Neuntes Kapitel.
Deutschland.

[183] Erster Besuch in Deutschland. Damit der regelmäßige Unterricht nicht gestört wurde, entschloß ich mich, die Winterferien 1882/83 für diese Laboratoriumsreise zu opfern. Dadurch, daß ich die Eisenbahnfahrten vielfach nachts ausführte, um die Tagesstunden für die Besuche frei zu halten, konnte ich es möglich machen, alle bedeutenderen Anstalten in Deutschland und in der Schweiz an den Universitäten wie an den technischen Hochschulen in Augenschein zu nehmen. Anregungen der mannigfaltigsten Art ergaben sich aus den Gesprächen mit deren Leitern und mancherlei freundschaftliche Beziehungen konnten dabei angeknüpft werden.

Mein Weg führte mich über Königsberg nach Berlin, Dresden, Leipzig, Halle, Braunschweig, Hannover, Aachen, Bonn, Darmstadt, Heidelberg, Karlsruhe, Stuttgart, Tübingen, Zürich und München und von dort über Berlin nach Hause.

Mit sehr regen Gefühlen setzte ich mich kurz vor den russischen Weihnachten (12 Tage nach den Europäischen) in die Eisenbahn, um die endlosen öden Strecken bis zum Grenzort Wirballen zu durchfahren; dazu hatte der Zug Verspätung. Der Gegensatz des verwahrlosten Dorfes auf russischer Seite mit dem nüchtern-ordentlichen Eydtkuhnen[184] auf preußischer machte einen starken Eindruck auf mich. Dann gab es noch eine lange Fahrt bis zur ersten deutschen Universität, die auf meinem Wege lag, Königsberg. Dort traf ich am Neujahrstag ein, den ich vorübergehen lassen mußte, bevor ich das Handwerk und den dortigen Kollegen begrüßen konnte. Es war W. Lossen, der Entdecker des Hydroxylamins und der merkwürdigen Isomerien seiner organischen Abkömmlinge. Ich fand einen älteren, kränklichen Herrn, der aber meinen Wünschen um Mitteilung seiner chemischen Erziehungsmethoden bereitwillig entgegenkam. Das Laboratorium war alt und bot nichts bemerkenswertes. Die Stadt, die ich durchwandert hatte, erinnerte mich mit ihren engen und krummen Gassen vielfach an Riga, so daß mir das Reisen in Deutschland, von dem ich mir bisher keine Vorstellung hatte machen können, gar nicht so schwierig vorkam, wie ich befürchtet hatte.

Trotzdem fuhr ich nach langer Tagereise mit etwas klopfendem Herzen in Berlin ein, wo ich im Zentralhotel, dem damals größten Gasthof Wohnung nahm und den großstädtischen Betrieb bestaunte. Wegen der Neujahrstage hatte ich Zeit, zuerst die Museen und andere Merkwürdigkeiten zu besuchen. Von Fachgenossen lernte ich zunächst Hans Landolt kennen, der eine Professur an der landwirtschaftlichen Hochschule bekleidete. Er nahm mich mit großer Freundlichkeit auf und zeigte mir sein Laboratorium. Ich konnte von ihm sehr viel Nutzbares für den Unterricht lernen. Es war dies der Anfang einer Freundschaft, die durch ein Menschenalter bis zu seinem Tode immer herzlicher geworden ist, und auch in schwierigen Verhältnissen niemals eine Trübung erfahren hat.

Um zu erkunden, wann ich den regierenden Oberchemiker A.W. von Hofmann sprechen könne, suchte ich seine im Laboratoriumsgebäude wohnenden Assistenten[185] W. Will und C. Schotten auf. Wir waren gleichaltrig und fanden an einander Gefallen, so daß sie mit mir den Nachmittag und Abend zubrachten. Auch hieraus hat sich ein dauerndes Verhältnis entwickelt, welches mich mit Will zusammenhielt, der in einer wichtigen Wendung meines Lebens fördernd tätig gewesen ist, wie seinerzeit erzählt werden wird. Will war einer der liebenswürdigsten und zuverlässigsten Menschen, die ich kennen gelernt habe. Schotten, der mit Will eng befreundet war, ist früh gestorben.

Am nächsten Tage hörte ich bei A.W. von Hofmann eine seiner berühmten Vorlesungen. Sie war zweistündig, und zwar füllte er die 90 Minuten, die nach Abzug der beiden akademischen Viertel von 2 Stunden übrig blieben, durch einen ununterbrochenen Vortrag aus: jedenfalls ein starker Anspruch an sich selbst und an seine Zuhörer. Das ganze war sehr dramatisch, ja theatralisch zugespitzt und wenn die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu sinken drohte, wurde sie durch einen Spaß, meist auf Kosten des Vorlesungsassistenten wiederbelebt. Immerhin mußte ich die Leistung bewundern.

Nach der Vorlesung begrüßte ich den Professor persönlich und brachte mein Anliegen vor. Doch fand er nicht die Zeit, selbst Auskunft zu geben, sondern wies mich an seine Assistenten und den Laboratoriumsvorstand Tiemann. Dieser forderte mich auf, am nächsten Montag die Sitzung der chemischen Gesellschaft zu besuchen und dort eine Mitteilung über meine Forschungen zu machen, was ich bereitwilligst annahm. Die Zeit bis dahin füllte ich mit weiteren Besuchen bei Fachgenossen und dem Studium der Schönheiten und Merkwürdigkeiten der Großstadt aus, die überall meine größte Bewunderung erregten und mir unabsehbare Belehrung und Erweiterung meines Gesichtskreises brachten. Zu gegebener Zeit hielt ich in der chemischen Gesellschaft den gewünschten[186] Vortrag. Da ich mich überzeugt hatte, daß die meisten meiner Berliner Fachgenossen von meinen Arbeiten nichts wußten, Hofmann eingeschlossen, so trug ich den Inhalt meiner ältesten volumchemischen Arbeit in elementarster Form, mit erläuternden Zeichnungen vor.

Hofmann, der mich nicht ohne Mißtrauen an das Vortragspult hatte gehen sehen, rief erfreut aus: »das kann ja der jüngste Student verstehen«, womit er ausdrücken wollte, daß auch er gegen seine Erwartung mich verstanden hatte. Aber das Mißtrauen blieb. Ich habe hernach wiederholt aus seinem Verhalten und dem seines Kreises die entschiedene Einstellung entnehmen können: die janze Richtung paßt uns nicht!

Ich hatte natürlich nicht die Gelegenheit versäumen wollen, auch bei Helmholtz, dem größten Physiker Deutschlands eine Vorlesung zu hören. Ziemlich spät erschien ein mittelgroßer, stämmig gebauter Herr mit kahler Stirn und ergrauendem Schnurrbart. Mit seinem seltsam gebauten Riesenschädel, den langsamen, abgemessenen Bewegungen und den abstrakten Augen wirkte er statuenhaft, fast monumental.

Der Vortrag war sprachlich ein Meisterstück an Knappheit und Genauigkeit; er hätte unmittelbar gedruckt werden können. Aber man sah dem Vortragenden die ungeheure Langeweile an, die ihm das elementare Kolleg machte und war für ihn froh, als die Glocke schlug.

Dann war ich in eine Sitzung der physikalischen Gesellschaft geführt worden, die er als Vorsitzender leitete. Ich bat nach Erledigung der Tagesordnung um Gehör, das mir nach einigem Zögern gewährt wurde und gab einen kurzen Überblick über die Ergebnisse meiner eben durchgeführten ersten Arbeit zur chemischen Dynamik. Ich hatte nicht den Eindruck, als hätte ich irgendwie die Aufmerksamkeit des Vorsitzenden gewonnen, der mir in seiner kurzen, zurückhaltenden Weise die[187] üblichen Höflichkeiten sagte. Doch hatte er mich im Gedächtnis behalten, wie sich später herausstellte, als ich von Leipzig aus mit ihm wieder zusammentraf.

Aus dem Sitzungsbericht (5. Jan. 1883) entnehme ich, daß vor mir Helmholtz' größter Schüler Heinrich Hertz gesprochen hatte. Von seiner künftigen Größe ahnte damals niemand etwas, vielleicht mit Ausnahme seines Lehrers. Auch ist mir sein Vortrag nicht in der Erinnerung geblieben, denn er war eine mathematische Untersuchung über gewisse Erscheinungen bei Flut und Ebbe, an die sich weitere Ergebnisse nicht geknüpft haben.

Voll von den starken und mannigfaltigen Eindrücken der Berliner Tage, reiste ich zunächst nach Dresden, wo Schmitt, ein Schüler Kolbes und Erfinder des technischen Verfahrens zur Gewinnung der Salizylsäure Professor an der technischen Hochschule war. Er empfing mich auf das freundlichste und gab auf meine Fragen ausgiebig Bescheid. Als Physiker war in Dresden mein mittelbarer Amtsvorgänger in Riga, A. Töpler tätig, ein genialer Experimentator, der mich gleichfalls freundlichst aufnahm und von dem ich vieles lernen konnte. Endlich gab es noch einen dritten wertvollen Kollegen, nämlich den ausgezeichneten Gasanalytiker Walter Hempel, der als junger Mann (er war nur zwei Jahre älter als ich) mit Erfolg gewagt hatte, die klassischen Methoden R. Bunsens durch ganz andere, viel einfachere und schnellere zu ersetzen. Seine Arbeiten haben den Ausgangspunkt für die Entwicklung der technischen Gasanalyse gebildet, die seitdem eine so große Bedeutung gewonnen hat. Wir fanden uns auf dem Boden gemeinsamer Interessen schnell zusammen und ihm war es eine Freude zu hören, daß die persönliche Anschauung seiner Methoden einen Hauptpunkt in meinem Reiseprogramm gebildet hatte. Auch diese Bekanntschaft hat in der Folge[188] zu einem herzlichen Verhältnis geführt, das nie eine Trübung erfahren hat.

Als Assistent war bei R. Schmitt damals Dr. Willibald Hentschel tätig, der sich mir anschloß und mir liebenswürdige Gastfreundschaft erwies. Er stellte sich als ein höchst originell denkender Chemiker und Mensch heraus, dem ich eine bedeutendere Zukunft vorausgesagt hätte, als er sie hernach erlebt hat. Unsere Wege führten uns etwa ein Jahrfünft später wieder in Leipzig zusammen und dann auseinander.

Auf dem damaligen Böhmischen Bahnhof nahe dem Polytechnikum, wo jetzt der Hauptbahnhof steht, pflegten die Professoren der technischen Hochschule abends auf ein Stündchen zusammenzutreffen, soweit sie frei waren. Hier habe ich noch eine ganze Anzahl anderer Kollegen flüchtig kennen gelernt. Ich habe sie einzeln nicht mehr im Gedächtnis, wohl aber ist mir die Erinnerung an den heiteren und offenen Verkehr dabei lebendig geblieben.

Die Dresdener Museen zu besehen versäumte ich natürlich nicht. Mit den allergrößten Erwartungen ging ich beim Besuch der Gemäldegalerie nach dem Plan ohne mich umzusehen in den Eckraum, wo die Sixtinische Madonna aufgestellt ist. Ich erwartete einen tiefgreifenden Eindruck und war erschrocken, daß er ausblieb. Alle Versuche, ein inneres Verhältnis zu dem Bilde zu gewinnen, blieben erfolglos. Ich glaubte mich schämen zu müssen, daß mir dies versagt war und wußte nicht, daß ich den ersten Anstoß zur sachgemäßen Bewertung einer unglaublich überschätzten Kunstepoche erlebt hatte.

Von Dresden ging es nach Leipzig, dem einzigen Ort Deutschlands, zu welchem ich persönliche Beziehungen hatte. Dort wohnten die Herausgeber der Zeitschriften, in denen ich meine Arbeiten veröffentlicht hatte, nämlich Hermann Kolbe und Ernst von Meyer vom Journal für praktische Chemie, und Gustav Wiedemann[189] von den Annalen der Physik, ferner mein Verleger Dr. R. Engelmann. Der Empfang war noch herzlicher als in Dresden, so daß ich mich schon bei dem ersten Besuch der Stadt, in der ich hernach die 19 arbeitsvollsten Jahre meines Lebens zubringen sollte, einigermaßen zuhause fühlen durfte.

Hermann Kolbe war damals nach seinem eigenen Bewußtsein die maßgebende Persönlichkeit in chemischen Angelegenheiten nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze Welt. Demgemäß gab er sich würdevoll und gemessen. Seine Gestalt war untersetzt, sein großes, glattrasiertes, volles Gesicht mit breiten Würdefalten konnte etwa das eines Senators in Hamburg oder Bremen sein.

Durch den frühen Erfolg seiner hervorragenden Experimentalarbeiten war er so unbedingt von der Richtigkeit seiner theoretischen Ansichten überzeugt, die auf eine Fortsetzung der Radikaltheorie im Sinne von Berzelius herauskamen, daß er die damals aufblühende Kekulésche Strukturchemie für eine arge Verirrung hielt. Dadurch war er in einen entschiedensten Gegensatz zu der in Berlin gepflegten Chemie und ihrem Führer geraten, beschränkte aber seinen Widerspruch keineswegs auf Berlin allein, sondern fand ungefähr überall etwas zu tadeln. In der von ihm herausgegebenen Zeitschrift hatte er eine stehende Rubrik eingerichtet, um seinen Ansichten und Gefühlen Ausdruck zu geben, wobei er sich nicht scheute, die gröbsten Register seiner Polemik zu ziehen. Da seine absprechenden Urteile, die anfangs zum Teil begründet waren, mehr und mehr der sachlichen Grundlage entbehrten, war sein Einfluß sehr gesunken. Vielleicht war es ein unterbewußtes Gefühl hiervon, was ihn veranlaßte, einen besonderen Wert auf meine Beiträge zu seiner Zeitschrift zu legen, zumal sie weitab von der ihm besonders verhaßten Strukturchemie lagen.[190]

Jedenfalls nahm er und sein Schwiegersohn E.v. Meyer mich mit größter Freundlichkeit auf. Nachdem ich den Abend bei diesem am Familientisch verbracht hatte, der mit musikalischen Darbietungen (Violine und Klavier) von ihm und seiner anmutigen Gattin, Kolbes Tochter ausklang, hatte ich am folgenden Nachmittag ein feierliches Essen bei Kolbe selbst mitzumachen. Er hatte mich veranlaßt, ihn eine Stunde früher zu einer ungestörten Aussprache zu besuchen, die sich sehr interessant gestaltete. Ich zeigte ihm den spaßhaften Mißgriff A. Raus, an den er anfangs nicht glauben wollte, und er entwickelte mir den Plan seines kleinen Lehrbuches der organischen Chemie, das er unter der Feder hatte. Dafür hatte er eben die Rosanilin-Untersuchungen von O. und E. Fischer durchgesehen und sprach sein ehrliches Erstaunen darüber aus, daß sie sich als eine tüchtige und solide Arbeit herausgestellt hätten, trotzdem die Verfasser hoffnungslos der Strukturchemie verfallen waren. Man müsse sie nur erst ins Chemische übersetzen, fügte er hinzu.

Inzwischen war die Essenstunde herangekommen und ich wurde einem ganzen Kreise Leipziger Professoren vorgestellt, die ich mit Ehrfurcht betrachtete. Kolbe wies mir den Platz neben sich an. Auf seiner anderen Seite saß der berühmte Mineralog F. Zirkel, der eben eine Berufung nach München abgelehnt hatte und daher mit besonderer Herzlichkeit begrüßt wurde. Mitten im lebhaften Gespräch schlug Kolbe an sein Glas und hielt eine Ansprache chemischer Färbung. Er sehe an seinem Tisch zwei Körper von flüchtiger Beschaffenheit, nämlich Zirkel und mich. Doch sei es gelungen, den ersten zu fixieren und er wolle seine Hoffnung aussprechen, daß dies auch an mir mit Erfolg ausgeführt und ich wie Zirkel in Leipzig festgehalten werden könne. Ich war im höchsten Maße erstaunt, ja verblüfft, denn daß Kolbes freundliche[191] Gesinnung so weit gehen würde, hatte ich mir nicht träumen lassen. Die Tischgenossen nahmen indessen diesen Vorstoß nicht übel auf und das Mahl verlief unter unzähligen weiteren Trinksprüchen in angeregtester Munterkeit.

Außer Kolbe war noch Gustav Wiedemann für mich von besonderem Interesse, da er die einzige Professur für physikalische Chemie nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt bekleidete. Seine Ausbildung hatte er bei Gustav Magnus in Berlin erhalten, der ein ebenso guter Physiker wie Chemiker war. Während seine Doktorarbeit noch chemischen Inhaltes war, hatte sich Wiedemann später mehr der Physik zugewendet und war daher in erster Linie berufen, die physikalische Chemie zu vertreten, als die Verhältnisse in Leipzig 1871 zur Gründung der entsprechenden Professur geführt hatten.

Da zwischen Kolbe und Wiedemann keine guten persönlichen Beziehungen bestanden, hatte ich beide Kreise einzeln aufzusuchen.

Wiedemann erwies sich als ein leichtgebauter Mann unter Mittelgröße, der sich etwas gebückt hielt, mit schwachem blonden Haar und glattrasiertem beweglichem Gesicht. Er sah so aus, wie man sich einen französischen Weltgeistlichen vorstellt, der in vielen Salons heimisch ist und gern seine Hand in mancherlei Verhältnissen und Beziehungen hat. Neben ihm wirkte seine Gattin, eine Tochter Eilhard Mitscherlichs, imponierend durch ihre Gestalt und ihr Wesen. Ein Sohn, nach seinem Großvater geheißen, war im gleichen Fach als Assistent des Vaters tätig und hatte sich bereits durch einige tüchtige Arbeiten vorteilhaft bekannt gemacht.

Die Familie war vor einiger Zeit von einer Ferienreise nach Ägypten zurückgekehrt, bei welcher der andere Sohn, Ägyptolog, den Führer gemacht hatte. Da ein solcher Ausflug damals eine Seltenheit war, legten alle[192] Beteiligten einiges Gewicht darauf, diese Tatsache in allerlei Einzelheiten der persönlichen und häuslichen Ausstattung zur Geltung zu bringen. Auch von diesem Kreise wurde ich freundlich aufgenommen und brachte einen Abend im Hause zu. Doch kam es nicht zu der herzlichen Stimmung, wie in der Kolbeschen Familie.

Die Besprechung mit dem Verleger Dr. Engelmann verlief befriedigend. Er gab mir Auskunft über mancherlei Technisches beim Büchermachen und riet mir dringend, ihm baldmöglichst druckfertiges Manuskript zu schicken, was ich auch zusagte und hernach pünktlich ausführte.

So waren bei meinem Leipziger Aufenthalt, den ich mit dem Besuch einer ausgezeichneten Tannhäuser-Aufführung abschloß, eine ganze Anzahl Fäden angesponnen, die später im Gewebe meines Lebens bestimmend mitwirkten. Voll von Eindrücken, Hoffnungen und Plänen verließ ich die gastliche Stadt.

Am folgenden Morgen fuhr ich nach Halle, wo ich den himmellangen Kollegen J. Volhard fand, der mir die Tragödie seines Laboratoriumsbaus schilderte. Alle paar Jahre eine kleine Bewilligung, so daß er nicht absehen konnte, wann er überhaupt in Ordnung kommen würde. Am Vorhandenen sei nichts zu sehen. Der trübe Tag machte die rauchige Stadt noch düsterer, so daß ich damals ein sehr ungünstiges Bild von Halle mitnahm. Bei späteren Gelegenheiten haben sich diese Eindrücke sehr zum besseren gewendet.

Ganz anders wirkte die nächste Haltestelle Braunschweig. Die lustige Altstadt mit den geschnitzten Balken an den Fachwerkhäusern und die hübschen neuen Anlagen, die sie umgeben, standen in so freundlichem Gegensatz, daß sich mein Gemüt daran erquickte. Dazu kam die ungekünstelte Herzlichkeit, mit der mich Kollege Robert Otto begrüßte. Sein Name ist in der Verbindung Graham-Otto als Herausgeber des damals ausführlichsten[193] deutschen Lehrbuches der Chemie mehreren Generationen von Chemikern geläufig gewesen. Er war ein kleiner beweglicher Mann in mittleren Jahren, der durch eine fürchterliche Narbe an einer Stirnseite auffiel, in die man einen Finger legen konnte. Sie rührte von einem Überfall durch einen irrsinnig gewordenen Laboratoriumsdiener her, der ihn eines Abends niedergeschlagen und für tot liegen gelassen hatte. Wäre nicht zufällig sein Assistent Beckurts (den ich gleichzeitig kennen lernte; er wurde Ottos Amtsnachfolger) ganz gegen seine Gewohnheit noch spät ins Laboratorium gegangen, um etwas Vergessenes zu holen, wobei er Ottos Stöhnen gehört hat, so wäre dieser rettungslos verblutet. Dies unheimliche Erlebnis hatte indessen die fröhliche Laune des Kollegen nicht zerstören können, der alles tat, um den angenehmen Eindruck zu verstärken und zu vertiefen, den die Stadt auf mich gemacht hatte. Auch der Besuch des uralten Collegium Carolinum, in dem ein Teil der Hochschule untergebracht war, trug zur Befestigung dieses Eindrucks bei.

Wesentlich anders wirkte die nächste Stadt Hannover auf mich ein. Damals blühte dort die wiederbelebte Gothik, die von einem seinerzeit berühmten Architekturprofessor auf den Profanbau übertragen war und ich erinnere mich noch heute der unbequemen Treppen und unbehaglichen Räume in meinem Gasthof, der nach diesen Grundsätzen erbaut war.

Professor der Chemie war Karl Kraut, dessen Name gleichfalls am besten literarisch in der Verbindung Gmelin-Kraut bekannt ist. Ich lernte ihn als einen langen, schmalen Mann mit kurzem Vollbart und einer Brille vor den kurzsichtigen Augen kennen, der einen besonderen Eifer an den Tag legte, mich genauer kennen zu lernen. Nachdem dies zur Genüge geschehen war, ließ er durchblicken, daß er das Seine dafür tun wolle,[194] mir eine Berufung für analytische und physikalische Chemie an seine Hochschule zu verschaffen. Ich sagte ihm auf Befragen, daß ich nicht für immer an Riga gebunden sei. Es ist aber hernach nichts daraus geworden.

Im Gespräch war ich unbescheiden genug, ihn zu fragen, weshalb das von ihm herausgegebene Gmelinsche Handbuch der Chemie so überaus langsam erscheine. Er machte ein Gesicht, als hätte er unversehens ein Pfefferkorn aufgebissen und sagte mit einiger Selbstironie: »Ich werde mich hüten, bei Lebzeiten mit dem Buch fertig zu werden. So fragt doch von Zeit zu Zeit jemand nach mir, wie Sie eben. Ist es aber fertig, so kümmert sich überhaupt keine Katze mehr um mich.« Er hat es tatsächlich nicht fertig gemacht.

Sein Laboratorium war im Erdgeschoß des alten Welfenschlosses untergebracht und enthielt nichts Sehenswertes.

Nach Hannover kam Aachen, wo ich das von Landolt bald nach dem Kriege mit unbegrenzten Mitteln erbaute Laboratorium der technischen Hochschule besah. An jedem Arbeitsplatz war eine besondere Abzugskapelle angebracht, dazu sieben Hähne für Gas, Wasser, mäßiges und hohes Vakuum, Druckluft, Dampf. Man hatte Sorge, wo man vor lauter Hilfsmitteln überhaupt arbeiten sollte. Ich nahm mir vor, dies jedenfalls nicht nachzuahmen.

Mit ganz anderem Interesse besah ich dagegen Alexander Classens Einrichtungen zur Elektroanalyse, die erste, bahnbrechende Anlage dieser Art. Ihr Schöpfer sieht noch heute als hoher Achtziger das Licht der Tage und die große Entwicklung des Gedankens.

Physik lehrte in Aachen Adolf Wüllner, der Verfasser eines damals allgemein gebrauchten vierbändigen Lehrbuches der Physik, wegen seiner stattlichen Erscheinung – blasses, wohlgeschnittenes Gesicht, dunkelblonder Vollbart, stramme Haltung – der schöne Adolf[195] genannt. Mir war seine persönliche Bekanntschaft erwünscht. Denn ich hatte seine Messungen über die Dampfdruckverminderung in wässerigen Lösungen verschiedener Salze für mein Lehrbuch nachgerechnet und gefunden, daß äquivalente Lösungen gleichgebildeter Salze gleich große Verminderung bewirken. Es war dies die Vorentdeckung eines großen Teils der Beziehungen, welche später von Raoult für die Dampfdruckverminderung der Lösungen gefunden wurden, die seitdem ihm allein zugeschrieben werden. Dies ist eine fast unvermeidliche Folge, wenn man neue Entdeckungen nur im Rahmen eines größeren Werkes veröffentlicht. Die wissenschaftliche Gemeinde ist so gewöhnt, Neues nur in einer darüber besonders geschriebenen Abhandlung sich vorgetragen zu sehen, daß sie unwillkürlich voraussetzt, alle Dinge, die sich in einem Lehrbuch finden, seien nicht neu. Es ist dies nicht die einzige Erfahrung solcher Art, die ich gemacht habe.

Als ich Wüllner die Entdeckung vortrug, die ich an seinen Beobachtungen gemacht hatte, fand ich wenig Gegenliebe. Ich hatte geglaubt, ihm damit eine besondere Freude zu machen, mußte aber mich überzeugen, daß das Mißgefühl, nicht selbst der Entdecker an seinen eigenen Messungen zu sein, bei weitem die Freude daran überwog, daß die Wissenschaft eine Förderung erfahren hatte. Und es hat lange gedauert, bis ich diese naheliegende und fast unfehlbar eintretende psychologische Reaktion zu berücksichtigen gelernt habe.

Die folgende Station war Bonn, wo ich Hoffnung hatte, Kekulé zu sehen, den großen Umgestalter der organischen Chemie. Wegen meiner amtlichen Wünsche nach Einrichtung und Betrieb des Laboratoriums wurde, ich zunächst an seinen Assistenten Otto Wallach gewiesen, damals ein blonder schmächtiger Jungmann, heute ein verehrter Greis in schneeweißem Haar nach[196] ruhmvoller Laufbahn auf Wöhlers Lehrstuhl in Göttingen.

Kekulé hatte sich, verdüstert durch persönliche Schicksale von niederdrückender Beschaffenheit, fast ganz vom täglichen Verkehr und von der wissenschaftlichen Arbeit zurückgezogen, wenigstens veröffentlichte er nur ausnahmsweise etwas von seinen Ergebnissen. An jenem Tage hat ihn vielleicht ein verlorener Sonnenstrahl erfrischt; er gesellte sich zu uns, geriet ins Plaudern und hielt mir einen entzückenden, humordurchtränkten Vortrag über die vielfältigen Tugenden seines Vorlesungstisches. Er war damals 54 Jahre alt, eine gute Gestalt mit auffallend schönem, vollbärtigem Kopf. Max Klinger hat ihn als Modell für seinen Zeus auf dem großen Bilde: Christus im Olymp benutzt. Zuletzt ging das Gespräch auf meine Arbeiten über und er drückte mir seine Anerkennung über den Mut aus, so etwas zu unternehmen. »Aber, mein lieber junger Freund,« sagte er schließlich und legte mir seinen Arm herzlich um die Schultern, »ich kann Ihnen nur raten, geben Sie die Sache auf. Ich habe vor Jahren dreimal vierundzwanzig Stunden ununterbrochen darüber nachgedacht und mich überzeugt, daß da nichts zu machen ist.«

Von Bonn ging ich nach Darmstadt, wo ich den Professor Städel kennen lernte, der mir merkwürdige vielfarbige Isomere zeigte und weiter nach Heidelberg, das ich klopfenden Herzens betrat, denn dort wirkte noch als Siebziger mein wissenschaftliches Ideal Robert Bunsen. Die Fahrt durch die Bergstraße machte trotz des Winters einen über aus wohltuenden Eindruck auf mich; auch in Heidelberg versäumte ich nicht, auf den Schloßberg zu steigen und mich der herrlichen Landschaft zu erfreuen. Zuerst suchte ich August Horstmann, den Begründer der chemischen Thermodynamik auf, mit dem ich seit einiger Zeit in brieflichem Verkehr[197] stand. Ich fand einen hageren, etwas gebückten blonden Mann mit blassem Gesicht, gebogener Nase und schütterem Vollbart, der leider fast blind war. Mit dem einen Auge sah er überhaupt nicht und das andere war so kurzsichtig, daß er das Buch, in dem er lesen wollte, bis auf einige Zentimeter heranbringen mußte. Er hatte in den Versuchen über die gleichzeitige Verbrennung von Wasserstoff und Kohlenoxyd mit unzureichenden Mengen Sauerstoff, durch welche Bunsen bei stetiger Änderung der Mengenverhältnisse eine sprungweise Wirkung nach stöchiometrischen Verhältnissen zu erkennen geglaubt hatte, einen wesentlichen Fehler (Anwesenheit von Wasserdampf) erkannt und nachgewiesen. Deshalb war er bei den unbedingten Bunsenverehrern, die in Heidelberg natürlich das Übergewicht hatten, in Ungnade gefallen, so daß sie ihm das Leben und Lehren unerfreulich erschwerten; glücklicherweise war er wirtschaftlich unabhängig. Wir hatten einander sehr viel zu fragen und zu sagen und wurden gute Freunde an dem häuslichen Abend, den er mir in seiner Familie gönnte, und der zu meinen angenehmsten Erinnerungen an diese Reise gehört. Auch Horstmann sprach von der Möglichkeit meiner baldigen Berufung nach Deutschland, da er selbst wegen seines Augenleidens nicht in Frage kam.

Am folgenden Morgen ging ich in Bunsens Laboratorium. Ich wandte mich zunächst an den Assistenten, der mir alle Einrichtungen zeigte. Ich lernte vieles kennen, was nie beschrieben worden war und sah auch den Altmeister, eine kräftige, etwas gebückte Gestalt, das Gesicht von blühender Farbe, umrahmt von einem kurzen Schifferbart, die Oberlippe rasiert, das Haar fast weiß. Ich wurde gewarnt, ihn anzureden; er sei bei der Arbeit, da stelle er sich taub, um nicht gestört zu werden. Am nächsten Morgen hörte ich seine Vorlesung, an die ich keine Erinnerung mehr habe, und stellte mich ihm hernach vor.[198] Er war sehr freundlich und verzichtete ganz auf seine Taubheit. Beim Mittagessen im Badischen Hof, zu dem ich mich auf kundigen Rat eingefunden hatte, begrüßte er mich wie einen alten Bekannten und ließ sich sehr gutmütig über die Vorgeschichte der Spektralanalyse ausfragen, von der er mir lehrreiche Einzelheiten erzählte.

Kopp, den ich gleichfalls sehr gern kennen gelernt hätte, fand ich leider nicht zu Hause.

Von dort ging es nach Karlsruhe, wo ich Engler und Bunte kennen lernte; bestimmte Erinnerungen haben sich hierüber nicht erhalten. Auch von Stuttgart, meiner nächsten Station, erinnere ich mich nur meines Besuches bei dem kuriosen Schweizer Urech. Dieser hatte gleichfalls begonnen, die Frage des Verlaufs chemischer Vorgänge messend zu bearbeiten und dazu die Inversion des Zuckers durch Säuren gewählt, jenes seit Wilhelmy klassische Beispiel, da man hier den Zustand ausnahmsweise ohne Eingriff durch die Messung der optischen Drehung feststellen kann.

Ich fand ihn in einem kleinen Zimmer, welches neben den Flaschen mit den angesetzten Lösungen und dem Polarimeter einen Regulierofen und ein Bett enthielt. Der unglückliche Forscher verließ dies Gefängnis Tag und Nacht nicht außer auf wenige Minuten, weil er immerfort das Thermometer ablesen und die Stellschraube seines Ofens entsprechend bewegen mußte, um die Temperatur einigermaßen konstant zu halten. Er hatte also sein ganzes Zimmer zu einem Thermostaten gemacht. Ich sagte ihm voraus, daß er für die Inversionsgeschwindigkeiten dieselbe Reihe finden werde, wie ich sie für die Teilung einer Base zwischen zwei Säuren gefunden hatte, was sich später durchgängig bestätigt hat.

In Tübingen, meiner nächsten Station, war Lothar Meyer tätig, dessen wissenschaftliche Richtung einigermaßen der meinen parallel ging; er war reichlich 20 Jahre[199] älter als ich. Als ich mich am späten Nachmittag bei ihm melden ließ, wo ich ihn bei irgendeiner Arbeit störte, empfing er mich mit ziemlich unwirschem Gesicht und abweisendem Gebahren. Er fragte nach meinem Namen, den der Diener offenbar nicht verstanden hatte und musterte mich nicht ohne Mißtrauen, denn ich sah nach der langen und eiligen Reise wohl nicht ganz so aus, wie ein ordentlicher Professor aussehen sollte. Als er aber meinen Namen gehört und sich durch eine schnelle Frage meiner Identität vergewissert hatte, ging es in seinem Gesicht wie Sonne auf, so daß mir bei der Erinnerung noch heute das Herz warm wird. Er nahm mich alsbald in seine Wohnung hinauf, stellte mich seiner Frau, der vielberühmten »Lotharia« vor, und ich durfte mit beiden einen der vielen heiteren und angenehmen Abende meiner Reise verleben.

Eine zweite sehr angenehme Erinnerung aus Tübingen ist die an den physiologischen Chemiker Otto Hüfner. Er war ein Schüler R. Bunsens und hatte seine physiologischen Aufgaben mehrfach nach sinnreichen physikalischen Methoden zu lösen gewußt. So suchte ich ihn in seinem Laboratorium auf, das damals noch in dem alten Schloß mit seinen meterstarken Mauern belegen war. Ich fand einen nicht großen Mann vom typischen Aussehen des deutschen Professors: rotblondes, kurzes Haar, gleichfarbiger Vollbart, Brille, etwas nachlässig in Haltung und Kleidung. Er war sehr erfreut, meine persönliche Bekanntschaft zu machen. Wir hatten uns viel zu sagen, so daß wir zusammen zu Mittag gingen – er war Junggesell – und duftigen Rheinwein auf dauernde Verbindung tranken; sie hat sich auch bis zu seinem zu frühen Tode bewährt.

Von Tübingen wendete ich mich nach Zürich, der vorletzten Station meiner Pilgerfahrt. Dort winkte mir die Bekanntschaft mit dem genialen Victor Meyer,[200] der eben seine aufsehenerregenden Untersuchungen über die Dampfdichten der Halogene bei den höchsten erreichbaren Temperaturen im Gange hatte. Tatsächlich fand ich ihn vor seinem weißglühenden Ofen in Hut und Mantel, da die Fenster weit offen sein mußten, um den Aufenthalt erträglich zu machen. Er war ein schlanker Mann mit dunklem Haar und Bart, das Gesicht vom typischen Schnitt seines Stammes, aber sehr gut anzusehen und belebt durch zwei strahlende blaue Augen. Er erwies sich als bekannt mit meinen Arbeiten und gewährte mir ein interessantes Plauderstündchen, wobei freilich die Nervosität oft zutage trat, die er sich durch allzu leidenschaftliches Arbeiten zugezogen hatte, das zuweilen zu sehr auf dramatische Wirkung zugespitzt war und ihn daher nicht selten zu Selbstüberbürdungen verleitete.

Eine ganz entgegengesetzte Natur war der Physiker Friedrich Weber, den ich gleichfalls dort kennen lernte. Der Geselligkeit abhold, nur auf seine Arbeiten eingestellt, so daß er darüber, wie mir später seine Gattin klagte, auch Frau und Kinder vernachlässigte, hager und schweigsam war er mir entgegengetreten. Meine Nachfrage nach einigen Punkten aus seinen letzten Untersuchungen ließ ihn auftauen. Er freute sich sichtlich, jemanden kennen zu lernen, der sie so eingehend studiert hatte, zeigte mir sein Laboratorium, das viel Originales enthielt und nahm mich sogar zu Tisch nach Hause, was seine Gattin in Verwunderung setzte, aber angenehme, wie sie versicherte.

Die letzte Stadt, in der ich mich aufhielt, war München, wohin ich von Zürich ging. Obwohl ich von der allzuraschen Reise ziemlich erschöpft war, ließ ich doch die Kunstschätze der schönen Stadt nicht ungenossen. An der technischen Hochschule lernte ich Erlenmeyer, an der Universität A. von Baeyer kennen. Aus dem Gespräch mit diesem erinnere ich mich seiner lebhaften[201] Warnung, über meine Arbeiten vor ihrer Veröffentlichung etwas verlauten zu lassen. »Keiner von meinen Assistenten und Doktoranden darf erfahren, was der andere tut.« Ich muß bekennen, daß diese Mahnung mich nur in meinem gegenteiligen Verhalten bestärkt hat.

Beim Besuch des Baeyerschen Laboratoriums hatte ich keinen der Assistenten und jüngeren Professoren gefunden, weil ich dort zu früh erschienen und es außerdem Sonnabend war; doch hatte man mir gesagt, daß sie Mittag im Kunstgewerbehaus äßen. Ich ging dort hin und hatte eben meine Mahlzeit angefangen, als ich an einem ziemlich lärmigen Nachbartisch eine laute Stimme fragen hörte: »Haben's den Ostwald schon g'sehen?« »Was für einen Ostwald?« war die Gegenfrage. »Nun, den von der Volumchemie,« antwortete der erste. Ich gab mich zu erkennen und fand mich alsbald in einem lustigen Kreise aufstrebender Altersgenossen, mit denen sich der Nachmittag bis tief in den Abend verlängerte. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wer alles zugegen war; v. Pechmann, Knorr, Bamberger mögen darunter gewesen sein.

Von München reiste ich endlich geradlinig nach Hause, wo ich vier Wochen nach meiner Abreise wieder eintraf. Mit der Federkraft der Jugend hatte ich die Ermüdung der Hetzreise mit ihren unzähligen Eindrücken bald überwunden und es blieben als dauernder Gewinn die vielen angenehmen persönlichen Beziehungen übrig, die ich hatte anknüpfen dürfen, und die mannigfaltigen wissenschaftlichen Anregungen in Einzelfragen, die ich dabei gewonnen hatte. Jene hatten zweifellos einen starken Einfluß auf die äußere Gestaltung meines Lebensganges, da ohne persönliche Bekanntschaft von einer Berufung nach Deutschland schwerlich die Rede sein konnte.

Eine irgendwie entscheidende Wendung in meinem inneren Entwicklungsgange kann ich indessen nicht als Folge dieses ersten Besuches »in Europa« (wie Karl[202] Schmidt seine Fahrten nach Deutschland zu bezeichnen pflegte) erkennen. Ich war etwa dreißig Jahre alt, hatte bald zehn Jahre lang den selbstgewählten Weg stetig verfolgt, der mich zweifellos aufwärts und dem Ziele merklich näher geführt hatte und war deshalb viel mehr darauf aus, neue Arbeits- und Denkmittel zur besseren Lösung der gleichen Aufgaben zu finden, als meine Problemstellung durch fremde Einflüsse grundsätzlich verschieben zu lassen. So faßte ich die Reise mehr als eine willkommene Gelegenheit auf, für mein eigenes Arbeitsfeld die Teilnahme der Fachgenossen zu erwecken, die sich bis dahin nur bei sehr vereinzelten Forschern gefunden hatte.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 183-203.
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