Fünftes Kapitel.
Der Eintritt in die wissenschaftliche Laufbahn.

[110] Physikalische Studien. Von meinem freudig überraschten Vater erhielt ich gern die erhoffte Erlaubnis, noch einige Semester in Dorpat bleiben zu dürfen. Mir war dies vor allen Dingen deshalb wertvoll, weil ich in der letzten Zeit mehrfach gespürt hatte, daß meine Kenntnisse in der Physik, wenn auch ausreichend für das Examen, doch nicht ausreichend für die Forschungsarbeiten waren, welche ich plante. Ich erbat daher vom Professor der Physik Arthur von Öttingen die Erlaubnis, in seiner Anstalt arbeiten zu dürfen. Sie wurde gern gewährt, und da außer dem Assistenten Grönberg niemand sonst die Räume benutzte, welche oberhalb des chemischen Instituts im ersten Stock lagen und die gleiche Ausdehnung hatten, so wurde mir gleich ein ganzes Zimmer gegeben.

Arthur von Öttingen war der jüngste der drei Dorpater Professoren-Brüder, welche oben erwähnt worden sind. Er war nach erledigten Dorpater Studien ins Ausland gereist und hatte zunächst einige Semester in Berlin zugebracht, wo er in den Kreis der damals eben gegründeten Physikalischen Gesellschaft aufgenommen wurde und in nahe Beziehungen zu Magnus, Kirchhoff, Helmholtz, Wiedemann, Poggendorf, Kundt usw. trat.[111] Dort gelang ihm die Entdeckung der negativen Rückstände bei den Entladungen der Leidner Flasche, die für den Beweis der damals noch umstrittenen Schwingungen im elektrischen Funken von ausschlaggebender Bedeutung war. Später ging er nach Paris, wo er bei Regnault arbeitete. Hier hat er für sein ganzes Leben eine Vorliebe für französisches Wesen angenommen. Er hielt sein Äußeres so, daß man ihn für einen französischen Marquis nehmen konnte, denn er war von kleiner, zierlicher Gestalt.

Ein ausgelassenes Studentenleben hatte ihm ein lebenslängliches Magenleiden und noch andere Übel zugezogen, welche zwar seine körperliche Leistungsfähigkeit minderten, seinen lebhaften und reichen Geist aber nicht merklich beeinträchtigten. Der Kreis seiner Interessen ging weit über die Grenzen seines Faches hinaus. Er war ein ausgebildeter, Musiker und hatte, angeregt durch Helmholtz' eben erschienenes Werk: Die Lehre von den Tonempfindungen grundlegende Entdeckungen zur Theorie der musikalischen Harmonie gemacht, über die er ein Buch veröffentlicht hatte, das zwar geistreich, aber dabei so abstrus geschrieben ist, daß vermutlich kein Sterblicher außer seinem Setzer und ihm selbst es ganz durchgelesen hat. Auch ich habe trotz verschiedener Ansätze und trotz meines lebhaften Interesses für den Gegenstand es nicht fertig bringen können.

Ich teilte nun meine Zeit zwischen weiteren chemischen Arbeiten und physikalischen Übungen unter Öttingens Leitung. Auch nahm ich an dem physikalischen Kolloquium Teil, das er nach Magnus' Vorbilde in Dorpat eingerichtet hatte. Die Teilnehmer mußten der Reihe nach über ältere und neuere physikalische Forschungsarbeiten nach den Abhandlungen in den wissenschaftlichen Zeitschriften berichten; dann fand eine Aussprache darüber statt, zu der freilich der Professor den Hauptanteil liefern mußte. Mir wurden diese Zusammenkünfte sehr nützlich,[112] namentlich da mir bei ihnen die großen Lücken in meinem Wissen und Können klar wurden, über die ich wegen meiner jungen Erfolge hinwegzusehen nur zu geneigt war. Einige grobe Rechenfehler, die ich öffentlich beging, veranlaßten mich, mein ganzes mathematisches Rüstzeug einer gründlichen Durchsicht und Ergänzung zu unterziehen.

Mathematische Studien. Dabei stellte sich heraus, daß ich ohne Kenntnis der Infinitesimalrechnung, die sich nicht in der Prüfungsordnung für Chemiker vorfand, nicht weit kommen würde. Da das Anhören einer Vorlesung mir zu zeitraubend erschien, beschaffte ich mir meiner Gewohnheit gemäß ein Buch, und war so glücklich, das vorzügliche Werk des Jenaer Mathematikers Karl Snell in die Hand zu bekommen. Dieses war kein gewöhnliches dürres Lehrbuch, sondern ging ausführlich auf erkenntnistheoretische und methodische Fragen ein, die sich ja bei der Lehre vom Unendlichkleinen unaufhaltsam aufdrängen und dringend Beantwortung fordern. Es waren glückliche Stunden, die ich mit diesem geistvollen Buch zubrachte, dem ich nicht nur den Hauptteil meiner mäßigen mathematischen Kenntnisse verdanke, sondern auch die erste Anregung zum philosophischen Denken.

Assistentenstelle. Ich war kaum im physikalischen Institut heimisch geworden, als sich ein Ereignis vollzog, das für mein weiteres Leben entscheidend werden sollte. Der bisherige Assistent Öttingens, Grönberg, hatte eine Berufung als Physikprofessor an das Rigasche Polytechnikum erhalten und angenommen. Es war nötig, daß er sofort nach Riga übersiedelte, und so war plötzlich die Assistentenstelle (es gab nur die eine) am physikalischen Institut frei geworden. Die Hoffnung, daß ich sie etwa erhalten könne, empfand ich als toll, doch wagte ich immerhin die Bewerbung. Öttingen war schwankend, denn[113] eben war ein älterer Dorpater Chemiker, Wilhelm Schröder, aus Deutschland zurückgekehrt, wo er einige Zeit studiert hatte. Dieser gehörte wie Öttingen der Korporation der Livländer an, welche damals unter Führung des später als Kirchenhistoriker und Organisator in Berlin so berühmt gewordenen Adolf Harnack eine entschlossene Wendung nach der wissenschaftlichen Seite gemacht hatte. Schröder hatte die Tradition Karl Schmidts aufgenommen und sich der physiologischen Chemie zugewandt, während mir die physikalische Chemie als Ideal vorschwebte. Dies und der Umstand, daß ich meine Studien formal abgeschlossen und bereits eine Arbeit veröffentlicht hatte, gab den Ausschlag, obwohl Öttingen, wie er mir nicht vorenthielt, persönlich lieber Schröder genommen hätte. Beim Mittagessen in seinem Hause, zu dem er mich gütig eingeladen hatte, machte er mir die beglückende Eröffnung. Mir zitterten die Hände vor freudiger Erregung, so daß ich mich mit dem Tischmesser schnitt und schamrot das Blut unter dem Tisch mit dem Taschentuch zu stillen mich bemühte. Die Bärenhaut, mit der ich seiner Zeit nach Dorpat gezogen war, hatte durch die drei Jahre studentischen Lebens an Rauhigkeit nicht eingebüßt, eher zugenommen.

Ich aber konnte die Fülle des Glücks immer noch nicht fassen. Daß ich, etwas über 21 Jahre alt, wirtschaftlich selbständig geworden war, denn das Gehalt war zwar sehr mäßig, reichte aber in dem wohlfeilen Dorpat aus, war das geringste, wie ich bekennen muß. Denn ich durfte ja den Lebensunterhalt vorläufig noch von meinem Vater erwarten, dem es unter den günstigen Verhältnissen, in denen er sich befand, kein erhebliches Opfer gewesen wäre, zumal er die größte Freude an dem schnellen Aufstieg seines Jungen hatte.

Das Entscheidende war, daß ich nun endgültig in die Laufbahn als Forscher und Lehrer eingetreten war,[114] daß der Druck eines eintönigen technischen Berufs mir nicht mehr drohte, daß ich so früh ich wollte, ins Laboratorium gehen und so spät ich wollte, es verlassen konnte, kurz, daß ich als reiner Forscher ungehemmt mein ganzes Dasein in die herrlichen Aufgaben der Wissenschaft ausströmen konnte, dies war es, was mich bis zur Besinnungslosigkeit glücklich machte. Nicht wenig fiel dabei ins Gewicht, daß mir für Jahre hinaus der tägliche Verkehr mit Öttingen in Aussicht stand, von dem ich schon genug erfahren hatte, um zu spüren, in welchem Maße er meinen Blick ausweitete und mein Denken vertiefte.


Die amtliche Beanspruchung war gering; sie beschränkte sich auf die Vorbereitung der Vorlesungsversuche. Ich empfand sie durchaus nicht als Last, weil die Experimente mich persönlich interessierten, so daß ich mancherlei Verbesserungen versuchte. Sehr tief empfand ich gelegentliche Unfälle, an denen ich meist durch Übereilung schuld war, wenn auch Öttingen sie vornehm übersah. In einem der »Prologe«, mit denen die studentischen Theateraufführungen eröffnet zu werden pflegten, sang ein zeitgenössischer Dichter:


An seines Ruhmes künft'ger Größe

Arbeitet Ostwald spät und früh.

Zerschlägt er auch manch Thermometer,

Hält man's zugute dem Genie.


Anfänge selbständigen Lebens. So ging eine überaus glückliche und fruchtbare Zeit für mich an. Die Zusammenkünfte und Gelage mit den Landsleuten, die meist erheblich älter waren, als der neugebackene »Philister« (wie die genannt wurden, welche die Studentenjahre hinter sich hatten), wurden immer seltener, da ich dort zu wenig Teilnahme für das fand, was mein Leben ausfüllte und sie mir außerdem die Zeit für das raubten, was mir die meiste Freude machte. Nur ein gewisses Pflichtgefühl gegen die[115] Korporation, die mich so bald aufgenommen und der ich doch nur so kurze Zeit angehört hatte, führte mich von Zeit zu Zeit in diese Kreise zurück. Gleichzeitig entwickelte sich eine persönliche Kritik an den studentischen Idealen, die dort vertreten wurden, und die ich als gläubiger, aus kleinen Verhältnissen stammender Neuling seinerzeit unbesehen angenommen hatte. Ich sah einzelne, die ich als unbestrittene Größen unseres Kreises hatte bewundern helfen, durch den Alkohol geistig wie körperlich zugrunde gehen, ich konnte das hochmütige Selbstbewußtsein vieler in der Kneipe und auf dem Fechtboden mit der kindischen Angst vergleichen, die sie vor dem Examen zeigten. Ich kam sogar zu der ketzerischen Ansicht, daß es für mich vielleicht besser gewesen wäre, wenn ich bei den Livländern eingetreten wäre, statt bei den Rigensern. Denn jene erwiesen sich den unter ihnen auftauchenden Begabungen gegenüber als weit entgegenkommender und förderlicher, als meine Landsleute, welche nur Spott für die wissenschaftliche Einstellung einer ganzen Korporation hatten, die sie als unburschikos verurteilten. Hatten doch die livländischen Philister gelegentlich ihrer Fünfzigjahrfeier, die kurz vor unserer stattgefunden hatte, ein beträchtliches Kapital gestiftet, von dessen Zinsen besonders begabte Landsleute Reisestipendien zu ihrer weiteren Ausbildung erhielten, während bei uns der ungeheure Aufwand an Spirituosen ein schweres »Jubeldefizit« bewirkt hatte, dessen Deckung alles aufzehrte, was an freiwilligen Leistungen von den Philistern einging.

Heimat und Wissenschaft. Dazu kam, daß meine auf die reine Wissenschaft gerichteten Bestrebungen gerade bei den einflußreichsten und politisch nachdenklichsten Mitgliedern unseres Kreises keineswegs restlos gebilligt wurden. Im Gespräch mit einem derselben, der mir freundschaftlich nahe stand, entwickelte er als die von ihm geteilte Ansicht jenes kleinen Kreises, der ohne[116] viel äußerliches Hervortreten die Geschicke meiner Vaterstadt leitete, daß es meine Pflicht sei, meine besonderen Kräfte so zu entwickeln, daß sie sich im unmittelbaren Dienst der Heimat betätigen könnten; reine Forschungsarbeit, die der ganzen Welt zugute komme, sei ein reiner Verlust für die Vaterstadt. Mich überzeugte das nicht und ich war viel zu sehr erfüllt vom Glück freier wissenschaftlicher Arbeit, als daß ich um irgendeinen Preis mich zum Verzicht auf sie hätte entschließen können. Denn diese wollte gerade beginnen, Blüten und Früchte zu tragen.

Neue Wege. Beim Nachsinnen über das Problem der chemischen Verwandtschaft während einsamer Wanderungen in den ausgedehnten Parkanlagen des Dorpater »Doms« hatte ich nach Mitteln gesucht, sie messend zu erfassen. Am weitesten war bisher J. Thomsen durch Anwendung des thermochemischen Verfahrens gekommen, durch welches er die Teilung einer Base zwischen zwei Säuren in einzelnen Fällen hatte messen können. Den gleichen Weg weiter zu verfolgen, war für mich aussichtslos, da in Dorpat die nötigen Geräte nicht zu erlangen waren.

Nun hatte ich in jener überlangen Klausurarbeit sachgemäß den Gedanken entwickelt, daß Thomsens Wärmemessungen keineswegs unmittelbar die Werte der chemischen Verwandtschaft ergeben hatten, sondern nur als Hilfsmittel dienten, um den chemischen Zustand in einer verdünnten wässerigen Lösung festzustellen, der der gewöhnlichen Analyse unzugänglich war. Blitzartig kam mir der Gedanke, daß an Stelle der Wärmeentwicklung jede andere Eigenschaft dienen kann, die man an der Lösung messend feststellt, falls sie nur durch den chemischen Vorgang ausreichend beeinflußt wird. Warum also nicht die nächstliegende nehmen, zu deren Messung ich die Mittel hatte und die am leichtesten und genauesten zu bestimmen war, die Dichte?[117]

Gedacht, getan. Ich hatte soviel Glasblasen gelernt, daß ich mir Pyknometer zur Dichtemessung nach Sprengel selbst herstellen konnte und nicht wochenlang auf bestellte zu warten brauchte. Um die Anwendbarkeit des Verfahrens zu prüfen, beschloß ich, die mehrfach erwähnten Versuche von Thomsen nach meiner Methode zu wiederholen. Da hierzu nur leicht zugängliche Chemikalien erforderlich waren, die mir Karl Schmidt bereitwilligst zur Verfügung stellte, war auch dieser Notwendigkeit ohne Zeitverlust zu genügen. So brauchte ich nur drei Tage, um die eigentlichen Versuche anzustellen, die zum erwarteten Ergebnis führten. Schmidt und Öttingen, denen ich meine Ergebnisse mitteilte, waren höchst erfreut und rieten mir dringend, meine Untersuchung zu veröffentlichen. Das Niederschreiben der Arbeit nahm bedeutend mehr Zeit in Anspruch, als ihre Ausführung, denn offen gesagt schämte ich mich ein bißchen, daß eine so kurze und so wenig mühevolle Untersuchung der unausdenkbaren Ehre der Veröffentlichung in der führenden physikalischen Zeitschrift Deutschlands teilhaftig werden sollte. Ich schickte auf Öttingens Rat zagend die Abhandlung an Poggendorff für die Annalen der Physik. Sie wurde angenommen und nach einiger Zeit, die mir unendlich lang vorkam, wirklich veröffentlicht.

Damit hatte mein Leben einen vollen Inhalt erhalten. Die Anwendung der neuen Methode auf einen möglichst ausgedehnten Kreis geeigneter Stoffe, die folgeweise Bearbeitung der vielen Einzelaufgaben aus der Verwandtschaftslehre, die nun möglich geworden war, die Entwicklung paralleler Methoden an anderen Eigenschaften – alles das gab so endlose Arbeitsmöglichkeiten, daß ich einen Acker vor mir sah, der nicht kleiner war, als der, den der verehrte Lemberg vor meinen Augen so geduldig wie erfolgreich bearbeitete. So sah ich auch mich bis an mein Lebensende täglich ins Laboratorium pilgern –[118] die Einbeziehung des Sonntags in die Arbeitswoche hatte ich ihm längst nachgemacht – um dort die immer neuen Freuden der Forschung zu genießen, wie er sie unvermindert durch mehr als ein Jahrzehnt genossen hatte, ohne müde zu werden.

Freunde. Mein Jugendfreund Fritz Seeck war inzwischen aus meinem Kreise verschwunden. Er war nicht von fester Gesundheit und ging mit seinem Körper sehr rücksichtslos um. So lange er im Elternhause lebte, sorgte seine Mutter dafür, daß er nicht zu schlimm auf seine Gesundheit losstürmte. Die Familie war aber vorübergehend nach Deutschland übergesiedelt und Fritz war in Riga in einer Junggesellenwohnung der Aufsicht seiner Verwandten überlassen, von denen er sich nichts sagen ließ. Als er mich einmal im Winter besuchte – es war gerade Schneeschmelze – stellte meine Mutter mit Entsetzen fest, daß die Sohlen seiner Stiefel klafften und seine Füße ganz naß vom Schneewasser waren. Er aber erklärte, er sei das gewöhnt und mache sich nichts daraus. So entwickelten sich die Anlagen einer Lungenschwindsucht, die er unbeachtet ließ.

In Dorpat als Student ging er noch rücksichtsloser mit seiner Gesundheit um; er war der Dauerhafteste bei den Gelagen und der Unternehmungslustigste bei »Spritzfahrten«. Dabei sprühte er von Geist und Witz und war ein hinreißender Gesellschafter. Eine schwere Lungenentzündung, die ihn traf, überstand er, aber die Ärzte erklärten, daß ein weiteres Verbleiben in den Dorpater Verhältnissen seinen Tod bedeute. So reiste er zunächst nach Süddeutschland, später nach Italien und ist bald danach einsam in Rom gestorben.

Falsche Einstellung. Solche Mißachtung der elementaren Gesundheitsregeln galt als burschikos, ihre Berücksichtigung dagegen als kleinlich und philisterhaft, ja fast feig. Es war dies eine praktische Folge der ganz vorwiegend[119] »geisteswissenschaftlichen« Erziehung der baltischen Jugend. Das Rigaer Realgymnasium war durch viele Jahre das einzige seiner Art; sonst gab es nur Lateingymnasien, in denen die Naturwissenschaften eine geringe und verachtete Stellung einnahmen. In den unteren Klassen wurde wegen der Unterrichtsvorschriften etwas Naturgeschichte gelehrt, um die sich niemand kümmerte. Chemie gab es gar nicht, Physik mit zwei Stunden in den obersten Klassen. Sie pflegte dem Mathematiker übertragen zu sein, der die Experimente entweder verdarb oder ganz sein ließ. So herrschte bei der gebildeten Jugend die gröbste Unwissenheit über alle physischen und physiologischen Verhältnisse. Rechnet man dazu die Verachtung aller Handgeschicklichkeit als banausisch, wie sie durch die sogenannte »ideale« Einstellung der maßgebenden Männer gemäß dem verderblichen Einfluß der Platonischen Weltanschauung als vornehm galt, so versteht man, wie eine derart selbstmörderische Lebensführung nicht nur bei einzelnen entstehen konnte, sondern allgemein in den akademischen Kreisen verbreitet war.

Denn Fritz Seeck war nicht der einzige gewesen, den ich so untergehen sah. Unter den älteren Landsleuten ragte durch Geist und Kenntnisse hervor der Sohn einer sehr angesehenen Rigaer Patrizierfamilie, Wilhelm Schwartz, genannt Bitze. Er war nicht nur ein scharfsinniger Jurist und hinreißender Redner, sondern besaß ein über das gewöhnliche hinausgehendes poetisches Talent, von dem er unter anderem gelegentlich der oben geschilderten Fünfzigjahrfeier glänzende Proben gegeben hatte. Dieser reiche Geist hauste in einem kleinen, gebrechlichen Körper, der etwas verwachsen war. Sein Gesicht war beherrscht von großen, glänzenden, braunen Augen. Auch er war lungenleidend und ein häufiger Husten mahnte ihn schon zu der Zeit, wo ich ihn als Fuchs zuerst kennen lernte, zur Vorsicht. Dennoch war er bei den[120] Zechgelagen einer der Fröhlichsten und Ausdauerndsten, der sich nicht die geringste Schonung angedeihen ließ. Nach wenigen Semestern mußte er von Dorpat fernbleiben und bald darauf war er gestorben.

Andere Freunde. Nach Seecks Fortgang schloß ich mich zunächst an einen Mediziner Arved Faehlmann aus Reval, einen stillen, liebenswürdigen Menschen von ruhigem aber eindringlichem Geist. Auch diesen verlor ich bald, nicht infolge alkoholischer Ausschweifungen denen er feind war, sondern an einem ererbten organischen Leiden, das ihn noch während der Studentenjahre zum Tode führte. Dann trat mir ein etwas älterer Landsmann Karl Henko näher. Er war klein aber schön gewachsen, hatte ein entzückend hübsches Gesicht, das jedes Mädchen zu küssen begehrte, blondes gelocktes Haar und ein hinreißendes Schnurrbärtchen. Dabei war er durch diese Vorzüge, die er wohl schätzte, nicht eitel geworden, sondern ganz und gar ein guter Junge geblieben. Das Band zwischen uns wurde durch die Musik befestigt, die wir beide leidenschaftlich liebten. In Riga hatte er mich in seine Familie eingeführt, die außer den Eltern noch drei Geschwister enthielt, zwei Söhne und eine Tochter. Er war der älteste. Der Vater war Kaufmann.

Sämtliche Familienglieder liebten und übten die Musik. Karl war ein vorzüglicher Klavierspieler, ebenso seine Schwester. Der jüngere Bruder spielte Geige, der jüngste Cello. Den Geschwistern Henko verdanke ich das Erlebnis Beethoven. Ich hatte natürlich manche seiner Klaviersonaten gespielt, so gut ich es vermochte, und einige hatte ich mir schon als Schüler abgeschrieben, da ich sie nicht kaufen konnte und doch dauernd besitzen wollte. Auch hatte ich einiges in Konzerten gehört, wo unter anderem die Coriolan-Ouvertüre mir einen starken Eindruck hinterlassen hatte. Aber als die vier Geschwister wir eines Sonntags die fünfte Symphonie, eingerichtet[121] für vierhändiges Klavier, Geige und Cello mit voller Entwicklung ihrer Schönheiten vorführten, erlebte ich zum erstenmal jenes unwiderstehliche Ergriffensein des ganzen Gemüts, das ich mit solcher Gewalt an keinem anderen Tondichter erfahren habe.

Auch diesen Freund verlor ich bald, und hier war wieder der Alkohol der Teufel, der ihn holte. Er hatte sich in Dorpat dem »flotten Burschenleben« so hingegeben, daß er kein Examen zu bestehen vermochte. Schließlich nahm ihn die Familie nach Riga zurück und dort versuchte er in einer Beamtenstellung sich an ein regelmäßiges Leben zu gewöhnen.

Es gelang nicht mehr; er wurde zunehmend weniger wählerisch in seinem Umgang und seinen Getränken. Noch bevor ich wieder nach Riga zurückgekehrt war, traf mich in Dorpat die Nachricht von seinem Tode.

Der einzige Jugendfreund, den ich nicht in frühen Jahren verloren habe, ist der bereits erwähnte Mineralog Alexander Lagorio. Er war ein Jahr vor mir nach Dorpat gekommen. Sein Vater, der als Landschaftsmaler in Südrußland gelebt hatte, war früh gestorben; seine Mutter hatte sich dann mit einem evangelischen Pastor in Kischenew verheiratet, der aus Riga stammte; so war er nach Dorpat und in die Fraternitas gelangt, wo er bald in den engeren Kreis aufgenommen wurde.

Sowohl durch den Anteil fremden Blutes wie durch seine ganz ausgeprägten naturwissenschaftlichen Interessen war Lagorio ähnlich wie später ich in eine gewisse Kampfstellung gegen die vorherrschende Geistesrichtung in der Korporation geraten. Sie entlud sich ohne ernstliche Reibung in unaufhörlichen Neckereien, die er sich mit großer Gutmütigkeit gefallen ließ, ebenso wie den Spitznamen Steppenhengst, den man ihm wegen seines Geburtslandes angehängt hatte. Mit einer eingehenden Untersuchung baltischer Gesteine nach der[122] eben von Zirkel in Leipzig ausgebildeten Methode der mikroskopischen Dünnschliffe hatte er sich einen akademischen Preis erworben. Der schon erwähnte Prologdichter besang dies Ereignis mit den Versen:


Lagorio hat große Pläne;

Er liebt es zügellos1 zu schweifen.

Das Livland ist ihm nicht genug,

Das ganze Rußland will er schleifen.


Er wurde etwa um dieselbe Zeit wie ich Assistent, und zwar am mineralogischen Institut und wir bezogen eine gemeinsame Wohnung zum Ausdruck unserer Freundschaft auf dem dauerhaften Boden gemeinsamer Interessen und Bestrebungen.

Der Prologdichter hat sich dann in der Folge als Prophet bewährt. Lagorio erhielt bald eine Berufung als ordentlicher Professor nach Warschau, wo er sich wissenschaftlich wie organisatorisch so auszeichnete, daß er nach Petersburg befördert wurde. Dort hat er sich sehr erhebliche Verdienste um den technischen und kunstgewerblichen Unterricht im ganzen russischen Reich erworben. Die Revolution von 1917 traf ihn in leitender Stelle als »Ministergehilfe«, etwa unserem Staatssekretär entsprechend. Um nicht mit den anderen ermordet zu werden, mußte er fliehen und alles im Stich lassen.

In Finnland fand er mit den Seinen unter drückendsten Verhältnissen Unterkunft. Von dort glückte endlich eine Übersiedlung nach Deutschland, wo er seine Kräfte der Entwicklung der Farbenlehre widmete und ihr erhebliche Dienste geleistet hat. Obwohl er älter ist als ich, hat er angesichts seiner Rüstigkeit alle Aussicht, mich zu überleben.

Die Musik. Durch meine ganze Dorpater Zeit hat sich als wirksames Gegengewicht gegen das alkoholnikotinische[123] Burschenwesen die Tonkunst erwiesen. Schon in meinem ersten Semester entdeckte ich in einem Winkel der Korporationsbücherei vier schwere, dauerhaft in Leder gebundene Bände Noten, die sich zu meinem Entzücken als die Stimmen der 83 Streichquartette Meister Haydns erwiesen. Ich nahm sie nach Hause und schrieb einige in Partitur, um mich an der thematischen Arbeit dieser feinen Musik zu erbauen. Hierbei überraschte mich gelegentlich der Korporations-Singmeister (Magister cantandi). Als ich ihm auf seine erstaunte Frage, was ich da treibe, meine Beschäftigung erklärt hatte, verurteilte er mich hernach in der Kneipe dafür zu einem großen Straftrunk, weil er es als bloße Rennomage ansah. Doch hatte diese öffentliche Verurteilung das Gute, daß andere Musikfreunde aus unserem Kreise sich mit mir in Verbindung setzten. Da ich mich als der Bratsche kundig erwies, wurde mir gesagt, daß als Korporationseigentum ein solches Instrument vorhanden sei. Es stellte sich heraus, daß eine wirklich recht brauchbare Bratsche ein vergessenes Dasein führte, die offenbar nur durch den ungemein festen Kasten, in den sie eingebettet war, der gelegentlichen Zerstörung durch trunkene Brüder widerstanden hatte. Zwei Geiger und ein Cellist hatten sich bald gefunden und an den Abenden, wo »nichts los war«, kamen wir zusammen, um Streichquartette bisweilen bis zum hellen Morgen zu spielen.

Man ließ uns zunächst nicht ohne Bedenken gewähren, da jede Absonderung und Gruppenbildung innerhalb der Bruderschaft verpönt war. Da wir uns aber bereit erklärten, auf Wunsch beim »Fuchstheater«, der in jedem Semester aufgeführten allgemeinen Kunstbetätigung mitzuwirken, konnten die Streichquartettabende als Vorbereitung darauf gelten und wurden nicht weiter beanstandet. Uns aber wurden sie eine Quelle warmer Freuden. Der Gegensatz, den die wunderzarten[124] Klänge eines Haydnschen Adagios mit dem rauhen Studentenleben bildeten, ließ uns jene besonders tief empfinden und bewahrte uns vor dem restlosen Aufgehen in diesem Treiben, dem wir so viele Landsleute völlig verfallen sahen.

So habe ich durch alle zehn Jahre, die ich als Student, Assistent und Privatdozent in Dorpat zugebracht habe, immer mein Streichquartett gehabt. Die anderen Stimmen wechselten jedesmal, wenn ihre Träger Dorpat verließen. Doch fand sich immer unter den nachkommenden Geschlechtern Ersatz, so daß ich, obwohl bald Mozart, Beethoven und andere Meister beschafft und gespielt wurden, schließlich alle 83 Quartette Haydns kennen gelernt hatte. Mich fesselte dabei die Beobachtung, daß dieser unerschöpfliche Meister in seinen Quartetten sich mehr harmonische und andere Neu- und Kühnheiten gestattet hat, als in allen anderen Werken, die ich von ihm hörte oder las.

Wissenschaftliche Entwicklung. Die freundliche Aufnahme, welche meine wissenschaftliche Arbeit gefunden hat, war mitbedingt durch den Umstand, daß ich der neuen Sache auch einen neuen Namen gegeben hatte. Volumchemische Studien hatte ich die Abhandlung betitelt, in bewußter Anlehnung an das Wort thermochemisch, das durch Thomsen in Aufnahme gebracht worden war. Ich hatte mich dabei durch philologische Bedenken, die mir ausgesprochen wurden, nicht stören lassen. Auch in späteren Abhandlungen benutzte ich das neue Wort, ohne von fachlicher Seite Widerspruch zu erfahren. Dies günstige Ergebnis hat mir Mut gemacht, auch späterhin wenn die Umstände es wünschenswert machten, zahlreiche neue Wörter zu schaffen und sie ohne weiteres in Gebrauch zu nehmen. Sie sind so gut wie alle ohne Widerstand angenommen worden, der nicht ausgeblieben wäre, wenn ich Fragen oder Zweifel ausgesprochen[125] oder gar den Allgemeinen deutschen Sprachverein um Beratung gebeten hätte.

In den Fliegenden Blättern, denen ich überhaupt eine Menge praktischer Lebensweisheit verdanke, habe ich dann später die Theorie hierzu in folgender Geschichte gefunden. Eine Gruppe Reisender hatte ein Kloster besichtigt und war nach Betrachtung der zahlreichen Merkwürdigkeiten endlich im Klosterbräustübel gelandet, um sich zu erfrischen. Einer fragt den diensttuenden Frater, ob man hier auch rauchen dürfe. »Noi, rauche derf ma net,« war die Antwort. »Aber von wem sind denn die vielen Zigarettenenden, die hier herumliegen,« fragte der Rauchlustige weiter. »Von die net g'fragt ham,« antwortete der Frater.

Also.

Die viele freie Zeit, welche mir mein Amt ließ, habe ich angewendet, um das in jener Anfangsarbeit aufgetane Gebiet in regelmäßige Arbeitspflege zu nehmen. Zunächst war begriffliche Arbeit zu tun, da die Berechnung meiner Messungen mittels der Zahlen für die Dichten, mit denen ich allgemeinem Gebrauch gemäß, gerechnet hatte, kein ganz klares Bild ergab. Ob es eine Frucht von Lembergs Schule war oder eigenes Bedürfnis, kann ich nicht mehr entscheiden; jedenfalls ließ mich diese kleine Trübung nicht ruhen, bis ich sie restlos aufgelöst hatte. Dies geschah durch die Einführung der Räume an Stelle der Dichten. In dem oben angegebenen Titel, Volum-chemische Studien hatte ich dies Ergebnis vorausgenommen.

Neben der begrifflichen steigerte ich auch die physikalische Genauigkeit, so daß meine Fehlergrenze über die fünfte Dezimale hinausrückte. Ein jüngerer Professor der mathematischen Physik, der mich mit siebenstelligen Logarithmen hantieren sah, wollte mich wegen unwissenschaftlicher Dezimalensucht auslachen, gemäß dem Wort [126] Bessels, daß man den Mangel an mathematischer Bildung an nichts sicherer erkenne, als an dem übermäßigen Gebrauch von Dezimalen. Ich antwortete, daß ich auch lieber eine sechsstellige Tafel benutzen würde, wenn ich eine hätte; die fünfstellige ergäbe aber eine willkürliche Verminderung der tatsächlich erreichten Genauigkeit. Dies war schon eine Frucht der Erziehung durch meinen Vorgesetzten Öttingen, der uns mit großer Sorgfalt die Fehlerkritik unserer Messungen beigebracht hatte. Ich habe übrigens in meiner ganzen späteren Laufbahn nie wieder mit so vielen geltenden Dezimalen zu tun gehabt.

Sodann erweiterte ich den Kreis der Säuren und Basen, die untersucht wurden und führte ein breit angelegtes Programm mit sehr zahlreichen Messungen durch, die mehrere Monate angestrengter Arbeit kosteten. Obwohl der technische Anteil daran durch die beständige Wiederholung gleichartiger Messungen eintönig erschien, habe ich doch nie Langeweile deshalb empfunden. Denn mit jedem neuen Stoff erschienen neue Fragen, deren Beantwortung mit Spannung erwartet und mit Genugtuung aufgezeichnet wurde. So hatte sich das Verhältnis zwischen Arbeitsaufwand und Ergebnis, dessen Einseitigkeit mich bei der ersten Mitteilung so unruhig gemacht hatte, hier auf seinen richtigen Wert eingestellt und ich unterzog mich mit Behagen der weit auslangenden täglichen Arbeit.

Der Arbeitsstil. Es hatte sich hier schon die Art herausgebildet, in welcher die große Mehrzahl meiner späteren Experimentalarbeiten durchgeführt worden sind, und deren durchgängige Betätigung in meinem Lebenswerk mein großer Arbeitsgenosse und Freund J.H. van't Hoff in seiner feinsinnigen Weise bemerkt und hervorgehoben hat. Sie besteht darin, daß zunächst für eine umfassende Fragestellung ein geeignetes Verfahren, zur Antwort[127] zu gelangen, aufgesucht und erprobt wird. Ist dies erreicht, so wird das Verfahren gleichartig auf eine möglichst große Anzahl Einzelfälle angewendet, um einen tunlichst weit reichenden Überblick über die ganze Angelegenheit an vergleichbarem Material zu gewinnen. Dadurch habe ich von allen meinen Fachgenossen vielleicht am meisten wohlgemessene Zahlenwerte veröffentlicht, ausgenommen meinen Schüler und Freund P. Walden, der mich in dieser Beziehung weit überholt hat. Und wo diese später geprüft worden sind, haben sie sich als frei von erheblichen Fehlern erwiesen. Dies danke ich meinen Lehrern Schmidt, Lemberg und Öttingen.

Fortschritte. Durch eine anschließende Untersuchung über die Wärmeausdehnung der untersuchten Lösungen konnte ich die Messung der Gleichgewichtszustände auf andere Temperaturen erweitern und gewann so ein breiteres Bild über die Betätigung der chemischen Verwandtschaft. Es hatte sich heraus gestellt, daß Salzsäure und Salpetersäure gleich stark sind, unabhängig von der Basis, auf die sie wirken. Mit größter Spannung hatte ich nun die Beobachtungen für die Frage angestellt und gesammelt, ob diese Gleichheit auch bei anderen Temperaturen von 0° bis 60° bestehen bleibt. Die Antwort konnte ich erst erhalten, nachdem ich wochenlang die Einzelmessungen ausgeführt hatte. An einem Nachmittag war die letzte Messung gemacht und ich konnte die Rechnungen anstellen. Mir war zu Mute, wie es Newton gewesen sein mochte, als er seine Theorie der Schwere an den neuen französischen Gradmessungen prüfen konnte. Bekanntlich ergriff ihn die Bedeutsamkeit des Augenblicks so stark, daß er außerstande war, die Rechnung zu vollenden und einen Freund bitten mußte, dies für ihn zu tun. Ich war noch jung und kräftig genug, die Erregung soweit zu bändigen, daß ich selbst[128] weiterrechnen konnte; auch war ein hilfreicher Freund nicht zur Stelle und wäre nicht leicht zu beschaffen gewesen. So traten schließlich aus den vielen Logarithmen die entscheidenden Endwerte hervor, die innerhalb der Versuchsfehler gleich sein mußten, wenn die vorgeahnte Entdeckung sich als zutreffend erwies. Sie waren gleich. Mein Herz schlug bis zum Halse, und ich kostete zum erstenmale das Schöpferglück des Entdeckers. Denn diesmal war es keine Nachbildung eines anderweit vorhandenen Gedankenganges in anderem, wenn auch eigenem Material, sondern eine neue, selbständige Frage, an deren Beantwortung sich, wenn sie im erwarteten Sinne ausfiel, erhebliche weitere Schlüsse knüpfen ließen. Der Vorstoß in das unbekannte Land hatte mit einem Sieg geendet. Damit fühlte ich mich für alle Zukunft der reinen Forschung geweiht und empfand das Ereignis als meine wissenschaftliche Mündigkeitserklärung.

Die Magisterpromotion. Es war natürlich, daß ich nun daran dachte, auch die äußeren Bedingungen für eine wissenschaftliche Laufbahn zu erfüllen. Die beschriebenen Arbeiten waren ausreichend, um den von der Fakultät sorgfältig hochgehaltenen Ansprüchen an eine Magisterdissertation zu genügen, wie mir Schmidt und Öttingen auf meine Anfrage eröffneten. So stellte ich die Ergebnisse zu einer geschlossenen Abhandlung zusammen, die ich liebevoll ausfeilte und tat die amtlichen Schritte, um meine Promotion in die Wege zu leiten. Dies geschah 1876, etwa zwei Jahre nach der Erwerbung des Kandidatengrades, in meinem 23. Lebensjahre.

Zur Promotion gehörte eine mündliche Prüfung, die sich aber nur auf einige Hauptfächer erstreckte und den Zweck hatte, den Betrag wissenschaftlicher Reife und Selbständigkeit festzustellen, über die der Kandidat verfügte. Sie vollzog sich in der Gestalt eines gemütlichen Gespräches. Karl Schmidt hatte als Vertreter des[129] Hauptfaches zuerst das Wort und fragte mich: »Wenn Sie ein Lehrbuch der Chemie schreiben wollten – was ich nicht hoffe – wie würden Sie es beginnen?« Der Gute! Er ahnte vielleicht schon dunkel, wie übermäßig ich die von ihm ausgesprochene negative Hoffnung täuschen würde. Mir aber war die Frage eine blitzartige Aufklärung, daß auch das Lehrbuchschreiben in der Richtung meines Lebensweges lag und daß ich daher auch solche Aufgaben ins Auge fassen mußte.

Der letzte Teil der Promotion bestand in der öffentlichen Verteidigung der Dissertation, welcher vorschriftsmäßig noch mindestens fünf Thesen aus anderen Teilen der Wissenschaft beizufügen waren. In der Aula war ein großes doppeltes Katheder aufgebaut, in dessen oberem Stockwerk der Dekan thronte, während unten der Kandidat schwitzte. Nach den drei amtlich eingeladenen Opponenten, die aus den Professoren vom Kandidaten gewählt waren und eine ernsthafte und tunlichst inhaltreiche Zwiesprache zu bewirken pflegten, konnte jedermann aus dem Zuhörerkreise sich an der Verhandlung beteiligen. Da solche Promotionen in meiner Fakultät recht selten vorkamen, waren sie noch nicht zu einer leeren Form entartet, sondern wurden von allen Beteiligten als eine allgemeine Angelegenheit von nicht geringer Bedeutung für die Universität angesehen. Meine Promotion dauerte zwei Stunden, statt der üblichen einen. Die Einzelheiten sind meinem Gedächtnis entschwunden; meine allgemeine Erinnerung ist eine angenehme, so daß ich annehmen darf, mich damals noch in der behaglichen Zeit allgemeinen Wohlwollens befunden zu haben, wo jeder sich freut, das Seine zur Förderung des hoffnungsvollen jungen Menschen beizutragen und die nie fehlende Mißgunst sich noch im Hintergrunde hält. Es sollte nicht immer so bleiben.

Der Privatdozent. Vorläufig hing mein Himmel noch voller Geigen. Durch die Erwerbung des Magistergrades[130] hatte ich die Rechte eines Privatdozenten erlangt. Dies bedeutete zweierlei. Erstens hatte ich für das kommende Semester eine Vorlesung anzuzeigen und auszuarbeiten. Zweitens wurde ich von nun an regelmäßig als Gast zu den Dozentenabenden eingeladen, welche einen großen fördernden Einfluß auf meine wissenschaftliche Entwicklung ausübten.

Die Dozentenabende fanden in den Wohnungen der älteren Mitglieder statt, die über eine geeignete Häuslichkeit verfügten. Es waren Angehörige der physikomathematischen und der medizinischen Fakultät, die sich vereinigt hatten, um die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeiten einem sachkundigen Kreise vorlegen zu können. Man kam einmal monatlich zusammen, nahm zunächst den Vortrag entgegen, besprach ihn und setzte sich dann zu einem einfachen Essen nieder, dessen Speisen und Getränke ein für allemal so bestimmt waren, daß auch die nicht wohlhabenden Mitglieder sie ohne Beschwerde bestreiten konnten. Nach dem Essen blieb man bei einem leichten Getränk noch einige Zeit zusammen. Das Gespräch nahm freiere Bahnen und hier schlossen sich gleichgestimmte Geister näher aneinander. Der Ton war bemerkenswert frei von offizieller Steifheit. Denn da die akademischen Titel und Würden – was in Deutschland Geheimer Regierungsrat, in Österreich Hofrat hieß, war dort Wirklicher Staatsrat und Exzellenz – von der Petersburger Regierung erteilt wurden, verachtete man sie aufrichtig, benutzte sie nicht im Verkehr und überließ ihre Anwendung den Pedellen und anderen unteren Universitätsbeamten. Auch die Studenten wurden angehalten, sich auf die Anrede: Herr Professor zu beschränken.

Auf diesen Dozentenabenden habe ich meine Forschungsergebnisse zuerst einzeln mitgeteilt in dem Maße, wie ich sie erlangte. Der jeweilige Gastgeber pflegte mich bald mit der Anrede zu begrüßen: Was bringen sie uns[131] heute Neues? Und bei der Aussprache hernach habe ich sehr viel gelernt.

Mich haben diese Zusammenkünfte sehr glücklich gemacht. Vor wenigen Jahren noch waren meine persönlichen Beziehungen auf den engen Kreis der Familie beschränkt gewesen, der durch die Familien meiner Schulfreunde, in die ich gelegentlich gelangte, nur wenig erweitert wurde. Die Studentenjahre brachten den Sprung in die viel grössere Gesellschaft der Korporation unter gelegentlicher, aber seltener Berührung mit der weiteren Studentenschaft. Nun war ich aber als Gleicher unter Gleichen in den Kreis der ersten wissenschaftlichen Häupter des Landes aufgenommen, von denen mehrere europäischen Ruf besaßen. So lehrte damals in Dorpat der Chirurg Ernst von Bergmann, der seine Wissenschaft hernach in Berlin so glänzend vertreten hat. Als Physiologe wirkte Alexander Schmidt, zum Unterschied von seinem chemischen Namensvetter und zum Gedächtnis an seine grundlegenden Forschungen über die Gerinnung des Blutes, der »Blutschmidt« genannt. Karl Schmidt und Öttingen sind hier gleichfalls zu nennen.

Von den vielen Zusammenkünften, an denen ich etwa sechs Jahre habe teilnehmen dürfen, ist mir eine besonders in Erinnerung geblieben, wenn auch nicht wegen ihres wissenschaftlichen Inhaltes. Wir waren bei dem jungen Astronomen Backlund versammelt, der sich hernach auf der Sternwarte in Pulkowa einen angesehenen Namen erworben hat und der Kreis war daher vorwiegend mathematisch. Diese Wissenschaft war in Dorpat durch zwei Ordinarien von sehr verschiedener Eigenart vertreten, die Professoren Helmling und Minding, beide in vorgeschrittenem Alter. Helmling war ein guter Lehrer, kam aber wissenschaftlich nicht sehr in Betracht, während Minding ein bedeutender Mathematiker von großem Scharfsinn war. Im übrigen war Helmling ein stets[132] lächelnder, beleibter Mann mittlerer Größe mit rundem, kahlen Schädel, runden Backen und Augen, runden Brillengläsern, dabei ein wenig was man in Studentenkreisen ein Sumpfhuhn nennt: dem Alkohol mehr als billig ergeben und sehr anspruchslos in geistiger Beziehung, wenn er am Zechtisch saß. Auf den offiziellen Kommersen, mit denen die Korporationen das Semester begannen oder schlossen, war er ein nie fehlender Gast, der die Sitzung regelmäßig auf folgende Weise eröffnete. Er nahm den Begrüßungsschnaps feierlich entgegen, trank ihn wie üblich mit einem Schwunge aus und sagte befriedigt: »Man wird doch gleich ein anderer Mensch, wenn man einen Schnaps getrunken hat.« Und dann fügte er nach einigen Augenblicken hinzu: »Warum soll der Andere nicht auch einen kriegen?« und ließ sich einen zweiten Schnaps einschenken. Dies vollzog sich mit der Regelmäßigkeit einer Sonnenfinsternis, so daß sich jedesmal die neuen Füchse um ihn zu scharen pflegten, um den berühmten Vorgang auch ihrerseits zu erleben.

Minding war ein ganz anderer Mensch. Klein und mager, mit ziegelrotem Gesicht und schneeweißen Haaren, der Kopf eingefaßt von zwei weit herausstehenden »Vatermördern«, die ebenso spitz waren wie seine Nase, sehr zurückhaltend in seinem Benehmen und nur mit seiner Wissenschaft beschäftigt, erschien er ebenso abstrakt wie diese. Dabei war er im Grunde eine gütige und hilfsbereite Natur, die nur schwer aus sich herauskam.

Nun hatte Backlund, der aus Schweden stammte, sich für den Abend mit einem reichlichen Vorrat seines heimischen Punschs versehen, der aus Neugier bereits vor der Zeit der Geselligkeit gekostet wurde und den alten Herren vorzüglich schmeckte. Bei der Nachsitzung war Helmling in der Stimmung, in der man nicht davor zurückschrickt, auch die ältesten Geschichten zu erzählen, während der alte Minding von dem ungewohnten[133] Getränk in einen leichten Schlummer gefallen war. So rief Helmling aus: »Jetzt kommt aber etwas mathematisches dran.« Minding hatte bei diesem Wort die Augen geöffnet, da er aber sah, daß Helmling sprach, fielen sie ihm gleich wieder zu. Helmling fuhr fort: »Es war ein Schiff, das war fünfundachtzig Fuß lang und einundzwanzig Fuß breit: wie alt war somit der Kapitän?« Die jüngeren Dozenten lachten höflich zu diesem uralten Witz und Minding wachte plötzlich auf mit dem dunklen Gefühl, daß er nun auch eine Geschichte erzählen müsse. »Also,« sagte er, »da muß ich Ihnen doch auch etwas vortragen. Es war ein Schiff, das war fünfundachtzig Fuß lang und einundzwanzig Fuß breit: wie alt war dann der Kapitän?« Es brach alsbald ein donnerndes Gelächter los und der alte Herr schaute ganz hilflos um sich, denn auf einen derartigen Erfolg des gewohnten Scherzes war er nicht gefaßt gewesen.

Das duale Harmoniesystem. Die Hingabe an die wissenschaftliche Forschung hinderte mich nicht, die geliebte Musik weiter zu pflegen. Zwar war es eigentlich eine unglückliche Liebe, wie sie im Buche steht: ich liebte sie, aber sie liebte mich nicht. Ich konnte mir nicht verhehlen, daß ich im Quartett zwar der sicherste Theoretiker, aber der unsicherste Streicher war, und daß dies sich im Lauf der Zeit nur wenig besserte, selbst wenn ich mich von Zeit zu Zeit aufraffte und täglich nach den Vorschriften einer Bratschenschule übte. Denn die Schärfe des Gehörs fehlte mir, die dem Geiger so nötig ist.

Zunächst fand der Theoretiker in mir ein reiches Feld der Betätigung. Ich habe schon erzählt, daß Öttingen in jungen Jahren ein Buch: Das duale System der Harmonie geschrieben hatte, in welchem er grundlegende Entdeckungen mehr versteckt als veröffentlicht hatte. Nachdem ich als Assistent mit ihm in täglichen Verkehr getreten war, er fuhr er bald von meiner Musikfreude, gab[134] mir sein Buch zu lesen und erläuterte mir, was ich nicht recht verstand. Ich fand in seinen Gedanken eine Betätigung jener reinen, klar in sich geschlossenen Wissenschaft, die mir als halb unbewußtes Ideal vorschwebte und vertiefte mich mit Begeisterung in das Studium seiner Harmonielehre, die mir als ein großer Fortschritt gegenüber der gebräuchlichen erschien. Denn diese war nicht viel mehr als eine Sammlung teils erfahrungsmäßiger, teils willkürlicher Regeln, mit deren wissenschaftlicher Begründung es sehr dürftig aussah.

Öttingens Lehre zeigte dagegen, wie die tatsächlich maßgebenden Regeln sich als Anwendungsfälle einiger einfacher und einleuchtender Grundsätze ergaben.

Diese lebendige Teilnahme, welche er bisher nur sehr spärlich erfahren hatte, regte Öttingen seinerseits zu neuer Betätigung an. Ich hatte ihm nicht verhehlt, welche Schwierigkeiten sein Buch dem Leser machte. Er selbst sah, nachdem anderthalb Jahrzehnte über die erste Fassung seiner Gedanken vergangen waren, viel klarer in die Zusammenhänge. So beschloß er, über seine Lehre eine öffentliche Vorlesung zu halten, zu der sich bei der sehr verbreiteten Freude an der Musik in Dorpat, zahlreiche Hörer, vorwiegend Damen einfanden. Mich beauftragte er, eine Anzahl Anschauungstafeln für die wichtigsten Verhältnisse herzustellen. Es war dies einer der seltenen Fälle, wo er die Hilfstätigkeit, zu der ich amtlich verpflichtet war, außerhalb der gewöhnlichen Fachvorlesung in Anspruch nahm. Ich habe die Blätter noch viele Jahre später, als uns das Schicksal in Leipzig wieder zusammengeführt hatte, in seinem Besitz gesehen.

Der Orchesterverein. Auch nach der praktischen Seite betätigte sich die musikalische Periode, in die Öttingen eingetreten war. Er gründete einen Akademischen Orchesterverein, der am Sonntag nachmittag sich in der Aula versammelte und Musik machte. Den Grundstock bildete[135] die kleine Stadtkapelle, die sich in Dorpat hielt, um bei offiziellen Gelegenheiten, namentlich Beerdigungen, mitzuwirken. Ergänzt wurde sie durch eine ziemlich große Anzahl musikbeflissener Professoren und Studenten, welche die Reihen auffüllten. Öttingen war ein guter Kapellmeister und wußte mit den mäßigen Mitteln recht erfreuliche Wirkungen zu erzielen. So brachte er unter anderem eine wirksame Aufführung der dritten Symphonie von Beethoven zustande; nur die schwierigen Hornstellen im Trio des Scherzo wollten nicht immer glücken.

Da kein Vertreter des Fagott vorhanden war, beschaffte er das Instrument und eine Schule dafür, und beauftragte mich kurzerhand, es ohne Lehrer zu erlernen. Ich war höchst bereitwillig und nahm die Übungen am Nachmittag vor, wo außer mir keine lebende Seele im Institut war; im chemischen Laboratorium unterhalb, wo Schmidt und Lemberg ihr geräuschloses Wesen trieben, war gleichfalls niemand sonst anwesend. Bald darauf fragte mich Schmidt, ob ich meine bisherigen Arbeiten verlassen und mich akustischen Studien hingegeben hätte, da er tagaus, tagein von oben die sonderbarsten Heultöne vernahm. Ich klärte ihn auf, er aber schüttelte den Kopf und meinte, ich möchte doch lieber bei meinen bisherigen Arbeiten bleiben.

Immerhin bewältigte ich die Anfangsgründe des seltsamen und schwierigen Instruments so weit, daß Öttingen mich im Orchester mitblasen ließ. Als ich aber einmal die schönen Bläserakkorde in der Egmontouvertüre unmittelbar vor dem Allegro con brio durch einen verunglückten Einsatz verdorben hatte, pflegte er mir in Fällen wo es darauf ankam zu sagen: »Lassen Sie doch lieber Ihre Stimme vom Cello spielen.«

Die Anfänge des Lehrbuchs. Mit der Erwerbung des Magistergrades war wie erwähnt, die Berechtigung verbunden, an der Universität Vorlesungen zu halten. Ich[136] kündigte ein zweistündiges Kolleg über physikalische Chemie an und begann mich darauf vorzubereiten.

Der Name für dies Fach war bereits vorhanden und bekannt; er ist wohl durch den Titel Lehrbuch der Physikalischen und Theoretischen Chemie geschaffen worden, den das älteste Werk dieses Faches, der 1857 von Buff, Kopp und Zamminer geschriebene Einleitungsband von Ottos deutscher Ausgabe des Lehrbuchs der Chemie von Graham erhalten hatte. Allerdings stellt der Teil, dem der erste Name zugeteilt ist, nur ein für den Bedarf des Chemikers angepaßtes Lehrbuch der Physik und Krystallographie dar, während der von Hermann Kopp geschriebene Teil, welcher der heutigen Physikalischen Chemie entspricht, Theoretische Chemie genannt wird. Er ist 287 Seiten lang und behandelt beide Gebiete, die man heute als Stöchiometrie und Verwandtschaftslehre bezeichnet, dazu aber noch die Fragen nach der chemischen Konstitution, die man hernach als das Hauptproblem der organischen Chemie ansah.

Außer diesem gediegen und klar geschriebenen Buche, das aber damals schon 20 Jahre alt und somit veraltet war, gab es kein zusammenfassendes Werk, denn der erste, von A. Naumann verfaßte Band des Handbuches von Gmelin-Kraut, welcher die allgemeine und physikalische Chemie behandelt, erschien erst kurz hernach, im Jahre 1877.

Es galt also, selbst das Material für die Vorlesungen zusammenzutragen und ich entschied mich kurz, die ganze mir zugängliche Bücherwelt daraufhin durchzuarbeiten. Dies war mir dadurch möglich, daß ich in den beiden Instituten, wo ich heimisch war, dem chemischen und dem physikalischen, vollständige Reihen der in Betracht kommenden Zeitschriften zu beliebigem Studium vorfand. Ich sah die Inhaltsverzeichnisse auf alle Abhandlungen durch, die in Betracht kommen konnten,[137] schrieb deren Titel auf kleine Zettel und hatte nach einigen Monaten unausgesetzter Arbeit eine Kartei in Händen, die sich nach Gegenständen ordnen ließ und mir ein einigermaßen geregeltes Studium des Schriftwesens in meinem Fache möglich machte.


Natürlich begann ich, wie jeder werdende Dozent, die Vorlesung in der Form, wie ich sie zu halten gedachte, schriftlich auszuarbeiten. Aber ich hörte bald damit auf, weil mir das zu langsam ging und ich mir zutraute, unter dem Sprechen die Form für das, was ich zu sagen hatte, leicht zu finden. Viel wichtiger und auch interessanter schien es mir, zunächst mir einmal einen vollen Überblick über das zu verschaffen, was in dem Gebiete überhaupt vorhanden war. So legte ich nach meinen Zetteln Papierstreifen in die Bände, welche die zu lesenden Abhandlungen leicht finden ließen und las nun frisch darauf los, wie der Zufall es ergab. Ich durfte meinem ganz vorzüglichen Gedächtnis zutrauen, daß ich alles Wesentliche behalten würde. Und jene wohltätige Einrichtung im wissenschaftlichen Gehirn, durch welche selbsttätig Ähnliches sich an Ähnliches schließt, bewirkte, daß das, was ich wie Kraut und Rüben durcheinander aufgenommen hatte, nach einiger Zeit zu großen gut übersehbaren Massen zusammengeronnen war. So begann ich in der ersten Vorlesung, die ich halten durfte, jene Arbeit der Ordnung und des organischen Aufbaus, welche andere wie ich als den wichtigsten Anteil betrachten, den für meine Wissenschaft beizutragen mir gegeben war.


Ein halbes Dutzend Zuhörer, die bis zum Schlusse aushielten, stellten den äußeren Erfolg meiner Lehrtätigkeit dar. Der innere war die Sicherheit, daß ich nun das Gesamtgebiet meiner Wissenschaft überschauen und mich mit Ruhe der Vertiefung in die Einzelgebiete hingeben konnte.

[138] Die Doktorpromotion. Da nun kein Zweifel mehr daran bestand, daß ich meine Zukunft im akademischen Lehramt zu suchen hatte, war die nächste Aufgabe, auch die letzte Voraussetzung dazu zu erfüllen: die Erwerbung des Doktorgrades. Die Fortführung meiner volumchemischen Arbeiten und eine entsprechende Untersuchung auf Grund der Lichtbrechungsverhältnisse meiner Lösungen gab mir das Material dazu. Entsprechend der höheren Stufe, die ich anstrebte, hatte die eingereichte Abhandlung mehr zu leisten, als die Magisterschrift. Sie brachte über 600 genaue Messungen von Dichten und Brechungswerten und als Hauptergebnis eine Tabelle über die Verwandtschaftsgrößen, die sich auf alle Säuren erstreckte, die mir und meinem Verfahren zugänglich waren; es waren zwölf. Da sie die erste zahlenmäßige Tabelle dieser Art war, aus der sich bereits einige von den Gesetzen erkennen ließen, denen diese Werte unterworfen sind, hat sie ein gewisses geschichtliches Interesse. Zu Ende des Jahres 1878, ein Jahr nach der Magisterpromotion fand die zweite öffentliche Disputation und darauf die feierliche Promotion zum Doktor der Chemie statt. Mit einem gewissen Bedauern sah ich für immer die Gelegenheit schwinden, ein Examen zu machen. Denn seit meiner Abgangsprüfung von der Schule hatten mir diese von den meisten gefürchteten Vorgänge zunehmend mehr Vergnügen gemacht. Daß sich mir nun alle Möglichkeiten für die äußere Gestaltung meiner Schicksale aufgetan hatten, war mir inzwischen wichtiger geworden, als ich noch vor kurzem gedacht hatte. Allerdings lag diese Wichtigkeit nicht gerade in der Linie meiner wissenschaftlichen Entwicklung.

Analyse von Kunstwerken. Öttingens Vorträge über sein Harmoniesystem hatten in weiteren Kreisen Interesse erregt und er wurde gebeten, Sonderkurse für solche zu halten, die sich genauer mit ihr bekannt machen[139] wollten. Ich hatte alsbald das gewohnte Verfahren der organisierten Massenarbeit auch auf diesen Fall angewendet und unter anderem die harmonische Analyse aller Klaviersonaten Beethovens durchgeführt. Zweifelhafte Fälle legte ich meinem Lehrer vor und wir haben oft hitzig über ihre Deutung gestritten, zuweilen sogar ohne uns einigen zu können, wenn auch im allgemeinen die unabhängig ausgeführten Analysen gut übereinstimmten. Ich verdanke dieser Arbeit eine so genaue Bekanntschaft mit diesen herrlichen Schätzen, wie ich sie auf keine andere Weise hätte erreichen können.

Ein anderer folgenreicher Einfluß dieser Arbeiten war die Einsicht, daß von dem Werke des Künstlers, auch des höchsten und leidenschaftlichsten schon jetzt ein viel größerer Anteil der wissenschaftlichen Analyse zugänglich ist, als gewöhnlich geglaubt wird. Von den bisherigen Vertretern der Kunstwissenschaft (oder vielmehr dessen, was in Ermangelung eines besseren einstweilen so genannt wird) pflegt ja in allen möglichen Wendungen die Behauptung wiederholt zu werden, daß das Kunstwerk dem rechnenden Verstande unzugänglich sei und durch das Eingreifen der Wissenschaft nur beeinträchtigt werden könne. Dies trifft zweifellos für die bisherige Kunstwissenschaft zu, die fast ganz in dem primitiven Zustande der Kunstgeschichte verblieben ist. Ein Blick auf Baukunst und Kunstgewerbe in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit ihrem Zirkus der »historischen« Stile erläutert das Gesagte. Aber die Tatsache, daß diese Schädigung sich auf die genannten Kunstzweige beschränkt hat, während die Tonkunst durchaus nichts derartiges aufweist, läßt die Ursache dieser Verhältnisse erkennen. Die Tonkunst ist nämlich in wissenschaftlicher Beziehung viel weiter vorgeschritten, als die Bild- und Formkunst. Gegenüber dem großen sachlichen Inhalt der Tonkunstwissenschaft[140] in Harmonie- und Formenlehre, Kontrapunkt, Akustik usw. ist die Geschichte dieser Kunst naturgemäß stark in den Hintergrund getreten und kann daher durchaus nicht die gleichen üblen Wirkungen ausüben, wie in jenen Gebieten. Es bietet sich hier der Vergleich mit den Naturwissenschaften an, wo gleichfalls die Geschichte des Gebiets gegenüber den sachlichen Aufgaben nur eine ganz geringe Rolle spielt. Man pflegt diese Einstellung der Naturforscher als bedenklichen Mangel an Idealismus oder Bildung zu tadeln, doch mit Unrecht. Bedenkt man die großen Beträge von praktischem Idealismus, der sich bei ihnen in der Mißachtung körperlicher und geistiger Mühen, ja Gefahren äußert, wenn es gilt, wissenschaftlich belangreiche Ergebnisse zu gewinnen, so darf man nicht daran zweifeln, daß sie sich auch der nicht eben außerordentlich großen Mühe geschichtlicher Forschungen bereitwilligst unterziehen würden, wenn dabei nur etwas herauskäme, was der Mühe wert wäre. In dem Maße, als die wissenschaftliche Bewältigung des Gebiets geringer ist, nimmt die Wertschätzung der Geschichte desselben zu. Sie erreicht deshalb besonders hohe Werte in der Politik, welche die Vertiefung durch wissenschaftliches Denken ganz besonders schwer vermissen läßt.

So muß ich es als ein persönliches Glück ansehen, daß ich durch Öttingens Einfluß wieder in nahe Berührung mit der wissenschaftlichen Seite der Tonkunst, dieser wissenschaftlichsten aller Künste gebracht wurde. Es ist schon erzählt worden, daß ich Harmonielehre und Kontrapunkt schon vor meinen Studentenjahren getrieben hatte; einige von mir damals vertonte Lieder bezeugen, daß mir auch die Anwendung des Gelernten nicht fremd geblieben war. Auch hatte ich während meiner Studentenjahre eine Sinfonia erotica über ein bekanntes Studentenlied höchst leichtsinnigen Inhaltes geschrieben, die unter großem Jubel aufgeführt wurde. Aber erst[141] nachdem mich Öttingen mit den noch nicht oder erst unvollkommen gelösten Problemen des Gebietes bekannt gemacht hatte, konnte ich den großen Schritt von der schülermäßigen Aufnahme überkommener Regeln zum verstandesgemäßen Begreifen ihrer Gründe vollziehen, und damit die gewaltige Bedeutung der Wissenschaft für die Kunst ahnend erfassen.

Es ist schon bei früherem Anlaß erwähnt worden, daß alle Allotria, mit denen ich erhebliche Anteile meiner jungen Jahre scheinbar zwecklos ausgefüllt hatte, sich später als wertvolle Bestandteile für die geistigen Baulichkeiten haben verwenden lassen, deren Errichtung ich als die große Aufgabe meines Lebens bezeichnen darf. Daß aber diese instinktmäßig zusammengetragenen, lustigen Bruchsteine sich nachher als solid genug für so ernsthafte Zwecke erweisen konnten, lag wohl daran, daß ich sie schon damals nicht als Spiel behandelt, sondern so ernst, d.h. so wissenschaftlich genommen hatte, als ich es seiner Zeit ermöglichen konnte.

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Als Steppenhengst.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 142.
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