Viertes Kapitel.
Studentenjahre.

[72] Als Fuchs nach Dorpat. So fuhr ich im Januar 1872 im Alter von 181/2 Jahren unter Führung des »Fuchsoldermanns« mit einem Trupp anderer Rigascher Abiturienten nach Dorpat ab. Eine Eisenbahn dahin gab es nicht; man reiste mit Postpferden in sehr einfachen offenen Schlitten, durch Strohbündel notdürftig gegen Kälte geschützt, die man von innen durch reichliche Gaben Alkohol bekämpfte. Alle 20 Werst (oder Kilometer) gab es eine Poststation, wo Schlitten, Pferde und Kutscher gewechselt wurden. Bei guter Schlittenbahn nahm die Reise etwa 30 Stunden in Anspruch; bei schlechten Wegen konnte man bis zu drei Tagen unterwegs sein.

Schon die Hinreise entwickelte mir ein deutliches Bild von dem Studentenleben, das mich erwartete. Es stand ganz vorwiegend unter dem Zeichen des Alkohols. Sich zu betrinken, war keine Schande, sondern etwas Normales, fast eine Pflicht. Der »Oldermann« ging uns mit seinem Beispiel voran und seine Herde von Mulen (Mulus war man zwischen Abgangsexamen und Immatrikulation) bemühte sich, ihm nachzukommen. Stundenlang lag der Eine oder der Andere bewußtlos zwischen den Koffern im Schlitten und es war zum Erstaunen, daß dabei keine ernstlichen Unfälle geschahen. Ich war[73] durch meinen kräftigen Körper einigermaßen gegen die Vergiftung geschützt, so daß ich meine fünf Sinne zusammen behielt.

Durch meinen Freund war ich auf diese Lebensweise vorbereitet; Bier und stärkere Getränke hatte ich schon in meinen letzten Schülerjahren kennen gelernt. So sah ich es als eine natürliche Aufgabe an, mich diesem studentischen Leben anzupassen. In Dorpat angelangt, bezog ich mit einem Mediziner Hermann Meyer, einem guten aber nicht besonders begabten Jungen eine Studentenwohnung mit recht primitiver Einrichtung, was uns beide nicht weiter bekümmerte. Da die strenge Vorschrift bestand, die Kneipen um 10 Uhr zu schließen, pflegten die Kommilitonen das abendliche Gelage im »Fuchsquartier«, d.h. in der Wohnung eines der Füchse fortzusetzen, der dazu Bier und Tabak beschaffen mußte. Am ersten Abend schon ging es zu Meyer und mir. Die Gesellschaft war sehr groß und sehr angeregt, da eben der Abschied eines alten und beliebten Landsmannes nach bestandenem Examen gefeiert worden war. Mit erstaunten Augen sah ich das wüste Treiben und die ungeheuren Biermengen an, die vertilgt wurden. Gegen drei Uhr morgens wurde der Gefeierte bewußtlos, er »fiel ab«, wie der Fachausdruck lautete. Er wurde kurzerhand in mein Bett gelegt, die Gesellschaft zerstreute sich und mein unerwarteter Gast erleichterte seinen überfüllten Magen durch Ströme erbrochenen Biers.

Da draußen eine Kälte von –20° herrschte, konnte ich nur kurz lüften. Ich richtete mich auf dem Sofa, das in keiner Studentenbude fehlte, notdürftig zum Schlafen ein. Beim ersten Morgengrauen erwachte ich gleichzeitig mit dem Gast, mit dem ich am Abend vorher nicht bekannt geworden war. Ich beobachtete, wie er sehr verstört aufstand und ziemlich lange Zeit brauchte, bis er wußte, wer und wo er war. Dann spuckte er zornig[74] in die Bescherung hinein, die er im Bett und daneben angerichtet hatte, suchte Mantel und Mütze und ging davon, ohne ein Wort zu sagen. Ich habe ihn später kennen gelernt und wir sind recht gute Freunde geworden.

Ich war darüber wieder eingeschlafen. Als ich von neuem erwachte und zögernd die Augen öffnete, da ich wenig Lust hatte, die Wüstenei wieder anzusehen, war ich erstaunt, nichts davon vorzufinden. Inzwischen war die Aufwärterin, eine kräftige ältere Estin, die mit der Wohnung zusammen gemietet worden war, dagewesen, hatte die Spuren des nächtlichen Gelages beseitigt, das Bett frisch bezogen, das Zimmer gesäubert und die Kaffeemaschine aus Weißblech, die in keinem studentischen Haushalt fehlte, in Betrieb gesetzt, so daß der frische Duft des Kaffees den abgestandenen Tabaksgestank, der an allen Gegenständen haftete, wohltätig überdeckte. So brachte auch ich mich wieder in Ordnung und erfrischte meine brennenden Augen in dem eiskalten Wasser der Waschschüssel. Mittlerweile war auch Freund Meyer aufgewacht und bald saßen wir am Frühstückstisch und besprachen aufgeregt die Ereignisse des vergangenen Abends.

Ich muß bekennen, daß ich ziemlich erschrocken über diese erste Probe meines bevorstehenden Lebens war und mich darüber alsbald mit meinem erfahrenen Freunde Seeck aussprach. Er beruhigte mich, daß dies ein besonderer Fall gewesen sei, da nicht alle Tage ein alter Landsmann verabschiedet würde. Zu Mittag fand das feierliche Komitat statt, wo der scheidende Frater, umgeben von den »Chargierten« mit Schärpe und Hieber, vor sich die Korporationsfahne, hinter sich die ganze Korporation unter dem gemeinsamen Gesange: Bemooster Bursche zieh ich aus, Behüt dich Gott, Philisterhaus, Zur alten Heimat geh ich ein, Muß selber nun[75] Philister sein usw. durch die Stadt bis zur Post zog, um in letzter Rede und Gegenrede den Burschenjahren Valet zu sagen. Mein leicht bewegliches Gemüt wurde durch die Poesie dieses Vorgangs lebhaft ergriffen und machte mich gern willig, das am vorigen Abend Erlebte als einen zwar unangenehmen, aber notwendigen Teil des mannigfaltigen Burschenlebens anzusehen.

An einem der nächsten Tage fand die Immatrikulation der neuen Studenten statt, durch welche wir endgültig in diesen Stand aufgenommen wurden. Rektor war damals der Ophthalmologe Georg von Öttingen, einer der drei Brüder Öttingen (der andere war Theolog, der dritte Physiker), die damals an der Universität eine ausschlaggebende Rolle spielten. Während früher der Rektor von der Regierung ernannt worden war – der letzte »Kronsrektor« war mein Schuldirektor Haffner gewesen, dem von diesem Amte her der Titel Exzellenz anhaftete – war vom Kaiser Alexander II. der Universität das Recht der Rektorwahl verliehen worden, was dann unmittelbar zu einer erheblichen wissenschaftlichen Blüte der Universität geführt hat. Denn auch die Berufungen waren in die Hand der Professorenversammlung gelegt worden und die Regierung hatte sich nur das Recht der Bestätigung vorbehalten, die selten versagt wurde. G. von Öttingen war einer der ersten Wahlrektoren gewesen. Er führte ein strammes Regiment und dämmte allzu explosive Äußerungen der überschäumenden Jugendlust durch Karzerstrafen. Eines seiner Opfer hatte rachedurstig an die Wand seiner Zelle das Zitat aus H. Heines Harzreise über Göttingen geschrieben: »G. Öttingen sieht man am besten mit dem Rücken an.« Der Rektor fand den Scherz gut und ließ die Inschrift bestehen; sie wurde viele Jahre lang den freiwilligen wie unfreiwilligen Besuchern des Karzers vorgewiesen.

[76] Korporationsleben. Inzwischen hatte auch unsere Einführung in das studentische und korporative Leben durch den Fuchsoldermann stattgefunden. Die Satzungen der Fraternitas wurden uns vorgelesen, soweit sie für den weiteren Kreis der schwarzen Mützen in Betracht kamen und unser tägliches Leben wurde geregelt. Darnach hatten wir um 10 Uhr vormittags in der Kneipe anzutreten und blieben dort bis Mittag gegen 1 Uhr. Der Nachmittag war frei, wenn nicht eine kleinere Gesellschaft sich im Fuchsquartier zu einer Nachmittagsbowie ansagte. Um 7 Uhr war Fuchstee, eine besonders hübsche Einrichtung. Auch die älteren Studenten pflegten mit einem oder zwei Freunden die Wohnung zu teilen. Da zudem meist mehrere selbständige Studentenwohnungen sich unter dem gleichen Dach befanden, so vereinigten sich oft etwas größere Gruppen zu gemeinsamen Mahlzeiten am Abend. Hier nun war es die Regel, daß für einen Fuchs oder für einige, je nach der Größe der Gruppe, ein Platz und Gedeck offen gehalten wurde. Von dieser Pflicht waren nur solche ältere Studenten befreit, welche wegen bevorstehenden Examens ihre Zeit zurate halten mußten.

Wir Füchse hatten das Recht, kurz vor Sieben in solchen »Burgen«, wo es Fuchstee gab, vorzusprechen und anzufragen, ob noch ein freier Platz vorhanden war. Traf dies zu, so war man ohne weiteres Gast, anderenfalls fragte man in der nächsten Burg an. Da die Zahl der Plätze die der Füchse reichlich übertraf, fand man in der Regel bald Unterkunft.

Da bei diesen Zusammenkünften ausnahmsweise kein Bier getrunken wurde, sondern Tee, so hatten sie auch einen wesentlich anderen Charakter. Es war dies die Gelegenheit, wo allgemeine Interessen, Poesie, Musik, Kunst im allgemeinen, Weltanschauung, Philosophie und zuweilen auch Wissenschaft besprochen wurde.[77] Hier lernten die älteren Studenten die feinere Seite der Füchse kennen und hatten ihrerseits Gelegenheit, in solchem Sinne auf diese einzuwirken. Durch den Zufall des täglichen Rundganges kam im Laufe des Semesters jeder mit jedem mehrfach in Berührung und das genauere gegenseitige Kennenlernen, das die Voraussetzung für das gedeihliche Zusammenleben der Korporation war, konnte hier ohne den Nebel der alkoholischen Vergiftung vonstatten gehen. Tatsächlich habe ich beim Fuchstee bei weitem die angenehmsten Stunden meines ersten Jahres in Dorpat erlebt und das Material für das Wenige an Menschenkenntnis gesammelt, mit der ich hernach auskommen mußte.

Vom Fuchstee ging es wieder in die Kneipe und von dort um 10 Uhr ins Fuchsquartier. Auch hier wurde ein ziemlich regelmäßiger Umlauf eingehalten, so daß die Belastung einigermaßen gleichförmig sich verteilte.

Wie man sieht, war die Organisation unseres Burschenstaats ziemlich kommunistisch, was die Schätze anlangt, welche die Motten und der Rost fressen; persönlich herrschte dagegen eine strenge Rangordnung. Die den Füchsen obliegenden Lieferungen von Bier und Tabak für die nächtlichen Gelage bedingten einen Aufwand, der in fast allen Fällen den Semesterwechsel des Einzelnen weit überstieg. Die Kaufleute gewährten aber ohne Schwierigkeit Kredit, so daß der Korporationsstudent bereits im ersten Semester die Grundlage der Schuldenlast zu beschaffen pflegte, mit deren Abtragung er hernach oft lange Zeit zu tun hatte.

Der soziale Aufbau war einerseits nach dem Studienalter, andererseits nach der Zugehörigkeit zum engeren oder weiteren Kreis geregelt. Nach unseren Satzungen waren die einzigen Vorbedingungen zum Eintritt die, daß der Bewerber »Christ und immatrikuliert« sei. Eine akademisch gebildete Judenschaft gab es in Riga kaum;[78] auch wurde der erste Punkt nicht streng inne gehalten. Von einem methodischen Antisemitismus war überhaupt zu jener Zeit noch nichts vorhanden. Der eingetretene Fuchs war »Fechtbodist«, nahm an allen geselligen Zusammenkünften teil, war aber vom Konvent des engeren Kreises, der gesetzgebenden Versammlung, ausgeschlossen. Ein Abzeichen seines Anschlusses an den Verband trug er nicht. Nach einer Prüfzeit, die mindestens ein Semester dauerte, konnte er zur »Aufnahme« vorgeschlagen werden; zum Beschluß gehörte eine Zweidrittelmehrheit. Den Vorschlag pflegte ein älterer »Landsmann« zu machen, der dem Kandidaten besonders nahe stand und blieb. Als Mitglied des engeren Kreises erhielt der zum Landsmann Aufgenommene mit der bunten Mütze und dem Farbenbande Zutritt zu den Konventen und wurde für die Ämter wahlfähig, soweit sein Burschenalter dies erlaubte.

Das Burschenalter beherrschte den geselligen Verkehr. Zum Biertrinken gehörten immer zwei. Der Ältere füllte das Glas, das nur etwa ein Fünftel Liter faßte und sagte dem ausgewählten Jüngeren, mit dem er trinken wollte: »Ich steige dir vor«, trank das Glas zur Hälfte leer und reichte es dann dem Anderen, der es mit einem »Prosit« vollends leerte. Nur bei vertrautem persönlichen Verhältnis konnte die Reihenfolge umgekehrt werden. Hatte einer etwas gesagt oder getan, was Mißbilligung hervorrief, so verurteilte ihn ein Älterer zur Leerung eines ganzen Glases. Dies wurde aber alsbald eine soziale Angelegenheit, denn der Verhängende mußte mit lauter Stimme den zugehörigen Strafgesang anstimmen, der wieder genau nach dem Burschenalter abgestuft war. Bei den Füchsen hieß es: Der Fuchs, der hat Verschiß gemacht, drum wird er billig ausgelacht. Die höheren Jahresklassen hießen: junges Haus, altes und bemoostes Haus; und der Gesang lautete: z.B. »Unserem alten[79] Hause, unserem alten Hause ist ein scheußlich Pech widerfahren. Zieh, Schimmel zieh.« Der Jüngere hatte dem Älteren gegenüber keine Strafgewalt, er mußte sich gegebenenfalls durch das Wort seiner Haut wehren. War der Fall darnach, so griff wohl auch ein noch Älterer ein und verurteilte seinerseits den unbillig Angreifenden zu einem »Pech«. Auf solche Weise gelang es ganz gut, den Auswüchsen der Streitlust, die sich so leicht unter jungen, oft berauschten und höchst selbstbewußten Menschen betätigt, im Entstehen vorzubeugen.

Einen Mensurzwang gab es nicht, wohl aber einen regelmäßigen Besuch des Fechtbodens, auf dem mit stumpfen Rappieren gefochten wurde. Scharfe Mensuren waren auf den Ernstfall beschränkt. Sie kamen ziemlich selten vor und durften nur nach eingehenden Verhandlungen vor einem mit den angesehensten und vertrauenswürdigsten Burschen besetzten Ehrengericht unter dessen Zustimmung ausgefochten werden.

Die Erklärung eines Teils, daß er grundsätzlicher Gegner des Duells sei, war ausschlaggebend für das Vorschreiben einer mündlichen Genugtuung seitens des Beleidigers. Pistolenduelle kamen kaum je vor und wurden dann meist außerhalb Dorpats erledigt.

Die Wissenschaft. Was das Studieren anlangt, so wurde uns Füchsen immer wieder erklärt, daß das Einleben in den Geist und das Wesen der Fraternitas für uns das Allerwichtigste sei. Man müsse sich dieser Aufgabe ungeteilt widmen und so sei der Besuch der Vorlesungen als schädliche Ablenkung hiervon eher zu vermeiden. Studieren könnten wir hernach, nachdem wir uns in der »goldenen Burschenzeit« einen Schatz von schönen Erinnerungen für unser späteres Philisterleben gesammelt hätten. Obwohl mir diese Lehre nicht recht einleuchten wollte, da ich dachte, daß jede Lebenszeit ihre eigenen Freuden bringen müsse, für welche schöne Erinnerungen[80] nur ein unzulängliches Surrogat wären, und obwohl mich andererseits darnach verlangte, die vielgeliebte Wissenschaft nun aus erster Quelle zu genießen, ließ ich mich doch zunächst durch das einstimmige Urteil meiner Umgebung leiten. Denn da ich im engen häuslichen Kreise aufgewachsen war, fast ohne Zutritt zu irgendwelcher weiter reichenden Geselligkeit zu haben, imponierte mir der große selbstbewußte Kreis gewaltig, in den ich mich so plötzlich versetzt sah.

Die Söhne der ersten Familien der Stadt, des regierenden Bürgermeisters, der Ratsgeschlechter, der höchsten Würdenträger der Landeskirche saßen hier auf derselben Bierbank mit den Kindern von Kaufleuten; Handwerkern und anderen namenlosen Leuten, ohne daß ihnen ihre günstigere Abstammung zu besonderem Vorteil gereichte. Hier wurde der Träger eines der ersten Namen der Stadt unbarmherzig gehänselt, weil er bei einer Rede im Konvent plötzlich den Faden verloren hatte und sich beschämt setzen mußte, dort beherrschte der Sohn eines kleinen Branntweinhändlers überlegen seine Umgebung, die er an Witz und Willenskraft überragte. Denn so genau sich die regierende Oberschicht meiner Vaterstadt gesellschaftlich von den anderen Ständen absonderte: der Student, wenn er in den engeren Kreis aufgenommen war, galt überall als gesellschaftlich gleichberechtigt. Und gab sich eine besondere Begabung auf der Universität zu erkennen, so sorgte jene Schicht dafür, sie aufzunehmen, um die besten Köpfe stets im eigenen Lager zu haben und frisches Blut in den alten Körper zu leiten.

Persönliche Einstellung. Obwohl das Realgymnasium, aus dem ich stammte, von den im beschränktesten Philologenhochmut erzogenen Angehörigen des »Kronsgymnasiums«, welche die überwältigende Mehrheit bildeten, durchaus als minderwertig angesehen wurde,[81] kam man mir von den meisten Seiten freundlich entgegen und ließ die hitzige Verteidigung meiner Mutteranstalt gelten. Es wird wohl auch allerlei Nachricht über meine mannigfaltigen Betätigungen und Interessen in diesen Kreis gelangt sein, für dessen ältere Mitglieder die Frage nach der Beschaffenheit des Nachwuchses eine ernste Angelegenheit war. Ich ließ mich denn auch frei und unbefangen gehen und nahm die demokratische Gleichheit aller Kommilitonen durchaus ernst. Für die vielfältigen und oft höchst absurden Blasen meines überkochenden Denkens fand ich belustigte, manchmal auch teilnehmende Hörer, wobei ich freilich bald merken mußte, daß ich für meine Wissenschaft nicht auf einen so freundlichen Wiederhall rechnen durfte wie für meine Witze. Unter meinen rund hundert Genossen gab es damals nur zwei Chemiker; der eine stand kurz vor dem Abschluß, so daß ich ihn kaum kennen lernte, und der andere war nur etwas älter als ich und hatte die Chemie als Brotstudium ergriffen. Gleiche Begeisterung, für die Naturwissenschaft, wie ich sie empfand, entdeckte ich erst später bei einem einzigen Frater, dem Mineralogen Lagorio, mit dem mich seitdem eine dauernde Freundschaft verbunden hat. Auch dieser Umstand hat wohl dazu beigetragen, daß mir über dem vielen Neuen, das ich erlebte, die alte Liebe zur Chemie in den Hintergrund trat. Tatsächlich erinnere ich mich nicht einmal, ob ich im ersten Semester überhaupt eine Vorlesung gehört habe. Vermutlich habe ich einige Male das Kolleg besucht; einen tiefen und dauernden Eindruck habe ich jedenfalls nicht davongetragen.

Die Aufnahme. So näherte sich mein erstes Studentensemester seinem Ende. In Dorpat bestand die auch in den skandinavischen Ländern übliche Semesterteilung, die mit der Jahresordnung zusammenfällt und die Ferien einerseits um Weihnacht, andererseits in den Hochsommer[82] legt. Sie ist viel vernünftiger als die deutsche, welche die Osterferien viel zu früh im Jahr hat und die Herbstferien zu lange in eine Zeit ausdehnt, wo man schon lieber im Zimmer sitzt und arbeitet, ganz abgesehen von den Datumschwankungen des Ostertermins. Die Folge ist die bekannte Ungleichheit der Dauer und Wirksamkeit von Winter- und Sommersemester; das erste ist zudem noch in unwillkommener Weise durch die Pause von Weihnacht bis Neujahr unterbrochen. Nach dem Weltkriege war gute Gelegenheit, den alten Fehler zu verbessern, doch niemand hat sie benutzt.

Wieder fiel in den knospenden Frühling des Jahres 1872 die aufgeregte Zeit, wo, wie die älteren, erfahrenen Fechtbodisten uns mitteilten, auf unserem Konvent die Beratungen über die Aufnahme neuer Landsleute stattfanden, die sehr ernst genommen wurden und gewöhnlich mehrere Sitzungen beanspruchten. Nachfragen nach den Aussichten der Einzelnen galten als grobe Taktlosigkeit, die dem Betreffenden eine vorhandene Aussicht zerstören konnte, es wurde also alles zu erwähnen vermieden, was damit irgendwie zusammenhing. Nachdem die Entscheidung gefallen war (wovon wir nichts wußten), wurde das Ergebnis den Beglückten keineswegs gleich verkündigt, sondern es begann ein Spiel mit Andeutungen, verfänglichen Fragen, halben Erklärungen, welche die Hoffenden auf eine arge Folter spannten. Da ich alle diese Dinge zum ersten Male erlebte, war ich natürlich viel unbefangener, als meine älteren Schicksalsgenossen, die schon eine oder einige Enttäuschungen durchgemacht hatten. Dazu kam, daß sich zu mir ein alter, kurz vor dem Abgang stehender Landsmann gesellt hatte, der erst gegen Ende des Semesters in Dorpat erschienen war. Ich hatte ihn um so weniger kennen gelernt, als er mir gar nicht gefiel, da er sich als ziemlich rüder Geselle ohne höhere Interessen[83] gab. Ich nahm seine anzüglichen Neckereien sehr kalt auf, da ich sie für einen Ausfluß seines unangenehmen Naturells hielt und dachte an nichts weniger als an ein näheres Verhältnis zu ihm. Daher war meine Verblüffung unbeschreiblich, als er mir schließlich die schwarze Mütze vom Kopf nahm und dafür seine bunte aufsetzte, als Zeichen der erfolgten Aufnahme in den engeren Kreis. Erst als mir mein Freund Seeck mit Lachen und Glückwünschen um den Hals fiel, fing ich an, das Geschehene zu begreifen. Es stellte sich heraus, daß von den 14 Füchsen meines »Coetus« ich der einzige würdig Befundene war, obwohl später fast alle aufgenommen worden sind. Bei dem darauf folgenden Festgelage tranken mir meine neuen Brüder alle vor, so daß ich mit Bier angefüllt wie noch nie auf das Lager sank.


Der junge Landsmann. Dies war mein erster öffentlicher Erfolg und ich lernte zum ersten Male die Freude kennen, als einziger unter vielen ausgezeichnet zu werden. In den nächsten Tagen erfolgte die feierliche Aufnahme vor versammeltem Festkonvent, die Einführung in den engeren Kreis und meine Verpflichtung, Ehre und Wohl der Fraternitas stets zu wahren. Bald darauf ging es nach Hause in die Ferien. Mit ganz anderen Gefühlen als vor fünf Monaten durch die farblose Landschaft endloser Schneefelder und schwarzer Kiefernwälder fuhr ich in der ersten Pracht des jungen Sommers durch die ganz veränderte Welt der alten Heimat zu. Mit zärtlichem Stolz bewillkommnete mich die gute Mutter; der strenge Vater heiterte seine ernste Miene auf und ließ sich von mir zu seinen geselligen Zusammenkünften mit den Jagdfreunden begleiten.


Ich darf nicht verhehlen, daß ich mich lächerlich genug benommen haben mag, als ich mich in meiner jungen Würde meinen Tanzstundenflammen zeigte und[84] von einigen meiner älteren Fratres in ihre Familien eingeführt wurde. Mir lag nicht eben viel daran, welche Eindrücke ich hier hinterlassen mochte, da ganz andere Dinge mein Gemüt erfüllten. Ich gab mich rückhaltlos dem »goldenen Burschenleben« hin und hatte meine helle Freude an seinen Ereignissen.

In Riga wurde von jeher das Johannisfest mit besonderem Nachdruck gefeiert. Bei den Letten lebte es als altheidnisches Frühlingsfest fort und die Kirche hatte es, da es sich als unausrottbar erwies, in ihrer Art auf den heiligen Johannes umgetauft. Am Vorabend des Festes war der »Krautabend«, ein großer Markt, zu dem die Bauern Majoran, Thymian und andere Kräuter brachten, dazu aus Binsenmark und Hauslauch nach uralten Mustern gefertigte Körbchen und Kronen, die den Kindern geschenkt und wohl auch an der Decke im Vorzimmer aufgehängt wurden. Gruppen von bekränzten lettischen Frauen und Mädchen zogen von Haus zu Haus, sangen ein altes Lied mit dem Kehrvers Lihgo Jahni, tanzten dazu und erwarteten ein kleines Geschenk. Am späten Nachmittag zog ganz Riga an die Düna, um sich in geschmückten Booten auf dem breiten, ruhigen Strom zu tummeln. Die zahlreichen Gesang- und anderen Vereine schifften sich mit Musik auf großen Fähren ein, die in phantastischer Weise hergerichtet waren und ließen abwechselnd ihre Weisen über das Wasser klingen. Auch wir Studenten von der Fraternitas Rigensis hatten unsere Fähre, sangen unsere Studentenlieder dazwischen und schauten vergnügt nach den hübschen hellgekleideten Mädchen in den Einzelbooten aus, die besonders zahlreich unser Floß umschwärmten. Dann kam die Pracht des Sonnenunterganges, der das weite Wasser vergoldete, die bunten Laternen wurden angezündet und nur langsam klang der schöne Krautabend aus.[85]

Während des Sommers ging jeder Rigenser, der es sich einigermaßen leisten konnte, an den »Strand«, die flache, von schönstem Sand gebildete Küste des Rigaschen Meerbusens. Viele wohlhabende Rigenser besaßen dort eigene Sommerhäuser, die anderen wohnten zur Miete in einfachen, einstöckigen Holzhäusern, die von den Fischerbauern für diesen Zweck errichtet wurden. In der Nähe des Ausflusses der Düna ins Meer fingen die Strandorte an und setzten sich dann in viele Kilometer langer Reihe in dem Maße nach Süden fort, als die Zahl der Bewohner von Riga und ihr Wohlstand zunahm.

Dies Strandleben war ungemein behaglich. Die sonst sehr strengen Formen der gesellschaftlichen Etikette wurden gelockert, der Verkehr der jungen Leute beider Geschlechter war freier und unbefangener und vor allem waren wir Studenten in den bunten Mützen als die Hoffnung des Landes überall gern gesehen. Wenn zufällig ein älterer Herr einen Studenten kennen gelernt hatte, lud er ihn kurzerhand ein oder nahm ihn gleich mit, um ihn über Nacht zu beherbergen, wenn die Sitzung bis über die Abfahrt des letzten Dampfers nach Riga gedauert hatte. Denn die von den Rigensern mit Hingabe und Erfolg geübte Geselligkeit vollzog sich ganz im Hause. Öffentliche Tanzbelustigungen gab es kaum, es fehlte sogar in mehreren großen Badeorten überhaupt an Gasthäusern, zu deren Besuch eine Dame sich auch in Herrenbegleitung nicht leicht entschloß.

Landsmannschaftliches Einleben. So vergingen die Sommerferien im Fluge. Die Herbstfahrt nach Dorpat zeigte wieder eine andere Landschaft und der Leimgeruch der ausgedehnten Flachsrösten prägte sich als das Kennzeichen dieser Jahreszeit ein. Mir stand nun als nächste Aufgabe ein tieferes Eindringen in das Wesen und den Zweck der Fraternitas bevor. Ich machte mich aus dem damals ganz ungeordneten Archiv der Korporation[86] mit der Geschichte unserer Verbindung bekannt und kam der Aufgabe, mit möglichst vielen Landsleuten in ein näheres Verhältnis zu treten, mit Eifer nach. Auch stand für den Januar 1873 die fünfzigjährige Jubelfeier unseres Bundes bevor. Dazu wurde eine große Zahl älterer Bundesbrüder aus Riga, vom Lande und aus dem Reich erwartet, da das Bekenntnis zur Rigensis als Widerspruch gegen die einsetzenden Russifizierungsmaßnahmen gerade von unseren älteren Angehörigen als eine politisch-patriotische Pflicht angesehen wurde.

Es wurde zum Fest ein riesiger Saalbau gemietet, der vor vielen Jahren von einem phantastischen Spekulanten errichtet war. Er hatte lange unbenutzt gestanden, war sehr verfallen und sollte nun festlich geschmückt werden. Ein älterer Landsmann namens Poelchau, der als Zeichenlehrer und Künstler in Riga lebte, übernahm die Oberleitung und fragte nach künstlerischen Kräften unter den aktiven Landsleuten. Es erwies sich, daß nur Lagorio und ich Zeichenstift und Pinsel zu handhaben verstanden. Wir komponierten und malten einige riesengroße Transparente, monumental gedachte Studenten in ausgezeichneten Augenblicken ihres akademischen Lebens und wichtige Orte in Landschaftsbildern darstellend. Als wir fertig waren, mußte ich feststellen, daß Lagorios Landschaften künstlerisch weit besser waren, als meine Studentengestalten. Da aber der große Ernst, mit dem ich meine Aufgabe ausgeführt hatte, sich wohl auch unwillkürlich in meinen steifen Figuren ausgedrückt hatte, erhielten sie gleichfalls anerkennendes Lob vom Meister Poelchau und wurden von den Kommilitonen, die nichts davon verstanden, teils angestaunt, teils kritisiert.

Die Winterferien waren mit Vorbereitungen zum Jubelfest, das auf den 23. Januar fiel, vollauf erfüllt, so daß ich nur zum Schlafen nach Hause kam und die[87] Eltern wenig sah. Ich merkte doch, daß mein Treiben dem Vater zunehmend Bedenken machte. Ich hatte ihm nicht verhehlt, daß ich für das Studium unter dem Korporationsleben wenig Zeit übrig behielt und hatte ihm die vielfältigen Pflichten eines »aufgenommenen« Fuchses geschildert. Der Erfolg, den meine Aufnahme in die sehr angesehene Landsmannschaft bedeutete, hatte ihn vorübergehend beruhigt und er hoffte, daß mit Abschluß des Fuchsenjahrs der Ernst beginnen würde. Nun sah er mich wieder mit allerlei Dingen eifrigst beschäftigt, die mit Chemie nichts zu tun hatten und ich bemühte mich, ihm die große Wichtigkeit der bevorstehenden Feier zu Gemüt zu führen. Kopfschüttelnd ließ er es gelten, sprach aber seine Erwartung aus, daß ich nach Abschluß der Festtage endlich ernstlich an das Studium denken würde.

Das Fest verlief so glänzend, wie erwartet war. Zu Hunderten waren die altert Landsleute nach Dorpat gekommen, obwohl die Wege in schlechtem Zustande und die Posten überfüllt waren. In Dorpat waren jeder »Burg« nach ihrem Umfang einige Ehrengäste zugeteilt, und auch die »Carusburg«, die ich mit zwei anderen jungen Landsleuten bewohnte, die gleich mir soeben den Sprung vom Fuchs zum »jungen Hause« gemacht hatten und damit selbständige Persönlichkeiten in unserer Burschenwelt darstellten, hatte gleichfalls einige alte Herren zu beherbergen. Für die Festtage war das allgemeine Du eingeführt und die rückhaltlose Herzlichkeit, mit der die alten Herren, die vielfach ausgezeichnete Stellungen im öffentlichen Leben einnahmen, uns jungen Kerlen begegneten, machte auf mich den größten Eindruck und gehört noch heute zu meinen besten Erinnerungen. Mehrfach schenkten uns unsere neuen Bekannten das brüderliche Du über die Festtage hinaus für den Rest ihres Lebens.[88]

Die Wogen der allgemeinen Begeisterung gingen besonders hoch, da wir wußten, daß uns Ostseedeutschen schwere Tage durch die von Moskau aus immer wilder geforderte Russifizierung bevorstanden. Neben einem guten Anteil an engem Provinzpartikularismus empfanden wir unsern Widerstand dagegen als Kulturpflicht, denn was an die Stelle der zu verdrängenden deutschen Kultur gesetzt werden konnte, war in jeder Richtung minderwertig.

So stand hinter dem üblichen Festüberschwang doch auch viel ernstes und wahres Gefühl. Die eben erfolgte Gründung des Deutschen Reichs aber hatte auf die Moskauer Panslavisten so aufreizend gewirkt, daß sie unverzüglich Maßregeln zur Unterdrückung des deutschen Wesens in den Ostseeprovinzen forderten und auch so schnell durchsetzten, als die schwerfällige Maschinerie des russischen Beamtentums es erlauben wollte.

Das Studium. Der Abbau des Festes erforderte neue Arbeit, wobei mir als einem der wenigen Kunstkundigen ein guter Anteil zufiel. Doch wirkte die Mahnung meines Vaters soweit auf mich ein, daß ich begann, Vorlesungen zu hören und, da diese mir wenig Freude machten, Lehrbücher der zunächst zu bearbeitenden Fächer anzuschaffen und durchzusehen. Denn bei den Vorlesungen störte mich, daß das Zeitmaß meiner Gedanken durch den Vortragenden bestimmt wurde und nicht durch mein Bedürfnis, hier länger zu verweilen und dort schneller voranzukommen. Das Buch dagegen ist geduldig; es wartet, bis man fertig gedacht hat, und erlaubt wieder jede Geschwindigkeit. Da ich eine Vorliebe und Dankbarkeit für das Buch aus meinen früheren Erlebnissen mitbrachte, ist es dabei geblieben, und ich habe während meiner ganzen Studienzeit kaum eine Vorlesung regelmäßig gehört.[89]

In Dorpat bestand ein ziemlich entwickeltes System akademischer Grade. Das eigentliche Studium schloß nach den Prüfungen mit einer wissenschaftlichen Arbeit ab, die aber nicht veröffentlicht zu werden brauchte. Wer dies geleistet hatte, war Kandidat. Mit dieser Stufe begnügten sich die Meisten, namentlich, wenn sie in die praktischen Berufe des Lehrers, Advokaten, Richters usw. übergingen. Wer eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen wollte, arbeitete einige Semester an einer Dissertation, welche höheren wissenschaftlichen Ansprüchen genügen mußte. War sie von der Fakultät angenommen, so wurde sie gedruckt und mußte öffentlich in der Aula verteidigt werden, ebenso die angehängten Thesen. Dies ergab den Grad eines Magisters, der zur Habilitation an der Universität berechtigte. Eine weitere, noch anspruchsvoller beurteilte Dissertation nebst öffentlicher Disputation ergab den Doktorgrad, der die Voraussetzung für die Bekleidung einer ordentlichen Professur war. Es waren wohl alte aus Deutschland herübergenommene Formen, sagt doch Faust: Heiße Magister, heiße Doktor gar. Nur bei den Medizinern war bereits die erste Stufe mit dem Doktortitel verbunden; demgemäß wurde der Dr. med. erheblich niedriger eingeschätzt, als der recht seltene Doktor in einer der anderen Fakultäten.

Für mich handelte es sich zunächst nur um die Kandidatenprüfung. Diese erstreckte sich über rund 15 Fächer und wurde in drei Teilen von je 5 Fächern abgelegt, die in beliebigen Zwischenräumen erledigt werden konnten. Die Wahl der Fächer war frei mit einigen Einschränkungen bezüglich der Reihenfolge; zum ersten Drittel in der Chemie gehörten gebräuchlicherweise die mathematischen Fächer (ohne höhere Mathematik), Experimentalchemie, Physik, Mineralogie, Kristallographie, Dinge, die mir zum Teil ganz neu waren. Ich[90] hatte in aller Gemächlichkeit angefangen zu studieren; da aber wieder der betörend plötzliche und schöne nordische Frühling einbrach, so ging ich häufiger »auf die Länder« als an den Studiertisch. Bald war wieder die Zeit zur Heimfahrt da.

Zuhause fragte mich mein Vater, wie weit ich mit meinen Arbeiten gekommen sei. Ich antwortete aus der eben gekennzeichneten Stimmung heraus, fand dafür aber durchaus kein Entgegenkommen. Es wurde mir vorgehalten, daß drei Jahre die amtlich vorgeschriebene Studienzeit seien, und daß davon schon die volle Hälfte verstrichen war, ohne daß ich überhaupt Ernst mit dem Studium gemacht hätte. Vergeblich wendete ich ein, daß tatsächlich niemand nach sechs Semestern fertig würde und daß acht und mehr die Regel seien. Das kommt eben von der unsinnigen Zeitvergeudung, sagte mein Vater. So gab ein Wort das andere, bis ich schließlich hochstieg und erklärte, wenn ihm soviel daran läge, würde ich das erste Drittel der Prüfung zu Beginn des nächsten Semesters machen. Denn die Termine wurden am Anfang und Ende jedes Semesters abgehalten. Der Vater nahm mich beim Wort, und ich hatte wieder einmal das moralische Schwungrad in Bewegung gesetzt.

Die Sommerferien waren erfreulich lang, fast zwei Monate, und ich konnte ohne Hast an die Ausführung der so plötzlich übernommenen Verpflichtung gehen. Zum Hause in der Alexanderstraße gehörte ein großer Garten mit einem netten Gartenhäuschen und schattiger Veranda. Dort habe ich unter Blumenduft und Vogelgezwitscher die nötigen Fächer durcheinander studiert, indem ich mich an einem anderen erholte, wenn ich durch das eine ermüdet war. Auch fand ich, daß die Schwierigkeiten der analytischen Geometrie sich am besten überwinden ließen, wenn ich nur solange arbeitete, bis die ersten Bewegungen des jedem Examenarbeiter[91] wohlbekannten Mühlrades im Kopfe spürbar wurden. Dann verbummelte ich einen Tag oder einige mit den Kommilitonen, womöglich am Strande, und wenn ich dann zu meinen Büchern zurückkehrte, fand ich in meinem Kopfe alle die Dinge wohlgeordnet und übersichtlich vor, die ich vor zwei Tagen als Chaos sich selbst überlassen hatte. Es lohnt also nicht, die Aufnahme der Kenntnisse erzwingen zu wollen. Das kostet unzweckmäßig viel Energie und wirkt erschöpfend, was man alles vermeidet, wenn man dem Kopf seine normale Verdauungszeit läßt. Denn damit kommt man doch am weitesten. Es ist wie der langsame Schritt, mit dem der erfahrene Bergsteiger seine Wanderung beginnt und der dem Anfänger so lächerlich erscheint; man behält dann genug Atem für die steileren Stellen übrig. Diese praktische Philosophie hat sich in dem Schweizer Gruß: Zeit lossn ihren Ausdruck geschaffen.

Die bestandene Prüfung. Ich machte mich in aller Zuversicht im Herbst auf den Weg nach Dorpat, vom Vater mit zweifelndem Kopfschütteln verabschiedet, weil er doch nicht den Eindruck gehabt hatte, als hätte ich wirklich ernsthaft gearbeitet. Ich meldete mich heiter zum Examen und bestand es durch das entgegenkommende Wohlwollen einiger meiner Professoren, welche mich die Lückenhaftigkeit der schnell erworbenen Kenntnisse merken ließen, ohne mir daraus einen Fallstrick zu drehen. Die Beschämung darüber veranlaßte mich, trotz des bestandenen Examens meine Bücher wieder vorzunehmen, um noch soviel nachzulernen, als ich hätte wissen müssen.

Dies wurde mir leicht, denn nun tat sich mir das wissenschaftliche Paradies auf, um dessen willen ich nach Dorpat gegangen war, und dessen Tor ich mir durch eigene Schuld so lange selbst zugesperrt hatte. Dies Paradies war das chemische Laboratorium. Es gehörte dort zu[92] den sehr vernünftigen Ordnungen des Chemiestudiums, daß man zu den praktischen Arbeiten nicht früher zugelassen wurde, als nachdem man die Prüfung in anorganischer Chemie bestanden hatte. Nun hatte ich diese Bedingung erfüllt und nichts hinderte mich mehr, anzufangen. So stellte ich mich mit den wenigen anderen werdenden Chemikern im Laboratorium zur gegebenen Stunde eines Vormittags ein, um richtig chemisch zu arbeiten.

Das chemische Laboratorium befand sich in einem Flügel des Universitätsgebäudes und bestand aus dem Hörsaal, drei größeren Räumen, welche die Dampfbäder, die Wagen und den Arbeitstisch für den Anfänger enthielten und drei kleinen Zimmern, dem des Professors, der Bücherei und einem Raum für Fortgeschrittene. Im Arbeitszimmer hatten etwa zwölf Anfänger Platz; auch die beiden Assistenten waren dort untergebracht. Vier bis sechs Vorgeschrittene teilten sich in die übrigen Zimmer.

Verglichen mit den heutigen Riesenlaboratorien waren es also äußerst bescheidene und beschränkte Räume. Ebenso war die Ausstattung beschaffen. Gas gab es in Dorpat noch nicht; es wurde erst nach meiner Studienzeit eingeführt. Unsere Erhitzungen und Glühungen mußten wir mit Spirituslampen, einfachen und solchen nach Berzelius machen. Organische Verbrennungen geschahen, wie seinerzeit in Liebigs Laboratorium, mit Holzkohle. Für hohe Temperaturen bis Weißglut diente ein Gebläse nach Deville mit Terpentinöl als Brennstoff, das ein solches Getöse machte, daß man es nicht benutzen durfte, wenn im Hörsaal Vorlesung war. Ein einziger Diener, ein schweigsamer und finsterer Este, genügte reichlich, um die mit Lochplatten bedeckten Kessel zu heizen, die als gemeinsame Dampfbäder dienten, die Reagentien nachzufüllen, die Lampen[93] zu putzen, den Hörsaal in Ordnung zu halten und im Winter die Heizung der Räume durch große Kachelöfen und ihre Beleuchtung durch Öllampen zu besorgen.


Trotz der Dürftigkeit der Mittel war der Unterricht vortrefflich. Dies war das Verdienst sowohl des Professors als des Assistenten.


Karl Schmidt. Gedenke ich meines Chemielehrers Karl Schmidt, so beseelt mich warme Dankbarkeit, denn als Mensch wie als Gelehrter hat er mir sehr viel gegeben. Karl Schmidt war 1827 in Kurland geboren. Zuerst zum Apotheker bestimmt, zeichnete er sich so bald aus, daß man ihm zu höherem Studium verhalf, indem er die Mittel erhielt, sich in Berlin, Gießen und Göttingen unter Justus Liebigs, Friedrich Wöhlers und H. Roses Führung auszubilden. Auch hier ragte er bald unter seinen Arbeitsgenossen hervor. Wöhler schreibt am 17. Dezember 1844 an Liebig: Dr. Karl Schmidt hat jetzt eine physiologisch-chemische Arbeit: »Zur Charakteristik der wirbellosen Tiere« beendigt ... er ist in der Tat ein ganz ausgezeichneter geistvoller Kerl, der beste Kopf der Art, den wir hier haben.« Und Liebig antwortete am 14. März 1845: »Sage dem Dr. Schmidt, daß ich seine Arbeit vortrefflich finde, daß sie aber im Werte nichts verloren hätte, wenn er die hohen Flüge auf der letzten Seite nicht gemacht hätte ... Er ist sehr tüchtig und wenn er ein paar Jahre älter sein wird, so wird ihm manches in anderem Lichte erscheinen. Wie wir jung waren, haben wir auch diese Dinge im Kopf gehabt.«


Die erwähnte Arbeit bezieht sich auf die chemische Zusammensetzung der Gerüstsubstanz bei niederen Lebewesen. Karl Schmidt entdeckte bei diesen Untersuchungen, daß bei den Salpen, einer verhältnismäßig hoch organisierten Tierklasse, das Gerüst aus Zellulose[94] besteht, dem Zellstoff der Pflanzen, der sonst nirgends im Tierreich vorkommt.

Auf Grund dieser Arbeiten und der warmen Empfehlung seines Lehrers Wöhler, der unter anderem geschrieben hatte: »In der Genauigkeit und Sicherheit der Analyse ist er uns allen überlegen«, wurde Schmidt in Dorpat zuerst zum außerordentlichen und bald darauf zum ordentlichen Professor ernannt. Er setzte dort seine physiologisch-chemischen Forschungen mit größtem Eifer fort und veröffentlichte in schneller Folge mehrere Schriften aus diesem Gebiet, von denen jede einen wichtigen Fortschritt enthält.

So begründete er unter anderem die mikroskopische Analyse, die erst in unseren Tagen die ihr zukommende Entwicklung gefunden hat. In einer mit dem Mediziner Bidder zusammen herausgegebenen Arbeit »Zur physiologischen Chemie des Stoffwechsels« hat er als erster durch genaue Analysen die einzelnen Vorgänge der Verdauung bei den höheren Tieren und dem Menschen verfolgt und die fundamentale Entdeckung des Vorhandenseins freier Salzsäure im Magensaft gemacht. So war eine ungeheure Menge Arbeit in wenigen Jahren zustande gekommen, die um so imposanter ist, als die analytischen Methoden jener Zeit noch sehr unvollkommen und zeitraubend waren. Tatsächlich hat Schmidt, um dem täglichen Stoffwechsel seiner Versuchstiere analytisch nachzukommen, monatelang täglich 18 bis 20 Stunden am Experimentiertisch zugebracht und die spärliche Nachtruhe, um keine Zeit zu verlieren, auf einer Matratze im Laboratorium gehalten.

Der Professor. Als ich zu Karl Schmidt in das Laboratorium kam, war er fünfzig und einige Jahre alt. Die physiologischen Forschungen hatte er längst aufgegeben. Als Lebensarbeit seiner zweiten Periode hatte er unternommen, die Mineralbestandteile aller Gewässer[95] der Erde nach einheitlichem Verfahren festzustellen. Wie er früher den Stoffwechsel der Tiere untersucht hatte, so gedachte er nun gleichsam den Stoffwechsel der Erdrinde zu ermitteln. Das Regenwasser laugt langsam den Boden aus, auf den es fällt und befördert gleichzeitig den chemischen Zerfall der Gesteine, wodurch immer von neuem lösliche Stoffe erzeugt und aufgenommen werden. In den Bächen und Flüssen laufen diese wässerigen Auszüge zusammen und mischen sich zu Mittelwerten. Die Weltmeere nehmen ihrerseits diese Stoffe auf und konzentrieren sie, da sie nur reines Wasser als Dampf dem Luftmeere abgeben.

Die entsprechende experimentelle Arbeit war sehr eintönig, da es sich immer um dieselben einfachen Handgriffe an denselben Stoffen handelte, doch war Schmidt unermüdlich tätig, der erste im Laboratorium am Morgen, der letzte am Abend. Und als ich später in seinem Hause bekannt geworden war, klagte mir seine Frau, daß sein Fleiß mit zunehmendem Alter immer schlimmer geworden sei.

Karl Schmidt war ein langer, magerer Mann mit schmalem Kopf, starker Nase, eisgrauem Haar und dünnem Bart. Er bewegte seine langen Glieder mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Geschicklichkeit. Seine Sprache war laut und sehr schnell; die Studenten sagten, er könne »Limonade gazeuse« in einer Silbe aussprechen. Um in der Vorlesung seine Hörer nicht durch den Strom seiner Worte zu überwältigen, hatte er sich gewöhnt, kurze Sätze schnell hervorzustoßen und dann ebensolange Pausen zu machen. Im persönlichen Verkehr war er lauter Güte und Höflichkeit gegen jedermann. Ich habe gesehen, wie ihm einmal sein jüngstes etwa zehnjähriges Töchterchen mit einem Trupp Schulkameradinnen auf der Straße entgegenkam. Er schwenkte vor den Mädeln mit weiter Armbewegung seinen Hut, rief ihnen[96] einen heitern Gruß zu und sprang vom Fußsteig in den Schnee, um ihnen Platz zu machen. Für seine Schüler war er jederzeit zu sprechen, von größtem Entgegenkommen und wo er wissenschaftliche Interessen fand, zu jedem Opfer bereit. Ich werde mehrfach von seiner Güte zu berichten haben.

Der Assistent. Wir Anfänger hatten natürlich zunächst nicht persönlich mit ihm zu tun, obwohl wir ihn beständig vor Augen hatten. Denn unser Arbeitszimmer lag unmittelbar neben dem seinen und die Tür wurde nur ausnahmsweise geschlossen, etwa wenn der Professor Besuch hatte. Den regelmäßigen Unterricht erhielten wir von Johann Lemberg, dem ersten Assistenten, einem in jeder Beziehung bemerkenswerten Mann, dem ich für meine wissenschaftliche Erziehung mehr Dank schulde, als irgendeinem anderen meiner Lehrer.

Lemberg war von armer und dunkler Herkunft. Es wurde erzählt, daß er seine alte Mutter unterhalte; da er aber gar keinen häuslichen Verkehr hatte, so hatte niemand sie je zu Gesicht bekommen. Seine Lebensweise und Kleidung war die denkbar anspruchloseste; doch hielt er sein Äußeres in Ordnung, wenn auch sein Mantel verblichen und seine Mütze außer aller Form war. Er war eher klein als groß gewachsen, hielt sich gebückt und sah neben seinem Professor eher wie ein Diener als wie ein Mitarbeiter aus. Sein Gesicht erinnerte mit den starken Backenknochen und der breiten Nase an den Typus des dortigen Landvolkes. Von seinem sandblonden Haupthaar hatte er, als ich ihn kennen lernte, schon den größeren Teil verloren; die von den Schläfen ausgehenden kahlen Dreiecke hatten sich auf dem Scheitel zu vereinigen begonnen, so daß sich von der Stirn zum Hinterhaupt ein schmaler Streifen aufrecht stehender Haare zog, der an einen Hahnenkamm erinnerte. Das Kinn trug einen Demokratenbart.

[97] Lembergs wissenschaftliche Entwicklung hatte, soviel ich weiß, sich ausschließlich in Dorpat unter Karl Schmidts Einfluß vollzogen und seine Arbeiten, denen er kaum weniger fleißig oblag, wie sein Lehrer, bezogen sich gleichfalls auf die chemischen Vorgänge in der anorganischen Welt der Erdoberfläche. Während aber Schmidt sich mit den Endergebnissen des Abbaus in der wässerigen Bodenlauge beschäftigte, untersuchte Lemberg die mannigfaltigen chemischen Vorgänge, die sich in den Mineralien selbst während dieses Abbaus vollziehen. Führer und Vorbild war ihm der deutsche Forscher Gustav Bischoff (1792–1870), seiner Zeit Professor in Bonn, der Begründer der chemischen Geologie, dessen grundlegendes Werk Lembergs wissenschaftliche Bibel war. Die experimentelle Seite seiner Arbeit bestand gleichfalls in unzähligen Analysen, teils natürlicher Mineralien von Gebieten, wo sich Umwandlungen zeigten, teils künstlicher, die er durch langandauernde Einwirkung verschiedener Lösungen auf wohlgekennzeichnete Ausgangsstoffe hergestellt hatte. Seine Ergebnisse standen an Genauigkeit und Zuverlässigkeit denen seines Lehrers nicht nach. Sein Arbeitsplatz sah aber ganz anders aus. Während bei Schmidt alle Gläser blitzsauber und kristallklar sein mußten, hatte Lemberg den Grundsatz, daß sie nur im Inneren, wo sie mit seinen Stoffen in Berührung standen, tadellos rein zu sein brauchten, während sie außen den grauen Beschlag behalten mochten, den alles Glas bald in der Laboratoriumsluft annimmt.

Der Unterricht. Der Laboratoriumsunterricht, den Lemberg erteilte, war ungewöhnlich gut. Da wir nur etwa ein halbes Dutzend Anfänger waren, hatte jeder sehr viel von ihm. Sein Arbeitsplatz war in demselben Zimmer, wie die unsrigen, nur an einem anderen Tisch, und so konnten wir ihn in jedem Augenblick um Rat bitten, wenn wir nicht weiter wußten, wie auch er sofort[98] jeden Fehler gegen die Regeln der Kunst bemerkte und verbesserte, den wir begehen mochten. Von seinem Vorbild Bischoff hatte er für die Deutung seiner Arbeitsergebnisse die Begriffe des chemischen Gleichgewichts, der Massenwirkung und der Reaktionsgeschwindigkeit übernommen, welche damals und noch lange im Bewußtsein des durchschnittlichen Chemikers überhaupt nicht vorhanden waren. Er prägte uns von vornherein ein, daß es keine absolut unlöslichen Stoffe, keine absolut vollständigen Reaktionen, überhaupt nichts Absolutes in der Natur gebe. So legte er von vornherein in mir den Grund zu der chemischen Denkweise, die mich hernach zu jenen Arbeiten befähigte, in denen ich das Maß des Einflusses auf die Entwicklung meiner Wissenschaft betätigt habe, das mir zugeteilt war.

Da ich im Gegensatz zu den Arbeitsgenossen, die aus dem Lateingymnasium kamen und ebensowenig chemische Kenntnisse wie Neigung und Anlage zu Handfertigkeiten mitbrachten, bereits ein wenig Bescheid wußte, war ich so glücklich, Lembergs besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Die Fülle der Begeisterung, die ich für die Wissenschaft zeigte, veranlaßte auch ihn, etwas mehr aus sich herauszugehen, denn uns grünen Jungen gegenüber war er wortkarg und erschien dem Unvertrauten sogar brummig.

Fortschritte. Unter seiner anregenden Leitung analysierte ich die 120 Nummern des qualitativen Kursus im Fluge; ebenso erledigte ich die Sonderaufgaben, die er mir zum Schluß stellte und ehe das Semester zu Ende gegangen war, durfte ich den Tisch der chemischen Säuglinge verlassen und bekam an einem Fenster der Bücherei meinen Sonderplatz als quantitativer Analytiker angewiesen. Ich durfte die für diese Zwecke bereitstehende chemische Wage benutzen. Obwohl sie schier dreißig Jahre alt war und sichtlich manchen Sturm erlebt hatte,[99] betrachtete und behandelte ich sie mit Ehrfurcht, denn ich empfand den Übergang in das neue Reich des Messens als eine Beförderung von höchster Bedeutung für mich. Mit Entzücken erlernte ich die kleinen sinnreichen Handgriffe, welche die Genauigkeit des Ergebnisses sichern und auch hier konnte ich die üblichen Stufen in einem nicht üblichen Tempo erklimmen. Daß mein Arbeitsstand sich in der Bücherei befand, war wieder ein besonderer Glücksfall, wenn es nicht eine beabsichtigte Wohltat war, die der gute Professor stillschweigend dem eifrigen Schüler erwies. Die Bücher waren der Sorgfalt und Ehrlichkeit der Laboratoriumsgenossen anvertraut; sie durften über Nacht nach Hause genommen werden, mußten aber am nächsten Morgen wieder an ihren Ort gestellt werden. Ein Empfangszettel wurde nicht verlangt; überhaupt gab es keinen Bibliothekar. Nur wenn man ausnahmsweise einen Band für Sonderstudien auf längere Zeit brauchte, mußte man sich mit dem Assistenten verständigen, ehe man ihn mitnahm, und wenn man ihn wiederbrachte. Trotzdem weiß ich von keinem Buch, das während meines vieljährigen Verkehrs im Laboratorium abhanden gekommen wäre.

Bücherstudium. Durch diesen freien Zugang zu dem Bücherwesen meiner Wissenschaft wurde mir eine neue Welt aufgetan, in welche ich mich alsbald mit voller Hingabe vertiefte. Ich war schon als Schüler ein gewaltiger Leser gewesen, der beispielsweise einen dreibändigen Roman an einem Sonntagnachmittag verschlang, ohne davon geistige Verdauungsbeschwerden zu bekommen. Hier sah ich das Paradies meiner Wünsche frei aufgetan und durfte es betreten, wo und wie ich wollte. Mit bebenden Händen griff ich in den Reichtum, von Lemberg mit knappen aber maßgebenden Andeutungen geleitet. Wie hatte ich mich anfangs anzustrengen, um schrittweise in diese neue Welt vorzudringen! Denn überall fehlten[100] mir noch die nötigen Kenntnisse. Aber die zwei Wandschränke, welche unsere Bücherei enthielten – es war im Jahre 1873, wo die chemische Literatur nur einen kleinen Bruchteil der heutigen ausmachte – bargen ja in ihrem Schoße das Mittel dagegen und allmählich fand ich heraus, in welcher Reihenfolge ich am zweckmäßigsten vorwärts zu kommen vermochte.

Schon früher hatte ich die Erfahrung gemacht, daß es beim Studium nicht so notwendig ist, wie es von schulmeisterlich gesinnten Lehrern dargestellt wird, das Neue streng nur auf völlig Verstandenes zu bauen und keinen Schritt weiter zu gehen, ehe man das Bisherige ganz begriffen hat. Denn erstens ist die Durchführung unmöglich; man hat einen gegebenen Inhalt an Naturwissen nie vollständig verstanden, weil er seiner Art nach unerschöpflich ist. Sodann aber dienen die Folgerungen so erfolgreich zum Verständnis der Voraussetzungen, daß es höchst unzweckmäßig wäre, auf diese wesentliche Erleichterung der Arbeit zu verzichten.

Die Abweichung von der überkommenen Regel geschah anfangs mit schlechtem Gewissen, denn die erlebte Erleichterung erschien wie zu Unrecht erschlichen. Damals stand die Unterrichtskunst noch vielfach unter einem ähnlichen Dogma, wie früher die Heilkunst; je schlechter die Medizin schmeckt, um so gesunder sei sie. So meinte man, je unangenehmer etwas dem Schüler ist, um so heilsamer sei es ihm. Erst sehr viel später habe ich mir innerlich mein Verfahren rechtfertigen können, nachdem mein Gewissen längst beruhigt, wenn auch nicht befriedigt war: es war die erste praktische Vorahnung des Energetischen Imperativs: vergeude keine Energie, veredle sie!

Anfänge der Verwandtschaftslehre. Mit dem Auf steigen meiner chemischen Aufgaben nahm die Tiefe und Eindringlichkeit der Lehren zu, die ich von Lemberg erhielt.[101] Seine Studien zur chemischen Geologie hatten ihn zwangsläufig zu Anschauungen über chemische Gleichgewichte geführt, die den heute gültigen ganz ähnlich waren, wenn auch deren Festlegung in einfacher mathematischer Form noch unabsehbar weit entfernt schien. Denn die Silikate, mit denen er sich im Sinne seiner Hauptaufgabe fast ausschließlich beschäftigen mußte, sind für deren Entdeckung ungefähr das ungeeignetste Material, das sich finden läßt, wegen der Verwicklung ihrer Verbindungen, der Langsamkeit ihrer Umwandlungen, der Häufigkeit kolloider Zustände. So mußte er selbst darauf verzichten, zu diesen Gesetzen vorzudringen, benutzte aber gern die Gelegenheit, diese Aufgabe, deren Größe und Bedeutung er durchaus begriff, in jüngere Hände zu legen. Da von seinen Schülern ich der einzige war, dem er die Arbeit zutraute, so tat er gern ein übriges, um sie mir nahe zu bringen und ihre Lösung zu erleichtern. Seine hohe Lehrbegabung zeigte sich alsbald darin, daß er mir die Einzelheiten der quantitativen Analyse durch Betrachtungen unter jenen allgemeinen Gesichtspunkten interessant machte. Den Analytikern jener (und auch einer viel späteren) Zeit galt beispielsweise Bariumsulfat als »absolut unlöslich«. Ihm als Geologen war die Erscheinungsweise des Schwerspats geläufig, die ein Kristallisieren aus wässeriger Lösung unwiderleglich aufzeigt, und so lehrte er auch uns diesen Stoff als löslich ansehen und erläuterte seine Ansicht durch überzeugende Versuche. Um uns das Denken in solchem Sinne geläufig zu machen, hielt er mit uns regelmäßige Besprechungen ab, bei denen ich so bereitwillig antwortete, daß er mich ersuchte, auch die anderen zum Wort kommen zu lassen, das diese mir allzu willig überließen.

In einem weiteren Semester hatte ich auch den analytischen Kursus erledigt und war zu den Präparaten befördert worden. Ein chemisches Kochbuch, wie es[102] jetzt deren eine ganze Anzahl hierfür gibt, existierte nicht und Karl Schmidt beauftragte mich, die Abhandlungen von O.L. Erdmann über die Oxydationsprodukte des Indigos durchzulesen und danach die entsprechenden Präparate herzustellen.

Die organische Chemie. Dieser Ausflug in die organische Chemie war im Dorpater Laboratorium etwas Ungewöhnliches. Zwar waren vor langer Zeit, im Zusammenhange mit Schmidts physiologischen Arbeiten, auch einige wenige Arbeiten aus der organischen Chemie von seinen Schülern gemacht worden. Sie hatten aber längst aufgehört und Schmidt schaute ebenso wie seine verehrten Lehrer und Vorbilder Liebig und Wöhler mit geringer Achtung, ja mit Mißmut auf die schnell steigende Flut organisch präparativer Arbeiten hin, wie sie durch Kekulés Lehre vom vierwertigen Kohlenstoff und insbesondere vom Benzolsechseck in unabsehbarer Fülle angeregt waren. Schmidt wie Lemberg waren sich bewußt, mit ihren Forschungen große und weitreichende Aufgaben zu bearbeiten und fühlten sich um so mehr zum Festhalten an ihrer Richtung verpflichtet, als sie ihre anorganischen Arbeitsgenossen in kurzer Frist von den deutschen chemischen Lehrstühlen verdrängt sahen, die bald ausschließlich mit Organikern besetzt wurden. Für analytische und anorganische Forscher schienen Extraordinariate gut genug.

Natürlich teilte sich diese Einstellung den Schülern mit. Als zufällig aus Deutschland ein älterer Chemiker nach Dorpat gekommen war, der aus irgend welchen Gründen seine halbfertig mitgebrachte Doktorarbeit dort beenden wollte oder mußte, sahen wir Einheimischen seinen Bemühungen um die Trennung der isomeren Chlordinitrobenzole mit nicht geringem Hohn zu und kamen uns mit unserer altmodischen analytischen Geschicklichkeit bei weitem als die besseren Chemiker vor.[103]

Übrigens vernachlässigte Schmidt in der Vorlesung keineswegs die neue Entwicklung der organischen Chemie und gab uns pflichtgemäß ein klares und tunlichst vollständiges Bild dieses schnell sich entwickelnden Gebietes. Uns machte die ganz ungewohnte Denkweise der modernen Forscher nicht geringe Schwierigkeit und ich pflegte in die meist sehr langweiligen Burschengerichtsverhandlungen, die ich anhören mußte, das chemische Lehrbuch mitzunehmen, um »Formeln zu büffeln«.

Mich beeindruckte immerhin der neue methodische Gedanke, daß die Anzahl möglicher isomerer Stoffe sich nach den Gesetzen der Kombinatorik voraus berechnen lasse, sehr stark. Viel später habe ich der Anwendung des Gedankens auf verschiedene Gebiete der allgemeinen Chemie mancherlei gute Erfolge zu danken gehabt.

Und die Farbenlehre, das letzte Erzeugnis meiner wissenschaftlichen Tätigkeit, beruht zu einem sehr großen Teil auf entschlossener Durchführung kombinatorischer Gedanken.

Indigo. So konnte ich mir auch nicht versagen, für die von mir nach Erdmann hergestellten Präparate der Isatinreihe Strukturformeln zu ersinnen, von denen aus ich auf eine Synthese des Indigos hoffte, ein Problem, das damals die chemischen Gemüter sehr lebhaft erregte. Ich schrieb meine sehr unreifen Gedanken an A.v. Beyer, der eben seine bedeutenden Forschungen in dem gleichen Gebiet beendet hatte. Er war freundlich genug, mir ausführlich zu antworten und mir darzulegen, welche Tatsachen sich mit meiner Auffassung nicht vereinen lassen. Ich hatte in meiner Art ausschweifende Hoffnungen auf jenen Einfall gesetzt und davon meinen Kommilitonen Mitteilung gemacht. Als sich dann herausstellte, daß sie zu Wasser geworden waren, brauchte ich nicht für allseitigen Spott zu sorgen, da man es von vornherein als grobe Anmaßung angesehen hatte, daß ein Anfänger[104] wie ich überhaupt etwas von Belang entdecken wollte. Denn die geistige Einstellung meiner Landsleute war derart, daß zwar die Aufnahme aller wissenschaftlichen und künstlerischen Fortschritte mit Hingabe und Erfolg betrieben wurde, daß aber die Erzeugung neuer und selbständiger Werte als etwas so Hohes und Schweres angesehen wurde, daß ein gewöhnlicher Sterblicher überhaupt nicht die Gedanken so weit erheben dürfe. Meinem Denken dagegen war aus dem täglichen Verkehr mit den Großen der Wissenschaft, durch das Studium ihrer Abhandlungen, das wissenschaftliche Schaffen so natürlich geworden, daß ich mit Sicherheit annahm, mich selbst zu gegebener Zeit daran beteiligen zu können. Dies lag mir um so näher, als ich täglich Zeuge war, mit welcher ruhigen Selbstverständlichkeit Lemberg seinen Forschungen nachging, über deren ausgezeichneten Wert mir namentlich mein Freund Lagorio aus seinen geologischen Kreisen Mitteilungen machte.

Für mich war die unmittelbare Folge jenes ersten verunglückten Versuchs, daß am Biertisch die Gegenredner, wenn sie irgend eine meiner meist sehr weitgehenden Behauptungen widerlegen wollten, mir nur das Wort Indigo zuriefen und damit die Sache als endgültig abgetan ansahen, unter Zustimmung aller Umsitzenden.

Biologie des Forschers. Bei dem Studium der Zeitschriften fiel es mir einmal ein, in den Namenregistern nachzusehen, was und wieviel mein verehrter Professor veröffentlicht hatte. Es stellte sich heraus, daß nach jener physiologischen Zeit, wo er in kürzester Frist Unabsehbares geleistet hatte, eine lange, lange Pause eingetreten war, nur selten unterbrochen durch kleine, wenig belangreiche Veröffentlichungen. Auf diese folgten dann die oben erwähnten Wasseranalysen in langer, regelmäßiger Reihe, untermischt mit Bodenanalysen und dergleichen. Auch kamen mir Bemerkungen zu Ohren, die sich auf[105] das plötzliche Aufhören der kurzen schöpferischen Periode bei Karl Schmidt bezogen. Diese Dinge machten mich äußerst nachdenklich und bildeten den Ausgangspunkt meiner späteren Arbeiten über die Biologie des Genies, insbesondere des wissenschaftlichen.

Erste wissenschaftliche Arbeit. Das zweite Drittel des Kandidatenexamens hatte ich auf den Schluß meines sechsten Semesters (Ende 1874) gelegt, womit mein Vater äußerst zufrieden war, da er erwarten konnte, daß ich hernach nur noch ein Jahr oder etwas mehr brauchen würde, um mein Studium mit dem letzten Drittel zum Abschluß zu bringen. Im Laboratorium war nach Beendigung der präparativen Übungen noch gute Zeit übrig geblieben. Ich brannte darauf, die Anregungen über chemische Verwandtschaft, welche Lemberg mir gegeben hatte, durch die Untersuchung irgendeines besser zugänglichen Sonderfalls, als seine Mineralien boten, in die Tat umzusetzen und kam beim Betrachten der vorhandenen Möglichkeiten auf die teilweise Zerlegung des Wismutschlorids durch Wasser in gefälltes Oxychlorid und gelöste freie Salzsäure. Dies war mein erster selbständiger Arbeitsplan. Ich fragte meinen Professor, ob eine derartige Untersuchung seiner Zeit als Kandidatenarbeit angenommen werden könnte. Er sagte etwas verwundert, daß die Frage für mich noch nichts weniger als dringlich sei, da ich ja erst ein Drittel der Prüfung bestanden hatte; im übrigen würde eine solche Arbeit, gut durchgeführt, wohl als ausreichend befunden werden. So stellte ich alsbald mit großer Sorgfalt chemisch reines Wismutchlorid her, verteilte es in eine Reihe Flaschen, die zunehmende Wassermengen enthielten und stellte die ganze Sammlung in einem dunklen Schrank auf, damit sich das chemische Gleichgewicht herstellte. Wieviel Zeit dazu nötig war, wußte ich nicht und Lemberg machte mich aus seinen Erfahrungen mit den überaus[106] langsamen Vorgängen an den Silikaten mißtrauisch. So analysierte ich einige Proben nach einigen Tagen, um alle anderen über die bevorstehenden Weihnachtsferien sich selbst zu überlassen.

Die zweite Prüfung. Inzwischen näherte sich der Prüfungstermin. Da ich ein vortreffliches Gedächtnis besaß und im Laufe des Semesters von den schwierigeren Gegenständen schriftliche Auszüge aus den Lehrbüchern gefertigt hatte – ein vorzügliches Mittel, um sich der Sache zu bemächtigen – so konnte ich mich beim Durchsehen der Fächer bald davon überzeugen, daß ich bei der Prüfung genügende Auskunft würde geben können.

In lebhafter Erinnerung waren mir die Nervenzerrüttungen und Zusammenbrüche, die ich schon in Riga gelegentlich der Abgangsprüfung bei solchen beobachtet hatte, die bis zum letzten Augenblick unter Opferung von Schlaf und Erholung gebüffelt hatten. Eine Kusine, die ich besonders gern hatte, war unmittelbar nach ihrem Lehrerinnenexamen in eine schwere Krankheit gefallen, nach der ich das vorher runde, kräftige Mädchen schmal und schwach zum Erbarmen wiedersehen mußte.

Diese Erfahrungen schützten mich gegen gleiche Torheiten und ich beschloß, zwei Wochen vor dem Examen, nun keine Bücher dafür mehr anzusehen. Ein großes Hallo, halb Verwunderung, halb Entrüstung begrüßte diesen Entschluß, als ich ihn in der Kneipe verkündete und wohlmeinende ältere Freunde warnten mich unter vier Augen väterlich vor solchem Leichtsinn. Denn wie sehr auch sonst der Leichtsinn als »burschikos« geschätzt wurde, vor dem Examen pflegten gerade die kraftstolzesten Urburschen wie Kinder zu zittern.

Zu gegebener Zeit bestand ich die Prüfung wie erwartet. Da rein wissenschaftliches Streben unter den Dorpater Studenten nicht allzu häufig war, wurde jeder[107] einzelne Fall unter den Professoren bald bekannt, und erzeugte bei ihnen eine wohlwollende Neugier, welche die Prüfung sehr erleichterte, ja fast zu einer gemütlichen Plauderei machte. Sie schloß mit einer schriftlichen Klausurarbeit, und ich schrieb mit meiner schnellen Schrift viele Seiten voll mit einem Bericht über die thermochemischen Untersuchungen von Julius Thomsen in Kopenhagen, die vor kurzem erschienen waren und ein beträchtliches Aufsehen erregt hatten. Die Wahl des Themas läßt erkennen, wie entgegenkommend man auf meinen chemischen Interessenkreis einging, der den Begriff der chemischen Verwandtschaft zum Mittelpunkt hatte. Dem überwachenden Dekan aber wurde die Zeit zu lang. Nachdem die Kollegen alle zu Mittag gegangen waren, ging er auch und beauftragte mich gemütlich, mein Manuskript auf sein Pult zu legen, wenn ich fertig sei. Die Prüfung war gut bestanden, wie mir am folgenden Tage berichtet wurde.

Das moralische Schwungrad. Der günstige Ausfall des Examens mußte natürlich im Freundeskreise durch eine »Schmore«, d.h. ein Gelage gefeiert werden. Die Stimmung ging hoch, da der Erfolg auch einigermaßen als eine Auszeichnung für die Korporation empfunden wurde, in der man auf gute Examina Gewicht legte. Wie immer waren auch einige Mißgünstige dabei, die von Zufall, Parteilichkeit und dergleichen sprachen. Unter dem doppelten Einfluß des Erfolges und des Alkohols redete ich große Töne und erklärte schließlich, es käme mir nicht darauf an, das letzte Examendrittel zum nächsten Termin, d.h. nach einem Monat, zu Beginn des kommenden Semesters zu machen. Da nur die kurzen Weihnachtsferien von vier Wochen dazwischenlagen, antwortete mir ein allseitiges Hohngelächter. Ich bestand auf meinem Satz und um mich zu strafen, schlug mir mein Hauptgegner, der es noch nicht zu einem Examen[108] gebracht hatte, eine große Wette auf einen Korb Champagner vor, die ich unverweilt annahm und die von den anderen bestätigt wurde.

Als ich am nächsten Morgen mit etwas schwerem Kopf infolge der Alkoholvergiftung verbunden mit Tabakrauch erwachte, und mich auf die Wette besann, wurde mir sehr unternehmungslustig zu Mut. Ich überlegte, daß ich ohnehin zwei Fächer, die schon bearbeitet waren, hatte zurückstellen müssen, um die vorgeschriebene Anzahl nicht zu überschreiten, daß in den übrigen Fächern nichts abschreckend Schwieriges drohte, daß also der verrückte, aus dem Rausch geborene Einfall schließlich gar nicht so übel sei. Denn wenn die Sache gelang, war ich sicher, von meinem Vater die Mittel zu erhalten, um noch zwei oder drei Semester, auf die er sich schon gefaßt gemacht hatte, an der Universität bleiben zu dürfen. Dann war ich völlig frei von Examenvorbereitungen wie von korporativen Verpflichtungen und konnte mit ganzer Kraft in das freie Meer der wissenschaftlichen Forschung hinaussteuern. Also beschloß ich, mit der Sache, die niemand hatte ernst nehmen wollen, meinerseits Ernst zu machen und das Erforderliche zu tun.

Ich packte die nötigen Bücher ein und fuhr nach Hause, um die Glückwünsche meiner erfreuten Eltern zum bestandenen zweiten Drittel entgegenzunehmen. Außerdem stand für die Weihnachtszeit die Hochzeit meines älteren Bruders bevor, für die ich als Hauspoet das Karmen anzufertigen hatte; das machte die Zeit etwas knapp, denn ich hatte natürlich auch den Rigaschen Freunden wegen des guten Examens Bescheid zu tun. Indessen gelang es doch, die Vorbereitungen durchzuführen. Die Professoren waren zwar etwas verblüfft, als ich mich schon wieder zur Prüfung meldete, hatten aber im Hinblick auf meine eben nachgewiesenen Kenntnisse in den früheren Fächern gutes Zutrauen und so[109] konnte ich im Januar 1875 nach vollendeter Kandidatenprüfung mich exmatrikulieren lassen. Ich war sechs Semester Student gewesen und hatte, da ich die drei ersten verbummelt hatte, eigentlich nur drei Semester studiert. Daß sie ausgereicht hatten, scheint den Schluß zu gestatten, daß die anderthalbjährige Brache, die ich dem bereits beackerten Felde meines Geistes hatte zukommen lassen, eine ungewöhnliche Fruchtbarkeit bewirkt hat.

Den gewonnenen Korb Champagner aber habe ich nie bekommen, denn mein Wettgegner hielt mein Verhalten für unanständig. Ich habe auch nicht viel danach gefragt.

Nun erwies sich auch die Vorsorge als zweckmäßig, die ich wegen meiner Kandidatenschrift getroffen hatte. Ich analysierte die Vergleichsproben, fand, daß das Gleichgewicht sich nicht geändert hatte, also nach jener kurzen Frist schon erreicht war, führte dann die übrigen Bestimmungen durch und schrieb das Ganze zu einer kleinen Abhandlung zusammen, die gutgeheißen und zu den Akten in die Universitätskanzlei genommen wurde. Ein kurzer Auszug befindet sich im 120. Bande des Journals für praktische Chemie von 1875 unter dem Titel: Über die chemische Massenwirkung des Wassers. Dies ist die erste der zahlreichen Schriften, die ich der Öffentlichkeit mitgeteilt habe.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 72-110.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Lebenslinien
Lebenslinien. Eine Selbstbiographie

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Der Hungerpastor

Der Hungerpastor

In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«

340 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon