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[248] In Wien hatte die pathologische Anatomie mich so angezogen, daß ich daran dachte, mich ihr ganz zu widmen und, dem Winke Naegeles folgend, die akademische Laufbahn einzuschlagen. Der fruchtbare Boden, auf dem das Skalpell so reiche Ernte gehalten hatte, versprach noch größere Ausbeute, wenn er mit der Linse des Mikroskops durchforscht würde. Hatte ich doch bei Bischoff und Henle gesehen, was die Entwicklungsgeschichte und die Gewebelehre diesem Werkzeug verdankten. Die mikroskopische Bearbeitung der pathologischen Anatomie schien mir eine der dringendsten und lohnendsten Aufgaben der medizinischen Wissenschaft. In Wien war dafür wenig geschehen, noch kaum ein Anfang gemacht. Florian Heller hatte hier 1844 ein Archiv für pathologische Chemie und Mikroskopie gegründet, aber die Zeitschrift ging schon 1847 ein. Sie diente dem diagnostischen Bedürfnis der Ärzte mehr als der strengen Wissenschaft, ähnlich wie des Heidelberger Dozenten Hoefle »Chemie und Mikroskopie am Krankenbette«. Anders stand es in Berlin, wo Schwann der mikroskopischen Forschung einen leitenden Gedanken gegeben und Johannes Müller in seiner Schrift über den feineren Bau der Geschwülste schon 1833 ein Vorbild auch auf diesem speziellen Gebiete medizinischer Untersuchung geschaffen hatte. Einer meiner alten Heidelberger Bekannten, der Zoologe von Frantzius, war im Herbst von Triest her, wo er mit Siebold und Ecker Seetiere untersucht hatte, nach Wien gekommen und hatte mir dringend geraten, nach Berlin zu gehen und den ihm befreundeten Prosektor der Charité, Rudolf Virchow, aufzusuchen; er bearbeite mit Geist und Erfolg die pathologische[248] Anatomie im Sinne Müllers und Schwanns. Es schien mir aber, der äußeren Schwierigkeiten halber, zu unsicher, ob ich nach der Heimkehr es wirklich unternehmen könne, mich als Dozent in Heidelberg niederzulassen; ich mochte deshalb das mit meinem Freunde Bronner gefaßte Vorhaben, zunächst noch Prag zu besuchen, nicht aufgeben; gelang es mir, nach der Heimkunft jene Schwierigkeiten zu überwinden, so hoffte ich unter Henles Ägide dort mein Ziel zu erreichen.
In Prag trat mir der verführerische Gedanke, der mich schon in Wien so lebhaft beschäftigt hatte, wieder nahe. Im Lesezimmer der Ärzte las ich die zwei Dezembernummern der Berliner medizinischen Zeitung 1846, worin Virchow den allgemeinen Teil von Rokitanskys Handbuch der pathologischen Anatomie kritisierte. Die Kritik war wie eine Bombe in das Lager der Wiener Schule niedergefahren. Virchow nannte das Buch gefährlich, einen Überfall der Klinik durch die Anatomie, die mit unerwiesenen, willkürlichen chemischen und physiologischen Hypothesen über die ihr gesteckten Grenzen weit hinaus in das Gebiet der Pathologie greife. Rokitansky habe zu den vielen spekulativen, haltlosen Systemen der Pathologie ein neues geliefert, das seinem großen anatomischen Verdienst Eintrag tue. Gleich nachher fiel mir das 1. Heft seines 1847 mit Reinhard herausgegebenen Archivs für pathologische Anatomie und Physiologie in die Hände. Die zündenden Worte seines Programms: »Über die Standpunkte der wissenschaftlichen Medizin« ergriffen mich mächtig. Der junge Anatom ging dem faulen Skeptizismus und Nihilismus der Wiener scharf zu Leibe. Er zeichnete mit sicherer Hand die Ziele und Wege, die der Medizin ihr zwiefacher Charakter als Naturwissenschaft und tätige Kunst in der pathologischen Forschung vorschreibt. Die Heilkunst sei keine Wissenschaft, die man einzig um ihrer selbst willen pflegen dürfe, für sie gelte das Wort: scientia est potentia! Sie dürfe nicht auf den Wolken thronen, sondern müsse auf festen Beinen unter dem Volke wandeln und sorgen, ihm Leben und Gesundheit zu schirmen. Der Ausbau der pathologischen Anatomie geschehe nicht durch Aussinnen von luftigen Hypothesen und Systemen, sondern nur durch geduldige[249] Arbeit am Sezier- und Mikroskopiertisch, in chemischen und physiologischen Werkstätten. Tüchtige, herrliche Worte, begleitet von der Morgengabe, die der junge anatomische Forscher der pathologischen Wissenschaft brachte, den glänzenden Entdeckungen der Leukämie und Embolie, die zu den größten der Medizin gehören!
Unwiderstehlich zog es uns jetzt nach Berlin, aber der Tag unserer Heimreise war bereits auf den 1. März festgesetzt und meine verfügbaren Mittel reichten nur eben noch bequem bis nach Hause. Mein Freund war besser daran. Großmütig schlug er mir vor, mich nicht von ihm zu trennen und seinen elenden Mammon mit ihm zu teilen; sein Besitz reiche auf etliche Monate für uns beide, wir wollten nicht eher heimkehren, bis wir Virchows Bekanntschaft gemacht hätten.
Während ich noch schwankte, ob ich auf das Anerbieten eingehen solle oder nicht, entlud sich das politische Gewitter, das schon lange im Westen gedroht hatte. Am 23. Februar hatte Guizot seine Entlassung von Louis Philippe verlangt und erhalten. Abends fiel in Paris der verhängnisvolle Schuß aus der Menge, die sich vor dem Ministerium des Äußeren gestaut hatte, die bedrohte Wache erwiderte ihn mit einer Salve aus 50 Gewehren, Verwundete und Leichen bedeckten das Pflaster. Dieses Blutbad kostete dem König den Thron. Am 24. morgens legte er seine Krone nieder und entfloh nach England.
Am 25. oder 26. vormittags gingen wir unsern täglichen Weg in das Krankenhaus. Oppolzers erster Assistent kam uns frohlockend entgegen: »Gute Botschaft, meine Herrn! Louis Philippe ist gestürzt, die Republik proklamiert!« Wir gingen in unsere Wohnung zurück und rüsteten uns zur Abreise. Von Berlin war nicht mehr die Rede. Es trieb uns heim an den Rhein. Am letzten Februar reisten wir ab.
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Jugenderinnerungen eines alten Arztes
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