[295] Nachdem ich mich drei Jahre, bis zum Februar 1853, in Kandern stets wohl befunden, hielt ich mich allen Anstrengungen der Praxis für gewachsen, doch wurde ich jetzt eines andern belehrt. Der Winter war bis dahin auffallend milde verlaufen, die Rosenstöcke in den Gärten trieben noch im Dezember und Januar Blüten, erst im Februar kam Schneefall und Eis. Den ganzen Winter hindurch war der Krankenstand groß gewesen, jetzt wuchs er zu einer solchen Höhe, daß ich die Praxis kaum bewältigen konnte. Es verfloß kaum eine Nacht, wo ich nicht durch die Hausglocke aus dem Bette getrieben wurde, um zu ordinieren oder Kranke, bald in der Stadt, bald auf den Dörfern, zu besuchen; ich konnte nur selten mehr zur rechten Zeit speisen, aß auch nicht genug, endlich kleidete ich mich, um nicht in meinen Bewegungen, namentlich beim Reiten in den Bergen, behindert zu sein, viel zu leicht. Wenn ich den Wagen benützte, mußte ich mir selbst den Kutscher machen. Mein Pferd, Reit- und Wagenpferd zugleich, reichte mir zuletzt nicht mehr aus, ich mußte noch ein zweites haben.
Albert Bitzius, der Berner Pfarrer, der unter dem Namen Jeremias Gotthelf die besten Bauernromane schrieb, die ich kenne, hat in der meisterhaft aus der Wirklichkeit gegriffenen Geschichte: »Wie Anna Jowaeger haushaltet und wie es ihr mit dem Doktern erging«, die Strapazen der Gebirgspraxis treu geschildert. Ich darf dies behaupten, denn ich habe sie aus eigener Erfahrung zur Genüge kennengelernt. Auch ein Körper von Stahl läuft da Gefahr, zu erliegen, und von Stahl war der meinige nicht. Zwei meiner späteren Freiburger Assistenzärzte, tüchtige, pflichttreue junge Männer, sind nach kurzer Praxis in den Bergen, der eine da, wo ich gewirkt, Opfer ihres Berufs geworden.
Um einen Begriff von den Anforderungen einer solchen Praxis zu geben, erzähle ich die Geschichte der schweren Erkrankung, die mich Ende Februar befiel.[295]
Auf den dringenden Brief eines Kollegen, des Physikus Schweikhard von Schopfheim, den ich besonders schätzte, begab ich mich zu einer Konsultation nach dem hochgelegenen, von Kandern nur auf schlechten und häufig steilen Wegen erreichbaren Dorfe Tegernau im Amte Schopfheim. Ich ritt vor Sonnenaufgang von Hause weg und kam erst spät abends in der Dunkelheit wieder. An vielen Stellen war Glatteis, ich mußte vom Pferd absteigen und es am Zügel vorsichtig führen, der Schnee drang mir durch die Stiefel. Auf dem Heimweg hatte ich die Empfindung an den Fußsohlen, als ob ich auf rauhem Filz ginge, es war ein Gefühl von Vertaubung der Haut, dessen ernste Bedeutung ich verkannte.
Kaum hatte ich mich müde zu Bette gelegt, so kam ein Bauer aus Egringen, einem Dorfe, dem Rheine zu gelegen, um mich zu seiner Frau zu holen, die an einem eingeklemmten Schenkelbruche litt. Er hatte mich schon die Nacht zuvor aus dem Bette geläutet, um mich mitzunehmen, aber ich konnte die Konsultation mit Dr. Schweikhard nicht rückgängig machen und hatte ihn deshalb an andre Ärzte verwiesen. Diesen war die Einrichtung nicht gelungen, er kam jetzt wieder, es blieb mir nichts anderes übrig, als mit ihm zu fahren und zu versuchen, was meine Kunst vermöchte. In der Tat, es gelang mir, die Arme von ihren Qualen zu befreien, aber erst, nachdem ich sie in ein warmes Bad hatte bringen lassen. Darüber war die Nacht vergangen; es hatte Zeit gekostet, bis eine Badewanne im Dorfe aufgetrieben und das Wasser im Waschkessel heiß gemacht worden war. Der helle Morgen war angebrochen, als ich heimkam. An Ruhe war nicht zu denken, ich hatte den ganzen Tag zu tun und hoffte, den versäumten Schlaf in der nächsten Nacht nachzuholen; leider sah ich mich getäuscht.
Eben hatte ich mich unter die Decke gestreckt, als die unbarmherzige Nachtglocke wieder läutete. Ein Bote rief mich zu dem Kinde eines befreundeten Pfarrers in dem Dorfe Hertingen; es sollte an Krupp leiden, doch handelte es sich, wie ich bald feststellte, nur um einen einfachen, heftigen Katarrh der oberen Luftwege. Ich hatte für alle Fälle ein Brechmittel[296] aus der Apotheke mitgenommen und blieb bei dem Kinde, bis es gewirkt hatte.
So war es wieder Tag geworden, als ich nach Hause kam, wo neue Arbeit auf mich wartete. Es schneite stark, und ich mußte gleich nach Tische im Schlitten nach dem abgelegenen Hofe Maugenhardt fahren. Der Weg war stellenweise verschneit und nicht genau einzuhalten, auf dem Heimwege fiel der Schlitten um, ich versank mit dem halben Leib im tiefen Schnee. Bis auf die Haut eisig durchnäßt kam ich nach Hause, konnte aber nicht sogleich das Bett aufsuchen. Endlich legte ich mich, wurde jedoch nicht warm und war erst gegen Mitternacht ein wenig eingeschlafen, als mich plötzlich Stiche in der Brust links unten und hinten weckten. Ich fürchtete eine Brustfellentzündung, atmete aber ohne Schwierigkeit. Schlaflos und fiebernd verbrachte ich die Nacht und wollte am Morgen gerade einschlummern, als der Bader des Städtchens erschien, mich zu erinnern, daß ich versprochen hatte, an diesem Morgen ein Mädchen, das bei ihm Wohnung genommen, an einer Hasenscharte zu operieren. Sie war schon als Kind einmal operiert worden, ohne Erfolg, und erwartete ihn von mir, weil ich einem Knaben ihres Dorfs den entstellenden Fehler beseitigt hatte. So stand ich denn auf, wie elend ich mich auch fühlte, und ging ans Werk. Die Operation gelang, das Mädchen erlangte ein hübsches Gesicht, fand bald einen Mann und wanderte mit ihm nach Nordamerika.
In meine Wohnung zurückgekehrt, mußte ich noch einige »Wälder« abfertigen, ehe ich endlich die ersehnte Bettruhe fand. Meine Krankheit war jetzt leicht zu diagnostizieren. Ich fühlte eine große Schwäche in beiden Beinen, konnte kaum darauf stehen, sie waren gelähmt, die Füße taub, es stellten sich Wadenkrämpfe ein und gänzliche Lähmung der Blase; offenbar litt ich an einer Entzündung des Rückenmarks oder seiner Häute im untersten Teile des Wirbelkanals. Eine schreckliche Aussicht eröffnete sich mir. Entweder stieg die Entzündung vom Lendenmark zum Halsmark aufwärts, lähmte mir die Arme und zuletzt die Atmungsorgane, so daß ich ersticken mußte, oder sie machte tiefer unten halt, hinterließ wahrscheinlich[297] eine Lähmung der unteren Körperhälfte und machte mich zur Ausübung meines Berufs dauernd unfähig.
Meine Lage war sehr schlimm. Vor allen Dingen bedurfte ich chirurgischer Hilfe. Leider hatte der Kollege, der neben mir im Orte praktizierte, wie ich aus seinem eigenen Munde wußte, noch niemals den Katheter eingeführt und diese so häufige und wichtige, nicht selten auch schwierige Operation dem Bader überlassen, dessen Geschicklichkeit ich nicht recht traute. Da fiel mir zu meinem Glücke ein, daß einer meiner Basler Freunde, Dr. Theodor Schneider, der bis vor kurzem Assistent der Chirurgischen Klinik gewesen war, seine Stelle aufgegeben hatte, um in wenigen Wochen nach Amerika zu reisen. Er verweilte gerade zu Besuche bei seinem Oheim, dem Pfarrer Schneider in Feldberg bei Müllheim. Ich schickte ihm einen Boten, konnte aber die Ankunft meines Freundes nicht abwarten, meine Qual wurde unerträglich, gegen Mittag mußte ich mich doch dem Bader anvertrauen. Obwohl er zum Ziele kam, folgte dem Eingriff eine Entzündung. Abends kam mein Freund. Mit aufopfernder Hingebung verweilte er einige Wochen bei mir und besorgte mich und meine Kranken; niemand hat mich in meinem ganzen Leben so zu Danke verpflichtet wie er. Mein Freund und Samariter lebte später, von der ärztlichen Tätigkeit zurückgezogen, in Dornach bei Basel.
Unsere anatomische Kenntnis der Rückenmarkskrankheiten stand damals noch auf schwachen Füßen. Ich stellte mir vor, daß es sich um eine Meningitis lumbaris rheumatischen Ursprungs handle, um einen wäßrigen trüben Erguß in und zwischen die Häute des untersten Abschnitts des Rückenmarks und seiner Nervenstränge, von ähnlicher Beschaffenheit, wie die Flüssigkeit, die in den Gelenken beim akuten Rheumatismus gefunden wird. Meine Krankheit für rheumatisch anzusehen, berechtigten mich die vorausgegangenen Umstände und die Abwesenheit von andern bekannten Ursachen, namentlich von Infektionen. Daraus schöpfte ich einigen Trost, da ich schon einmal eine schwere rheumatische Krankheit glücklich überstanden hatte; noch mehr Hoffnung faßte ich, als die Entzündung in den nächsten Tagen nicht höher stieg.[298]
Gleich am ersten Tag nahm ich ein Wiener Tränkchen, um den Abfluß des venösen Blutes aus dem Wirbelkanal in die Bauchhöhle zu erleichtern, und versuchte dann an den folgenden Tagen, durch warme Bäder die gestörte Hauttätigkeit wiederherzustellen. Mein Zustand blieb unverändert, ich litt viel an Schmerzen und Krämpfen in den Beinen, mit Unterstützung konnte ich mühsam stehen, jedoch nicht gehen.
Gegen Ende der ersten Woche verleiteten mich Sorge und Ungeduld zu einer eingreifenden Kur, die ich bei einem andern Kranken nicht gewagt hätte; sie fußte hauptsächlich auf meinem Vertrauen zu den so oft an mir erprobten Heilwirkungen des Brechweinsteins. Dieses Mittel wirkte bei mir schon in der kleinen Gabe eines Grans (0,06 gm) sicher, rief ungemein reichliche Ausscheidungen hervor, riesige Ergüsse, die, wie ich hoffte, zur Aussaugung der ausgeschwitzten Flüssigkeit im Wirbelkanal führen würden. So nahm ich denn dreimal in einer Woche, je über den andern Tag, die Dosis von einem Gran nüchtern und lebte an diesen Tagen nur von Wassersuppen. Die Wirkung auf die Ausscheidungen war stets die gleich mächtige, und von der Stunde an, wo die dritte Dosis gewirkt hatte, war die Anwendung des Katheters nicht mehr nötig und schwanden die Krämpfe und Schmerzen, während die Lähmung der Beine sich weit langsamer verlor. Ich konnte erst Mitte April das Bett verlassen und zu Anfang Mai mich aus dem Hause wagen. Viele Jahre hatte es gedauert, bis ich mich von der Lähmung ganz erholte.
Während ich im April noch das Bett hütete – Freund Schneider war abgereist – trug sich ein Zwischenfall zu, der mir unvergeßlich bleibt. Ein Bauer, der nicht wußte, daß ich erkrankt war, wollte mich zu seinem Kinde holen. Er stand in den Vierzigern und bot ein prächtiges Bild männlicher Kraft. Ich wies ihn an meinen Kanderner Kollegen. Als er auf starken Beinen das Zimmer verließ, seufzte ich: »Oh, daß ich meinen lahmen Leichnam gegen den kerngesunden Leib dieses Bauern umtauschen dürfte!« – Acht Tage nachher besuchte mich mein Kollege, und ich erkundigte mich nach dem Kinde. »Das Kind«, erwiderte er, »ist rasch genesen, aber der Bauer tot.« Entsetzt[299] rief ich: »Unmöglich!« Dennoch war es so, der scheinbar kerngesunde Mann war plötzlich gestorben. Seit diesem Erlebnis habe ich keinen Menschen mehr um sein blühendes Aussehen beneidet.
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