Achtes Kapitel.
Die Professur in Riga.

[168] Arbeitsverhältnisse. In diese ruhigen Verhältnisse sprang ich nun als völlig neuer Mensch mit ganz anderen Zielen und Formen hinein, unbekümmert in der Weise der Jugend, ob und wie ich damit Anstoß und Unzufriedenheit erregte.

Ich darf es wohl dem Ansehen zuschreiben, das ich bereits als wissenschaftlicher Forscher gewonnen hatte, daß man mich ohne Widerstand gewähren ließ und keinerlei verletzte Empfindlichkeit zur Geltung brachte.

Die Studenten hatte ich bald ganz gewonnen. Mir wurde folgendes Gespräch zwischen zwei polnischen Studenten (die ziemlich zahlreich vertreten waren) berichtet: A.: »Hast du schonn gehörrt neuen Professor? B.: Nein, was ist? A.: Du mußt hörren ihn, da geht Chemie in Kopf wie mit Schaufel.«

So wurde weder von den Kollegen noch von den Studenten ein Widerspruch dagegen erhoben, daß ich alsbald die Anforderungen für den Abschluß der Ausbildung wesentlich erhöhte. Bis dahin galt die Analyse eines willkürlich zusammengesetzten Salzgemisches als abschließende Leistung für die Erlangung des Diploms; ich konnte bald die Forderung einer wissenschaftlichen Arbeit durchsetzen.

Da die Anzahl der Chemiestudierenden, die bei der wenig anregenden Tätigkeit meines Vorgängers nicht groß[169] war, sich nun schnell vermehrte, so bedeutete diese Forderung eine schnell zunehmende Belastung des leitenden Professors. Zunächst um die Beschaffung der angemessenen Aufgaben. Sie mußten ein wissenschaftliches Problem, womöglich mit technischen Zusammenhängen enthalten und durften doch nicht schwierig sein. Denn da die wissenschaftliche Atmosphäre, welche so ungemein wirksam die Unterrichtsarbeit am Einzelnen unterstützt, erst zu schaffen war, so hatten die ersten Kandidaten es besonders schwer, zumal die Hauptzeit ihrer Ausbildung noch vor mir gelegen war. Indes ließen sich diese Schwierigkeiten gut überwinden; insbesondere hatte ich seitens der Studenten nie über Mangel an gutem Willen zu klagen.

Dies mochte damit zusammenhängen, daß ich meinerseits sie zu entlasten bestrebt war, wo ich unzweckmäßige Belastung fand. So waren für die obligatorischen Fächer Zwischenprüfungen vorgeschrieben, durch welche der erfolgreiche Besuch der Vorlesungen gesichert wurde; sie fanden je nach deren Dauer semesterlich oder jährlich in den letzten Tagen des Semesters statt. Hierdurch entstand für Hörer wie Lehrer eine kaum zu ertragende Belastung, deren Nachteile ganz bei den Studenten lagen. Sie mußten gleichzeitig auf eine ganze Anzahl Fächer sich vorbereiten und die Lehrer wurden durch die wochenlange Prüferei unwirsch und leicht ungerecht. Ich überzeugte die Kollegen, daß es ja nur darauf ankam, daß die Studenten einmal ihre Kenntnisse erwarben und nachwiesen, nicht aber, wann letzteres stattfand, und auf meinen Antrag wurde es ihnen freigestellt, sich zu solcher Prüfung zu beliebiger Zeit zu melden, wenn sie sich genügend vorbereitet fühlten; der Professor bestimmte dann Stunde und Tag nach seiner Bequemlichkeit. Da die Aufnahme höherer Vorlesungen vielfach an die Ableistung der Zwischenprüfung in den Vorfächern geknüpft war, so bestand keine Gefahr einer Verschleppung. Die Einrichtung wurde von[170] Lehrern wie Schülern gern aufgenommen und ist auch nach meinem Ausscheiden in Kraft geblieben.

Die Assistenten. Bei der Unterrichtsarbeit hatte ich gute Hilfe durch meine Assistenten. Zwei von ihnen hatten gleich mir in Dorpat studiert und sich wie ich der Fraternitas Rigensis angeschlossen; beide waren an Jahren älter als ich und einer von ihnen war mein Schulkamerad im Realgymnasium gewesen. Als ich in Riga eingetroffen war, traten sie am nächsten Sonntag im feierlichen Frack bei mir an. Als ich sie darum auslachte, sagten sie mit einiger Verlegenheit, daß sie doch nicht hätten wissen können, ob ich die alten kameradschaftlichen Beziehungen in das neue Verhältnis des Vorgesetzten zum Untergebenen herübernehmen würde. Ich ließ sie nicht in Zweifel, daß jenes ältere Verhältnis auch unter den neuen Bedingungen maßgebend bleiben würde. Meine neuen Kollegen schüttelten den Kopf dazu, daß der Professor mit seinen Assistenten auf Du und Du auch in Gegenwart der Studenten verkehrte. Ich habe keinerlei Nachteile davon erlebt und glaube im Gegenteil dadurch eine viel größere Bereitwilligkeit zur Mitarbeit bei erheblich gesteigerten Ansprüchen in ihnen erweckt zu haben. Auch hatte ich die Genugtuung, daß sie sich ohne direkte Aufforderung von meiner Seite bald eifrig an meinen wissenschaftlichen Arbeiten beteiligten, nachdem sie unter dem früheren Regiment jahraus jahrein keinerlei Bedürfnis darnach empfunden hatten.

Außer diesen beiden Unterrichtsgehilfen hatte ich als Vorlesungsassistenten einen Polen überkommen, der sich als geschickt und zuverlässig erwies. Er hatte seine Ausbildung am Polytechnikum erhalten und leistete mir wertvolle Dienste als Verbindungsglied mit der Studentenschaft, in der die Deutschen kaum die Hälfte ausmachten. Natürlich versuchte er bald nach Art seines Stammes, mich für dessen nationale Bestrebungen zu gewinnen, fand aber dafür bei mir gar keinen Widerhall, da mir[171] politische Interessen damals fern lagen und ich in solcher Richtung nähere Sorgen um mein eigenes Land und Volk hatte, dem die Russifizierung drohend näher rückte.

Wissenschaftliche Arbeit. Die experimentellen Arbeiten erfuhren trotz der vielfältigen Beanspruchung in Riga alsbald wesentliche Erweiterungen. Meine letzte Untersuchung in Dorpat hatte sich auf ein thermochemisches Verfahren bezogen, wechselseitige Umsetzungen von Salzen nach dem Zusammenschmelzen und plötzlichen Abkühlen zu messen. Es ist dies beiläufig meine einzige Arbeit aus dem Gebiet der Thermochemie. Sie brachte mir später eine lehrreiche Erfahrung. Lange Zeit gab es nur zwei namhafte Forscher, die sich dieses Hilfsmittels bedienten, den Dänen Julius Thomsen und den Franzosen Marcellin Berthelot. Der zweite hatte den Ehrgeiz, als der maßgebende Thermochemiker der Welt dazustehen, was er seinen eigenen Landsleuten gegenüber leicht erreichte. Da die von mir eingeführte Anwendung etwas Neues war, so fühlte er anscheinend das Bedürfnis, auch hierauf seine Hand zu legen. Er wiederholte meine Versuche, erweiterte sie durch die Einbeziehung anderer Salze, die nach gleichem Verfahren bearbeitet wurden und veröffentlichte diese Arbeit als eine Frucht eigener Geistestätigkeit. Um sich gegen den verdienten Vorwurf des Plagiats zu schützen, beobachtete er die Vorsicht, meinen Namen in einer Fußnote zu erwähnen, aber so, daß niemand vermuten konnte, daß der Grundgedanke von mir herrührte.

Ich brauchte einige Zeit, um die niedrige Beschaffenheit dieser Taktik zu verstehen. Denn Berthelot befand sich damals auf der Höhe seines Ruhms und hätte es wahrlich nicht nötig gehabt, einem jungen, wenig bekannten Forscher sein einziges thermochemisches Federchen zu entwenden, um sich selbst damit zu schmücken. Aber ich hatte bei dem Studium der zugehörigen Literatur nicht übersehen können, mit welcher Ungerechtigkeit er[172] seinen älteren Konkurrenten Thomsen zu behandeln pflegte, um sich einen von diesem zuerst ausgesprochenen Satz (der zudem falsch war) anzueignen und war daher auf ein ähnliches Verhalten mir gegenüber vorbereitet.

Auf eine öffentliche Reklamation verzichtete ich indessen, da ich durch mein neues Amt nach ganz anderer Richtung in Anspruch genommen war. Für das Verständnis der wissenschaftlich-persönlichen Verhältnisse und Gewohnheiten in Paris, wie sie seit Jahrhunderten bestanden haben und wohl noch heute bestehen, war mir das kleine Erlebnis sehr aufklärend.

Der Thermostat. Einen wesentlichen Fortschritt machten meine experimentellen Arbeiten in Riga durch die Einbeziehung der Geschwindigkeit chemischer Vorgänge. Bis dahin hatte ich nur Gleichgewichtszustände untersucht; nunmehr wendete ich mich dem Studium des Verlaufes chemischer Vorgänge zu. Hier hatte ich noch weniger Vorgänger, als in jenem Gebiete. Denn um hier messende Bestimmungen zu machen, mußte man die Temperatur lange Zeit unverändert halten. Das war damals eine schwere Aufgabe, denn brauchbare Thermostaten, die durch Wochen und Monate betätigt werden konnten, gab es nicht.

Ich hatte sehr bald nach meinem Eintreffen in Riga begonnen, mich mit der Frage des Thermostaten zu beschäftigen. Die Durchsicht der bisher versuchten Lösungen ließ zunächst erkennen, daß jene, die auf der Regelung des Heizgases durch Wärmeausdehnung beruhten, die entwicklungsfähigsten waren; außerdem sprachen sie mich durch ihre grundsätzliche Sparsamkeit an, da sie nicht mehr Gas durchgehen ließen, als unbedingt notwendig für die Deckung der Strahlungsverluste war.

Dann ergab sich bei einer methodischen Untersuchung der Bedingungen der Empfindlichkeit, daß man diese durch die damals übliche Anwendung von schräg abgeschnittenen[173] oder geschlitzten Zuführungsrohren ganz unnötig stark vermindert hatte. Nach einigen Wochen methodischer Arbeit, wobei mir meine Glasblasekunst, so unvollkommen sie war, entscheidende Dienste leistete, war der mit Chlorkalziumlösung gefüllte Regulator erfunden, der unter sehr geringen Wandlungen (Ersatz der Füllflüssigkeit durch Toluol, worauf ich erst in Leipzig kam) durch ein Menschenalter seine Dienste in der ganzen Welt geleistet hat und noch leistet, soweit nicht die Gasheizung durch elektrische verdrängt ist, welche einige Abänderungen erfordert, mit denen ich mich nicht beschäftigt habe.

Auch die durch die warme Luft eines Flämmchens getriebene Windmühle zu Rührzwecken entstand damals. Als Modell diente ein Weihnachtsspielzeug aus meinen Kinderjahren. Es bestand aus einem Zylinder aus Pappe, in dessen Wand allerlei Gespensterfiguren ausgeschnitten waren. Der obere Boden war zu Mühlflügeln ausgearbeitet und das Ganze schwebte leicht drehbar auf einem Halter aus Draht. Wurde eine brennende Kerze unter den Zylinder gestellt, so setzte er sich in Bewegung und die Gespenstergestalten huschten als Lichtflecken über die dunklen Wände.

Zuerst wurde das Gerät während der Stunden in Gang gehalten, die ich im Laboratorium verbrachte. Dann wagte ich es über Mittag während meiner Abwesenheit gehen zu lassen. Erst nachdem ich mich überzeugt hatte, daß keinerlei Unregelmäßigkeiten eintraten, faßte ich den Entschluß, es über Nacht brennen zu lassen, nicht ohne den Hausmann zu ermahnen, diesmal besonders gut aufzupassen.

Während ich sonst einen ausgezeichneten Schlaf hatte, bin ich in jener Nacht wohl ein Dutzendmal aufgestanden und habe nach der Richtung des Polytechnikums geschaut und gehorcht, ob Feuerschein oder -lärm erkennbar wären. So früh als möglich war ich am nächsten Morgen da und[174] ein Stein fiel mir vom Herzen, als ich alles in Ordnung und die Temperatur nicht um einen Zehntelgrad verändert fand.

In der Folge habe ich weder in Riga noch in Leipzig irgendeinen Unfall durch Versagen meines Thermostaten erlebt und auch aus anderen Laboratorien ist mir nichts derartiges bekannt geworden.

Ich habe diese Dinge so ausführlich geschildert, weil tatsächlich die ganze inzwischen erfolgte Entwicklung der chemischen Kinetik und Mechanik ohne einen handlichen und zuverlässigen Thermostaten nicht möglich gewesen wäre.

Chemische Kinetik. Mir selbst war hiermit die Möglichkeit gegeben, eine Reihe von »Studien zur chemischen Dynamik« auszuführen und zu veröffentlichen, durch welche weitere Gebiete der Verwandtschaftslehre erschlossen wurden. Sie haben später die Grundlage meiner begrifflichen und experimentellen Forschungen über Katalyse gebildet, die eine Art Höhepunkt meiner chemischen Arbeiten darstellen.

Für diese Arbeiten war von großem Vorteil die Verpflichtung meines Amtes, die ganze Chemie, also auch die organische vorzutragen. Es ist schon erzählt worden, wie stark die letztere in Dorpat in den Hintergrund gedrängt war.

Meine bisherigen Forschungsarbeiten hatten sich vorwiegend auf anorganischem Gebiet bewegt, wenn auch der Wunsch, möglichst viele Säuren bezüglich ihrer Verwandtschaft kennen zu lernen, mir auch organisches Material in die Hand gezwungen hatte. Nun waren damals so gut wie keine langsam verlaufenden und somit der Messung zugänglichen Vorgänge im anorganischen Gebiet bekannt, während sie im organischen die Regel bilden. Während ich im Hinblick auf die bevorstehenden Vorlesungen mich in dies vorher wenig betretene Gebiet einarbeitete, meiner Gewohnheit nach durch massenhaftes Lesen von Originalabhandlungen,[175] hielt ich fleißig Umschau nach Reaktionen, an denen ich die Gesetze der chemischen Kinetik studieren konnte.


Von wesentlicher Bedeutung war andererseits, daß ich schon während meiner Studentenjahre mich mit den Grundlagen der Infinitesimalrechnung bekannt gemacht hatte. Es war damals aus allgemeinem Wissensdrang geschehen und meine späteren mehr physikalisch gerichteten Studien hatten mich überzeugt, wie notwendig diese Kenntnisse waren. Doch habe ich es auch später niemals weit in der höheren Mathematik gebracht und wiederholte Anläufe haben mich belehrt, daß hier meine Grenzen ziemlich eng gezogen waren. Aber soweit war ich doch zu Hause, daß ich die zunächst noch sehr einfachen Aufgaben, welche die chemische Kinetik stellte, frei bearbeiten konnte, ohne durch begriffliche oder technische Schwierigkeiten gehemmt zu werden.


Die erste Reaktion, die ich auf solche Weise untersuchte, war die Verseifung des Acetamids durch Säuren. Es folgte die von mir entdeckte katalytische Hydrolyse der Ester (ich benutzte Methylazetat) durch verdünnte Säuren. Dieser Vorgang, der sich so bequem durch Titrieren verfolgen läßt, hat hernach vielfache Anwendung gefunden. Dann studierte ich den klassischen Vorgang der Zuckerinversion. Alle diese Vorgänge erwiesen sich als von derselben Eigenschaft der Säuren abhängig, da ihre Geschwindigkeitskonstanten für gleiche Säuren stets in gleichem Verhältnis standen. Die Reihenfolge stimmte überein mit der durch Gleichgewichtsmessung gefundenen. Es war somit zum erstenmal die Existenz allgemeiner Affinitätswerte bei den Säuren nachgewiesen, welche für deren Reaktionen in weitem Umfange maßgebend sind, wobei es sich freilich immer um Vorgänge in verdünnter, wässeriger Lösung handelte.[176]

Diese Beziehungen stellten das erste Eindringen der Forschung in das Gebiet der Verwandtschaftslehre dar, welches zu einfachen, quantitativen Gesetzen geführt hatte. Nachdem Berthollet zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts seine Überzeugung ausgesprochen hatte, daß nunmehr auch in der Chemie die Grundgesetze der Mechanik anwendbar sein würden, wie in der Astronomie und in der Physik, und daß diese Anwendung unmittelbar ebenso zu einer Blüte jener Wissenschaft führen würde, wie es mit diesen geschehen war, mußte man zugestehen, daß diese Hoffnung weitgehend verfrüht war. Die Chemie entwickelte sich nach einer ganz anderen Seite, als Berthollet sie in seiner »Statique chimique« vorausgesagt hatte. Gegenwärtig begreifen wir die innere Logik dieser Entwicklung. Zuerst mußte das chemische Material, die Mannigfaltigkeit der individuellen Stoffe, es mußten mit anderen Worten die Kapazitätsfaktoren der chemischen Energie wissenschaftlich bewältigt sein, ehe die Gesetze ihrer Umwandlungen nach Zeit und Menge der Forschung zugänglich wurden. So mußte fast ein ganzes Jahrhundert vergehen, ehe die von Berthollet angestrebte aber nicht erreichte chemische Statik Wirklichkeit wurde. Und als dies geschah, waren die Fachgenossen noch so tief in jene älteren Aufgaben versenkt, daß nur sehr wenige die Richtung ihrer Arbeiten auf die neuen Ziele wenden mochten.

Chemische Thermodynamik. Einen sehr wesentlichen Anteil an der endlich eintretenden Entwicklung muß der seit der grundlegenden Entdeckung des mechanischen Wärmeäquivalents durch J.R. Mayer 1842 erst langsam, dann aber schnell und schneller aufblühenden Thermodynamik oder besser Energetik zugeschrieben werden. Es verging allerdings eine ziemlich lange Zeit, bis die Erforscher dieses Gebiets sich der Chemie zuwendeten. Zufolge des mathematischen Gerüstes, das für die Errichtung[177] dieses großartigen Gebäudes notwendig war, waren die ersten methodischen Arbeiter auf dem Gelände Mathematiker und Physiker, denen chemisches Denken ganz fern lag. So behandelt Helmholtz in seiner grundlegenden Abhandlung über die Erhaltung der Kraft nach einander die verschiedenen Gebiete der Physik, Mechanik, Wärme, Elektrizität, Galvanismus, Magnetismus und Elektromagnetismus und bemerkt zum Schluß: »Es bleiben uns von den bekannten Naturprozessen nur die der organischen Wesen übrig.« Und obwohl er alsbald sachgemäß betont, daß diese wesentlich chemischer Natur sind, wird er nicht gewahr, daß er eine Theorie der chemischen Vorgänge von seinem neu gewonnenen Standpunkte aus gar nicht entwickelt hatte. Nur in der Lehre vom Galvanismus, wo elektrische Vorgänge sich mit chemischen berühren, hat er diese kurz erwähnt und auch für die chemischen Quellen der Wärme und Elektrizität das Erhaltungsgesetz gefordert.

Ganz ähnlich war die Einstellung der nächsten großen Forscher in diesem Gebiet, R. Clausius und William Thomson, welche den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik aufgestellt (Clausius) und entwickelt (Thomson) haben. Clausius wählte als Anwendungsgebiet zur Erläuterung seiner Entdeckungen die Theorie der Dampfmaschine und Thomson, dessen beweglicher Geist mit den neuen Einsichten die verschiedensten Probleme der Physik befruchtete, hat auf seinen Flügen die Blumen der Chemie trotz ihrer Fruchtbarkeit nie besucht. Offenbar hat ihn ihr Duft nicht angezogen.

Viel später erst haben zwei Forscher unabhängig von einander gezeigt, welches große Anwendungsgebiet der zweite Hauptsatz in der Chemie findet. Horstmann in Deutschland und zehn Jahre später, aber unabhängig von ihm Willard Gibbs in Amerika. Horstmanns Arbeit war in den »Annalen der Chemie« erschienen,[178] deren Leser nicht an Differential- und Integralzeichen gewöhnt waren und die Abhandlung daher überschlugen. Und Gibbs gar hatte seine tiefgreifenden und weitumfassenden Forschungen in den unzugänglichen Schriften einer provinzialen Akademie so erfolgreich versteckt, daß es besonderer Anstrengungen bedurfte (an denen ich mich später beteiligte), um sie an das Licht der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu ziehen.

Dank der Anregungen Öttingens (dem ich auch den ersten Hinweis auf Gibbs verdanke), war ich mit dem Gedankenkreise der Thermodynamik schon früh in Berührung gekommen. Hatte doch Öttingen selbst sich wiederholt um begriffliche Klärung dieser damals wie Dornröschen mit mathematischen Hecken von stacheliger Beschaffenheit umgebenen Gedanken bemüht. So lag es nahe genug, daß ich zu der Überzeugung kam, daß die Probleme, die mich zwackten, mit Hilfe dieser gewaltigen Denkmittel wohl gelöst werden könnten. Die erste Voraussetzung dafür war, daß ich das neue Werkzeug handhaben lernte, und dies war für mich eine schwierige Aufgabe. Wie oft habe ich damals lange einsame Wanderungen unternommen, um ungestört über den zweiten Hauptsatz nachdenken zu können1.

»Mir sind noch immer die inneren Anstrengungen gegenwärtig, welche ich empfand, als ich mir den Inhalt der damaligen Thermodynamik, der gegenwärtigen Energetik begreiflich machen wollte. Wollte, weil ich mußte. Denn um mit gutem Gewissen lehren zu können, was an übertragbaren Schlußergebnissen durch die Anwendung dieses Gesetzes gefunden und in den regelmäßigen Bestand der Wissenschaft übergegangen war, mußte ich mir notwendig den Weg völlig klar und anschaulich machen, der aus den gemachten Voraussetzungen[179] zu anscheinend so weit von ihnen entfernten Ergebnissen geführt hatte. Es war damals überaus schwierig, sich zu vergegenwärtigen, was Clausius' Gesetz von der Zunahme der Entropie oder William Thomsons Gesetz von der Dissipation der Energie etwa mit der Ableitung der Verdampfungswärme aus dem Temperaturkoeffizienten des Dampfdrucks zu tun hatte. Während aber die erstgenannten großen Verallgemeinerungen, die in ihrer nicht unbedenklichen Anwendung auf das ganze Weltall alsbald ein anschauliches Verständnis finden konnten und gefunden hatten, sich leicht, etwa durch das Bild des herabfließenden Stroms, der nie zum Rückwärtsfließen den Berg hinan veranlaßt werden kann, dem täglichen Denken einprägen ließen, machten die bescheideneren, aber an der Erfahrung prüfbaren und durch diese bestätigten Schlüsse, durch welche ganz verschiedenartig erscheinende physikalische Größen miteinander in Verbindung gesetzt wurden, bedeutend mehr Kopfzerbrechen ... So blieb mir nichts übrig, als meinen Weg geradlinig durch das Dickicht der analytischen Formulierung des zweiten Hauptsatzes zu suchen und ein Verständnis dafür zu erstreben, warum bei zweimaligem Differenzieren nach inzwischen erfolgter Unabhängigkeitserklärung der Veränderlichen, die zweiten Differenziale sich alle bereitwilligst gegenseitig aus der Schlußformel herauskomplimentieren, um eine einfache, der physikalischen Anschauung gut zugängliche Beziehung erster Ordnung zu hinterlassen.«

Diese begriffsanalytischen Arbeiten ergaben damals keinen abfiltrierbaren Niederschlag in Gestalt von wissenschaftlichen Abhandlungen. Sie bereiteten aber den Boden vor für die spätere Entwicklung der Energetik.

Zwischenspiel. In die ersten Jahre meiner Rigaer Tätigkeit fiel auch ein mehr literarisches Hervortreten neben den gewohnten Berichten über meine experimentellen[180] Arbeiten. Unter dem Einflusse des von dem angesehenen Leipziger Chemiker H. Kolbe geführten Krieges gegen die damals aufblühende Strukturchemie hatte sich ein junger Autor A. Rau aufgetan, der die Berechtigung von Kolbes Standpunkt durch eine weit hergeholte philosophische Begründung nachweisen wollte. Dabei war ihm ein spaßhafter Mißgriff passiert. Er vertrat nach Kolbes Vorgang die allgemeine These, daß den Jüngern der Strukturchemie die Fähigkeit logischen Denkens abgehe und belegte diesen allgemeinen Satz durch die Anführung einer Formulierung des Gesetzes der multiplen Proportionen aus jenem Lager. Nach längeren Ergüssen über deren Unzulänglichkeit ging er zum Gegenbeispiel über und führte als Muster logischer Genauigkeit die Formulierung Kolbes an. Er hatte inzwischen die erste offenbar vergessen, denn beide Formulierungen waren überhaupt nicht verschieden.

Mich erinnerte dies an die Geschichte aus F. Reuters »Ut mine Stromtid«, wo das Mining sein Zwillingsschwesterlein Lining verbessert. Diese hatte Großvaters Perücke »Pück« genannt, wurde aber zurechtgewiesen: sie müsse »Pück« sagen, denn beide konnten das R nicht aussprechen. Obwohl mich der Kampf gegen die moderne Chemie eigentlich nichts anging, stach mich doch der Hafer, daß ich jenen drolligen Mißgriff auch den Fachgenossen zur Ergötzung aufweisen wollte. So schrieb ich eine Streitschrift gegen Rau: In Sachen der modernen Chemie, die ich in Riga drucken ließ. Ich glaube nicht, daß sie irgend welche Verbreitung gefunden hat. Der Angegriffene schrieb eine Gegenschrift, die er dem Herausgeber E. von Meyer zur Veröffentlichung im Journal für praktische Chemie zuschickte. Sie war aber so bodenlos grob ausgefallen, wie dieser mir gelegentlich mitteilte, daß er den Abdruck verweigern mußte. Die einzige Folge war, daß H. Kolbe auf mich aufmerksam wurde.[181] Wie sich dies auswirkte, zeigte sich bei meiner ersten persönlichen Begegnung mit ihm, über die ich bald zu berichten habe.

Laboratoriumsnöte. Die geringe Rolle, welche das Chemiestudium bisher am Rigaschen Polytechnikum gespielt hatte, ließ sich daran erkennen, daß die Laboratorien im Kellergeschoß untergebracht waren, wo es natürlich an Licht und Luft mangelte, die für die chemische Arbeit so besonders notwendig sind. Als nun nach wenigen Semestern die Anzahl der Studierenden sich vervielfachte, mußte ich den Verwaltungsrat mit dem Gedanken vertraut machen, daß nur durch einen Neubau dem alten Notstande abgeholfen werden könne, der durch den hinzugetretenen Raummangel besonders erschwert worden war.

Die Energie und Großzügigkeit, mit welcher die vaterländische Unternehmung des Polytechnikums geleitet wurde, machte sich alsbald wieder geltend. Der Neubau wurde trotz seiner großen Ansprüche an die Kasse grundsätzlich bewilligt und ich wurde beauftragt, gemeinsam mit dem Anstaltsarchitekten die Pläne zu entwerfen. Vorher aber wurde mir aufgegeben, eine Rundreise durch Deutschland zum Besuch der wichtigsten Laboratorien zu machen. Denn ich hatte nicht verhehlt, daß ich aus eigener Anschauung nur das uralte Dorpater Laboratorium kannte und von der großen Entwicklung, welche diese Anstalten in Deutschland, insbesondere nach 1870–71 erfahren hatte, nur eine papierene Kenntnis besaß. Ehe also die angewiesenen Gelder verbraucht wurden, sollte das Mögliche geschehen, um sie so zweckmäßig wie möglich anzuwenden.

Für mich persönlich war dieser Beschluß von größter Bedeutung. Denn er bot mir die erste Gelegenheit, meinen Anschauungskreis sowohl was allgemeine Verhältnisse wie die meiner Sonderwissenschaft betraf, über den engen[182] Umkreis meiner Heimat hinaus zu erweitern. Mir waren die Namen der führenden Deutschen Chemiker aus der Literatur längst geläufig; auch hatte ich versucht, mir aus ihren Schriften ein Bild von den zugehörigen Persönlichkeiten zu machen, wozu namentlich die Art und Weise Anhaltspunkte gab, wie jeder seine gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten mit den Fachgenossen austrug. Aber die unmittelbare, persönliche Fühlungsnahme, wie sie mir bevorstand, da ich sie auch bezüglich ihrer Organisation des Unterrichts auszufragen hatte, bedeutete doch eine sehr erhebliche Vertiefung dieser Kenntnisse.

1

Die nachfolgenden Sätze sind der »Einleitenden Übersicht«, S. 1 meiner Philosophie der Werte (1913) entnommen.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 183.
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