Die Schulzeit.

[13] Weißenburg am Sand oder im Nordgau 1834–37 und Arnstein 1838.

Meine frühesten Erinnerungen haben zwar vielfach in Würzburg ihre Stätte, wo nicht bloß eine zahlreiche Verwandtschaft sowohl von Vaters- als auch von Muttersseite bestand, sondern mir auch der erste Unterricht zu Theil wurde, aber erst in Weißenburg in Mittelfranken entstand vieles für mein Leben Bedeutungsvolle, wenn auch nur in den ersten Anfängen. Der Aufenthalt bei einer von der Würzburger ziemlich verschiedenen Bevölkerung, eine andere Landschaft in der Nähe des Städtchens und dieses selbst erweckten in dem Knaben eine Menge neuer Eindrücke, von denen[14] die meisten dauernde wurden. Sehr bald kam ich in die Lateinschule, die von zwei Lehrern geleitet wurde, davon der eine, Rector Kohl, später Decan in Roth unweit Nürnberg, mir in dankbarster Erinnerung ist. Der Unterricht, welchen ich zwei Jahre von diesem Manne genoss, war besonderer Art. Die Erweckung des Urtheils bildete die Hauptsache, wenn auch die Pflege des Gedächtnisses dabei nicht vernachlässigt ward. Der Unterricht war nicht bloß auf die Schulstunden beschränkt, er nahm auch die wöchentlichen Spaziergänge und Ausflüge während der guten Jahreszeit, selbst in den Ferien, in Anspruch, jedes Mal in Anpassung an die sich bietende Gelegenheit, die sehr mannigfaltig sein konnte. Die Ausflüge führten zur Fossa Carolina, dem Versuche Karls des Großen zu einer Verbindung der Altmühl mit der Rezat und damit einem ersten Donau-Maincanal. Beim Dorfe »Graben« waren noch die deutlichen Spuren dieses durch Karls Sachsenkriege nicht zu Ende gelangten Unternehmens erkennbar, von welchem der auf einer Böschung mit Kiefern bestandene Graben in einer Strecke vorhanden und in meiner Erinnerung[15] blieb. Ein ander Mal ging es zum Paterich (Patricius) und zu sonstigen Spuren der Römerzeit, welche durch den Limes in der Nähe Weißenburgs nicht selten waren. Überall gab es Anknüpfungen zur Vermehrung der Kenntnisse, und selbst bei einer Rückkehr während eingetretener Dunkelheit bot der nächtliche Sternenhimmel Anlass zu erwünschter Belehrung. Auch Spaziergänge mit der Mutter waren nicht selten. Sie dienten im Sommer zugleich meiner Belehrung über die Pflanzenwelt, indem der Mutter wenigstens die deutschen Namen der meisten wildwachsenden Pflanzen bekannt waren. Der Weg nach der Jacobsruhe, einem in der Nähe gelegenen lieblichen Wäldchen, bildet eine angenehme Erinnerung. Auch im Sammeln und Trocknen der Pflanzen gab sie mir einige Unterweisung, wie in den Anfangsgründen des Zeichnens, woran ich viel Freude empfand. Von da an blieb dieser Unterricht, für den die Mutter bald einen Lehrer besorgt hatte, für die ganze Jugendzeit unter manchem Wechsel der äußeren Verhältnisse bestehen. Nicht so erging es dem gleichfalls in Weißenburg begonnenen Unterricht in der Musik, welchen ich mit dem Bruder[16] theilte. Dieser kam mir bald voraus und setzte den Unterricht auch ferner fort, während mir wegen Mangels musikalischen Gehörs Dispens von diesem Unterrichte zu Theil ward. Ich kann nicht sagen, dass ich damit unzufrieden war.

Die ehemals freie Reichsstadt Weißenburg mit ihren stattlichen Thoren und hohen Mauern enthielt auch manche interessanten Gebäude, wie das Rathhaus, die Stadtkirche, und manche andere. Durch ihre Lage bildete sie einen Ort großen Verkehrs. Zogen auch die Lastwagen um die Stadt herum, so ging doch die Post täglich mehrmals durch die Stadt und wurde bei zahlreichen Extraposten und der oft eigenthümlichen Beladung derselben, sei es durch Gepäck oder durch Dienerschaft, ein Gegenstand hohen Interesses für die Jugend. Auf diesem Wege sah ich den jungen Griechenkönig Otto mit seinen Begleitern im Fes und Fustanella, auch manche andere hohe Häupter. Aber auch ein Zug vertriebener Zillerthaler blieb in meinem Gedächtnisse, kleine Wagen mit der Habe und manchen alten Leuten, während die Jüngeren sie begleiteten. Sie zogen nach Schlesien, wo Preußens König ihnen eine neue Heimat[17] geboten hatte. Weißenburg war wohl der erste evangelische Ort, den die Auswanderer sahen.

Minder erfreulich als die Erlebnisse in Weißenburg war die Beobachtung eines hier waltenden Aberglaubens, der wohl noch dem Mittelalter entstammte. Ich habe das wohl unzählige Mal wahrgenommen und muss mich hier auf die Hauptsache beschränken. So wurde als ein Sitz von Unholden die Stadtmauer nicht bloß von uns Knaben angesehen, von der aus ein Weg auch nach der Schule führte, welchen die Schüler oft gingen, um zu einem finsteren Theile der Mauer zu gelangen, wo es dann hieß: »der Drud kommt«. In panischem Schrecken lief dann die Gesellschaft zu einer helleren Mauerstrecke. Der »Drud« war auch die Bezeichnung für Schreckgespenster anderer Art. Sie wurden auf dem Dachboden von Häusern gesehen, ein bestimmtes Haus war uns sogar als unbewohnt bekannt wegen jener Gespenster. Die Knaben liefen manchmal des Abends vor jenem Hause zusammen, da in ihm ein Gespenst sich zeigen sollte. In der That war einmal eine Person im Dachbodenraume zu erblicken, welche sich aber als ein beim Gespensterspielen begriffener Junge herausstellte.[18] Solche Vorstellungen waren hier im Städtchen sehr verbreitet, sie befremdeten auch meine Eltern, denn auch in ihrer Wohnung sollte es umgehen. Meine Mutter wagte beherzt den Geist zu bannen mit dem Erfolge, dass bald eine Diebin sich herausstellte, welche sofort aus dem Hause entfernt ward.

Bei Weißenburg erhebt sich die Feste Wülzburg, welche schwerlich noch im früheren Zustande ist. Für uns Knaben war es immer ein Vergnügen, wenn wir den Vater dorthin begleiten durften, eine Festung war etwas Neues und Fremdes für uns. In der Nähe davon hausten an einem sehr abgelegenen Orte zwei schon betagte Frauen, Pfarrerstöchter, welche wohl einmal bessere Zeiten gesehen hatten. Die dürftig eingerichtete Wohnung, von einem Hunde bewacht, verrieth die Armuth, welche ich auch daraus entnehmen konnte, dass meine Mutter beim Besuche der Frauen manchmal Lebensmittel mitgebracht hatte. Einige silberne Löffel, vielleicht der einzige Werthbesitz der Frauen, wurden verborgen gehalten und kamen erst aus manchen Hüllen zum Vorschein, um uns etwas Milch aus einem nahen Hofe anbieten zu können. Der Kampf ums Dasein[19] tritt in vielerlei Formen auf; hier erschien er bei den Pfarrerstöchtern als Idyll, und idyllisch war die ganze Umgebung. Man hätte darob die beiden Frauen glücklich preisen können, wenn nicht überall zugleich die Entsagung von jenem Kampfe ein offenes Zeugnis abgelegt hätte. Nicht wenige andere Pfarrerstöchter lebten in Weißenburg, manche mit der Mutter bekannt, ja befreundet, und eine ward deren beste Freundin, welche sogar nach langen Jahren die alten Empfindungen treu bewahrte und bei öfterem Wiedersehen in Arnstein bewies.

Von allem in Weißenburg Erlebten ist mir die Schule bei Rector Kohl das Wichtigste, und mit Dank erfüllt mich immer die Erinnerung daran.

Die Versetzung des Vaters nach Arnstein brachte mich in neue Verhältnisse. War die Gegend auch lieblich und im Thale der Wern besonders erfreulich durch den schönen Wechsel von Wald und Wiesen nicht minder wie durch die Blicke auf das Rhöngebirge und ihm benachbarte Berge, wie der Dreistelz bei Brückenau und der Sodenberg und andere, so kam doch für mich sehr bald die Nothwendigkeit zum Scheiden[20] aus dem theuren Elternhause, wenn auch nur für einen Theil des Jahres. Ich sollte bald die Schule in Würzburg beziehen, zuerst die Lateinschule, dann das Gymnasium, zunächst bei mir fremden, wenn auch wohlwollenden Leuten durch die Sorgfalt der Eltern untergebracht. Es ward mir sehr schwer, in diesen Wechsel mich zu finden, und nur durch die in einigen Jahren erfolgende Begleitung durch meinen theuren jüngeren Bruder ward ich erleichtert.

In Arnstein war außer der mit dem Städtchen hochgelegenen Stadtkirche noch als Rest eines mittelalterlichen Beguinenklosters, die Kirche von Maria-Sontheim unten im Thale, wo bei der guten Jahreszeit Sonntags auch Gottesdienst gehalten wurde. Hier befand sich auch der Friedhof, in welchem zwei meiner Schwesterchen bestattet sind. Stadtpfarrer von Arnstein war Anton Ruland, ein sehr gelehrter, merkwürdiger Herr, den ich nicht in Kürze übergehen kann. Er war ein Freund meiner Eltern, die er oft besuchte, und auch mir stets wohlgesinnt. Ein guter Redner, dessen Predigten ich mit Erbauung folgte. Aber er war kein Freund aller Einrichtungen der[21] katholischen Kirche, so z.B. der in Franken so üblichen, besonders im Sommer häufigen Wallfahrten, so unter Anderen auch zur »Schwarzen Muttergottes« in Dettelbach. Wenn der Volksmund von »Leut' wie die Wallleut'« spricht, um damit unzuverlässige Menschen zu bezeichnen, so trifft er das Rechte. Solche Wallfahrer, die jährlich im Sommer auf den Kreuzberg der Rhön zogen, hat Ruland nie empfangen und die Vertretung stets anderen Geistlichen überlassen, mochten sie ihm auch persönlich völlig fremd sein. Als Oberbibliothekar der Würzburger Universität war er einst zur Übernahme der schon erwähnten Martin Wagner'schen Kunstsammlung beauftragt worden, nach Rom zu gehen. Er vollführte seinen Auftrag, ohne den Papst gesehen zu haben, da dieses, wie er selbst meinen Eltern mittheilte, nicht in seinem Auftrage lag. Dass er kein Freund der Mönche war, konnten die Würzburger Stadtverordneten, denen auch er angehörte, oft genug erfahren. »Was wollen denn diese Mönche«, hieß es bei ihm, so oft von den in Würzburg noch immer zahlreichen Klöstern ein Anspruch irgend welcher Art erhoben ward. In noch rüstigem Alter starb Ruland in[22] München an der Cholera. Seine, wie ich weiß, vorzüglich der fränkischen Geschichte dienende Privatbibliothek ward, wohl schwerlich mit seinem Willen, der Vaticana übergeben. Habent sua fata libelli!

Kehre ich nun wieder zu meiner Schulzeit zurück, so ward mir bis zu den letzten Jahren des Gymnasialbesuches keine freundliche Erinnerung. Es waltete hier ein eigener Geist, ganz verschieden von dem in Weißenburg. Vor Allem war mir die große Strenge der Leitung empfindlich, denn für fast alle Dinge bestanden Verbote. Mochte es Winter oder Sommer sein, wir hatten Abends pünktlich zu Hause uns einzufinden. Wehe dem, welchen der Pedell einmal nicht um 6 Uhr in seiner Wohnung antraf. Vierzehn Tage Ferien zu Ostern und sechs Wochen Herbstferien waren die zum Besuche der Eltern gestattete Zeit. Da war es denn vorzüglich der Herbst, welcher die nöthige Erholung brachte und von den Eltern auch zu kleinen Reisen gern gebilligt war. Mit einigen Kameraden unternommene Ausflüge führten mich mehrere Male auf die Rhön, auch in den Steigerwald und in die westliche Maingegend.[23]

Zu den Ferienausflügen zur Zeit, da meine Eltern in Arnstein wohnten, zählte auch ein sehr häufig im Herbst unternommener nach Hammelburg, wo damals meine Großmutter väterlicherseits lebte. Es ist ein sehr alter Ort, der auf die Amaler in der Gothenzeit zurückführt: Amalaberga steht mit der Gründung im Zusammenhang. Im weiten Thale der fränkischen Saale gelegen, bietet die Umgebung einen Reichthum von landschaftlicher Herrlichkeit und auch geschichtlich interessante Stätten. In der Nähe führt eine auf die Bergeshöhe sich schlängelnde Straße zu Schloss Saaleck (nicht Solleck, wie es seinerzeit Götz von Berlichingen in seiner Biographie geschrieben hat oder wohl schreiben ließ), wo aus einer alten Burg allmählich ein wohnlicherer Bau entstand, den die Äbte von Fulda als Sommerfrische bewohnten, wobei der berühmte Saalecker Wein seine Anziehung wohl auch bei diesen nicht verfehlt haben wird. Ein Mönchskloster beginnt den Aufstieg zum Berge, es wird die Altstadt genannt, weil wahrscheinlich hier die erste Ansiedelung der Germanen ausging, welche wie auch sonst fast allgemein Mönche leiteten.

Saalaufwärts folgte nicht weit von Hammelburg[24] die schöne Ruine Trimberg und dann die Bodenlaube bei Kissingen, beide aus der Zeit der Minnesänger durch diese berühmt.

Zu der regelmäßigen Ferienerholung muss ich auch das Jagdvergnügen rechnen, welches der Vater, selbst ein großer Freund der Jagd, mir gern gestattete. Obgleich ich manchen Hasen, zuweilen auch ein Reh erlegte, war es mir dabei doch viel weniger um die Vernichtung eines Thieres zu thun, als um den Genuss des freien Umherschweifens in Wald und Flur, wo die Natur mein größtes Interesse erweckte. Sehr bald im Besitz einer kleinen Flinte, die erst später einer größeren wich, wanderte ich auf die Bergeshöhen um Arnstein, pflanzensammelnd, auch manche kleine Thiere, welch letzteren zu Hause der Zergliederung dienten. Ein angelegter »Blüthenkalender« ward durch mehrere Jahre vervollständigt. Meine Jagdtasche, auch ein Messer zum Wurzelgraben, waren meine wichtigsten Instrumente; es war die ganze Pflanze, die mir beachtenswerth war. Das systematische Bestimmen, zunächst an den Pflanzen geübt, war ein vortreffliches Mittel zur Schärfung des Auges nicht nur, sondern auch des Urtheils. Es war[25] keine verlorene Zeit, die ich so in den Ferien verbrachte.

Während des Semesters war viele Zeit durch den Besuch des Gottesdienstes in Anspruch genommen. Außer täglicher Messe war noch Sonn- und Feiertags Vormittags Hochamt und Nachmittags »Vesper«, bei deren Psalmen ich nicht selten an heißen Tagen vom Schlaf überwältigt wurde. In meinem letzten Gymnasialjahre ward ein neuer Feiertag eingeführt, der des Heiligen Aloysius von Gonzaga als Patron der studierenden Jugend! Bevor er zum »Heiligen« erhöht war, soll seine Lebensführung weniger fromm gewesen sein, was durch den Eintritt in die Gesellschaft Jesu verständigen Ausgleich fand. Für mich aber entstand die Betheiligung an dem mit großer Prozession begangenen Feste. Dabei war mir, als dem Ältesten der Oberclasse des Gymnasiums, das Tragen der neuen Aloysiusfahne zugefallen, was ich mit möglichster Würde, wenn auch durch die Ausdehnung des Umzugs und den heißen Junitag ziemlich ermüdet, vollzog.

Wie sehr in Bayern schon damals der Wind von Rom her wehte, gab auch am Gymnasium die[26] Übertragung des Geschichtsunterrichts auf den Religionslehrer, der natürlich ein katholischer Geistlicher war, zu erkennen, während früher der Geschichtsunterricht dem Classenlehrer zustand. Dass wir die Verschiedenheit der Behandlung der Geschichte bald empfanden, brauche ich wohl nicht hervorzuheben. Wir alle waren uns bewusst, dass die Verherrlichung der römischen Kirche der Zweck dieser Änderung war und die Jesuiten die Urheber. Bei uns allen, die nicht Geistliche wurden, ward wohl nur das Gegentheil von dem Gewollten erreicht.

So trafen manche Dinge zusammen, um den Wunsch nach dem Absolutorium zur Sehnsucht zu steigern, und so erfolgte denn glücklich der Abschluss der mehrere Wochen währenden Prüfung, ohne allen Vorbehalt von Nachprüfungen, wie sie üblich waren. Im August 1845 beschloss ich die Gymnasialzeit, nachdem uns zur Vorbereitung auf die früheren Herbstferien das Gaudete juvenes, vacatio imminet, patriam intrare licebit sieben Wochen lang durch Tilgung je eines Buchstabens das Näherrücken der glücklichen Zeit verkündet hatte. Aber diesmal war es ernst, und[27] die Entfernung des blauen Sammtkragens, welchen die Gymnasiasten tragen mussten, wie die Lateinschüler den rothen, bildete ein sehr rasch sich vollziehendes Geschäft. Auf die Theilnahme an dem Abschiedscommers verzichtete ich, um rascher in die Heimat zu gelangen. Der weite Weg an Rimpar vorbei durch den Gramschatzer Wald war noch vor Abend zurückgelegt, und freudig begrüßten mich die entgegenkommenden Eltern.

Wie auch der Weg durch das Gymnasium nicht leicht zu gehen war, so bot mir doch sein guter Abschluss viele Befriedigung. Ich hatte nie nöthig, eine Classe zu wiederholen, wenn ich mich auch keineswegs zu den besten Schülern zählen konnte. Die ersten waren allerdings solche, welche in der Folgezeit es nicht weit gebracht haben. Die Hälfte wurden Pfaffen.

Meine Dankbarkeit für den empfangenen Unterricht ward nicht durch die Jahre vermindert; die classische Literatur blieb mir eine treue Freundin, die in allen Lebenslagen mir nahe stand. Der bekannte Ausspruch Cicero's über die Studien ist niemals von mir vergessen worden, und darin glaube ich die wahre Lebensphilosophie zu erblicken, als[28] die beste Frucht der Schule, gegen welche der Dank kaum größer als gegen die Eltern sein kann, denn es sind hier die Grundlagen für das spätere Leben errichtet, die um so sicherer sind, je tiefer sie gelegt wurden.

Es ist eine merkwürdige Erscheinung, wie die Neuzeit den Gymnasien in manchen Formen zerstörende Ideen entgegenbringt. Die classischen Sprachen sollen ganz oder theilweise in Wegfall kommen. Quid mihi Hecuba! Die Kenntnis des Alterthums macht einen Theil unserer Bildung aus, auf welche zu verzichten das Ignoriren der classischen Sprachen bedeutet, welche Manche gern auch todte Sprachen heißen. Sie leben freilich so wenig wie das Alterthum, aber es heißt auch, der Buchstabe tödtet, aber der Geist macht lebendig, und dieser Geist darf nicht vernichtet werden, wie wenig er auch hohen Herren wichtig sein mag.

Noch in der Schulzeit erstand mir in meiner Vaterstadt eine Quelle vieler Erinnerungen. Es waren nicht bloß die Gassen mit ihren Häusern und die Plätze, sondern es war vorzüglich die Geschichte der Entstehung, nach welcher ich zu forschen begann. Viele Wappen und Inschriften an den alten[29] Häusern des damaligen Hochstifts, auf den alten fränkischen Adel sich beziehend, wurden abgezeichnet und studirt, so dass die Heraldik mir keine ganz fremde Sache blieb. Auch der jetzt spurlos verschwundene »Katzenwiker«, wie er damals hieß, als der Katten (?) wighus (Kampfhaus) gedeutet, mit einem sehr alten Bau, in welchem Barbarossa sich mit Beatrix von Burgund vermählte, erweckte mir großes Interesse. Es waren also meine Allotria, welche mich beschäftigten, denn von da an führt ein Weg in meine spätere Zeit, und nach der Saat folgt die Ernte.

So gelangte ich allmählich zu den ersten Vorstellungen der Geschichte der Stadt Würzburg, in welcher das ganze Mittelalter von Kämpfen der Bürger mit den durch Übermuth sich auszeichnenden Bischöfen erfüllt war. Viele derselben waren nicht einmal Priester. Die Fehde war ihr Lebensgenuss. Diese Bischöfe hatten ihre Burg auf dem Marienberge, der jetzt die »Festung« vorstellt, und es währte sehr lange, bis der Sitz des Bischofs in die Stadt gelangte (im achtzehnten Jahrhundert). Dass auch geistigen Kämpfen in früherer Zeit keine geringe Bedeutung zukam, erweist gleichfalls die Geschichte.[30] Nicht selten war ich im Kreuzgange des Doms zu finden, mit dem Studium alter Bilder oder Inschriften beschäftigt.

Zu den schönsten Erinnerungen aus meiner Jugend gehört der Besuch von Amorbach bei einem Onkel, einem älteren Bruder meiner Mutter, welcher fürstl. Leiningenscher General-Cassier war, wo ich, wie bei der Tante, als stets willkommener Gast behandelt wurde. Während der letzten Jahre meiner Schulzeit, auch in den ersten Jahren auf der Universität, machte ich Gebrauch von der ein für allemal bestehenden Einladung und fuhr von Würzburg aus mit einem Mainschiffe nach Miltenberg. Es war von da kein weiter, aber ein sehr anmuthiger Weg nach Amorbach, umgeben von herrlichen Wäldern, welche hohe Berge bedeckt hielten. Die Fahrt auf dem Main geschah meist auf einem Holzschiffe, auf welchem ich der einzige Reisende war, einige Mal fuhr ich mit der Post, mit welcher die Reise bis Miltenberg einen Tag in Anspruch nahm. Nach Amorbach pflegte ich zu Fuß zu gehen.

In Amorbach war die ganze Umgebung für mich von großem Reize, wozu die hier stattfindende[31] Vereinigung von sieben Thälern nicht wenig beitrug. Ausflüge nach allen Richtungen wurden unternommen. Auf dem Gotthardsberge, dem Ausläufer eines ins Thal der Mudau, welche in den Main sich ergießt, bei Amorbach ziehenden Bergrückens, bestand eine in vielen Theilen gut erhaltene Klosterruine, von deren waldiger Umgebung die herrlichste Aussicht war. Nicht weit von Amorbach liegt Amorsbrunn, welch beide Orte sich von der ersten Christianisirung des Odenwaldes im 7. Jahrhundert herleiten. Der heilige Amor soll einer jener christlichen Sendlinge gewesen sein. Amorbach war früher Benedictiner-Abtei, welche aus ihren großartigen Resten erkennen lässt, dass es den Mönchen nicht schlecht ergangen ist, wie groß auch ihre Anzahl war. Ein stattlicher Bau von mehreren Stockwerken, dem die große und schöne Kirche sich anschließt, bezeugt den Reichthum des Klosters und dient heute zu Wohnungen der fürstlichen Beamten. Ein großer Teich gegenüber, wie er ja den Klöstern nicht fehlen durfte, erfreute mich oft im Herbste durch die Sammlung von vielen Zugvögeln, welche im Röhricht des Ufers Abends mit Lärm ihren Aufenthalt nahmen.[32]

In der Umgebung Amorbachs war ein schöner mit meinen Vettern unternommener Ausflug nach Waldleiningen, einem dem Fürsten gehöriges Jagdschloss. In der Nähe, gegen Kirchzell und Ernstthal, die Reste der halbzerstörten Wilden-Burg, in welcher wir als Knaben uns tummelten, und an deren unterirdischen Räumen, von denen manche Sage bestand, wir uns ergötzten. Alles im schönsten Walde. Auf einem gleichfalls den Odenwald durchziehenden Umwege erreicht man Erbach, wo ein gräfliches Schloss eine bedeutende Waffensammlung birgt, in der Kapelle auch einen Steinsarg, in welchem die Gebeine Eginhards und Emmas ruhten, der aus Seligenstadt hierher kam.

Mit dem Ableben meines Onkels fand der Besuch Amorbachs seinen Abschluss, aber er bleibt für mein Leben in treuem Gedächtnis.

Noch vor meinem Schul-Abschluss erlebte ich in Würzburg ein bedeutungsvolles Fest, das am 5. August 1845 beginnende erste deutsche Sängerfest, welches den Anfang vieler späterer bildete und nach langer trauriger Zeit die Gemeinsamkeit deutschen Empfindens in erfreulicher Weise kund gab. Das Lied: Schleswig-Holstein meerumschlungen,[33] deutscher Sitte hohe Wacht! ward beim Würzburger Sängerfeste gesungen, wie auch Deutsche aus allen Gauen die Theilnehmer waren.

Eine patriotische Stimmung war unter uns jungen Leuten verbreitet und trug dazu bei, zu vergessen, wie es überall noch in Deutschland an politischer Reife gebrach.

Aber die Zeit kam auch dafür, und man darf nichts für vergeblich halten, weil es erst im Beginne ist.

Zur Erinnerung an jenes schöne Fest lasse ich hier ein Gedicht meines Onkels Joseph Roth aus der Würzburger Zeitung folgen, worin die Stimmung des Festes zum schönen Ausdruck kommt.


Gruss

Walthers von der Vogelweide

an die deutschen Sänger in Würzburg

am 4. August 1845.

»Ich wil sprechen wille komen,

der in grueze bringet, daz bin ich;

Ich wil Tiutschen mannen sagen

solhin maere, daz si deste baz

Al der werlte süln behagen;

ane groze miete tuon ich daz.«


Wollt' aller Vöglein Singen

und aller Lenze Duft

aufs neue mir erklingen

und weh'n in meine Gruft;[34]

es dräng' kein Maienschimmer

so licht zu mir herein,

so wonniglich schien nimmer,

wie heut, mein Schlaf zu seyn!


Das geht wie rosige Träume

durch meine Grabesruh,

es ist, als flüstern's die Bäume

dem alten Münster zu;

sie flüstern: »verschlaf nicht länger

diese ahnungsvolle Zeit,

wach' auf, du träumender Sänger!

wach' auf, o Vogelweid!


»Es wollen selt'ne Gesichte,

von Anblick wunderbar,

dich rufen zu dem Lichte;

Ein Fest, wie keines war,

ein Sommerfest mit Schalle

zieht ein in die Vaterstadt;

sein Klang ist's, so die Halle

deines Grab's erschüttert hat.«


Da bin ich! – Sonder Wanken

folgt solchem Ruf dein Sohn;

da bin ich, Mutter der Franken,

in deinen Gassen schon!

Ich walle ungesehen

durch manche grüne Pfort'; –

was will der Fahnen Wehen,

der Wald von Reisern dort?
[35]

Von allen Herden und Nesten

zieh'n Vögel auch zu Wald,

auf allen Zweigen und Ästen

belebt sich's mannigfalt;

es jubeln schmetternde Lerchen

aus jedem Flur heran,

sie sitzen, singende Fergen,

gar auf dem Feuerkahn!


Die Thüringer Finken haben

verlassen ihren Hag;

ich hör' der Bayern und Schwaben

alttreuen Wachtelschlag.

Das sind die Drosseln aus Norden,

zu grüßen den gelblichen Main,

von alten fränkischen Borden

die hellen Sänger am Rhein.


Dass sie ein Spiel begehe,

naht wohl die Sängerschaar? –

Das gemahnt mit süßem Wehe

den Walther wunderbar!

Wie alter Mären Klingen

wird's wieder in ihm wach:

o Heinz von Ofterdingen!

Wolfram von Eschilbach!


O rosenvolle Zeiten!

O minniglicher Schall!

Vom Klange uns'rer Saiten

wie scholl der Fürstensaal![36]

Das Rennen mit den Spießen,

der holden Frauen Dank;

dess möcht' ich noch genießen

manch hundert Jahre lang!


Heut schreiten sie nicht in Eisen,

die Schwerter an der Seite;

doch tönt's in Siegesweisen,

als kämen sie aus dem Streite.

Sie führen ja eingefangen

einen Flüchtling in der Mitten,

er geht mit blumigen Wangen –

der dreißigjährige Frieden!


Doch habt ihr annoch Waffen,

o Kinder dieser Zeit!

dem Rechte Schutz zu schaffen;

dess wahrt in Lust und Leid!

Noch deckt der Schild der Ehre

der deutschen Männer Herz,

er steht als Schirm und Wehre

viel blank von funkelndem Erz.


Lasst fliegen denn die Pfeile

des Lied's von güld'nem Schaft,

der in Gewalt und Eile

erprobt des Schützen Kraft!

Zu wecken die Zagenden, Schlaffen,

zu stärken allerwärts,

werft blitzende Gewaffen

tief in des Volkes Herz!
[37]

Was frommte all mein Ringen

wenn dieses mir entstand?

Was sollte all mein Singen,

ohne dich, o Vaterland?

Was wollte ich zu Lohne,

wenn ich dir gedienet han?

Das wer mir Ehr' und Krone,

dass ich nur Recht gethan.


Ich bring euch eine Kunde,

so mich das Grab gelehrt;

was ich im Leben funde,

hat mir der Tod bewährt:

Es kann jed' edles Streben

nun nimmermehr vergehn;

es muss zu ew'gem Leben

in Siegen aufersteh'n.


Und schmückt die Stadt der Franken

schon alter Ehren Zier:

doch mag sie gerne danken

dieser jüngsten für und für.

Wir bieten's wie wir's haben,

nehmt es in Treuen hin!

Vor allen andern Gaben

des Gebers Herz und Sinn.


Sie heißt euch Frucht und Blüthen

des Lands willkommen seyn,

und ihre Mägdlein bieten

den Feuertrank vom Stein;[38]

sie stellt als Kampfes Richter,

ihrer preislichen Frauen Chor –

der ist kein Sänger und Dichter,

der andern Dank sich erkor.


Und ist die Lust verklungen,

das Tönen all dahin:

dann werd' ein Kranz geschlungen

von frischem Immergrün.

Vergesst nicht, ferne Brüder,

wie nah ihr uns verwandt!

das erste eurer Lieder

bleib': »Unser Vaterland!«

Quelle:
Gegenbaur, Carl: Erlebtes und Erstrebtes. Leipzig 1901, S. 13-39.
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