Die Prager Fakultät

[243] Ich war nicht wenig überrascht, Prag weit mehr als Wien von jungen Ärzten besucht zu finden, die aus allen Teilen Deutschlands, aus der deutschen Schweiz und Holland zu ihrer weiteren praktischen Ausbildung dahin gekommen waren. In großer Gesellschaft begrüßte ich in der Silvesternacht das Jahr 1848, das den Völkern soviel versprach und sowenig hielt.

Bald wurde mir klar, warum die Prager Fakultät, obwohl sie strenggenommen nur eine Filiale der Wiener Schule war, der Wiener Fakultät den Rang abgelaufen hatte und ihr zu Studierzwecken von den reisenden Ärzten vorgezogen wurde. Sie kam ihren Bedürfnissen in liebenswürdigster und sachverständigster Weise entgegen und hatte eine Menge guter praktischer Kurse für sie eingerichtet, nur Hebras vorzüglicher Kurs über Hautkrankheiten fand in Prag nicht seinesgleichen. Auf einem wichtigen Gebiete der Heilkunst war Prag Wien sogar weit voraus, es besaß eine neue, musterhaft gebaute und geleitete Irrenanstalt, worin psychiatrischer Unterricht erteilt wurde, während in Wien noch immer zum Skandal der fremden Besucher des Allgemeinen Krankenhauses, das Geschrei der Irren aus den kleinen vergitterten Fenstern des Narrenturms in den Hof vor dem Leichenhause hinabschallte. Auch verdiente die Fakultät den Dank der zugereisten Ärzte durch die Erlaubnis, die sie ihnen bei der Prager Gesellschaft der Ärzte erwirkt hatte, deren Lesezimmer unentgeltlich zu benützen. Es lagen darin viele medizinische Zeitschriften auf und eine kleine Bibliothek war damit verbunden. Ich habe hier viele Abendstunden zugebracht und die vorzüglichsten Abhandlungen der Wiener und Prager Koryphäen gelesen und ausgezogen.[243]

Der berühmteste und beliebteste Lehrer Prags war Oppolzer. Die herzliche Güte, womit er uns umfing, machte mich fast verlegen. Ich gab in einem Brief an meinen Vater den Empfindungen hierüber mit den Worten Ausdruck: »Als Kollegen und Freunde, ja als Ebenbürtige empfing uns der große Meister, nicht als medizinische Abc-Schützen und Ignoranten, wie wir es wirklich sind.«

Johannes Oppolzer, ein Deutschböhme aus dem Städtchen Gratzen, war gerade 40 Jahre alt und stand auch als Forscher und Lehrer auf der Höhe seines Wirkens. Er hielt morgens von 9 bis 101/2 innere Klinik, nachdem er in seiner großen Abteilung mit 150 Betten im Krankenhause die Visite gemacht hatte, bei der ich ihn einige Male begleitete. Seine Klinik verfügte über 40 mit ausgesuchten Kranken belegte Betten. Die Vorträge hielt er lateinisch; die Märzrevolution machte kurz nachher dem Latein in den deutschen Kliniken, wo es noch etwa im Gebrauch war, ein Ende. Ich habe mich als klinischer Lehrer der lateinischen Sprache nur einmal bedient, in Freiburg, um von dem Kranken, einem Gärtnerburschen, nicht verstanden zu werden, erreichte jedoch meinen Zweck nicht. Er gab auf alle Fragen mit stereotypem Lächeln einfältige Antworten, die den Unmut meiner Schüler erregten. Ich beschwichtigte sie mit den Worten, der Arzt dürfe am Krankenbette nie die Geduld verlieren, der kranke Jüngling sei zwar ein großer Esel, aber sie sollten bedenken, er habe nicht wie sie das Glück gehabt, in einem Gymnasium klassische Bildung zu empfangen. Darauf lachte der Bursche ganz unbändig. Ich wurde jetzt böse und fragte, warum er so einfältig lache? »Ei!« gab er zur Antwort, »ich muß lachen, weil ich auch Gymnasiast gewesen bin.«

Die Vorträge Oppolzers waren einfach in Form und Inhalt und hoben das Wesentliche wohl geordnet und klar hervor. So, wie der ganze Mann schlicht, bescheiden und doch sicher, unbedingtes Vertrauen erweckend, vor uns stand, prunkte auch sein Unterricht nicht mit schönen Reden und geistreichen Hypothesen. Was er gab, war gutes, nahrhaftes Brot. Ebenso lehrreich wie seine Vorträge und Demonstrationen waren die[244] klinischen Sektionen, die der Prosektor der Pathologisch-Anatomischen Anstalt, Dr. Dittrich, für ihn ausführte. Oppolzer leitete sie häufig mit einigen Worten ein, begleitete und schloß sie mit nützlichen Bemerkungen, forderte uns auch in gewissen Fällen vor der Sektion auf, eine und die andere Untersuchung an der Leiche auszuführen. Nach der Sektion lud er uns nicht selten ein, ihn auf sein Arbeitszimmer zu begleiten, wo ein Mikroskop und chemische Reagentien zur Benützung für diagnostische Zwecke aufgestellt waren. Man konnte hier Fragen an ihn richten und war einer freundlichen Beantwortung sicher.

Oppolzer hat in Prag mehrere wertvolle pathologische Abhandlungen in der Prager Vierteljahrsschrift veröffentlicht, später, nachdem er 1848 nach Leipzig und zwei Jahre darauf nach Wien berufen worden war, beschränkte er seine literarische Tätigkeit je länger, desto mehr auf klinische Mitteilungen in der Wiener mediz. Wochenschrift, meist durch die Feder seiner Assistenten; seine riesige Praxis ließ ihm keine Zeit zum Schreiben. Während meines Aufenthaltes in Prag hieß es, er beschäftige sich mit der Abfassung eines Handbuchs der Pathologie, man war sehr gespannt darauf, aber es ist nie erschienen; die Vorlesungen Oppolzers, die sein Schwiegersohn Stoffela herausgab und nicht zu Ende führte, enthalten nur bekannte Dinge.

Oppolzers Begabung reichte nicht entfernt an das Genie Skodas, aber als praktischer Lehrer stellten wir Ärzte ihn über den großen Kritiker und Reformator. Im Besitze einer reichen und sicheren Erfahrung, durchdrungen von der humanen Aufgabe der Heilkunde und fest im Glauben an die Heilkunst, war er ein getreuer Eckart in den Nöten und Gefahren der Praxis. Mit ruhiger Weisheit verzichtete er auf mathematische Gewißheit und erreichte das Mögliche und Beste durch einfache Mittel, ein Kennzeichen tüchtiger Ärzte.

Als im Januar meine Knie rheumatisch anschwollen und mich mit Schmerzen quälten, fragte ich Oppolzer um Rat, seine Verordnungen charakterisieren die hippokratische Art seiner Therapie. Er riet mir keine Arznei, nicht einmal Einreibungen, nur Flanell um beide Gelenke, Vermeidung erhitzender Speisen[245] und Getränke, ich solle eine Zeitlang nur von Milch, Eiern weißem Fleisch, Gemüse und Obst leben. Ich befolgte seine Vorschriften, die Knie wurden besser, aber Heilung erzielte ich später durch Kaltwasserbehandlung, auf die er nicht hinwies.

Neben der Inneren Klinik von Oppolzer bestand noch die von Jaksch, die weniger besucht war, doch hielten einige meiner Bekannten große Stücke auf Jaksch als feinen Diagnostiker; sie behaupteten scherzhaft, er sei imstande, bei Klappenfehlern der Aorta genau anzugeben, welche von den drei Taschen erkrankt sei.

Ganz vorzüglich war die Chirurgische Klinik unter der Leitung von Franz von Pitha, einem edeln, feingebildeten, humanen und geschickten Manne.

Sehr beliebt war auch Arlt, der »Supplent« für Augenheilkunde. Da mir die ruhige Hand zu feinen Operationen versagt war, wollte ich keine Zeit mehr auf dieses Fach verwenden, und besuchte seine Klinik nicht. Zufällig hörte er meine Bekannten in der Klinik meinen Namen nennen, der ihm auffiel, und erfuhr auf Befragen, daß ich der Verfasser der Heidelberger Preisschrift über die Farbenerscheinungen im Augengrunde sei, die er gelesen und günstig rezensiert hatte, was ich nicht wußte. Er forderte mich danach auf, ihn zu besuchen und lehrreiche anatomische Präparate bei ihm anzusehen. Ich folgte dieser Einladung und freute mich der Lobsprüche, die er meiner Schrift spendete. Sie taten meinem jungen Autorherzen wohl; in Wien hatte man mein Büchlein keines Worts und vermutlich keines Blicks gewürdigt, denn was konnte aus dem Reiche Gutes kommen? Die Prager waren doch bessere Menschen!

Die interessanteste der Prager Lehranstalten war für uns das neue Irrenhaus, die Schöpfung des Primararztes Riedel, den man den Reformator des österreichischen Irrenwesens nennen darf. Er hat 1851 auch die neue Irrenanstalt in Wien vollendet, zu deren Bau die Regierung bereits 600000 fl. bewilligt hatte. – Riedel empfing uns sehr freundlich und erteilte einem Assistenten den Auftrag, uns durch die weite Anstalt zu führen;[246] wir verweilten vier ganze Stunden darin. – Österreich verdankt Riedel die erste Einführung eines psychiatrischen klinischen Unterrichts der Mediziner. Die Größe dieses Verdienstes weiß der am besten zu schätzen, der mit den großen Vorurteilen zu kämpfen hatte, die selbst bei den Psychiatern dagegen bestanden. In Baden hat sich Chr. Roller um die Einführung einer geordneten Irrenpfllege unvergängliche Verdienste erworben, die Landesheil- und Pflegeanstalt Illenau erbaut und rühmlichst geleitet, die Einrichtung psychiatrischer Kliniken aber an den Universitäten Heidelberg und Freiburg hartnäckig bekämpft. Erst 1874, drei Jahre vor seinem 1877 erfolgten Tode, drangen die Fakultäten mit ihren Anträgen durch.

Einen vielbesuchten und gerühmten Kurs über Perkussion und Auskultation erteilte Professor Hamernik auf seiner Abteilung für Brustkranke; ich mußte auf diesen Kurs verzichten, er war mir zu teuer, kostete 16 fl., und mein Reisegeld ging zur Neige.

Statt dessen nahm ich mit Bronner einen ganz vorzüglichen Kurs über chirurgische Anatomie bei Professor von Patruban im Karolinum, dem alten Universitätsgebäude, worin einst Hus gelehrt hatte und das Anatomische Institut sich befand.

Endlich gedenke ich noch des ausgezeichneten pathologischanatomischen Kurses, den uns im Allgemeinen Krankenhause der bereits erwähnte Prosektor Franz Dittrich erteilte. Geboren 1815 in Nixdorf in Böhmen, war er ein Schüler Hyrtls und Rokitanskys, wurde Assistenzarzt bei seinem Freunde Jaksch und dem Geburtshelfer und Frauenarzte Kiwisch von Rotterau; jetzt war er an die Stelle Dlauhys getreten, der als Professor der gerichtlichen Medizin nach Wien versetzt worden war. Sein Kurs wurde von mehr als dreißig Ärzten besucht. Die reichen klinischen Erfahrungen, die Dittrich gesammelt hatte, wußte er vorzüglich zu verwerten, sie machten seinen Kurs doppelt lehrreich, obwohl er seinem Lehrer Rokitansky mit großem Vertrauen auch auf die Irrwege der Krasen- und Blastemlehre folgte. Die glänzendste Entdeckung Dittrichs war die der syphilitischen Natur gewisser Lebergeschwülste, die[247] der Anatom Bochdalek und Oppolzer 1845 fälschlich für in Heilung begriffene Krebse gehalten hatten. Sie fiel in das Jahr 1849. Ein Jahr nachher berief ihn die bayerische Regierung an die Innere Klinik nach Erlangen, wo er der Fakultät zu raschem Aufschwung verhalf und sich großer Verehrung erfreute. Nach seinem Tode, 1859, bin ich sein Nachfolger geworden.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 243-248.
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