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[16] Das Realgymnasium. Die Frage unseres weiteren Unterrichts wurde von meinem Vater mit größter Gewissenhaftigkeit bearbeitet. Es bestand aus der Zeit des Kaisers Alexander I., der sich der kulturellen Entwicklung der Ostseeprovinzen seines Reichs mit Eifer und Erfolg angenommen hatte, ein von der Petersburger Regierung verwaltetes Lateingymnasium nach deutschem Muster, wie sie durch den unheilvollen Einfluß Wilhelm von Humboldts sich seit dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland entwickelt hatten. Diese Anstalt war die »selbstverständliche« Vorbereitungsstelle für die gelehrten Berufe und die Landesuniversität Dorpat verschloß bis auf eine kurze Zeit in den siebziger Jahren grundsätzlich ihre Pforten allen, die nicht durch das Joch der Abiturientenprüfung des Lateingymnasiums gegangen waren. Auch dies war dem deutschen Vorbilde entnommen. Bekanntlich besteht bis auf den heutigen Tag bei uns in Deutschland der absurde Zustand, daß die Universität nicht darüber entscheidet, wen sie zulassen und wen sie ausschließen will, sondern diese lebenswichtige Angelegenheit grundsätzlich den Prüfungsausschüssen der Mittelschulen überläßt.
Als zweite entsprechende Anstalt, aber in städtischer Verwaltung bestand in Riga die alte Domschule, die[17] schon vor der Reformation als Klerikerschule gegründet war; sie ist nach dieser von der Stadt als höhere Stadtschule übernommen und ausgebildet worden. Mit welchem Verständnis die Behörden der Rigaschen Selbstverwaltung, Rat und Gilden, von jeher die Schulfrage bearbeitet haben, geht u.a. aus der Tatsache hervor, daß sie den genialen Johann Gottfried Herder als ganz jungen Mann zur Leitung der Domschule berufen und dem zwanzigjährigen Jüngling für seine reformatorische Tätigkeit an der Anstalt völlig freie Hand gegeben hatten. Die Erfolge waren hervorragend gut und Herder hat wohl in Riga, wo sich die Hauptgedanken seiner so einflußreichen Betätigung entwickelten, die glücklichsten Jahre seines Lebens zugebracht. Er schied 1769 nach fünfjähriger Tätigkeit, um ein weiteres Feld für seine Arbeit zu suchen. Im folgenden Jahre traf er dann mit Goethe in Straßburg zusammen.
Die fortschrittfreundliche, lebensnahe Einstellung der Rigaischen Schulverwaltung hatte sich inzwischen in der Gründung einer polytechnischen Anstalt betätigt, welche die dem Lande noch fehlende leistungsfähige Industrie zu entwickeln bestimmt war. Um für die neue Anstalt ein geeignetes Schülermaterial zu beschaffen, wurde die Umwandlung der Domschule in ein Realgymnasium beschlossen und trotz der von den philologischen Monopolisten erhobenen Schwierigkeiten durchgesetzt, wenn auch nicht ohne erhebliche Zugeständnisse an diese. So war insbesondere zum Direktor der neuen Anstalt ein eingeschworener Philologe Haffner ernannt worden, von dem hernach einiges zu erzählen sein wird.
Mein Vater war so glücklich beraten, daß er sich entschloß, seine Söhne dieser neuen Anstalt anzuvertrauen. Dies ist für meine ganze Entwicklung von entscheidender Bedeutung geworden, denn es besteht kein Zweifel, daß meine naturwissenschaftlichen und organisatorischen Anlagen[18] auf dem Lateingymnasium wenn nicht unterdrückt, so doch arg verkümmert wären. Das Rigasche Realgymnasium war eine glücklich aufgebaute Anstalt. Für die Aufnahme war der Besuch der Volkschule ausreichend, wie sich aus den Ergebnissen der Eintrittsprüfung ergab. Die Unterrichtsdauer war auf fünf Jahre festgesetzt, so daß die Anstalt demgemäß in fünf Klassen geteilt war. Der Stoff war so geordnet, daß er in dieser Zeit nur bei besonders hohen Graden von Begabung und Fleiß bewältigt werden konnte; in der einen oder anderen Klasse pflegte auch ein guter Schüler »sitzen zu bleiben«, d.h. den Kurs zu wiederholen. An Fremdsprachen gab es in der Quinta neben dem obligaten Russisch nur Französisch, in der Quarta fing Latein an, um in der Sekunda aufzuhören, wo es durch Englisch ersetzt wurde. Physik gab es von Quarta ab, Chemie in Prima. Mathematik wurde bis zur analytischen Geometrie geführt, Differentialrechnung war nicht aufgenommen. Die Ausbildung wurde durch eine Austrittsprüfung abgeschlossen, die anfangs nur zum Eintritt in das Polytechnikum, nicht in die Universität berechtigte. Kurz vor meinem Abgang wurde die Zulassung zum Studium der Mathematik und Naturwissenschaften an der Universität erwirkt. Sie war lange angestrebt worden und in der Hoffnung auf sie hatte mein Vater seinen Entschluß gefaßt. Nicht lange hernach wurde sie auf Betreiben der Philologen wieder aufgehoben.
Mein bester Lehrer. An die sieben Jahre auf dem Realgymnasium denke ich gern zurück. Nicht daß die Schule als solche mir besonders viel gegeben hätte. Aber sie hat durch die Kameradschaft mit einer recht mannigfaltig zusammengesetzten großen Schülerschar den engen Kreis, auf den mich die häuslichen Verhältnisse beschränkt hatten, in mannigfaltigster Weise erweitert. Und dann befand sich unter den Lehrern wenigstens einer, dem ich eine[19] sehr bedeutende Förderung verdanke. Er hieß Gotthold Schweder, hatte Astronomie studiert und lehrte auf der Schule Mathematik, Physik und Naturgeschichte.
Schweder war ein hochgewachsener Mann mit breiter Brust und kräftigen Schultern, dem der Ruf eines der ersten Fechter auf der Universität noch lange nachging. Der kurze krause Vollbart und das reiche blonde Haar ließ ihn im Verein mit den blauen Augen als Urbild des Deutschen erscheinen. Sein Wesen war heiter und wohlwollend; kein Wunder daher, daß wir Jungen ohne Ausnahme bereit waren, für ihn durchs Feuer zu gehen und uns durch ein Wort und einen Wink von ihm leiten zu lassen. Dieser Einfluß begann bei den Kleinsten und verminderte sich nicht bei den Größten. Er ist hernach noch lange Jahre Direktor der Anstalt zu ihrem größten Segen gewesen.
Beginn der geistigen Selbständigkeit. In den ersten Jahren bin ich der fleißige und bereitwillige Schüler geblieben, der ich in der Volksschule gewesen war. Dann aber machte sich ein Umstand geltend, der zwar mehr zufällig war, aber doch den größten Einfluß auf meine Entwicklung ausübte. Es war dies die neue Möglichkeit, von meinen Kameraden Bücher verschiedener Art zu erlangen.
Bücher waren in meinem Kreise einigermaßen selten und kostbar. Das freie Lesebedürfnis wurde aus Leihbibliotheken befriedigt, deren Bestand sich auf schöne Literatur, vor allem zeitgenössische Romane beschränkte. Daneben erschien im Hause einmal wöchentlich eine Nummer der »Gartenlaube«, deren Jahrgänge, gut gebunden, den Hauptbestandteil der häuslichen Bücherei ausmachten und durch eine ganze Reihe von Jahren den Hauptanteil meiner geistigen Nahrung lieferten. Beim Rückblick kann ich aussprechen, daß diese Nahrung[20] ausgiebig und gesund war. Die Zeit – Anfang der sechziger Jahre – war die des großen Aufschwunges der Naturwissenschaften und des Beginnes der gegenwärtigen Technik und Industrie in Deutschland. Hier hatte der Herausgeber der »Gartenlaube« mit glücklicher Hand zugegriffen, indem er mannigfaltige Aufsätze aus beiden Gebieten brachte, denen ich vielfältige Belehrung und Anregung verdanke. Auch die kräftige Vaterlandsliebe, die stets zutage trat, hat mein Elternhaus und mich darin befestigt, uns frag- und zweifellos als Deutsche zu fühlen.
Unser Deutschtum. Die politischen Verhältnisse meiner Heimat lagen so, daß eben ihr friedliches Sonderdasein, in welchem eine reiche und fruchtbare Kultur gedieh, durch die Seuche des angriffswütigen Nationalismus der slawischen Welt gestört zu werden begann. Wir fühlten uns ohne Stolz aber auch ohne Wunsch und Absicht einer Änderung politisch als Angehörige des Russischen Reichs, geistig als Angehörige der deutschen Kultur. Irgendeine Betätigung im Sinne eines politischen Anschlusses an Deutschland konnte schon deshalb nicht entstehen, weil es noch kein Deutsches Reich gab. Die russischen Herrscher hatten die Sonderstellung der baltischen Provinzen bisher stets anerkannt und gepflegt, da sie von daher den größeren Teil der führenden Männer im Heer, in der Verwaltung und in den höheren Berufen entnahmen, die aus national-russischen Quellen nicht so brauchbar zu erhalten waren. So war ein nicht unerhebliches Maß von Dankbarkeit und Anhänglichkeit in den baltischen Landen entstanden, das sich aber nicht auf das Reich, sondern auf die Person des jeweiligen Herrschers bezog; selbst die Dynastie als solche stand uns fern.
Russifizierung. Der beginnenden panslavistischen Bewegung war diese Sonderstellung ein Dorn im Auge. Sie hatte bereits in meinen Knabenjahren soviel Einfluß[21] gewonnen, daß sie eine zunehmende Berücksichtigung der russischen Sprache im Schulunterricht durchzusetzen vermochte, der im übrigen ausschließlich in deutscher Sprache erteilt wurde. Wir verachteten das Russische als einer niederen Schicht zugehörig und übten passiven Widerstand gegen die zunehmende Belastung mit russischen Unterrichtsstunden. Als Mittel, russisches Denken und Fühlen zu begründen und zu befestigen, war von den Theoretikern des Panslavismus eine starke Berücksichtigung der russischen Geschichte beim Unterricht gefordert und durchgesetzt worden. Auf den geistig regsameren Teil der Schülerschaft wirkte die Kenntnis der russischen Vergangenheit, die noch ein sehr erhebliches Stück blutrünstiger ist, als die Geschichte der westlichen Völker, im entgegengesetzten Sinne, indem sie der zunächst rein instinktiven Abneigung gegen russisches Wesen eine geschichtliche Begründung gab.
Der russische Unterricht lag in den Händen eines deutschen Renegaten, namens Haller, dessen politisch-sittliche Anbrüchigkeit von uns Kindern mit dem bekannten sicheren Instinkt der Jugend empfunden wurde, so daß wir ihm das Leben recht sauer machten. Die unbeherrschte Heftigkeit, mit der er von Zeit zu Zeit strafend dareinfuhr, machte die Sache nicht besser und es galt beinahe als ein Ehrenpunkt, für seine Stunden tunlichst wenig zu arbeiten. Dazu kommt, daß das Russische eine sehr primitive Sprache von übermäßigem Formenreichtum und geringer Gesetzlichkeit, und somit sehr schwer zu erlernen ist. Auch waren die Versuche der russischen Grammatiker, diese Mannigfaltigkeit durch Regeln zu erfassen, nicht sehr glücklich gewesen. Andererseits bemühte sich die Regierung, durch strenge Vorschriften die Kenntnis der Reichssprache zu erzwingen. Dies ergab einen dauernden Widerspruch, dessen Klippen mein Lebensschifflein noch mehrfach zu unerwünschten Wendungen nötigen sollten.
[22] Gesetz und Schönheit. Einstweilen kümmerten mich diese Dinge gar nicht. Der anregende Unterricht Schweders löste die bei mir latent vorhandene wissenschaftliche Liebe zur Natur aus, die sich zunächst wie üblich im Sammeln von Pflanzen, Schmetterlingen und Käfern äußerte. Wir hatten dem Lehrer im Sommer eine gewisse Anzahl Blätter abzuliefern, auf denen von uns gesammelte Kräuter nach den Regeln der Kunst getrocknet und aufgeklebt wurden. Ich erinnere mich, wie ich die Aufgabe empfand, Stengel, Blätter und Blüten so zu ordnen, daß ein übersichtliches Bild herauskam, und wie mit der Lösung dieser Aufgabe sich ungerufen ein so wohlgefälliges Aussehn einstellte, daß meine Blätter hierfür ein besonderes Lob erhielten. Das waren die ersten Keime einer Erkenntnis, die erst an meinem Lebensabend zur Reife gelangen sollte.
Ein ähnliches Erlebnis, dessen Zusammenhang mit jenem ich allerdings erst sehr spät begriffen habe, hatte ich um dieselbe Zeit in der Zeichenstunde. Uns war aufgegeben, die Herstellung paralleler Linien durch Gleiten eines Dreiecks längs einem Lineal darzustellen, wobei wir die verschiedenen Linienarten – stark, schwach, eng, weit, ganz, gepunktet, gestrichelt usw. anzubringen hatten. Ich empfand den Wunsch, die Gruppe nicht einfach hinzuzeichnen, sondern ihr irgendeinen Sinn oder Zusammenhang zu geben. Zu diesem Zweck benutzte ich eine Zierleiste, durch welche die Wand des Zimmers nach oben begrenzt war, und deren Eindruck durch die Wahl und Verteilung der Linien wiedergegeben wurde. Dieses Blatt brachte mir ein besonderes Lob des Zeichenlehrers, der sonst mit mir nicht sehr zufrieden war und veranlaßte mich zum Nachdenken, worauf die Wirkung beruhe, allerdings ohne Ergebnis.
Die Anfänge der Chemie. In der untersten Klasse des Realgymnasiums war ich ein Musterschüler, der den[23] dargebotenen Lernstoff ohne Unterscheidung willig aufnahm und geschwind beherrschen lernte. So wurde ich denn nach Jahresfrist ohne Schwierigkeit in die nächste Klasse versetzt. Dann aber begann meine persönliche Entwicklung. Bei dem lebhaften Bücheraustausch zwischen den Schulkameraden gelang es mir, ein Buch über die Feuerwerkerei zu erhalten, die mir schon lange im Sinne gelegen hatte. Der Verfasser hieß Websky und hatte seinen Gegenstand sehr ordentlich und methodisch behandelt. Er begann sachgemäß mit der Beschreibung der verschiedenen erforderlichen Stoffe und hatte neben die Gebrauchs- und Fachnamen auch die chemischen Formeln gesetzt. Sie sagten mir zunächst nichts, da mich die Anleitung zur Anfertigung der verschiedenen Feuerwerkkörper leidenschaftlich fesselte. Für die Zukunft sollten sie sich aber als höchst wichtig erweisen.
Es war zunächst garnicht leicht, diese Anweisungen auszuführen. Denn ich hatte niemanden, der dem elfjährigen Jungen persönliche Anweisung hätte geben können. Dazu kam, daß die Erlangung der erforderlichen Stoffe und Geräte durchaus keine einfache Sache war. Schließlich fand sich ein freundlicher Drogist, bei dem ich meine kleinen Einkäufe an Salpeter, Schwefel, Spießglanz usw. machte und der mir einiges zeigte.
In der Hauptsache mußte ich mich an die gedruckten Anweisungen halten und es ist entscheidend für mein Leben geworden, daß ich bei dieser frühen Gelegenheit die Erfahrung machen konnte, daß alle Kunst und Wissenschaft der Menschheit im gedruckten Wort aufbewahrt ist und von einem eifrigen und hingebungsvollen Leser jederzeit wieder zu tätigem Leben erweckt werden kann. Daß ihr Dasein im Wort nur ein unvollständiges ist und daß der Leser um so mehr aus ihm gewinnt, je mehr er aus Eigenem dazu zu bringen vermag, habe ich damals zwar praktisch erlebt, da sich unter meinen Kameraden[24] keiner befand, der mit mir wetteifern wollte, so gern sie sich auch beim Abbrennen der Erzeugnisse beteiligten, ich habe es mir aber natürlich damals nicht zum Bewußtsein bringen können. So hatte die Spielerei mit dem Feuer mir tatsächlich das Tor zur Welt und all ihren Herrlichkeiten aufgetan, denn unter Herrlichkeit verstand ich die Möglichkeit, all die merkwürdigen Dinge selbst zu machen und zu erleben, an denen sich meine jugendliche Begeisterung entflammte.
Meinen Eltern bin ich zu wärmstem Dank dafür verpflichtet, daß sie mich gewähren ließen, obwohl meine Liebhaberei bei den großen Vorräten an Holz und leicht brennbaren Spänen, die mit der Berufstätigkeit meines Vaters verbunden waren, nicht ungefährlich war. Meine Mutter half mir mit allerlei Küchengerät, Mörser, Sieb, Schüsseln aus. Und selbst als einmal ein ganzer Stoß Leuchtkugeln, die ich zum Trocknen in den Backofen gestellt hatte, zum schreienden Entsetzen des Küchenmädchens aufbrannte, wurde mir mein Treiben nicht verboten, sondern die Eltern räumten mir eine Bodenkammer ein, wo ich meine Zauberkünste treiben durfte. Auch hat sie ihr Vertrauen nicht getäuscht: ich habe niemals einen Brand verursacht; wohl aber hat mir meine gute Bekanntschaft mit dem Feuer es ermöglicht, gelegentlich in einen beginnenden Brand in der Werkstatt, wo der schuldige Arbeiter den Kopf verloren hatte, wirksam einzugreifen und ihn unterdrücken zu helfen.
Bei diesen Arbeiten erlebte ich zum erstenmal das Glück, welches mit der Verwirklichung von Dingen verbunden ist, die man bis dahin nur in Gedanken und Vorstellungen hat erleben dürfen. Es ist dasselbe Gefühl, das den Forscher und Entdecker zu seinen Anstrengungen treibt; die Jugend begnügt sich ja zunächst gern mit viel weniger. Und ziehe ich heute die Summe aller meiner Erlebnisse nach der Seite des Gefühls, so muß ich feststellen,[25] daß diese Quelle in unverminderter Frische während meiner ganzen Lebensdauer geflossen ist, was die subjektive Seite anlangt. Noch heute empfinde ich die Erregung des Erwartens beim entscheidenden Versuch und die an Schmerz grenzende Fülle des Glücks beim Gelingen ebenso lebendig, wie in meinen Knabenjahren, wenn ich auch vielleicht weniger bereitwillig bin, das Erforderliche zur Herstellung eines solchen Erlebnisses zu tun. In diesem Falle stehen also nicht, wie in den meisten derartigen Fällen, Stärke und Dauer des Gefühls im umgekehrten Verhältnis; das Glück des Forschers ist gleichzeitig eines der stärksten und dauerhaftesten.
Arbeitsstil. Obwohl um diese Zeit der Wohlstand des Hauses schnell zunahm, blieb der allgemeine Lebenszuschnitt der alte, überall auf Sparsamkeit eingestellte. Es standen auch mir für meine Experimente nur sehr geringe Mittel zu Gebote: das spärliche Taschengeld, vermehrt durch gelegentliche kleine Zuschüsse der Mutter, die aber nur in besonders dringlichen Fällen gewährt wurden. So war ich darauf angewiesen, alles selbst zu machen, was irgendwie im Bereich der Handfertigkeit eines Knaben liegen mochte, was ich übrigens sehr gern tat. Es ist mir daraus für das ganze Leben ein bestimmter Stil in allen meinen Arbeiten verblieben: die Gewohnheit, mit kleinen Mengen und einfachen Mitteln auszulangen, und die erforderlichen Behelfe tunlichst selbst herzustellen.
Auch zu Zeiten, wo mir wirtschaftliche Beschränkungen nicht entgegenstanden, bin ich in diesem Rahmen geblieben und ich habe durchschnittlich ebensoviel Zeit und Nachdenken auf die technische Vereinfachung bei der Ausführung meiner Forschungspläne angewendet, wie auf ihre begriffliche Klärung und Vertiefung. Dieser Stil hat mir unter anderem später den Entschluß sehr erleichtert, in verhältnismäßig frühem Alter mit meiner Lehrstellung[26] die Verfügung über ein großes Laboratorium und seine Hilfsmittel aufzugeben, da ich mir zutraute, etwaige spätere Forschungswünsche aus eigener Tasche befriedigen zu können. Es hat sich auch so erwiesen.
Ein weiterer Punkt, in dem sich damals mein Arbeitsstil festsetzte, ist durch den Mangel an Scheu vor eintönigen Wiederholungsarbeiten gekennzeichnet. Für meine Feuerwerke waren gelegentlich hunderte von Papierhülsen zu kleben und zu füllen und ähnliche Arbeiten in vielfacher Wiederholung zu leisten. Ich habe derartiges nie als abstoßend langweilig empfunden. Vielmehr entstand aus der Aufgabe, viele gleichartige Stücke herzustellen, alsbald das Problem, wie man dies am zweckmäßigsten und förderlichsten gestaltet, und dessen Lösung gab der Arbeit einen neuen und starken Reiz. Dazu kam das Wohlgefühl der immer zweckmäßigeren und freieren Ausführung entsprechend der zunehmenden Handgeschicklichkeit. Und endlich muß ich bekennen, daß ich die Vermehrung und Anhäufung meiner Erzeugnisse unmittelbar als Genuß empfand, vielleicht wie der Geizige in der Anhäufung seiner Schätze die Freude seines Lebens findet. Zweifellos hat sich hierbei elterliches Erbgut und Beispiel ausgewirkt. War doch meine Mutter unermüdlich im Hauswesen tätig. Und als er längst ein wohlhabender Mann geworden war, pflegte mein Vater, nachdem er vormittags seine auswärtigen Geschäfte erledigt hatte, nach Tisch seine Arbeitskleider anzuziehen, um in der Werkstatt solche Arbeiten mit eigenen Händen auszuführen, die besondere Gewissenhaftigkeit und Geschicklichkeit erforderten. Aber es kam doch noch auch etwas Persönliches dazu, das bei mir sich stärker entwickelte, als etwa bei meinen Brüdern.
So gestaltete sich ein immer mannigfaltigerer Umkreis von Arbeiten und Interessen. Um die runden Stäbe selbst herstellen zu können, um welche die Papierhülsen[27] für die Feuerwerkerei gewickelt werden, hätte ich gern eine Drechselbank gehabt, die es leider in der Werkstatt meines Vaters nicht gab. So faßte ich den Entschluß, selbst eine zu erbauen, und brachte es auch so weit, daß ich auf ihr einfache Gegenstände erzeugen konnte. Als sie fertig war, was eine geraume Zeit beansprucht hatte, waren freilich meine Interessen schon andere Wege gegangen; ich habe sie hernach nicht viel benutzt und habe sie bald verfallen lassen. Ich darf mir nicht verhehlen, daß auch dies für meine spätere Lebensführung typisch genannt werden kann.
Malen. Neben der Feuerwerkerei beschäftigte mich das Sammeln von Käfern und Schmetterlingen sowie Zeichnen und Malen. Für das letztere war eine benachbarte Familie Schwendowski von großem Einfluß. Der Vater war ein kleiner Beamter am Rat der Stadt Riga, dessen gutes Zeichentalent dort für die Herstellung von Diplomen und sonstigen kalligraphischen Kunstwerken verwendet wurde. Unter seinen zahlreichen Kindern, die zum Teil erheblich älter waren als ich, gab es einen Berufsmaler, in dessen Skizzenbüchern zu blättern, wenn er es einmal erlaubte, mich unbeschreiblich beglückte. Es waren flott ausgeführte Blätter in Wasserfarbe von ausgesprochenem Farbenreiz; einige von ihnen stehen noch heute mit ihren Einzelheiten vor meinem geistigen Auge.
Ich sehnte mich unbeschreiblich, ähnliches zu können, versuchte es aber vergeblich mit dem geringen und ungeeigneten Material, das mir zur Verfügung stand. Was war also auch hier anderes zu tun, als sich die gewünschten Farben selbst herzustellen! Fleißiges Umfragen bei den Schulkameraden förderte denn auch irgend ein Buch zutage, in welchem ich die Beschreibung von Reibstein und Läufer und die Anweisungen fand, nach denen der richtige Zusatz von arabischem Gummi als Bindemittel[28] zu bemessen ist. Die Einkäufe wurden beim freundlichen Drogisten getätigt und die Anfertigung unternommen. Es stellte sich jedoch heraus, daß die Farben allein noch nicht den Künstler machen, denn die Ergebnisse meiner neuen Malereien waren nicht ansehnlicher als die früheren. Denn ich fand niemanden, von dem ich das Malen hätte lernen können. Jener Künstler Schwendowski lebte auswärts und kam nur gelegentlich auf einige Tage nach Hause; sonst aber gab es keinen Malkundigen in meinem Kreise. Einmal schenkte er mir einige Reste Ölfarbe. Sie reichten nicht weit, aber doch weit genug, um mich erkennen zu lassen, daß ich mit diesem Material erheblich besseres leisten würde, als mit der schwierigen Wasserfarbe. So begann ich alsbald mit dem Reiben von Ölfarben, die ich nach alter Weise in Beuteln von Schweinsblase aufhob. Denn die Zinntube war noch nicht an meinen Rigaschen Horizont gekommen.
Die bunten Wasserfarben hatte ich benutzt, um schwarze Bilderbogen anzumalen, die ich um ein Geringes in einem Papierladen kaufen konnte. Es war ein großer Vorrat von lithographierten Bogen vorhanden, den ich stundenlang besehen durfte, um mir ein oder zwei Blätter auszusuchen, für welche meine Barschaft reichte. Die Ergebnisse dieser Bemühungen waren aber selbst für mich unbefriedigend. Vorlagen, an denen ich mich bilden konnte, waren nicht erreichbar, denn das einzige, was ich derart zu sehen bekam, war dann und wann ein Ölgemälde im Schaufenster eines Vergolders, das er zum Einrahmen bekommen hatte und auf einige Tage ausstellen durfte. Von der Bilderflut, die den heutigen Menschen zu ersäufen droht, war noch nicht das geringste Vorzeichen sichtbar. Für die Wiedergabe von Kunstwerken gab es nur die Lithographie und den eben wieder entstehenden Holzschnitt; der Farbendruck war eine seltene Kunst und sehr teuer und von den photomechanischen[29] Verfahren der Wiedergabe keimten die ersten Versuche erst in den Werkstätten der Erfinder. So war ich bezüglich der Vorbilder auf die seltenen Zufälle angewiesen, die ein Kunstwerk in den Bereich meiner hungrigen Augen bringen mochten; die sehr starken Eindrücke davon versuchte ich dann mit meinen dürftigen Mitteln wiederzugeben. Immerhin habe ich mir von Anfang an in der Farbe viel mehr zugetraut, als in der Form; während ich mir ganz wohl die Farbwirkung vorstellen konnte, welche ich beim Antuschen eines Bilderbogens zu erreichen mich bestrebte, habe ich mich an das selbständige Entwerfen eines Bildes während meiner Jugendjahre nicht gewagt.
Zusammenhang mit späteren Arbeiten. Ich erwähnte diese kindlichen und kindischen Bemühungen, weil sie mir in der Folge sehr wichtig geworden sind. Ich betone schon hier, daß ich die Schaffung der messenden Farbenlehre für die höchste Leistung halte, die mir zu vollbringen gegönnt gewesen ist. Nun habe ich aber keinen Zweifel, daß ich diese Arbeit, an der die besten Köpfe von Goethe bis Hering sich ohne den gesuchten Erfolg bemüht haben, nicht hätte leisten können, wenn ich nicht von Jugend auf mit den Erzeugern der Farbe, den Farbstoffen mich vertraut gemacht hätte und dadurch den wichtigsten Problemen der Farbenlehre, die sich auf die Körperfarben beziehen, stets nahe geblieben wäre. Insbesondere kann man bei Helmholtz deutlich erkennen, wie er durch die ihm einzig geläufige Technik des Physikers mit Prismen und Linsen auf einen Weg geführt wurde, der das grundwichtige Gebiet der Körperfarben überhaupt nicht berührte.
Überhaupt komme ich beim Überblick über den Inhalt meines Arbeitslebens zu dem Ergebnis, daß jede der recht mannigfaltigen Betätigungen und Liebhabereien meiner jungen Jahre, so unnütz sie auch meinen Eltern[30] und Lehrern erscheinen mußten, sich in der Folge als nutzbringend, oft sogar als grundlegend für spätere Leistungen erwiesen hat, die von meinen Zeitgenossen als brauchbar, ja wertvoll anerkannt worden sind. Durch die Ansammlung sachlicher Anschauungen und Beziehungen in dem so unbegrenzt willigen Gedächtnis der jungen Jahre wird ein Denkmaterial beschafft, aus welchem künftig die konkreten Bausteine für die gedankliche Arbeit des Forschers entnommen werden. Denn dieser hat ja Dinge zu gestalten, die es noch nicht gibt, wobei er doch nicht ins Blaue bauen darf, wo kein Halt für seine gedanklichen Gebilde besteht. Hierbei hat er keine andere Führung, als sein Erinnerungsgut aus früheren sachlichen Erfahrungen, und so nimmt der geistige Bau notwendig die Struktur an, welche durch dies Erinnerungsgut gegeben ist. Es liegt also nicht das Walten einer geheimnisvollen Macht vor, die mir während der Kindheit gütig gerade solche Dinge zugeführt hat, die ich später benutzen konnte. Sondern der Stil und auch weitgehend der Inhalt meiner späteren Arbeit ist maßgebend durch das bestimmt worden, was In- und Umwelt meiner jungen Jahre in den Bereich meiner Hände und Sinne gebracht haben.
Was hier an dem persönlichen Beispiel geschildert worden ist, hat zweifellos allgemeine Bedeutung. Hebt doch auch Goethe hervor, daß die Konzeption der Hauptgestalten und -geschehnisse seiner dichterischen Erzeugnisse in sehr früher Jugend erfolgt ist, und daß sein ganzes langes Leben mit der Ausgestaltung dieser frühen Gebilde beschäftigt gewesen ist. Hier tritt noch viel deutlicher hervor, wie das Werk des Mannes durch das Material bestimmt wird, das er in der Jugend sich zu eigen gemacht hat.
Ausblick. Verfolgt man diesen Gedanken, so wird man weit geführt. Goethes instinktiver Widerwille gegen[31] die Newtonsche Farbenlehre hat seine Ursache (die Goethen nicht klar bewußt wurde) darin, daß sie zwar von den »physischen«, d.h. bei der Lichtbrechung entstehenden Farben Auskunft gab, dagegen keine über die Farben der Körper, insbesondere der Farbstoffe. Newtons Erklärung der Körperfarben als auf den Farben dünner Blättchen beruhend, ist Goethen anscheinend unbekannt geblieben; jedenfalls hat er nirgend darauf Bezug genommen. Auch hat sie zu keiner wissenschaftlichen Aufklärung geführt, da sie ein Irrtum ist. Goethe seinerseits war von seinen persönlichen Bemühungen um den Erwerb der Zeichen- und Malkunst her mit den Farbstoffen und Körperfarben wohl vertraut und hatte das sichere Gefühl, daß sie etwas ganz anderes sind, als die Spektralfarben. Seine Mahnung »Freunde, flieht die dunkle Kammer« hat sicherlich zu einem guten Teil ihre Ursache darin, daß er sich in diesem Gebiete fremd fühlte und daher das Bedürfnis empfand, aus der Not eine Tugend zu machen. Daneben war aber auch das richtige Gefühl wirksam, das er freilich nicht physikalisch begründen konnte, daß wirklich die unmittelbare Übertragung der dort gefundenen Ergebnisse auf die Farberscheinungen der Umwelt nicht berechtigt war, während sie doch von den Physikern als selbstverständlich, d.h. als eine Sache, über die man nicht weiter nachdenkt, geübt wurde.
Betrachten wir unter gleichem Gesichtspunkt das Werk des großen Physikers Helmholtz, so erkennen wir deutlich, wie fern ihm bei seinem Mangel an maltechnischen und chemischen Erfahrungen über Farbstoffe die hier auftretenden Probleme lagen. In seiner großen, dreibändigen Physiologischen Optik findet sich im Index das Wort Körperfarbe überhaupt nicht, und auf der Seite, die zum Wort Farbstoff angegeben ist, sucht man vergeblich etwas hierüber. Dagegen hat[32] er in seiner aufschlußreichen Rede zum siebenzigsten Geburtstag mitgeteilt, daß er schon als Schüler in den Lateinstunden, die ihn höchlichst langweilten, sich mit der Berechnung des Strahlenganges in optischen Instrumenten beschäftigt hat. Über Mal- und Zeichenversuche gibt er nichts an. Die Richtung seines Geistes ist also stets die gleiche geblieben.
Technisch-wirtschaftliche Versuche. Die erworbene Zeichen- und Malfertigkeit, so gering sie war, erwies sich als ein wesentliches Hilfsmittel zur Befriedigung meiner mannigfaltigen Interessen, die durch die Beschränktheit meines Taschengeldes beständig Not litten. Meine Eltern hielten mich absichtlich sehr kurz, teils aus Sparsamkeit, hauptsächlich aber, weil sie mit Recht besorgten, daß mich diese Allotria in der Erfüllung meiner Schulpflichten stören würden. Es galt also, die erforderlichen »Kopeken«, wie die kleinste Münze hieß, auf irgend eine andere Weise zu beschaffen.
Nun waren damals eben die Abziehbilder aufgetreten, die man durch feuchtes Aufdrücken, Benetzen und Abziehen des papierenen Trägers auf beliebige Unterlagen übertragen kann. Oft waren sie auf der sichtbaren Rückseite bronziert, so daß man ihren Inhalt erst sah, nachdem die Übertragung erfolgt war. All dies war für uns Jungen von großem Reiz. Entsprechend meiner treibenden Leidenschaft, alles mögliche selbst machen zu wollen, hatte ich eine Menge Nachdenken und Experimentieren daran gesetzt, solche Abziehbilder selbst zu erzeugen. Mittel, das zarte Häutchen herzustellen, auf dem diese Bilder sich befinden, besaß ich nicht. Wohl aber wußte ich, daß durch Tränken von Seidenpapier mit Öl oder besser Terpentinlack sich glasartig durchsichtige Blätter herstellen lassen. Ich zeichnete und malte daher Bildchen auf Seidenpapier, machte sie durchsichtig, schnitt sie aus, klebte sie auf ein gewöhnliches[33] Schreibpapier und versah ihre Vorderseite mit einer starken Schicht von arabischem Gummi. So entstanden Bilder, die sich ebenso abziehen ließen, wie die käuflichen, aber den Vorzug hatten, daß sie Gegenstände darstellen konnten, die für uns damals von besonderem Interesse waren. Meine Schulkameraden gaben gern einige Kopeken her, um in den Besitz meiner Bilder zu gelangen und ich konnte mir Reibschalen, Glasröhren und andere notwendige Kostbarkeiten anschaffen, nach deren Besitz ich mich lange vergeblich gesehnt hatte. Die Freude dauerte aber nicht lange, denn auf irgendeine Weise hatte ein Lehrer davon erfahren, der den Handel auf das strengste verbot. Der stets zwischen Jungen blühende Tauschverkehr wurde geduldet – gab es doch überhaupt kein Mittel, ihn zu verhindern –, sobald aber bares Geld, wenn auch im kleinsten Ausmaß, dazwischen kam, wurde er als ein arges, ja ehrenrühriges Vergehen angesehen. Wie gerne hätte ich jene Dinge ertauscht, statt sie zu kaufen, wenn nur jemand dagewesen wäre, von dem ich sie hätte ertauschen können.
Tonkunst. Die Erinnerungen an die eigenen Kinderjahre haben eine Beschaffenheit, die sich am besten mit der Einfahrt in die finnischen oder schwedischen Schären vergleichen läßt. Zunächst tauchen ganz vereinzelte Inseln des Bewußtseins aus dem unbestimmten Meer des Daseins auf, die ganz klein sind und nur wenige Pflänzchen anschaulicher Erlebtheit tragen. Dann werden sie zahlreicher, größer und mannigfaltiger mit Einzelheiten bewachsen, bis sie sich endlich zu dem festen Lande des dauernden Bewußtseins zusammenschließen. Auch hier erheben sich deutlich einzelne höhere Gipfel aus dem Felde des Erlebens, sie werden aber im Zusammenhange mit dem Tage empfunden und nicht mehr als vereinzelte Inseln. Solch eine Insel ist die Erinnerung an den ersten[34] starken Musikeindruck, den ich erlebt habe. Es war das erste Mal, daß ich größere Musik hörte. Die Eltern hatten mich in die Kirche mitgenommen, wo ein Weihnachts- oder Oster-Oratorium aufgeführt wurde; sie waren der Ansicht, daß dies der beste Weg zur Tonkunst sei. Tatsächlich entsprach er ja dem biogenetischen Grundgesetz Haeckels, das damals noch nicht ausgesprochen war, nach welchem jedes Einzelwesen in seiner Entwicklung einen Abriß der Entwicklungsgeschichte seiner Gattung durchläuft, denn die ernste Tonkunst hat sich im Dienst der Kirche entwickelt, und die Anfangsstufen der heiteren waren uns Kindern als Lieder geläufig. Ich weiß nicht mehr, welches Werk ich angehört habe. Wohl aber ist mir der Himmelsklang der Geigen aus der Höhe des Orgelchors an einer zarten Stelle und die Gewalt des Vollklangs von Orgel, Orchester und Chor, der darauf einsetzte, in unvergeßlicher Erinnerung. Ich konnte von meinem Platz aus zufällig den Kapellmeister gut sehen und die Gewalt, die er mit seinem dünnen Stäbchen über all die tönenden Massen ausübte, erschien mir als eine wunderbare Gipfelhöhe menschlichen Könnens, höher als alles andere, wovon ich Kenntnis hatte oder was ich mir vorstellen konnte. Von den mancherlei Idealen, die bei solchen Gelegenheiten in mir erwachten und deren Erreichung mich im späteren Leben beglückt hat, ist dies eines der wenigen, dem dauernd die Erfüllung versagt blieb. Ich habe sie freilich auch, eingedenk meiner Grenzen, niemals ernstlich angestrebt.
Zu gegebener Zeit brachten uns die Eltern auch in das Theater. Uns heißt: meinen älteren Bruder und mich. Da ich ein frühzeitiges Kind war, während meine beiden Brüder sich etwas langsamer entwickelten, machte es sich von selbst, daß ich zu all den Fortschritten, die meinem älteren Bruder seinen Jahren gemäß zukamen,[35] der Gesellschaft wegen mitgenommen wurde. Dadurch ist mir viel Zeit erspart worden.
Der erste Besuch des Theaters galt der Oper: die Zauberflöte. Die Unverständlichkeit des Textbuches beeinträchtigte natürlich uns Kindern den Genuß nicht im geringsten.
Die Schlange gleich am Anfang, hernach die lustigen Papagenen und der böse Mohr gingen uns unmittelbar ans Herz, während wir Tamino und Pamina achtungsvoll aber ohne besondere Teilnahme gelten ließen, die sich nur etwas steigerte, als sie durch die wunderbaren Künste von Feuer und Wasser wandeln mußten, die der Theatermann uns zur Begeisterung hergerichtet hatte. Hier sind überall die optischen Erinnerungen viel stärker, als die akustischen, entsprechend meiner allgemeinen Veranlagung. Und auch wenn ich an jene Oratoriumsaufführung denke, so verbindet sich mit der klanglichen Erinnerung die Anschauung des erleuchteten Chors und des dunklen Kirchenschiffs.
Die Tonkunst wurde von meinen Eltern als ein wesentlicher Teil der allgemeinen Bildung angesehen. So erhielt mein älterer Bruder schon frühzeitig mit gutem Erfolg Unterricht im Klavierspiel. Der Lehrer hieß Askenfeld und war ein sonderbares kleines Männchen, in einem uralten verblichenen Mantel und mit einem weißen Schifferbart um das pockennarbige, braunrote Gesicht, doch ein tüchtiger Musiker. Als Erfrischung für die Plackerei der Unterrichtsstunde pflegte er sich zunächst die erste Fuge in C-dur aus dem wohltemperierten Klavier vorzuspielen. Ich habe lange nicht gewußt, was das für ein seltsames Klavierstück war, bis ich bei eigener Kenntnisnahme jenes Werkes die Klänge aus den Jugendjahren wiedererkannte. Für mich wurde als Instrument die Geige gewählt, die ich bei einem Mitglied des Theaterorchesters Scholz erlernen sollte. Er[36] war sicherlich kein guter Lehrer, mußte auch nach einigen Jahren wegen Trunkfälligkeit entlassen werden. Aber wenn ich zeitlebens nicht ordentlich geigen gelernt habe, so kann ich die Ursache dafür nur zum kleineren Teil jenem ungeeigneten Lehrer zuschieben. Mir fehlte für die Handhabung des Instruments vor allem die Schärfe des Gehörs, auf der die Sicherheit der Griffe und der Wohlklang der Bogenführung beruht. So habe ich die spärliche Fertigkeit, die ich mir damals erworben hatte, später auf die Bratsche übertragen, welche etwas geringere Anforderungen stellt und mir dadurch den Zugang zu den unerschöpflichen Schätzen unserer Kammermusik geöffnet. Häusliche Streichquartette beglückten mich von meiner späteren Schulzeit ab ununterbrochen durch die Studenten- und Professorenjahre. Ihnen verdanke ich neben den unmittelbaren Kunstgenüssen mancherlei Einsichten in den Wundergarten der thematischen Arbeit, die mir von größter Bedeutung für die Entwicklung einer eigenen Kunstlehre werden sollten.
Da es mit der Geige nicht recht gehen wollte, erbat ich mir Unterricht im Klavierspiel und der Harmonielehre und ich habe jahrelang bei Askenfeld Übungen im reinen Satz nach dem Lehrbuch von Richter geschrieben.
Daß ich frühzeitig nach der wissenschaftlichen Seite der Tonkunst Verlangen trug und diesen Drang auch durch die Fürsorge meiner Eltern befriedigen konnte, ist für meine innere Entwicklung wichtig genug gewesen, wenngleich sich die praktisch – wissenschaftliche Auswirkung dieser frühen Bemühungen erst am Abend meines Lebens betätigen sollten.
Durch den oben beschriebenen Bücher-Leihverkehr mit den Schulkameraden fielen mir einige Bruchstücke des Kater Murr von A. Hoffmann in die Hände, die mich so fesselten, daß ich nicht ruhte, bis ich mir auch[37] andere Schriften von ihm verschafft hatte. Von Hoffmann habe ich dann gelernt, die seelische Seite der Musik zu verstehen. Es war mir ein großes und entscheidendes Erlebnis, eine Aufführung des Don Juan anzuhören, nachdem ich seine meisterhafte Analyse dieses tiefgründigsten Kunstwerkes gelesen hatte. Die tiefe Verehrung Mozarts, welche ich mir damals aneignete, hat unvermindert durch mein ganzes Leben bis heute angehalten.
Schöne Literatur. Da das Lesebedürfnis meiner Mutter durch die zwei Familienzeitschriften nicht gestillt war, deren Hefte allwöchentlich gebracht wurden, hatte sie stets noch einige Bände aus einer nahegelegenen Leihbücherei an der Hand. Frühzeitig erbat und erhielt ich die Erlaubnis, sie auch meinerseits lesen zu dürfen und es wurde bald mein Amt, den Austausch der Bände zu besorgen, wobei ich für die Auswahl auch meine Wünsche geltend machen konnte. Da ich immer viel früher fertig wurde, als meine Mutter in den wenigen Viertelstunden, welche das Hauswesen ihr übrig ließ, fand eine Teilung statt, indem sie mir großmütig die Mehrzahl der Bände zum beliebigen Umtausch überließ.
So habe ich das, was ich vom Leben in der Welt außerhalb des engen Kreises von Haus und Schule erfuhr, aus den unzulänglichen und einseitigen Schilderungen der Romanliteratur der fünfziger und sechziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts lernen müssen. Der herrschende Ton war etwa der von F. Spielhagen angegebene, dessen »Problematische Naturen« mich in den letzten Schülerjahren sehr beschäftigten. Der Naturalismus begann erst am Horizonte aufzusteigen und hatte die Herrschaft der neueren Romantik noch nicht angetastet. Bald darauf erfaßte mich die Wissenschaft mit gewaltiger Hand und ließ das Interesse an menschlichtäglichen Verhältnissen ganz zurücktreten. Die Folge[38] war, daß ich in der Beurteilung des Denkens und Handelns der Menschen, mit denen mich das Leben hernach in Berührung brachte, immer wieder die größten Fehler gemacht habe. Denn die Wissenschaft hat mich seitdem nicht losgelassen und es ist mir bis heute immer nur ein unzulänglicher Anteil meiner Energien für die sachgemäße Bearbeitung meiner persönlichen Verhältnisse übrig geblieben. Vermutlich hätte ich die mancherlei wissenschaftlichen Fortschritte, für die ich hernach einzutreten mich verpflichtet fühlte, viel leichter und schneller durchgesetzt, wenn ich in meinen jungen Jahren einen größeren Betrag an praktischer Lebens- und Menschenkunde zu erwerben Gelegenheit und Lust gehabt hätte.
Menschenbehandlung. Insbesondere ist es mir, ich weiß nicht mehr durch welchen Einfluß, stets unedel, ja unanständig erschienen, andere Menschen ohne ihre bewußte Gutheißung meiner Gründe zu irgendwelchen Handlungen oder Unterlassungen zu beeinflussen, die mir wünschenswert waren. Ich rede hier nicht von persönlichem Nutzen, sondern von meinen wissenschaftlichen Bestrebungen, bei denen ich mir nie klar gemacht hatte, daß die äußeren Erfolge fast immer durch Personen maßgebend bestimmt wurden, welche durch meinen ungestümen Reformeifer sich zunächst verletzt fühlen mußten. Denn jeder Fortschritt kann ja den bisherigen Fachmännern und Führern gegenüber die Frage auslösen, warum sie selbst ihn nicht bewirkt haben. Er bringt somit die Möglichkeit eines Vorwurfs mit sich und veranlaßt sie unwillkürlich zu einer ablehnenden Einstellung.
Die leidenschaftliche Freude an dem Fortschritt selbst, welche mich beseelte und meine Handlungen bestimmte, setzte ich ohne Prüfung auch bei anderen voraus. Ich hatte mich darin zwar nicht immer getäuscht, aber[39] doch in der großen Mehrzahl der Fälle, ohne daß ich aus meinen Erfahrungen zu lernen verstand.
In der »Selbstschau« von H. Zschokke, die ich jüngst in Händen hatte, erzählt er, wie er zur Verwirklichung seiner Bestrebungen um die Hebung der Volksbildung in seiner schweizerischen Wahlheimat sich zuerst die Frage vorgelegt und beantwortet hat, in welcher Gestalt er die neuen Gedanken und Kenntnisse dem Volk nahebringen müsse, um nicht alsbald einen allgemeinen Widerstand zu erwecken. Denn »niemand bildet sich mehr auf sein Wissen ein, als der Unwissende und niemand glaubt alles besser zu verstehen, als der Unverständige«. Dies wußte Zschokke schon als Sechsundzwanzigjähriger. Ich hatte es noch nicht mit siebzig Jahren gelernt.
Der beginnende Schriftsteller. Was meine eigenen Leistungen in der Wortkunst anlangt, so habe ich schon bald auf der Schule das Lob meiner Lehrer mir durch meine deutschen Aufsätze erwerben können. Über diese Forderungen der Schule hinaus hat sich die Neigung zu schriftlicher Gestaltung meiner Gedanken und Gefühle frühzeitig betätigt. Schöne Literatur war mir ja von allem Gedruckten am reichlichsten zugänglich. So konnte es nicht ausbleiben, daß ich meine allgemeine Neigung, alles selbst machen zu wollen, auch hier betätigte.
Zwar blieb ein Roman, den ich schreiben wollte, bereits nach den ersten Seiten stecken, da der Kreis der persönlichen Erlebnisse, aus denen ich hätte schöpfen können, sich als gar zu klein erwies. Etwas besser gelang es mit einer Zeitschrift, die ich unter dem Titel »Humor« handschriftlich herstellte und meinen Freunden zu lesen gab. Sie hat vielleicht ein halbes Dutzend Hefte erreicht. Als ich aber mir einfallen ließ, Rezensionen über unsere Leistungen beim Lesen klassischer Dramen mit verteilten[40] Rollen, das wir damals betrieben, schreiben zu wollen, erregte ich stürmischen Widerspruch und mußte die weitere Fortsetzung aufgeben. Denn ich hatte den Anfangsbuchstaben dieses Frevels mit der Zeichnung einer kritischen Riesenscheere versehen, die eben ein bedauernswertes Opfer mitten durchschnitt. Schon vorher hatte ich mir das ernste Mißfallen meiner Leser zugezogen, als ich im Stil Amadeus Hoffmanns bekannte Schlittschuhbahnerlebnisse mit Altersgenossinnen zu tragisch-leidenschaftlichen Geschichten verarbeitet hatte, die im Augenblick der höchsten Spannung in eine Schnurre umschlugen. Meine Leser waren zwar völlig bereit, sich von mir in tiefe Rührung versetzen zu lassen, wollten aber im Genuß dieser Rührung keine Störung ertragen.
Schulschwierigkeiten. Es ist leicht verständlich, daß diese mannigfaltigen Interessen bald genug mit den Forderungen der Schule in Widerstreit gerieten. Bereits in der zweiten Klasse, der Quarta, erwiesen sich meine Leistungen nach Jahresfrist als ungenügend für die Versetzung und ich mußte ein halbes Jahr nachlernen. In der folgenden Tertia, wo ich außerdem noch der Chemie anheimgefallen war, wie alsbald erzählt werden soll, mußte ich ein ganzes Jahr repetieren. Dann ging es wieder aufwärts: Sekunda drei Semester, Prima zwei. Nicht daß ich in den oberen Klassen einen größeren Schulfleiß entwickelt hätte; dieser war eher noch geringer geworden. Aber ich hatte das Wohlwollen einiger Lehrer gewonnen, welche meine allgemeinen geistigen Fortschritte teilweise als Äquivalent für die Schulforderungen gelten ließen und mir die Zügel erheblich lockerten.
Besonderen Dank schulde ich dem schon genannten hervorragend guten Lehrer Schweder, der in den Lehrerberatungen erfolgreich für mich einzutreten pflegte[41] und mir große Energievergeudungen erspart hat, denen ich bei strengem Einhalten der Vorschriften unrettbar verfallen wäre.
In der Mathematik hatte ich immer gute Leistungen aufzuweisen. Besonders gute aber in der Physik, die in Tertia begann, während die Chemie der Prima vorbehalten war. Schweders vorzüglich anregender Physikunterricht hatte bei mir wieder den Erfolg gehabt, daß ich darauf brannte, die schönen Versuche, die er uns zeigte, selbst nachzumachen. Er lieh mir das praktische Lehrbuch von Fricke, dessen frühere Auflagen vorzüglich geeignet waren, zur Herstellung brauchbarer Geräte mit einfachsten Mitteln anzuleiten. Hier erinnere ich mich, wie sehr mich die Entdeckung aufregte, daß es für eine Sammellinse zwei Stellen zwischen Gegenstand und Bildfläche gibt, an denen ein scharfes Bild erzeugt wird, und daß hierbei die Abstände gleich groß bleiben und nur vertauscht sind. Hernach erfuhr ich freilich, daß dies längst bekannt war. Aber die Wonne der selbständigen Entdeckung hatte ich doch geschmeckt und sie hinterließ eine stets neu werdende Sehnsucht nach mehr.
Bald durfte ich dem verehrten Lehrer bei den Versuchen an die Hand gehen und hatte Gelegenheit, kleine technische Neuheiten und Verbesserungen vorzuschlagen und auszuführen. So versah ich beispielsweise Kreisscheiben aus Buntpapier für den Farbkreisel mit einem radialen Schlitz, damit man zwei oder mehr ineinander stecken und nach beliebig großen Sektoren zur Mischung bringen konnte. Auch in dieser Sache war mir ein Anderer zuvorgekommen, wie ich nach vielen Jahren feststellen konnte, nämlich J.C. Maxwell, der große Physiker.
Einmal gelang es mir sogar, meinen verehrten Lehrer auf einem physikalischen Irrtum festzulegen. Es kennzeichnet ihn, daß er mich seitdem noch freundlicher[42] behandelte und meine Interessen in den Lehrerbesprechungen noch nachdrücklicher vertrat.
Die Chemie. Über die Physik hinaus wurde aber bald die beherrschende Leidenschaft meiner jungen Tage die Chemie. Angefangen hatte sie mit der Feuerwerkerei. In dem oben erwähnten Buche von Websky waren zu den Namen der Stoffe die chemischen Formeln gesetzt worden, die mich zunächst wie ebensoviele Rätsel ansahen. Allmählich kriegte ich heraus, daß überall, wo im Namen das Wort Schwefel vorkam, in dem Zeichen ein S zu finden war; aus der Lateinstunde wußte ich, daß Schwefel sulphur heißt. Andere Buchstaben konnte ich nicht deuten. Eine Frage an den Lehrer brachte den kurzen Bescheid: das sind chemische Formeln, die wirst du in Prima lernen. Bis Prima aber wollte ich keinenfalls warten, zumal gerade damals meine Aussichten überhaupt in diese Klasse zu gelangen, in ganz unbestimmte Weiten hinausgeschoben schienen.
Also hieß es wieder, jene spärlich aber mannigfaltig fließende Quelle: die zufälligen Büchervorräte der Kameraden, in Anspruch nehmen. Das Glück wollte mir diesmal besonders wohl, denn ich erlangte ein Exemplar der »Schule der Chemie« von Stöckhardt, dem verdienten Ackerbauchemiker. Es war sehr zerlesen und bestand fast nur aus den auseinandergefallenen Blättern. Ich lernte es aber bald als den größten Schatz hegen und pflegen, der mir bis dahin in die Hand gefallen war.
Denn diese Schule der Chemie erwies sich als ein unterrichtliches Meisterwerk. Natürlich konnte ich diese Eigenschaft des Buches nur subjektiv empfinden, nicht objektiv beurteilen. Aber noch ungleich mehr als Frickes Praktische Physik kam der Stöckhardt meiner Sehnsucht entgegen, alle die schönen Dinge, von denen ich las, selbst zu machen. Denn er stellt an[43] die Hilfsmittel und die Geschicklichkeit des Schülers zunächst die allergeringsten Anforderungen, um ihn dann in wohlbedachter Stufenfolge zu schwierigeren Dingen emporzuführen. So waren mir die angegebenen chemischen Versuche viel zugänglicher, als die physikalischen, und ich säumte nicht, aus dieser erquickenden Quelle in vollen Zügen zu trinken.
Natürlich war wieder die Geringfügigkeit meiner Mittel ein arges Hindernis. Mein Vater war weniger als je gestimmt, meine Bummelei bezüglich der Schule noch zu unterstützen und was meine Mutter im Zwiespalt zwischen ihrer Herzensgüte gegenüber dem Lieblingssohn und dem Pflichtbewußtsein gegenüber ihrem Eheherrn sich abrang, um es mir zuzustecken, wollte bei weitem nicht ausreichen. So sah ich zu, wo ich durch besondere Dienste das so dringend gewünschte Geld erwerben mochte. Um mir eine Retorte kaufen zu können, die ich notwendig brauchte, um konzentrierte Salpetersäure zu machen, die mir zur Herstellung von Schießbaumwolle dienen sollte, habe ich einmal den ganzen Hof ausgeeist, was zweieinhalb Tage angestrengter Arbeit in den Osterferien beanspruchte.
Meine chemischen Experimente, soweit ich sie nach Stöckhardts Anleitungen ausführen konnte, hatten für mich zunächst den Zweck, die Erscheinungen kennen zu lernen. Wer jemals gesehen hat, welcher Versenkung ein Kind gegenüber einer neuen Erscheinung fähig ist, die es gleichsam mit allen Poren aufnimmt und unverwischbar seinem Gedächtnis einverleibt, kann sich eine Vorstellung von der Hingabe machen, mit welcher ich mich dieser ganz neuartigen Dinge bemächtigte und mit welchem Eifer ich nachdachte, um mir den Weg zu Versuchen zu bahnen, die mir wegen irgendeines Mangels an Hilfsmitteln zurzeit unzugänglich waren. Natürlich zeigte ich meinen Kameraden, so viel sie sehen wollten,[44] und so kam es, daß auch die Lehrer davon erfuhren. Auf eine freundliche Aussprache mit Schweder, in der er mir das Versprechen abnahm, doch auch die Schulfächer zu bearbeiten, was mir ja nicht schwer falle, und den Stand meiner dermaligen chemischen Kenntnisse untersuchte, lieh er mir andere Lehrbücher, von denen mir das wichtigste die von Strecker besorgte deutsche Ausgabe des Regnault war. Hierdurch wurde ich in eine mehr rein wissenschaftliche Auffassung meines Lieblingsfaches hineingeführt und so gut vorbereitet, daß mir später das verbummelte erste Studentenjahr keine wesentliche Lücke machte.
Photographieren. Durch die Sonderstellung, die ich vermöge dieser Beschäftigungen unter meinen Schulgenossen einnahm, war mir der Kamm mächtig geschwollen und ich war nicht schüchtern, mich der vielen und großen Dinge zu berühmen, die ich hernach leisten wollte. Dies erregte natürlich Widerspruch und Hohn; ein Wort gab das andere, und ich behauptete, daß ich zum Beweise meiner Kunst und Wissenschaft nach bestimmter Zeit einen der anwesenden Kameraden mit selbst gefertigten Mitteln photographieren würde. Ich hatte weder eine Kamera, noch das übrige Gerät, und alles, was ich vom Photographieren wußte, beschränkte sich auf die kurze Kennzeichnung der chemischen Grundlagen in den Lehrbüchern. Auch befand sich kein Photograph unter meinen Bekannten; ich hatte als Objekt einiger photographischer Aufnahmen von der Technik der Aufnahme soviel gesehen, als der Aufzunehmende eben zu sehen bekommt. Zu jener Zeit, den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, diente als lichtempfindlicher Empfänger die nasse Kollodiumplatte. Eine sorgsam geputzte Glasplatte wurde mit Kollodium übergossen, in welchem Jodammonium und Jodkadmium gelöst waren und das erst einen bestimmten Zustand[45] der »Reife« erreicht haben mußte, ehe es brauchbar war. Im rechten Augenblicke, wo die Schicht zwar erstarrt, aber noch feucht war, wurde die Platte in das Silberbad getaucht, das gleichfalls einer sehr genauen Zurichtung (schwach sauer, mit Silberjodid gesättigt) bedurfte. Nachdem sich das Jodsilber gebildet hatte, mußte die Platte abtropfen und kam feucht in die Kassette, wo sie sich fünf bis zehn Minuten lang brauchbar erhielt; man konnte also nur in der Nähe der Dunkelkammer photographieren. Diese Einzelheiten entnahm ich einem Lehrbuch der Photographie von Monkhoven, das ich mir hatte verschaffen können.
Ich will die mancherlei Schwierigkeiten nicht eingehender schildern, die zu überwinden waren. Aus dem Material der leeren Zigarrenkisten des Vaters wurde die Kamera gebaut. Das Opernglas der Mutter gab das Objektiv her. Dies war verhältnismäßig leicht erledigt. Für das Silberbad erbettelte ich mir einen zerbrochenen Teelöffel, der sich leider als recht kupferreich erwies und umständliche Bearbeitung erforderte, bis ich reines Silbernitrat erhielt. Die Schalen wurden aus lackierter Pappe gefertigt, zerbrochene Fensterscheiben wurden zu passenden Platten beschnitten. Endlich war alles bereit und mit atemloser Spannung verfolgte ich die Entstehung des Negativs meiner ersten Aufnahme, der Ansicht vor meinem Fenster. Das Glücksgefühl war nicht geringer als seinerzeit beim Steigen der ersten selbstgefertigten Rakete. Einige weitere Versuche ergaben mir die nötigen Erfahrungen und zu der vorgesehenen Zeit brachte ich tatsächlich die photographische Aufnahme des Kameraden zustande, die ich dann auf selbstgefertigtem Eiweißpapier abzog. Er hatte den ganzen Hohn, mit dem er meine Bemühungen als aussichtslos bis zum letzten Augenblick verspottet hatte, in seinem sehr beweglichen Gesicht zum Ausdruck gebracht und diesen Ausdruck[46] auch während der halben Minute, welche die Aufnahme erforderte, getreulich festgehalten. So entstand ein ungemein lebendiges Bildnis und es tut mir leid, daß ich es nicht mehr besitze.
Bei der Durchführung dieser Wette habe ich sehr viel gelernt. Die erforderlichen Chemikalien waren in Riga nicht käuflich und ich mußte sie aus den zugänglichen Grundstoffen herstellen. Schon die Schießwolle für das Kollodium befand sich auf dieser Wunschliste und jene Geschichte von der Retorte für das Auseisen des Hofes gehört in diese Odyssee, denn um jene herzustellen, brauchte ich die konzentrierte Salpetersäure. Jodammonium und Jodkadmium mußten gleichfalls gemacht werden; das zweite erfreute mich durch den hohen Glanz seiner Kristalle. Auch Äther habe ich damals fabriziert. Und ebenso galt es mancherlei kleine mechanische und physikalische Erfindung zu machen, um das genaue Anpassen der Kassette zur Mattscheibe zu sichern, die beste Stelle für die Blende zu finden usw.
Die Erfahrung, welche ich seinerzeit bei meiner Feuerwerkerei gemacht hatte, daß nämlich in Büchern genügende Auskunft zu finden ist, um gewünschte Dinge ausführen zu lernen, bewährte sich auch hier und ist maßgebend für meine weitere Entwicklung geworden. Sie machte mich unabhängig von der Notwendigkeit, durch persönlichen Unterricht vorwärts gebracht zu werden. Nicht daß ich solcher persönlichen Förderung nicht teilhaftig geworden wäre; vielmehr werde ich weiterhin mit Dank über solche zu berichten haben. Sie war aber keine unumgängliche Notwendigkeit für mich und tatsächlich verdanke ich meinen Büchern sehr viel mehr, als meinen Lehrern.
Das moralische Schwungrad. Ferner erlebte ich an dieser Sache zum ersten Male das Verfahren des »moralischen[47] Schwungrades«. Bekanntlich dient bei Arbeitsmaschinen das Schwungrad dazu, eine gewisse Menge Energie aufzuspeichern. Es wirkt vermöge seines Energieinhaltes in solchem Sinne, daß es die positiven und negativen »Spitzen« der Arbeitsleistung aufnimmt und trotz schwankender Betätigung und Belastung eine annähernd gleiche Geschwindigkeit des Betriebes bewirkt. Wird insbesondere aus der Maschine vorübergehend eine übermittlere Arbeit entnommen, so würde sie stehen bleiben, wenn nicht das Schwungrad aus seinem Vorrat das Übermaß der Beanspruchung deckte. So hatte ich mich – damals unbewußt, später bewußt – zu einer überdurchschnittlichen Leistung verpflichtet und den Ehrgeiz, die scheinbar unmögliche Wette zu gewinnen, als ergänzende Energie in den Dienst meines Wunsches gestellt, das Gebiet der Lichtbildkunst zu erobern, in welchem sich meine Bildinteressen so nahe mit den chemischen verbanden. Das Gelingen jenes ersten Versuches und eines zweiten, der gelegentlich des Abschlusses meiner Studienzeit zu erzählen sein wird, hat mich veranlaßt, das Verfahren hernach häufig anzuwenden, vielleicht häufiger als richtig war, wobei denn auch Fehlschläge nicht ausgeblieben sind. In den meisten Fällen hat es sich aber sehr gut bewährt.
Andere Betätigungen. Diese mannigfaltigen Zimmerbeschäftigungen verhinderten mich nicht, einen großen Teil meiner Zeit unter freiem Himmel zu verbringen. Der Beruf meines Vaters brachte es mit sich, daß mit unserer Wohnung stets ein großer Holzplatz verbunden war. Nach dem Hause am Speckgraben, das auch bald von der Riga-Dünaburger Eisenbahn bedeckt wurde, wohnten wir in der Romanowka-Straße, gleichfalls in der Moskauer Vorstadt. Riga besaß außerhalb der früheren Festungswälle, von denen ich in meinen ersten Kinderjahren noch Teile gesehen habe, die später durch hübsche[48] Anlagen ersetzt wurden, drei Vorstädte, die Petersburger, Moskauer und Mitauer. Von diesen war die erste die vornehmste. In der Moskauer Vorstadt wohnten hauptsächlich die Undeutschen, Russen und Letten, und die Mitauer Vorstadt, die auf dem anderen Ufer des dreiviertel Kilometer breiten Dünaflusses lag, war eine Welt für sich, die im Frühling und Herbst zur Zeit des Eisganges wochenlang von der anderen Stadt abgeschlossen war. Im Sommer wurde der Verkehr durch eine Floßbrücke und einige kleine Dampfboote vermittelt, im Winter baute das Eis breite Verkehrsbahnen. Daher wurden die »Überdünschen« ein wenig als Fremdlinge angesehen und man traute ihnen Dinge zu, die einem richtigen »Rigenser« nicht anstanden.
So empfand die ganze Familie es als eine wesentliche Stufe unseres sozialen Aufstiegs, als es meinem Vater etwa um 1860 gelang, ein Hausgrundstück in der Petersburger Vorstadt, und zwar an deren Hauptstraße, der großen Alexanderstraße, zu erwerben. Daß es dazu die Hausnummer 100 trug, steigerte meine Hochachtung noch ganz bedeutend. Es lag zwar ein wenig am Rande der Vorstadt, aber noch innerhalb des geschlossenen Anbaugebietes, das mit der »Großen Pumpe«, einem öffentlichen Brunnen auf einem von Pappeln eingerahmten Platz einige hundert Schritt weiter endete. Darüber hinaus fanden sich zerstreute Sommerhäuser, Landsiedelungen, Windmühlen und Fabriken und dann begann der endlose Kiefernwald, der abwechselnd mit ausgedehnten Hochmooren und schöngerandeten Landseen die Umgebung von Riga bildete. In derselben Weise war die Mitauer Vorstadt durch Wald und Moor begrenzt, während am Rand der Moskauer sich der bereits erwähnte Dünenzug der »Sandberge« erstreckte, den man durchqueren mußte, um in den Wald zu gelangen.[49]
Dies war der ausgedehnte Tummelplatz der Wanderungen, den wir, mein älterer Bruder und ich und zwei oder drei Schulfreunde in immer weiterem Umfange durchstrichen und nach Knabenweise genau kennen lernten. Unterwegs wurden Käfer und Schmetterlinge gesammelt und ein mit prachtvollen Kammolchen bevölkerter Tümpel gab uns Anlaß, einige besonders schöne Exemplare zu Hause zu halten und mit Regenwürmern zu füttern. Dabei bereitete es uns einen ungeheuren Spaß, wenn zwei Molche gleichzeitig denselben Regenwurm an den Enden ergriffen hatten und beim langsamen Verschlucken in der Mitte zusammentrafen. Denn dann begann eine Art Ringkampf, bei welchem der Stärkere seinem Gegner die bereits verschluckte Hälfte unbarmherzig wieder herauszog. Und dann litt ich wieder wochenlang an den schwersten Gewissensbissen, als ich einmal einen Molch, der aus seinem Glase auf den Fußboden entwichen war, ohne daß ich es bemerkt hatte, versehentlich halb zertreten hatte und nun, da es ihm nicht gelang, die schwere Verletzung zu heilen, sein langsames Sterben ansehen mußte. Hernach habe ich die anderen Molche wieder in den heimischen Tümpel zurückgebracht.
Der Herr Direktor. So habe ich insgesamt eine sehr glückliche Jugend gehabt. Die Schulpflichten waren nicht eben drückend und wurden, wie berichtet, nicht allzu ernst genommen. Während meiner sieben Jahre im Realgymnasium wurde dieses vom Direktor Haffner regiert, einem alten Stockphilologen, der vorher als von der Regierung ernannter Rektor der Universität Dorpat angestellt gewesen war. Dort wurden auf seine Kosten zahlreiche Geschichten erzählt, die ihn als formalistischen Bürokraten kennzeichneten. So hatte er einmal seinen nächsten Vorgesetzten, den Kurator, der verreist war, zu vertreten und als solcher entdeckte er irgendeine[50] kleine Vorschriftswidrigkeit, die er sich als Rektor hatte zuschulden kommen lassen. Er schickte alsbald als stellvertretender Kurator an sich selbst als Rektor eine geharnischte Rüge ab, und wurde am nächsten Tage in Tränen vor seinem eigenen Reskript gefunden.
Da er aber im Grunde ein wohlwollender Mann war und sich vielleicht auch gegenüber dem Hauptteil des Unterrichts, den mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern als nicht zuständig fühlte, so hatten wir von seiner Philologie nicht viel zu leiden. Vielmehr gab es in der Quarta am Anfange jedes Semesters einen großen Festtag für uns, da er eine Stunde darauf verwendete, uns vorzumachen, wie ein guter Schüler sich auf seine bevorstehende Lateinstunde präpariert. Er hatte ein großes, rasiertes Gesicht, in welchem zwischen Nase und Mund sich ein ungewöhnlich weitläufiges Gefilde erstreckte und stellte darin die verschiedenen Stufen des Nachdenkens, der beginnenden und der vollendeten Erkenntnis beim Übersetzen so drastisch dar, daß wir Buben nicht wußten, wie wir unseren Lachreiz unterdrücken sollten.
Er war im übrigen ein gewissenhafter Direktor, der am Sonnabend durch alle Klassen die Runde machte, um die Klassentagebücher nachzusehen, in denen jeder Lehrer seine Unterrichtsstunde zu bestätigen hatte, und in welches die größeren Verbrechen mit dem Namen des Übeltäters eingetragen wurden. Dieser wurden dann vom Direktor mit einer kräftigen Standrede bedacht und ich kann ihm das Zeugnis geben, daß er gewissenhaft auf jeden Fall einging und die unvermeidliche Eintönigkeit seiner Strafpredigten erfolgreich durch persönliche Wendungen von Fall zu Fall zu beleben wußte.
Die Lehrer. Jeder Schüler mußte beim Eintritt in die Anstalt einen der Lehrer wählen, der sich besonders um ihn zu bekümmern und ihn in schwierigen Fällen[51] zu beraten hatte. Mich hatte mein Herz alsbald zu Schweder hingezogen, doch als ich ihm meine Bitte vortrug, war die vorgeschriebene Höchstzahl bei ihm längst erreicht und ich mußte einen anderen suchen. Ich nahm den, welchen mein älterer Bruder seinerzeit gewählt hatte. Er hieß Dr. Groß; sein Fach war Deutsch. Er war ein kurzer, etwas dicker Herr mit weißem, rundem Gesicht, einer Glatze und einem schwarzen kurzen Vollbart. Kennzeichnend für ihn war seine Schweigsamkeit und ein dauernder Ausdruck von Unzufriedenheit. Ich habe ihn nie lächeln gesehen. Er gehörte zu den durch den Einfluß des wissenschaftlichen Universitätsstudiums ihrem unterrichtlichem Beruf rettungslos entfremdeten Lehrern, die sich wie Pegasus im Joche vorkommen und auf ihre tägliche Arbeit mit Verachtung und Verdruß herabsehen. Vermutlich dichtete er an einigen Tragödien, von denen übrigens keine ans Tageslicht gekommen ist. Er hätte einen großen Einfluß auf mich ausüben können, da er die deutschen Aufsätze zu leiten und zu prüfen hatte, in denen ich einen Teil meiner Bestrebungen zum Ausdruck zu bringen versuchte. Aber er lehnte deutlichst jedes Eingehen auf diese Gärungen meines Denkens ab und blieb bei jenen unsinnigen Aufsatzthemen: über das menschliche Leben, von einem Turme aus betrachtet; die Schuld Wallensteins oder den Monolog Tells, durch welche damals und noch lange hernach die Schüler an das Hervorbringen gedankenloser Phrasen gewöhnt wurden. Einmal, als das Thema lautete: »Was wären wir ohne Hoffnung?« ärgerte mich die blöde Frage so, daß ich ihm zum Hohn die oberflächlichen Redensarten, die er von uns erwartete, im Knittelversmaß der Jobsiade herunterleierte, die ich damals eben mit Entzücken gelesen hatte. Er reagierte damit, daß er sämtliche Fehler gegen Grammatik, Versmaß und Reim, welche ich der gewählten Form zuliebe[52] begangen hatte, mit roter Tinte anstrich und dies blutige Dokument mit einer entsprechenden Zensur vom untersten Ende unserer Stufenleiter versah. Aber der Umstand, daß er meiner Frechheit keine weiteren Folgen gab, ließ mich doch erkennen, daß er sie nicht ganz ohne Vergnügen gelesen und in jener formalen Zensur den Ausweg gefunden hatte, um mir Schlimmeres zu ersparen. Denn viele Jahre später, als er längst gestorben war, hörte ich zu meinem größten Erstaunen von einem seiner Freunde, daß ich einer seiner liebsten Schüler gewesen sei, und daß er in den Lehrerkonferenzen immer zu meinen Gunsten gesprochen und gestimmt habe. Vor mir hat er dies völlig zu verbergen gewußt.
Auch die anderen Sprachlehrer haben mich nicht wesentlich beeinflußt. Französisch lernten wir zunächst bei einem alten, ganz kleinen Herrn mit ledernem Gesicht, das stets glatt rasiert war. Er hielt sich äußerst nett und sauber in seiner Kleidung, benutzte seidene Taschentücher und Duftstoffe, trug in der Westentasche ein Riechfläschchen aus rubinrotem Glase mit goldenen Arabesken und hieß (oder nannte sich) Sire. Bald nach meinem Eintritt starb er und wurde durch einen lebhaften jungen Westschweizer namens Dubois ersetzt, der außer seinem Französisch so wenig Kenntnisse hatte, daß es selbst uns Tertianern auffiel. Er zeigte mir ein deutliches Wohlwollen, sprach aber immer wieder seinen Ärger darüber aus, daß ich mich um sein Fach, das er für äußerst wichtig hielt, so gar nicht recht kümmern wollte.
Englisch lernten wir bei einem langen mageren Lehrer mittleren Alters namens Riecke. Dieser war ein begabter und vielseitig gebildeter Mann, ein tüchtiger Mathematiker und mit einem lebhaften Gefühl für die Schönheiten der Dichtung ausgestattet, das er in den älteren Schülern zu erwecken bemüht war. Aber er gehörte[53] zu jenen Unglücklichen, die ganz unfähig sind, eine Rotte lebhafter Buben in Ordnung zu halten. In den unteren Klassen mußte er den Schönschreibe-Unterricht erteilen, und es ist nicht auszusagen, welchen Lärm wir in seinen Stunden machten und welche Unarten wir uns ihm gegenüber erlaubten. Wenn wir dann in Sekunda oder Prima das schwere Unrecht entdeckten, welches wir an dem feinfühligen und wohlwollenden Manne verübt hatten, kostete es uns soviel Mühe, die entsprechende achtungsvolle Einstellung gegenüber dem früheren wehrlosen Opfer unserer Frechheiten zu gewinnen, daß es nicht mehr zu dem herzlichen und freundschaftlichen Verhältnis kam, das er uns zu gönnen so gerne bereit war. Es war mir, als ich hernach schon in Amt und Würden war, ein Trost und eine Freude, ihm zufällig zu begegnen und zu erfahren, daß er schon lange in den Ruhestand getreten war und in Süddeutschland ein behagliches Heim und einen teilnehmenden Freundeskreis gefunden hatte.
Den Lehrer der russischen Sprache, Haller, habe ich schon früher beschrieben. Wenn er einen Einfluß auf mich geübt hat, so ist es nur ein negativer gewesen. Da meine Fortschritte im Russischen gar zu ungenügend waren, nahm ich als Sekundaner bei ihm private Nachhilfstunden, die auch den angestrebten Zweck erreichten, seinen Widerstand gegen meine Versetzung zu beseitigen. Gelernt habe ich dabei nichts.
Wie so oft war auch bei uns der Lehrer der Geschichte schuld daran, daß wir das Fach nur als zwecklose Belästigung empfanden. In den unteren Klassen bestand der Unterricht im Auswendiglernen von Namen und Zahlen und war nur selten ein wenig belebt durch Anekdoten, die uns der Lehrer Matschewski erzählte. Er war ein älterer Mann mit vollständig kahlem Kopf. Nur im Nacken war ein dünner Haarkranz stehen geblieben,[54] dessen langsames Wachstum wir mit dem Interesse des Naturforschers verfolgten, bis einer plötzlich mit Triumpfgeschrei verkünden konnte: »Matschewski hat sich die Haare schneiden lassen!« Wie der Name vermuten läßt, war er polnischer Abstammung. Ursprünglich gut gebildet, war er in seiner Familie, deren Zustand durch das Kennwort: polnische Wirtschaft ausreichend beschrieben wird, herabgekommen, so daß die Unsauberkeit seiner Wäsche und Kleidung sogar uns Jungen auffiel. Er verstand es nicht, seine Schüler im Zaum zu halten und sah uns beliebige Unregelmäßigkeiten nach, wenn wir nur nicht zu viel Lärm während der Unterrichtsstunden machten. In seinen jungen Jahren hatte er der Geschichte der französischen Revolution eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet und besaß darüber alte Hefte, die im Lauf der Jahre in einen äußerst schmutzigen und zerfallenen Zustand gelangt waren. Aus ihnen trug er uns in der Sekunda die Einzelheiten jenes Ereignisses mit größter Ausführlichkeit und Hingabe vor. Die starke Vorliebe, die er dabei für französisches Wesen offenbarte, behagte uns gar nicht, da wir durchaus deutsch gesinnt waren. Sehr deutlich wurde dieser Gegensatz, als 1870 der deutsch-französische Krieg ausbrach, dessen Beginn er mit haßerfüllten Prophezeiungen auf die völlige Niederlage der Deutschen begleitete. Es bereitete uns eine dauernde Freude, ihm täglich die deutschen Siegesnachrichten mitzuteilen, die er zunächst zornig für lauter Lügen erklärte und als das nicht mehr möglich war, mit verbissenen Drohungen erwiderte.
Der Kirchenglaube. Den Religionsunterricht erteilte durch alle Klassen der Oberlehrer John Helmsing. Er war ein stiller, mittelgroßer, graublonder Mann mit länglichem Gesicht, Bartkoteletten und melancholischem Ausdruck. Entsprechend seinem Vornamen, den er[55] immer vollständig auszuschreiben pflegte, legte er Wert darauf, wie ein Engländer auszusehen und lispelte auch ein wenig wie ein solcher; vermutlich befand sich englisches Blut in seiner Familie. Bei seinem Unterricht verstand er ohne große Anstrengung gute Ordnung zu halten. Dies wurde ihm allerdings dadurch erleichtert, daß in der Rigaschen Gesellschaft die Geistlichkeit eine maßgebende Rolle spielte, so daß der Respekt vor dem geistlichen Amt seiner Schultätigkeit zugute kam.
Einen wesentlichen Einfluß hat Helmsing weder auf mich noch auf die anderen Schüler ausgeübt. Meine Eltern hingen der ererbten Religion an, ohne daß dies im häuslichen Leben in den Vordergrund trat. Die Kirche wurde von meinem Vater nur selten, von meiner Mutter zuerst etwas häufiger besucht; später hielten die zunehmenden Pflichten sie im Hause. Wir Kinder wurden anfangs eifrig, später weniger pünktlich zum Kirchenbesuch angehalten, wie denn überhaupt der geistliche Einfluß bei uns mehr und mehr zurücktrat. Ich selbst bemühte mich lange mit voller Hingabe, den in den Kinderjahren aufgenommenen Christenglauben mir zu erhalten. Mein erster Lehrer Fromm war seinem Namen gemäß gesinnt und bestärkte mich darin.
Aber der Glaube wollte nicht vorhalten. Einmal war ich, beunruhigt durch irgendeine »Sünde«, deren Beschaffenheit ich nicht mehr weiß, in einen dunklen Winkel gegangen und hatte kniend mit aller Inbrunst lange zu Gott gebetet, daß er mir verzeihen und mich von der Sünde befreien möge. Ich erhielt keine Antwort, weder von außen noch von innen, alles blieb stumm und leer. Das erschütterte mich sehr und nahm mir das frühere unbedingte Vertrauen. Doch verfiel ich nicht in religiöse Schwermut, wie zuweilen einer meiner Altersgenossen in gleicher Lage. Ich sah mich auf mich selbst angewiesen, um mit jenen Sorgen fertig zu werden und[56] gemäß der heiteren und tatfreudigen Natur, die ich von meinen Eltern geerbt hatte, fiel mir das nicht allzu schwer.
Mit diesen Erfahrungen war ich in das Realgymnasium gekommen; mein Lehrer konnte mich daher nicht auf den unter inneren Kämpfen verlassenen Weg zurückbringen. Bei den Schulkameraden herrschte Gleichgültigkeit und Spott vor; einige Fromme erwiesen sich im übrigen so arm am Geiste, daß ich keinen Zug zu ihnen verspürte. Ich verteidigte zwar jenen Spöttern gegenüber soviel ich konnte meinen früheren Standpunkt, mußte ihn aber doch zunehmend aufgeben. Die Konfirmation erfolgte durch einen alten, gutmütigen Pastor, der beim Unterricht die Reste Energie, die er noch hatte, auf die Masse der ungehobelten Jungen und Mädchen niederen Standes verwenden mußte und uns Gymnasiasten nur selten ansprach. Ein wenig war ich noch durch die unheimlichen Drohungen beunruhigt, mit denen die Kirchenlehre diejenigen bedenkt, welche unwürdig Leib und Blut des Herrn genießen. Aber diese Drohungen standen so im Widerspruch mit all dem, was ich mir inzwischen an geistigen Gütern in Wissenschaft und Kunst erworben hatte, daß ich es auf den Versuch ankommen ließ. Und als nun hernach gar nichts besonderes geschah, sah ich mich ohne irgendeinen fühlbaren Ruck oder Riß außerhalb des überkommenen Glaubens.
Wie mir erging es anderen, so daß wir alle den Religionsunterricht wie eine gleichgültige Schulpflicht behandelten, die man nicht abwerfen konnte und für die man daher nur das unbedingt Notwendige übrig hatte. Diese unheilbare Ergebnislosigkeit seiner ganzen Berufstätigkeit scheint schwer auf Helmsing gelastet zu haben. Er wurde immer scheuer und stiller, und nachdem ich die Schule verlassen hatte, hörte ich später einmal, daß er wegen religiöser Schwermut einer Nervenheilanstalt hat übergeben werden müssen.
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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro