischen Chemie hinderlich entgegengetreten bin, sondern sie stets als notwendigen Bestandteil des Unterrichts und der Forschung anerkannt und auch bei den Behörden empfohlen habe. Ich hätte sogar in dem neuen Institut eine besondere Abteilung für physikalische Chemie eingerichtet, wenn nicht die Herren van't Hoff und Landolt sich dagegen ausgesprochen hätten mit der Begründung, daß man ihnen die Vertretung der physikalischen Chemie allein überlassen sollte. Die Berechtigung dieses Wunsches lag auf der Hand, und so habe ich meine Absicht fallen lassen, obschon es damals ziemlich leicht gewesen wäre, Professor Bredig aus Leipzig für unser Institut zu gewinnen. Meine Hoffnung, daß mit der Berufung von Nernst alle studierenden Chemiker in Berlin seine Vorlesungen und Übungen besuchen und sich genügend in physikalischer Chemie unterrichten würden, hat sich allerdings nicht erfüllt.[165] Die große Stadt bringt es mit sich, daß der Student sich so weit wie möglich auf den Besuch eines Fachlaboratoriums beschränkt und dazu kommt noch, daß im Berliner Doktorexamen die chemische Technologie als Nebenfach gewählt werden darf, so daß für physikalische Chemie kein Raum mehr bleibt. Ich halte das, offen gestanden, für eine Lücke unseres Unterrichtes, und ich habe mich selbst immer bemüht, durch die Handhabung des Doktorexamens den Studenten die Wichtigkeit der physikalischen Chemie klar zu machen, aber ich kann mir doch nicht verhehlen, daß es wirksamer wäre, sie obligatorisch zu machen und hoffe, daß diese Maßregel nach dem Kriege auch getroffen wird.

Nernst ist kein einseitiger Fachgelehrter, sondern interessiert sich auch für industrielle und wirtschaftliche Dinge, wozu er durch die Erfindung seiner elektrischen Lampe genügende praktische Gelegenheit fand. Er ist ferner Automobilist und Landwirt, Jäger und war während des Krieges sogar Soldat. Das entspricht ganz seinem lebhaften Geiste, seiner großen Energie und seinem leidenschaftlichen Empfinden. Zusammen mit seiner liebenswürdigen Gattin und seinen Kindern hat er auch ein gastfreies Haus in Berlin eingerichtet, wo die jungen Chemiker und Physiker leicht Aufnahme finden. Er war anfangs der Meinung, daß ich auf seine gesellschaftlichen Bemühungen eifersüchtig werden könnte und sprach sich darüber freimütig aus. Meine Antwort, daß ich nicht den geringsten Wert darauf lege, gesellschaftlich eine Rolle zu spielen und ihm nur dankbar sein könnte, wenn er sich dieser Verpflichtung unterziehe, war für ihn ebenso überraschend wie beruhigend.

Auf unsere gemeinsame Arbeit bei dem Plane zur Errichtung einer chemischen Reichsanstalt und bei der Gründung des Kaiser Wilhelm Instituts für Chemie werde ich später zurückkommen. Dasselbe gilt für die Herren Haber, Beckmann und Willstätter, die erst mit der Gründung der Kaiser Wilhelm Institute nach Berlin kamen, und dann in die Akademie aufgenommen wurden.

Zu den Mineralogen und Geologen bin ich in kein näheres Verhältnis getreten. Zwar habe ich mich ernstlich bemüht, das Interesse der jungen Chemiker für Kristallographie und Mineralogie zu wecken und auch eine kleine Anzahl von Mineralien, die ich der Güte des Herrn Kollegen Klein verdankte, in einem Verbindungssaal des chemischen Instituts aufgestellt, aber es ist mir nicht gelungen, eine rege Beteiligung der Chemiker an kristallographischen oder mineralogischen Vorlesungen oder Übungen zu erreichen. Das hängt zusammen mit den Verhältnissen der Großstadt und der für Chemiker nicht zweckmäßigen Promotionsordnung der philosophischen Fakultät.[166]

Unter den Biologen haben mich am meisten die Physiologen S. Schwendener, Haberlandt und der Mediziner M. Rubner interessiert. Sie waren alle drei gut unterrichtete Gelehrte und verdiente Forscher. Ich bin mit den beiden letzteren, namentlich während des Krieges bei mannigfachen Beratungen über Ernährung häufig zusammengekommen.

In der philosophisch-historischen Klasse der Akademie war bei meinem Eintritt Theodor Mommsen die hervorragendste Persönlichkeit. Trotz der demokratischen Verfassung der Akademie war sein Einfluß in der philosophisch-historischen Klasse so groß, daß er seine Meinung in fast allen wichtigen Fragen durchzusetzen wußte. Am deutlichsten trat für uns Naturforscher seine Macht in die Erscheinung, wenn er die Wahl von neuen Mitgliedern für seine Klasse zu vereiteln suchte. Seine Machtstellung verdankte er übrigens den ungewöhnlichen wissenschaftlichen Leistungen und der außerordentlichen Schlagfertigkeit seiner Kritik, in der er den formgewandten und leidenschaftlichen Verfasser der römischen Geschichte nicht verleugnete. Wer dieses Werk gelesen hat, kann sich dem Eindruck seines Genies und seiner gewaltigen Arbeitskraft nicht entziehen. Ich selbst habe nur hier und da kurze Gespräche mit ihm geführt und sein Erstaunen hervorgerufen durch die Mitteilung, daß ich als Gymnasiast auf Anregung eines Oberlehrers selbst Abklatsche von römischen Inschriften meiner Heimat angefertigt hatte. Noch ein zweites Mal ist es mir gelungen, ihn in eine gewisse Aufregung zu versetzen, als ich in der philosophischen Fakultät einen harten Kampf gegen die Promotion von russischen Chemikern ohne ausreichende Vorbildung führte und dabei auf das frühere Vorgehen von Mommsen gegen den allerdings viel schlimmeren Unfug der Promotion in absentia an einigen deutschen Universitäten hinwies. Er trat infolgedessen auch wirklich bei der Abstimmung auf meine Seite, und ich gewann dadurch eine kleine Majorität in dem von mir um die Ehre meiner Wissenschaft geführten Kampf.

Auch den Historiker Sybel, den Verfasser der Geschichte der französischen Revolution und der Gründung des Deutschen Reiches habe ich in der Akademie kennen gelernt, nachdem ich seine Werke teilweise vorher gelesen. Die letzten Vorträge, die er uns hielt, waren durch Feinheit der Form ausgezeichnet.

Treitschke kam erst später in die Akademie, nachdem Mommsen gestorben und sonstiger Widerstand durch den Erfolg seiner deutschen Geschichte beseitigt war. Er ist selten in unserem Kreise erschienen, weil er schon krank war und bald nachher starb. Ich kannte ihn aber längst von der philosophischen Fakultät her. Er war damals schon so schwerhörig, daß er von den Verhandlungen kaum ein Wort verstand,[167] hatte aber doch den Ehrgeiz, wenn irgend möglich, in die Diskussion einzugreifen und ließ sich für den Zweck von einem seiner Nachbarn Stichworte aufschreiben, die den Lauf der Debatte kennzeichnen sollten. Ich selbst habe an einem Abend diese Aufgabe übernommen und muß gestehen, daß sie recht schwer zu erfüllen war. Wenn Treitschke aus dem Stichwort den Stand der Verhandlung richtig entnahm, so war ich erstaunt zu sehen, mit welcher Schnelligkeit er den ganzen Komplex der Fragen erfasste und mit seiner großen Beredsamkeit sich darüber verbreitete. Es kam aber auch vor, daß er durch Mißverständnis des Stichwortes ganz falsch ging und dann über Dinge redete, die mit der verhandelten Frage in gar keinem Zusammenhang standen. Charakteristisch für ihn war die große Leidenschaft, mit der er alle ihn interessierenden Dinge ergriff und mit dichterischem Schwung besprach. Dieser Eigenschaft war zum großen Teil der starke Einfluß zuzuschreiben, den seine Vorträge auf die akademische Jugend ausübten.

Eine ganz andere Natur war der Germanist Erich Schmidt, ausgezeichnet durch körperliche Schönheit, klangvolle Stimme und liebenswürdiges Wesen. Er galt mit Recht als ausgezeichneter Redner und vorzüglicher Kenner der deutschen Literatur. Von der Berliner Gesellschaft wurde er reichlich verwöhnt, und die fast täglichen Abendessen, die er jahrelang in dem Kreise der Hautefinance oder des hohen Beamtentums mitmachte, haben zweifelsohne mit zu seinem verhältnismäßig frühen Tode beigetragen.

Von der so häufigen Pedanterie des Philologen war nicht das geringste bei ihm zu bemerken, obschon er eine gründliche fachwissenschaftliche Bildung besaß und auch dauernd wissenschaftlich tätig blieb. In geschäftlichen Dingen, falls sie ihn interessierten, bewies er große Gewandtheit und Sicherheit, und ich habe ihn für den besten Dekan gehalten, den die philosophische Fakultät während meiner 25-jährigen Angehörigkeit besessen hat.

Da seine Frau eine geborene Strecker und Halbschwester der Frau Leube war, so bin ich mit ihm hier und da auch in gesellschaftlichen Verkehr gekommen und kann nur sagen, daß ich ebenso wie viele andere Menschen von seiner strahlenden Persönlichkeit eingenommen war.

In gewissem Gegensatz zu Erich Schmidt stand der klassische Philologe Diels, ein prächtiger Mann, klug, wohlwollend, durchaus nicht einseitig in Wissen und Anschauungen und sehr brauchbar als Sekretär der Akademie. Manche Reden, die er in dieser Eigenschaft hielt, darf man wegen der feinen Form und des gedanklichen Inhalts als Perlen bezeichnen. Mit seinen Söhnen hat er besonderes Glück gehabt; denn sie sind alle anerkannte Gelehrte geworden und einer von ihnen, Otto, war mir jahrelang ein lieber Schüler und Mitarbeiter.[168]

Eine interessante Persönlichkeit war auch der Nationalökonom C. Schmoller, gleichzeitig bekannt als guter Historiker. Wenn er in unverfälschter schwäbischer Mundart in der Akademie oder Fakultät über wissenschaftliche oder geschäftliche Dinge sich äußerte, so konnte man immer sicher sein, kluge und ausgereifte Dinge zu hören. Viel stürmischer war sein Spezialkollege Ad. Wagner, der aber nicht der Akademie angehörte, und der in hohem Alter trotz körperlicher Hilflosigkeit durch seine leidenschaftliche Sprache uns immer noch imponierte. Allerdings habe ich sein Urteil in manchen Dingen als befangen oder als verschroben ansehen müssen.

Unter den Vertretern der Geisteswissenschaften hat mich von Anfang an ein Mann besonders angezogen, ehe ich wissen konnte, daß ich später mit ihm in enge, gemeinschaftlicher Arbeit gewidmete Beziehung treten würde. Das ist der Theologe und Historiker Adolf von Harnack. In der wissenschaftlichen Welt gilt er mit Recht als Polyhistor, denn außer seinem Spezialfach hat er sich ausgezeichnete Kenntnisse auf philologischem, literarischem und ethischem Gebiet angeeignet und daneben ist es ihm noch gelungen, einen Überblick über die modernen Naturwissenschaften zu gewinnen. Wie er mir öfter erzählte, verdankt er das nicht so sehr der Ehe mit einer Enkelin von Liebig, als vielmehr der Kinderstube; denn seine drei Brüder haben fast gleichzeitig mit ihm Naturwissenschaft oder Medizin in Dorpat studiert. In dieser jungen Gesellschaft, die bei der beschränkten Wohnung der Eltern auch räumlich immer eng vereint war, fand, wie leicht begreiflich, dauernd ein reger Ideenaustausch statt. Infolge seines vorzüglichen Gedächtnisses hat Adolf von Harnack diese Eindrücke als dauernden Besitz bewahren können. Mir ist er menschlich zuerst näher getreten bei dem Tode meiner Frau, deren Familie er von seinem mehrjährigen Aufenthalt in Erlangen her wohl kannte, insbesondere durch seine Bemühungen, eine Erzieherin für meine Kinder zu gewinnen. Später verpflichtete er mich zu Dank durch sein mannhaftes Eintreten für den Neubau des chemischen Instituts, das wesentlich dazu beitrug, die Zustimmung der Akademie zu diesem Plane zu erlangen. Für das 200-jährige Jubelfest schrieb er die Geschichte der Akademie, die ich ziemlich fleißig gelesen habe, weil sie mir als vortreffliche Quelle für die Geschichte des akademisch-chemischen Laboratoriums diente. Mehr als irgend ein anderer Vertreter der philosophisch-historischen Klasse hat Harnack sich dauernd bemüht, auch die Interessen der Naturwissenschaften zu fördern, und er war deshalb der berufene Mann, an die Spitze der Kaiser Wilhelm Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften zu treten, als diese im Frühjahr 1911 gegründet wurde. Davon werde ich später ausführlich berichten. Auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften halte ich Harnack[169] augenblicklich für den hervorragendsten deutschen Gelehrten, und als Organisator wissenschaftlicher Arbeiten nimmt er sicherlich den ersten Platz ein.

Mit der Gründung der Kaiser Wilhelm Institute für Chemie und physikalische Chemie erweiterte sich natürlich auch der Kreis der Chemiker, und von ihnen sind drei Männer, Beckmann, Haber und Willstätter in die Akademie aufgenommen worden, über die ich später im Zusammenhang mit der Kaiser Wilhelm Gesellschaft mich äußern werde.

Quelle:
Fischer, Emil: Aus meinem Leben. Berlin 1922, S. 151-170.
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