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[57] Tanzstunde. So war die Zeit herangekommen, wo der künftige Mann Kinn und Oberlippe sorglich auf etwa keimende Härchen prüft und den Mädchen gegenüber ein Gemisch von Grausen und Wonne zu empfinden beginnt. Bei mir überwog zunächst bei weitem das Grausen, denn da ich nur Brüder hatte, war ich nicht durch Schwestern an diese Gattung menschlicher Wesen gewöhnt.
Mein Vater hatte eine hohe Meinung von dem Wert guter Manieren für das Fortkommen und bedachte, wie er uns auf diesem Gebiet über den Punkt hinauf bringen könnte, der ihm zu erreichen gegönnt war. Da er sich bereits über seinen Kreis erhoben hatte, war unter den Anverwandten und Bekannten keine geeignete Stelle zu finden. So blieb nichts übrig, als Tanzstunde bei einem Tanzlehrer.
Der Mann hieß Krickmeyer, war ein gescheiterter Mime von langer, schlenkriger Gestalt und großer Beweglichkeit und hatte sich für das Zurechtlecken von jungen Bären meiner Art in den Kreisen, wo sie vorkamen, einen gewissen Ruf erworben. So wurden wir beiden Brüder ihm zugeführt und hatten mit etwa einem Dutzend Genossen gleichen Schicksals die Elemente der Tanzkunst zu erlernen.[58]
Mir wurde die Tanzstunde, die ich anfangs nur unter Protest über mich ergehen ließ, bald interessanter, da der Lehrer seine Sache ganz wissenschaftlich betrieb und uns an großen Tafeln die verschiedenen Stellungen der Glieder und hernach die Bahnlinien der Kontratänze anschaulich vorwies. Auch war zunächst von den gefürchteten Mädchen nichts zu sehen, da diese für sich allein wie die Jungen die Anfangsgründe der Gliederbeherrschung durchmachen sollten, ehe wir aufeinander losgelassen wurden.
Leider glaubte ich, nachdem ich jene Diagramme wohl begriffen hatte, damit das Wesentliche der Tanzkunst erlernt zu haben und versäumte es, deren Ausführung durch geeignete Körperbewegungen die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken. Das Glück, ohne Gefühl der Schwere im rhythmisch bewegten Schwunge dahin zu fliegen, habe ich daher nur selten und vorübergehend erlebt. Es ergriff mich auch nicht stark genug, um mich zu besonderen Anstrengungen für seine Wiedergewinnung zu veranlassen.
Zu gegebener Zeit begannen die gemeinsamen Tanzübungen mit den Mädchen. Sie stammten aus den gleichen Kreisen wie wir und betrugen sich äußerst zurückhaltend und gesittet, wie das strenge Regel war. Da Herr Krickmeyer uns auch wissenschaftlich vorbereitet hatte, wie wir mit diesen fremdartigen Wesen umzugehen hatten, fand ich die Durchführung des neuen Experiments nicht so schwierig, wie ich ursprünglich gefürchtet hatte. In der Pause trennten sich beide Gruppen augenblicklich wieder. Während wir Jünglinge in kurzen, vielbedeutenden Worten unsere Eindrücke austauschten, klang aus dem Mädchenzimmer ein aufgeregtes Gezwitscher vieler gleichzeitiger Stimmen herüber.
Natürlich hatte nach einiger Zeit jeder seine Flamme, die er anbetete und der er schüchterne Huldigungen[59] darbrachte. Die meine hieß Eveline, hatte hellblonde lange Locken, eine gebogene Nase und ein stolzes Gesicht; sie verhielt sich meist schweigsam. Ich versuchte ihr Wohlgefallen dadurch zu gewinnen, daß ich ihr erzählte, sie hätte große Ähnlichkeit mit einer meiner Kusinen, die ich sehr gern hätte, und war sehr verblüfft, als sie diese Mitteilung mit unzweideutigster Kälte entgegennahm. Erst viel später habe ich gelernt, daß man nicht sicherer die Unzufriedenheit einer Frau hervorrufen kann, als indem man sie mit einer anderen vergleicht, wenn man nicht alsbald hinzufügt, daß jene andere überhaupt nicht verdiene, mit ihr verglichen zu werden.
Die Tanzstunden nahmen mit dem scheidenden Winter ihr Ende. Als ich in dem darauf folgenden Frühling einmal mit meinen Freunden auf einer mehrtägigen Wanderung am nächtlichen Lagerfeuer saß, holte ich die kleinen Erinnerungszeichen an Eveline hervor und gedachte sie in feierlicher Rührung zu verbrennen, da ich sie seitdem nicht wieder gesprochen hatte. Aber die Rührung wollte nicht recht vorhalten und mitten in der Feierlichkeit mußte ich laut lachen.
Der Jugendfreund. Der Betrag an gesellschaftlicher Politur, welche der brave Krickmeyer auf meinem rauhen Fell erzeugt hatte, war nicht groß. So ergriffen meine Eltern gern eine Gelegenheit, die sich mir bot und von der sie viel mehr erwarten durften. Es war ein häuslicher Tanzkursus, den die Mutter meines Freundes Fritz Seeck für ihren Sohn, ihre beiden Töchter und zwei Nichten veranstaltete und zu dem mein Freund mir eine Einladung überbrachte, trotz der Bedenken, welche seine Mutter geäußert hatte, die mich von gelegentlichen Besuchen bei ihrem Sohn als ungeleckten Bären kannte.
Fritz Seeck, der von allen meinen Schulkameraden mir am nächsten gestanden hat, war gleichfalls der Sohn eines durch persönliche Tüchtigkeit emporgekommenen[60] Mannes. Dieser war Schlosser oder Maschinenbauer gewesen und hatte ein Gerät erfunden, welches das Verpacken des Flachses besonders erleichterte. Da Flachs ein Hauptartikel des aufblühenden Rigaschen Handels war, so wurde die Seecksche Schraube in großen und steigenden Mengen benutzt und der Erfinder und Hersteller wurde schnell ein reicher Mann, der zum Unterschied von seinen Brüdern, die andere Gewerbe trieben, der Schraubenseeck genannt wurde. Er heiratete eine junge Lehrerin, die ihm vier Kinder, zwei Söhne und dann zwei Töchter schenkte. Ich habe ihn nicht kennen gelernt, denn er war früh gestorben und hatte seiner Witwe neben einem reichlichen Vermögen die Aufgabe hinterlassen, die hochbegabten Kinder gut zu erziehen, wozu sie wegen ihres früheren Berufes besonders geeignet war.
Fritz war der zweite Sohn. Der erste hieß Otto und war vier oder fünf Jahre älter als Fritz. Er studierte in Dorpat Geschichte, wurde in Berlin ein Lieblingsschüler Mommsens und hat als Professor der Geschichte in Münster und Greifswald sich einen angesehenen Namen gemacht, der weit über die Fachkreise hinausgedrungen ist. Ich habe ihn damals nur selten gesehen, wenn er zu den Ferien nach Hause kam. Als später auch mich mein Beruf nach Deutschland gebracht hatte, habe ich ihn näher kennen und sehr schätzen gelernt. Er ist vor einigen Jahren gestorben.
Fritz war noch begabter, als sein Bruder. Er war in meinem Alter, hatte gleich mir eine besondere Neigung zu den Naturwissenschaften und das brachte uns näher zusammen. Frau Seeck wußte in ihrem Hause ein reges geistiges Leben zu entwickeln; sie besaß eine gute Bücherei und sorgte dafür, daß ihre Kinder bald mit den Schätzen der Literatur bekannt wurden. Diese Anregungen und Förderungen gab Fritz an mich weiter, nebst den Büchern dazu, und so danke ich der gütigen aber gestrengen Frau[61] Seeck, deren Weise noch deutlich an ihren früheren Beruf erinnerte, zunächst eine einigermaßen geregelte und umfassende Einführung in den Reichtum der Dichtkunst im weitesten Sinne. Ebenso wurde ich in der Musik geleitet und gefördert. Sie hatte oft genug Gelegenheit, Ungeschliffenheiten und Rücksichtslosigkeiten an mir zu rügen und tat es in einer Weise, daß ich weder den Respekt noch das Vertrauen verlor. Da ich oft, wenn ich um die Zeit bei meinem Freunde war, mich mit ihm und seinen Schwestern an den Familienkaffeetisch setzen durfte, hatte ich Gelegenheit, ein wenig die Scheu und Ungeschicklichkeit abzulegen, die mir wegen Mangels an Übung den Verkehr mit gleichaltrigen Mädchen so sehr erschwerte.
Von den Schwestern stand die ältere, Helene, ihrem Bruder wie an Alter so an Anlagen und Interessen am nächsten, so daß sich hier auch für mich Anknüpfungspunkte ergaben. Sie war wohlgebildet und erschien meinem jugendlich begeisterten Auge als eine vollkommene Schönheit, für die ich bald eine tiefe Zuneigung empfand, die ich natürlich ängstlich zu verbergen mich bemühte. Ich glaube aber nicht, daß mir das auch nur einem Mitgliede des kleinen Kreises gegenüber gelang. Man sah die Sache mit humoristischem Wohlwollen an und Frau Seeck hat sie wohl auch gelegentlich als Hilfsmittel für ihre freiwillige Erziehungsarbeit an mir benutzt. Ich hatte keinen weiteren Wunsch, als mein Ideal von fern anbeten zu dürfen. Sie selbst ließ dies wohl nicht ungern gelten und beglückte mich gelegentlich durch kleine Zeichen persönlicher Teilnahme an meinen Interessen, die den ihrigen parallel gingen. Denn sie las viel und mancherlei. Auch ihr älterer Bruder Otto kümmerte sich um ihre Ausbildung und gab ihr geschichtliche Literatur bis zu ziemlich gelehrter Beschaffenheit. Dem Treiben ihrer lebenslustigen Altersgenossinnen[62] brachte sie geringe Teilnahme entgegen. Nach dieser Seite neigte sich viel mehr die jüngere Schwester, die natürlich mein ausschließliches Interesse für die andere dumm fand und mich links liegen ließ, was mir eine gewisse Erleichterung gewährte.
So kann man sich denken, wie glücklich ich war, als einmal in der Schule Freund Fritz mich fragte, ob ich an dem erwähnten Tanzabend teilnehmen wollte. Ich sagte begeistert zu und wußte sogar meine Eltern zur Anschaffung eines geeigneten Anzugs für diesen Zweck zu bewegen. Diese Anwandlung setzte sie einigermaßen in Erstaunen, da ich bis dahin keinen besonderen Wert auf meine äußere Erscheinung gelegt hatte.
Nachdem die ersten schweren Abende mit den vielen fremden Damen und Töchtern und zwischen Genossen überwunden waren, die alle aus wohlhabenden Häusern stammten, und mir an Sicherheit des Benehmens weit überlegen waren, begannen glückliche Zeiten für mich. Die Lebhaftigkeit und Seltsamkeit meiner Äußerungen erwarb mir bald eine Sonderstellung, die bei vorwiegendem Spott doch auch ein wenig Achtung bedang. Ich aber schwamm unbekümmert um Widerspruch und Anerkennung in Seligkeit, wenn ich »ihr« beim Tanz oder Tisch Gesellschaft leisten durfte. Natürlich hatten sich auch zwischen den anderen Teilnehmern zarte Beziehungen entwickelt und es war eine so fröhliche Harmonie in dem ganzen Kreise entstanden, daß wir alle ungern den Tag kommen sahen, an welchem sich unsere kleine Gesellschaft wieder auflösen sollte.
Zu unserer Ausbildung in der Tanzkunst war die beste Lehrerin angestellt worden, die in Riga zu finden war. Sie hieß Frau Weller und war die Gattin eines angesehenen Primgeigers in der Theaterkapelle. Sie war eine magere, bewegliche Person mit lauter Stimme, die ihre Lämmlein und Böcke energisch zu regieren wußte[63] und kräftig zugriff, wenn es galt, einen Langsamen oder Ungeschickten in Trab zu bringen.
Mit mir war sie dauernd unzufrieden. Zuerst hatte ich das meiste umzulernen, was ich aus dem früheren Unterricht mitgebracht hatte, dann aber war bei mir Kopf und Herz zunehmend stärker in Anspruch genommen, so daß die Beine darüber zu kurz kamen. Frau Weller faßte gegen Ende des Kursus ihr Urteil über mich in die niederschmetternden Worte zusammen, die sie mir über den Saal hinweg zurief: Herr Ostwald, aus Ihnen wird überhaupt nie etwas werden. Dies hatte mir den Mut so völlig genommen, daß ich seitdem dem Tanz entsagt habe; so hat sie durchaus Recht behalten.
Der Dichter des Tanzabends. Als nun der letzte gemeinsame Tanzabend in sichtbare Nähe gerückt war, berieten wir, wie die Sache würdig abzuschließen sei. Mir als dem Schreibgewandtesten und an schnurrigen Einfällen Reichsten, wie man mich noch von meiner weiland Zeitschrift her kannte, wurde der Auftrag zuteil, für einen dramatischen Schlußeffekt zu sorgen. Ich suchte nach einer Form, in der die mannigfaltigen kleinen Ereignisse unserer Zusammenkünfte, wo sich die verschiedenen Persönlichkeiten, jede in ihrer Art offenbart hatten, uns scherzhaft wieder in die Erinnerung gerufen werden konnten. Das gab einen gegenständlichen Inhalt und enthob mich der Qual allgemeiner Redensarten. Es wurden also zwei stimmkräftige und genügend intelligente Jünglinge ausgewählt, die sich als ein altes Ehepaar ausstaffieren und vor den Zuhörern darüber beraten sollten, ob sie ihren Kindern die Teilnahme an einem Tanzstundenzirkel gestatten könnten. Beide hatten die größten Bedenken gegen die gefährliche Unternehmung und begründeten diese gegenseitig durch böse Erfahrungen, die man bei solchen Zusammenkünften gemacht habe, wofür sie abwechselnd allerlei Beispiele anführten. Diese[64] Beispiele waren unseren eigenen Erlebnissen entnommen und ich hatte Sorge getragen, daß jedes Mitglied unseres Kreises leicht erkennbar durchgehechelt wurde, die Jünglinge vom Papa und die Mädchen von der Mama. Besondere Heiterkeit entstand, als beide auch auf sich selbst die zugehörigen Scherzverse aufsagen mußten. Große Sorge bereitete mir die Notwendigkeit auch meiner Verehrten ihren Anteil an Spott zukommen zu lassen; ich half mir, indem ich auf die für eine junge Dame ungewöhnliche Wahl ihres Lesegutes hinwies: »ihre Gelehrsamkeit ist auch arg, sie erstreckt sich sogar bis auf den Plutarch«. Wie man erkennt, hatte mir wieder die unsterbliche Jobsiade mit ihren Knittelversen als Muster für die poetische Form gedient. Die Aufführung fand statt, indem die beiden Sprecher sich während des Abendessens unbemerkt entfernten, im Kostüm ihrer Rollen wiederkamen und über den Tisch hinweg ihr Gespräch durchführten. Jede neue Anspielung wurde mit Jubel begrüßt, die noch nicht Vorgenommenen warteten mit Spannung, die Erledigten mit Schadenfreude auf das Kommende und das Ganze endete in allgemeinem Gelächter.
Schulschluß. Darüber kam die Zeit heran, wo ich fast achtzehn Jahre alt mich auf die Abgangsprüfung vorzubereiten hatte. Die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer, deutsche Sprache und Literatur machten mir nicht die mindeste Sorge, Englisch und Französisch glaubte ich leidlich erledigen zu können, mit der Geschichte und dem Russischen sah es dagegen bedenklich aus. Da mein Gedächtnis indessen willig genug war, verschaffte ich mir mehrere verschiedene Lehrbücher der »Weltgeschichte« und las in ihnen vergleichend die einzelnen Abschnitte nach. Dadurch, daß ich denselben Tatbestand in mehreren verschiedenen Darstellungen kennen lernte, wurde es mir ziemlich leicht, mir das Sachliche einzuprägen. So konnte ich auch über dieses Fach[65] einigermaßen beruhigt sein. Der Stein des Anstoßes war das Russische. Von meinen Schicksalsgenossen wurde mir angedeutet, daß es Mittel gebe, diese Klippe zu umschiffen; ich war jedoch zu stolz, um darauf einzugehen. Die Folge war demgemäß auch, daß ich in allen andern Fächern gut bestand, im Russischen dagegen nicht die amtlich erforderte Eins erhielt und daher durchgefallen war. Denn es war, als erste Stufe der Russifizierung, ein Reskript von Petersburg ergangen, daß bei nicht erstklassiger Leistung im Russischen das Abgangszeugnis unbedingt zu versagen sei. So mußte ich meine Sehnsucht, an der Landesuniversität Dorpat Chemie zu studieren, um ein halbes Jahr zurückstellen.
Die russische Prüfung. Den gut gemeinten Vorschlag des Direktors Haffner, auf die gesamte Prüfung zu verzichten und sie beim nächsten Termin mit noch besseren Ergebnissen zu wiederholen, lehnte ich dankend ab, da ich das Recht auf eine Ergänzungsprüfung im Russischen allein hatte. Bei der Fülle meiner Interessen war mir die bevorstehende freie Zeit äußerst willkommen; sie wurde auch weidlich ausgenutzt. Durch den Schaden belehrt, sorgte ich diesmal dafür, daß sich auch mir jener zwar krumme aber sicher zum Ziel führende Weg auftat, um die russische Prüfung zu bestehen. Er war echt russisch.
Im Prüfungsausschuß befand sich auch ein russischer Priester namens Sokolow, der den Religionsunterricht der nicht zahlreichen Angehörigen des griechisch-katholischen Ritus zu besorgen hatte. Bei diesem pflegten zwei Primaner, die vor dem Abschluß standen, gegen ein recht hohes Honorar russischen Unterricht zu nehmen. Der Aufwand wurde von sämtlichen Beteiligten an diesem Geschäft bestritten. Für dieses Mal wurde mir nebst einem anderen noch aktiven Primaner der Auftrag zuteil. Der Unterricht wurde sehr willkürlich besucht und meistens geschwänzt. Doch nahm es der Priester übel, wenn wir[66] nicht wenigstens von Zeit zu Zeit bei ihm antraten. Er bewirtete uns dann mit Tee und plauderte uns in seiner Sprache allerlei vor, was sich meist gut anhörte, denn er war ein dicker, sehr gemütlicher Herr mit schönem Bart und langfallendem Lockenhaar, der sich gar nicht priesterlich gab. Zuweilen nahm er einen besonderen Aufschwung und trug uns russische Geschichte vor, wie er sie auffaßte. So schilderte er uns die Einführung des Christentums in Rußland, wie der Zar Wladimir, der dafür hernach den Namen des heiligen erhielt, Priester aller erreichbaren Religionen zusammenberufen hatte, um zu ermitteln, welche von diesen er seinen Untertanen vorschreiben sollte. Die Juden wurden zunächst von der Liste abgesetzt, da sie unter dem Zorn ihres Gottes standen, der sich offenbar noch nicht beruhigt hatte, da sie noch immer in der Verbannung lebten. Auch der katholische Priester hatte keinen Erfolg, da seine Lehre zu unverständlich war. Am liebsten wäre Wladimir Muhamedaner geworden, wegen des schönen Paradieses und weil der Prophet den Gläubigen so viele Frauen gestattete, als sie haben wollten. Aber ein absolutes Hindernis war ihm das Weinverbot. Denn »was wäre der Russe ohne Schnaps!« schaltete Sokolow nachdenklich ein. Der griechisch-katholische Vertreter hatte ein großes Gemälde mitgebracht, auf welchem die Hölle dargestellt war, in welcher die Ungläubigen auf die mannigfaltigste Weise um ihres Unglaubens willen gefoltert wurden. Dies Bild machte auf Wladimir einen so unwiderstehlichen Eindruck, daß er die Religion dieser Priester wählte, aus Furcht, hernach in Ewigkeit ebenso übel behandelt zu werden. Die nicht leichte Aufgabe, hernach sein ganzes Volk in kürzester Frist zum Christentum zu bekehren, löste er durch einen genialen, technischen Kunstgriff. Die Leute wurden zu Tausenden durch einen seichten Bach getrieben: dann waren sie getauft und somit Christen.[67]
Diese heiteren Geschichten waren indessen nicht der Zweck der Unternehmung. Als Mitglied der Prüfungskommission hatte Sokolow Kenntnis von allen Examenaufgaben, somit auch vom deutschen Text zur schriftlichen Übersetzung ins Russische, welche für die Prüfung den Ausschlag gab. Einige Tage vor dem Prüfungstermin verlor er zufällig aus seiner Tasche, als er sich auf einen Augenblick aus der Privatstunde entfernte, ein beschriebenes Papier, das wir ebenso zufällig aufhoben und an uns nahmen. Bei seiner Rückkehr warf er einen Blick auf die Stelle, wo es gelegen hatte, und nickte bebefriedigt, da es verschwunden war. Wir verabschiedeten uns mit herzlichem Dank und fanden hernach auf dem Zettel genaue Angaben über jenen Text – es war etwas von Schiller – die sich in der Folge als ganz richtig erwiesen. Wir konnten alle eine gute Übersetzung zum Examen mitnehmen und abliefern.
Dieser Handel wurde ganz unbefangen betrieben, ohne daß wir ein Gefühl des Unrechts dabei gehabt hätten. Denn es war uns längst geläufig geworden, daß beim Verkehr mit russischen Beamten durch ein angemessenes Trinkgeld alles möglich gemacht werden konnte. Daß auch die deutsche Lehrerschaft den gleichen Standpunkt als selbstverständlich anerkannte, zeigte sich diesmal besonders deutlich. Jener Zettel hatte zwar die Angabe der Stelle enthalten, wo der Text stand, nebst den Anfangsworten. Dagegen fehlte eine Nachricht über den Schluß, so daß wir alle der Sicherheit wegen ein viel längeres Stück in russischer Übersetzung mitgenommen hatten. Diese mußte also so weit abgeschrieben werden, als der uns bei der Prüfung diktierte Text reichte. Einem Schicksalsgenossen, der es an Frechheit uns allen zuvortat, war dies zu umständlich. Er strich einfach das Überschüssige aus und lieferte das Blatt in diesem Zustande ab. Obwohl das ein unmittelbarer Beweis der Durchstecherei war,[68] hat doch kein Lehrer diesen Schluß ausgesprochen, denn ohne den Nebenweg hätte das Gymnasium überhaupt keine Abiturienten abliefern können, weil niemand in der Schule soviel Russisch lernen konnte, wie der Regierungserlaß beanspruchte.
Anfänge der Lehrtätigkeit. Um während des halben Jahres, das ich noch in Riga zubringen mußte, regelmäßige Beschäftigung zu haben, übernahm ich den Unterricht einiger Kinder, welche zum Eintritt in eine Schule vorbereitet werden sollten. Es war dies mein erster unterrichtlicher Versuch. Die Arbeit machte mir das größte Vergnügen und ich glaube auch, daß meine kleinen Schüler und Schülerinnen mich nicht ungern kommen sahen, obwohl die Umwelt – eine wohlhabende und betitelte deutschrussische Familie aus dem Reich mit ziemlich russischen Anschauungen – nichts weniger als günstig für mich war, der ich von ihren Lebensformen sehr wenig besaß. Am meisten aber setzte mich in Erstaunen, daß man mich für das Vergnügen, das ich beim Unterrichten hatte, außerdem noch bezahlte. Objektiv vermutlich dürftig genug, subjektiv dagegen sehr reichlich, denn ich hatte bisher noch nie soviel bares Geld besessen. Ich benutzte einen Teil, um meiner Mutter eine Nähmaschine zu kaufen. Dies Arbeitsmittel war soeben erst bis nach Riga vorgedrungen und die Freude, welche meine gute Mutter daran hatte, rührt mich noch jetzt.
Aus der Verwunderung, daß man mir meine Freuden noch besonders bezahlte, bin ich dann fast durch mein ganzes Leben nicht herausgekommen, denn das Forschen, Unterrichten und Bücherschreiben, womit ich in der Folge für mich und meine Familie die Mittel für den Lebensunterhalt und die Kulturbedürfnisse und -wünsche uneingeschränkt beschaffen konnte, bildeten damals wie jetzt die reichste und reinste Quelle meiner mannigfaltigen Lebensfreuden.
[69] Die Gestaltung der Zukunft. Über die Wahl meines Studiums habe ich nie den geringsten Zweifel gehabt. Mein Vater hatte sehr gewünscht, aus mir einen Werkwalt (Ingenieur) zu machen und mir deshalb zugeredet, das Rigasche Polytechnikum zu besuchen. Aber darauf wollte ich mich nicht einlassen. Nicht, daß mir dieser Beruf unerwünscht erschien; ich hatte ja von Kindheit auf starke technische Neigungen gehabt und betätigt und wäre gegebenenfalls wohl auch ein überdurchschnittlich tüchtiger Werkwalt geworden. Aber die freie Forschung im unbegrenzten Meer des noch Unbekannten kam mir dagegen so zauberhaft schön vor, daß das Bedenken, daß die künftigen wirtschaftlichen Aussichten für den wissenschaftlichen Chemiker sehr ungünstig lägen, da eine nennenswerte chemische Industrie in meiner Heimat noch nicht vorhanden war, bei mir nur ein unbekümmertes Lächeln hervorrief. An solche wirtschaftliche Dinge dachte ich überhaupt nicht und in meinen kühnsten Zukunftsträumen sah ich mich höchstens als Assistent des Dorpater Chemieprofessors. Denn daß man mit wenig Geld nicht nur sich zufrieden und heiter durchschlagen, sondern ein innerlich reiches Leben führen kann, hatte ich ja zuhause genügend erfahren. Und irgend welche Wünsche nach prächtiger Wohnung, gewählter Kleidung, Tafelgenüssen und dergleichen lagen mir ganz fern, wenn ich auch den Gegensatz zwischen der bescheidenen Lebensweise meiner Eltern und der üppigen Umgebung einiger meiner Schulkameraden kennen gelernt und empfunden hatte.
Ebenso wie das Studium war für mich auch der studentische Kreis gegeben, in den ich eintreten wollte.
Etwa die Hälfte der Dorpater Studentenschaft war in große Korporationen von je rund 100 Mitgliedern organisiert, die landsmannschaftlich gekennzeichnet waren, aber eine burschenschaftliche Verfassung nach dem Muster[70] der Jenaer Burschenschaft vom Anfange des neunzehnten Jahrhunderts besaßen. Nach den drei Ostseeprovinzen hießen sie Kuronia, Livonia und Estonia. Außerdem hatte meine Vaterstadt als bei weitem die größte des ganzen Landes eine selbständige Korporation, die Fraternitas Rigensis gebildet. Diese Gründungen hatten in den ersten Jahrzehnten des laufenden Jahrhunderts stattgefunden, so daß die Korporationen um die Zeit meiner Studentenjahre eine nach der anderen ihr halbhundertjähriges Bestehen feiern konnten. Ihre Verfassung war im Wesentlichen unverändert geblieben. Sie übten ein erhebliches Maß von Selbstverwaltung und Verwaltung der ganzen Studentenschaft aus. Dem »Burschengericht«, das über ehrenhaftes Verhalten und studentischen Anstand wachte, unterwarfen sich nicht nur die inkorporierten Studenten, sondern auch alle »Wilden«, denn die höchste Strafe, über die es gegen Widerspenstige verfügte, der »Verschiß« (Verruf), machte dem Betroffenen das Leben an der Universität so unmöglich, daß niemand wagte, sich ihn durch Mißachtung der Entscheidungen des Burschengerichts zuzuziehen. Die Gerichtsverhandlungen waren öffentlich und die korporellen »Füchse« waren verpflichtet, sie zu besuchen, um so an tatsächlichen Fällen aus dem studentischen Leben die Weise zu erlernen, nach der sie ihr eigenes Leben einzustellen hatten. Die Burschenrichter wurden von den Korporationen aus ihrer Mitte gewählt und ich darf ihnen das Zeugnis geben, daß sie sich ehrlich bemühten, zu gerechten und unbefangenen Urteilen zu gelangen. Zwischen den Studenten herrschte im Verkehr allgemein das brüderliche Du. Wäre durch meine Abstammung aus Riga nicht von vornherein die Wahl unter den Korporationen entschieden gewesen, so hätte ein anderer Umstand im gleichen Sinne entschieden. Mein nächster Freund Fritz Seeck, der mit mir zugleich das Abgangsexamen[71] gemacht, aber die russische Klippe glücklich umschifft hatte, an der ich gescheitert war, hatte des halb die Universität ein Semester früher bezogen, war bei den Rigensern eingetreten und bereits im ersten Semester in den engeren Verband aufgenommen worden, womit erst das Recht verbunden war, bunte Mütze und Farbenband zu tragen. Ihm und mir war es selbstverständlich, daß ich bei den Rigensern eintreten mußte.
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