Der bekannte Maler Wilhelm Tischbein berichtet in seiner Selbstbiographie, das früheste Ereignis, das sich seinem Gedächtnis unzerstörbar eingeprägt habe, sei ein Fall zur Erde gewesen, den er getan, als man ihm das aufrechte Stehen und Gehen lehren wollte. Man habe ihn an eine zufällig anwesende Ziege angelehnt, und in dem Augenblick, wo die Ziege davonlief, sei er zur Erde gefallen. Wer sich überhaupt auf früheste Lebensereignisse besinnen kann, wird wahrscheinlich auf eine ähnliche Begebenheit stoßen, die als ein isoliertes Ereignis in seinem Gedächtnis haften geblieben ist. Ein solches Ereignis pflegt dann aber zugleich mit allen den Nebenumständen, von denen es begleitet war, ähnlich der davonlaufenden Ziege bei Tischbein, mit merkwürdiger Deutlichkeit in der Erinnerung festzuhaften, und wenn man sich darauf besinnt, welche Merkmale es eigentlich sind, die einem solchen einzelnen Vorgang den Vorzug vor andern verleihen als das früheste Erlebnis angesehen zu werden, so sind es wohl solche begleitende Nebenumstände. In der Regel ist es irgendeine Situation, in der man sich vorfindet, und die sich keineswegs als eine völlig unbestimmte, sondern ausgestattet mit der Mannigfaltigkeit eines wirklichen Ereignisses erneuert. So bleibe denn auch ich, wenn ich über mein frühestes Erlebnis Rechenschaft geben soll, bei einer äußerst peinvollen Situation stehen. Ich finde mich eine Kellertreppe herabrollend und[1] glaube noch heute die Stöße zu fühlen, die mein Kopf von den Stufen der Treppe empfängt, ich finde mich von dem Halbdunkel des Kellers umfangen und es mischt sich damit die Vorstellung, daß ich meinem in den Keller gegangenen Vater nachgelaufen bin.
Neben dem so markierten Ereignisse tauchen dann bei näherem Besinnen noch vereinzelte Erinnerungen in mir auf, die aber offenbar einem späteren Stadium angehören. Besonders sind es früheste Schulerlebnisse, und dabei ist es dann wieder das umgebende Medium, einzelne Mitschüler, eine Schulszene, die eine begünstigte Rolle spielen, und bei denen immer zugleich die Bedingung obwaltet, daß ich selbst an dieser Szene beteiligt bin. So schwebt mir aus der Fülle solcher Schulerlebnisse in der Zeit meines Besuchs der untersten Klasse der Volksschule vornehmlich eine Szene noch deutlich vor. Mein Vater wohnte als Schulinspektor einer Unterrichtsstunde bei, ohne sich übrigens selbst in den Unterricht einzumischen. Davon machte er nur in einem einzigen Fall eine Ausnahme. Ich war zerstreut und hatte, statt auf den Unterricht aufzupassen, meinen eigenen Gedanken nachgehangen, wie das bis in viel spätere Zeiten meine regelmäßige Eigenschaft gewesen ist. Da wurde ich durch eine Ohrfeige, die mir ungewohnterweise mein Vater applizierte, diesem Zustand der Zerstreutheit plötzlich entrissen. Noch sehe ich das strafende Gesicht des Vaters vor mir, der hier augenscheinlich aus der Rolle des aufmerksamen Zuhörers unwillkürlich in die des häuslichen Erziehers gefallen war. Wie in diesem Fall, so mag auch sonst ein Affekt des Schrecks, ein Schmerz das Festhaften in der Erinnerung begünstigen; doch hat dieses Unlustmotiv neben jener isolierenden Macht begleitender Vorstellungen nach den mir gewordenen Eindrücken im ganzen nur eine nebensächliche Bedeutung. So gilt[2] denn, psychologisch betrachtet, für diese frühesten Lebenserinnerungen allem Anscheine nach schon die Regel, daß es überhaupt keinen isolierten Vorgang in unserem Bewußtsein gibt, sondern nur Verbindungen von Vorgängen, die einen Zusammenhang bilden und sich durch diesen wechselseitig in der Erinnerung befestigen. Es ist die Regel der Kontinuität des Bewußtseins, die sich so bereits für das erste Dämmern eines solchen bestätigt. Darum läßt sich nun aber auch nicht mit absoluter Sicherheit behaupten, daß irgendeine Erinnerung, die man geneigt ist für die früheste zu halten, dies wirklich sei, sondern man wird immer nur sagen können, daß sie durch ihre Verbindung mit den begleitenden Vorstellungen die hierzu geeignete Beschaffenheit annimmt.
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