[300] Sobald ich hoffen durfte, meine Gesundheit wieder zu erlangen, entschloß ich mich, die Landpraxis aufzugeben, weil ich ihr nicht mehr gewachsen war, und kam auf den alten Gedanken zurück, die akademische Laufbahn einzuschlagen. Ich hatte ihn aufgegeben, weil mir die Mittel dazu fehlten, jetzt hatte ich sie mir in der Praxis erworben, sie konnten für 2–3 Jahre hinreichen. Mein Plan war, mich im Sommer durch Seebäder völlig herzustellen und im Herbste nach Würzburg zu gehen, um dort nochmals zu studieren und zu promovieren. Dann erst wollte ich mich in Heidelberg niederlassen und habilitieren.
Zur Badekur wählte ich die Küste der Normandie. Auf dem Wege dahin besuchte ich in Paris Karl Schaible, der dort in Verbannung lebte, aber gerade im Begriffe war, Frankreich mit England zu vertauschen. Er entschloß sich, mit mir an die See zu gehen, wir verweilten mehrere Wochen zusammen in dem kleinen Dorfe Sanvic bei Havre, machten Ausflüge nach Trouville, das gerade bei der vornehmen Welt in Aufnahme kam, nach Etretat und Honfleur. Die Bäder kräftigten mich, ohne mich gänzlich herzustellen.
Nach Würzburg zog mich Virchow. Seit dem Herbste 1849 lebte er nicht mehr in Berlin. Die preußische Regierung hatte ihm seiner demokratischen Gesinnung wegen im Frühjahr 1849 die Prosektur weggenommen und das Dozieren nur aus besonderer Gnade bis auf weiteres gestattet. Dies hatte ihn bestimmt, einem Rufe der bayerischen Regierung nach Würzburg zu folgen, wo er die medizinische Jugend mächtig anzog und mit erstaunlicher Fruchtbarkeit fortfuhr, die Heilwissenschaft durch wichtige Entdeckungen und Ideen zu fördern. Preußen und Bayern hatten die Rollen vertauscht; einst hatte Preußen[300] Schoenlein, unbekümmert um die Anklage auf Hochverrat, die ihm in Würzburg gedroht, nach Berlin geholt, jetzt berief Bayern ebenso unbekümmert den erklärten Demokraten Virchow von Berlin nach Würzburg.
Ich blieb zwei Semester in Würzburg, hörte, nochmals immatrikuliert, Vorlesungen und Kurse bei Virchow, Koelliker und Scherer, arbeitete im Winter täglich mehrere Stunden im Präpariersaal und im Sommer im chemischen Laboratorium. Mit Heinrich Müller, dem frühe verstorbenen, um die Erforschung des mikroskopischen Baus der Sehhaut so verdienten Anatomen, erneuerte ich die schon in Heidelberg gemachte Bekanntschaft, und mit Nikolaus Friedreich, dem nachmaligen Heidelberger Kliniker, der gerade Dozent geworden war, schloß ich Freundschaft. Der Zufall machte mich gleich am ersten Tage zu seinem Tischnachbarn im Gasthofe zum Schwanen. Er war noch unverheiratet, und ich hatte meine Frau bei ihren Eltern zurückgelassen, erst an Ostern kam sie nach. Friedreich und ich richteten einen Mittagstisch um 5 Uhr für uns ein, um den Tag besser ausnützen zu können; George Harley, später Professor und Physician am London University Hospital, der Verfasser einer geschätzten Monographie der Leberkrankheiten, und mehrere ältere Studenten der Medizin schlossen sich uns an. Gegen Ende des Sommersemesters promovierte ich, wobei mir Friedreich opponierte.
Um eine in der Praxis schmerzlich empfundene Lücke meines ärztlichen Wissens auszufüllen, ging ich von Würzburg nach der badischen Landes-Irrenheilanstalt Illenau, wo ich den größten Teil des Herbstes mit psychiatrischen Studien verbrachte. Neben dem Direktor Roller und den Ärzten Hergt und Fischer waren hier als Hilfsärzte Gudden, traurigen Andenkens, und Kast angestellt. Gudden beschäftigte sich eifrig mit mikroskopischen Untersuchungen, zeigte mir seine lehrreichen Präparate, namentlich über Hautparasiten, und setzte mir seinen Plan auseinander, die physiologischen Verrichtungen der Gehirnteile durch ihre operative Ausschaltung bei neugeborenen, am Leben zu erhaltenden Tieren aufzuklären. Auch Kast war ein gescheiter Kopf von selbständigem Urteil. Aus dem steten[301] Verkehr mit diesen jungen Ärzten und aus den Krankenvisiten mit den erfahrenen älteren zog ich großen Gewinn.
Erst zu Beginn des Winters siedelte ich mit Frau und Kindern nach Heidelberg über; zu dem ersten Töchterchen war noch in Kandern, kurz nachdem ich das Krankenlager verlassen hatte, ein zweites gekommen. Im folgenden Jahre habilitierte ich mich. Von meinen alten Lehrern fand ich nur noch Chelius und Delffs; an Henles Stelle lehrte Fr. Arnold Anatomie und Physiologie, statt Pfeufer leitete Hasse die Innere Klinik, Geburtshelfer war Lange.
Ich vermochte erst später ganz zu ermessen, welch ein Wagnis ich unternommen hatte, als ich mitten aus der Landpraxis heraus mich entschloß, mit noch siechem Körper und beschränkten äußeren Mitteln die akademische Laufbahn einzuschlagen. Der Versuch ist über Erwarten gelungen, und die Krankheit hat mir statt Verderben Glück gebracht; wäre ich auch länger gesund und Landarzt geblieben, so wäre ich doch zweifelsohne frühe den Strapazen erlegen, aber die Ausführung meines Wagnisses ist mir nicht leicht geworden. Kaum war ich in Heidelberg eingezogen, so sah ich mich beinahe gezwungen, zur Praxis zurückzukehren. Aus unklugem Mitleid hatte ich in Kandern beim Weggehen meinem Hauswirte, einem gutmütigen, aber schwachen Menschen mit großer Familie, der in Gant geraten war, den Einzug meiner Ausstände, gegen einen Anteil an der Einnahme, übergeben; er hatte den Einzug zwar besorgt, aber das Geld für sich und seine Familie verbraucht. Schlimmer war es noch, daß meine Gesundheit jahrelang schwach und schwankend blieb; das Gespenst einer rückfälligen Lähmung schreckte mich von Zeit zu Zeit, vermutlich wäre ich den Sorgen und Mühen unterlegen, hätte mir nicht die treue Gefährtin, deren Tapferkeit ich einst richtig erkannt, stets unverzagten und heiteren Sinnes ermunternd zur Seite gestanden.
Hiermit bin ich zum Schlusse meiner Erinnerungen gekommen. Den wiederholten Anforderungen alter und junger Freunde, meine Lebensgeschichte zu schreiben, habe ich damit nur teilweise entsprochen, aber ich glaube sie nicht weiter als[302] bis zur Aufnahme meiner akademischen Tätigkeit führen zu sollen. Die spätere Periode meines Lebens ist den Fachgenossen bekannt und würde andern Lesern kaum Interesse bieten, wohl aber mag die Geschichte meiner Jugend Ärzten und Nichtärzten Lesenswertes bringen. Der Weg, den ich vom Landarzt zum klinischen Lehrer zurücklegte, hat vielfach Neugierde erregt, weil er nur selten, wenn je, begangen worden ist. Meine Erinnerungen geben darüber Aufschluß; sie liefern zugleich Beiträge zur Geschichte des medizinischen Unterrichts und der Medizin selbst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die den jüngeren Ärzten wenig bekannt ist, sowie zur Geschichte unsres deutschen Universitätswesens, unsrer Kultur und politischen Entwicklung. Möchten die Bilder aus meinen Jugendjahren dem Leser ebensoviel Vergnügen bereiten, als mir die Aufzeichnung gewährte.
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Der Abend verglüht, und die Nacht bricht ein,
O flimmernder Staub im Sonnenschein,
Bald wirst du im Dunkel verschwunden sein.[303]
Ausgewählte Ausgaben von
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
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