2.

[3] Es gibt heute wenige mehr, die sich der Zeit erinnern, da das Land Baden schon einmal ein halbes Jahr lang eine selbständige Republik war. Aber noch beschränkter ist wohl die Zahl derer, die die vorangegangenen Jahrzehnte wenigstens teilweise mit deutlichem Bewußtsein erlebt haben. Ich gehöre zu diesen wenigen, und mir ist eine Szene in Erinnerung, die auf die politische Stimmung dieser Zeit ein merkwürdiges Licht wirft.

Meine Eltern wohnten damals in einem Städtchen oder vielmehr großen Dorf im mittleren Baden mit Namen Heidelsheim. Ich saß an dem Tage, an dem ich gerade mein erstes Jahr der Volksschule glücklich zurückgelegt hatte, etwa um die Zeit zwischen 1838 und 1840, auf der Treppe meines Vaterhauses, da bewegte sich über den vor mir liegenden Marktplatz ein bunter Zug von Menschen, deren Anführer einen riesigen Baum herbeischleppten, den sie inmitten[3] des Platzes aufrichteten und von dem man mir sagte, er sei ein »Freiheitsbaum«. Konnte ich auch keinen deutlichen Begriff mit diesem Wort verbinden, so tagte mir doch allmählich von ungefähr seine Bedeutung, als sich bei Einbruch der Dunkelheit eine große Menge vor dem Hause des gegenüber wohnenden Bürgermeisters unter vielem Geschrei ansammelte und plötzlich ein helles Feuer von dem Gebäude aufflammte. Ich sehe dann noch vor mir die ernste Gestalt des Amtmanns aus der Nachbarschaft im Zimmer meiner Eltern auf und ab wandeln und hierauf eine Schwadron Dragoner über den Platz reiten, vor der sich die Menge nach allen Winden zerstreute.

Das war eine richtige Dorfrevolution, und in derselben Gegend, in der sich später hauptsächlich die badische Revolution des Sommers 1849 abspielte, ereignete sich dieses seltsame Vorspiel. Es handelte sich freilich bei ihm nicht um politische Fragen, sondern um Parteien ziemlich gleichgültiger Art, die sich um die Person des regierenden Dorfbürgermeisters gebildet hatten. Was diese Szene später mir besonders lebhaft wieder ins Gedächtnis zurückrief, war aber auch nicht ihr unbekannter Anlaß, sondern die Beziehung, in die sie von den Beteiligten zu den damaligen Zeitereignissen gebracht wurde. In Heidelsheim hatte sich nämlich die Bürgerschaft in zwei einander heftig befehdende Parteien geschieden, von denen sich die eine, die Anhänger des Bürgermeisters, als die Russen, die andere, seine Gegner, als die Polen bezeichnete, offenbar in Erinnerung an den mehrere Jahre vorausgegangenen polnischen Aufstand von 1830. Um diese lange Nachwirkung eines ziemlich abliegenden politischen Ereignisses zu begreifen, muß man der Teilnahme gedenken, die nach jener polnischen Revolution lange in den deutschen Gemütern nachzitterte. Um die Zeit, von der ich rede, hörte man noch immer in den Gassen deutscher Kleinstädte[4] das berühmte Lied »Noch ist Polen nicht verloren«, und ich selbst erinnere mich, noch um das Jahr 1851 aus einem deutschen Kommersbuch das rührende Duett zwischen Kosziusko und Lagienka gesungen zu haben, in welchem diese berühmten Heerführer ihre Niederlage beklagen. Und noch einmal ist mir in viel späterer Zeit, als mitten in dem letzten Krieg Kongreßpolen durch die Mittelmächte zum selbständigen Staat erklärt wurde, jene Dorfszene meiner frühesten Jugend lebendig vor die Seele getreten. Die Zeiten waren freilich andere geworden, seit die Bürger eines kleinen Landstädtchens, die sich aus völlig interesseloser Begeisterung Polen genannt hatten, zur Strafe für ihren Putsch ins Gefängnis wanderten, und jetzt, wo das Deutsche Reich als einen der ersten Erfolge seiner Siege die Befreiung Polens von der russischen Herrschaft in Szene setzte. Immerhin ist ein charakteristischer Zug, der vielleicht diese weit entlegenen Ereignisse in meinem Gedächtnis verknüpft hat, beiden gemeinsam: das ist die Teilnahme, mit welcher der Deutsche unter Umständen die Interessen fremder Nationen zu den seinigen macht, während er vergißt, an die eigenen zu denken. Wie dem aber auch sei, das Band, das in meiner Erinnerung jene Dorfrevolution mit den späteren Ereignissen von 1848, 1849 und schließlich in ihren schattenhaften Nachwirkungen mit Vorgängen der letzten Jahre verknüpft hat, ist wiederum ein Beispiel jenes inneren Zusammenhangs, der in uns einander verwandte Erlebnisse durch weite Strecken und über völlig abweichende Inhalte miteinander verbindet. Mögen diese Verbindungen schließlich selbst in der Erinnerung zurücktreten, sie pflegen in den geistigen Interessen fortzuleben, die in unser späteres Schicksal bestimmend eingreifen.

Als ich daran ging, mir das Vergangene zu vergegenwärtigen, war es dieser Gesichtspunkt, der sich mir schon bei[5] der Schilderung jener Dorfrevolution aufdrängte, von der ich sagen könnte, daß sie mein erstes politisches Erlebnis gewesen ist. Für denjenigen, der das Wagnis unternimmt, eine Selbstbiographie zu schreiben, liegt es natürlich am nächsten, die Ereignisse in der Reihenfolge zu schildern, in der er sie tatsächlich erlebt hat. Denkt man sich nun aber diese Methode auf die Geschichtsschreibung überhaupt übertragen, so würde daraus unverkennbar eine unleidliche Konfusion entstehen, die die Geschichte in eine Häufung zusammenhangloser Tatsachen verwandeln müßte. Was für das Leben eines Volkes gilt, das gilt jedoch bis zu einem gewissen Grade auch für das Leben des einzelnen. Jeder Mensch lebt eigentlich mehrere Leben nebeneinander, die zwar alle zusammenhängen, und von denen gleichwohl jedes einzelne seinen besonderen Verlauf nimmt. Dennoch kann im Gebiet des individuellen Lebens die Mannigfaltigkeit eines solchen Nebeneinander schließlich ebenso groß sein wie in dem des Zusammenlebens. Ja es kann vorkommen, daß gerade diejenige Seite, die man für eine allgemeingültige halten sollte, die politische, ganz zurücktritt, was um so auffallender ist, da die Beziehungen zu der uns umgebenden Gemeinschaft wiederum die einzigen allen Menschen gemeinsamen sind. Um so mehr glaube ich, daß sie, wo das nicht zutrifft, wo sie vielmehr, begünstigt durch das Eingreifen der Zeitereignisse in die Lebensschicksale, eine irgend erhebliche Rolle gespielt haben, von Rechts wegen allen andern vorangestellt werden sollten. Geht doch überall das Individuum aus der Gemeinschaft hervor. Die Anschauungen, die persönlichen Bestrebungen und Handlungen des einzelnen sind doch im letzten Grunde Erzeugnisse des gemeinschaftlichen Lebens, aus dem sich das persönliche Leben nach seinen besonderen Richtungen entwickelt.

War mein frühestes politisches Erlebnis die Dorfrevolution von Heidelsheim gewesen, so ist diese nun aber[6] keineswegs die einzige Revolution geblieben, die ich in unmittelbarer Nähe erlebt und von der ich eine Reihe eindrucksvoller Bilder in der Erinnerung bewahrt habe. Noch sehe ich vor mir die Tafelrunde deutscher und österreichischer Politiker, die sich auf der Reise zum Frankfurter Vorparlament im Museumssaale zu Heidelberg zusammengefunden hatten, unter ihnen Anastasius Grün, den gefeierten Wiener Poeten, neben anderen führenden Geistern der Zeit, die ich hier von der Galerie des Festsaales aus mit staunender Bewunderung erblickte. Ebenso steht vor mir der mit rauschenden schwarzrot-goldenen Fahnen und Efeugewinden geschmückte Schloßhof und die Tribüne mit den Abgeordneten der Frankfurter Linken, unter denen Robert Blum mit seiner hinreißenden Beredsamkeit die aus der Stadt und der Umgebung herbeigeströmten Zuhörer zu Tränen bewegte. Neben solchen von der Begeisterung der Massen getragenen Szenen fehlen unter den Bildern meiner Erinnerung freilich auch andere nicht, in denen die großen Straßenkämpfe von Berlin und Wien in kleinerem Maßstabe sich widerspiegelten. Noch steht mir hier ein Zug von Odenwälder Bauern vor Augen, die mit ihren Sensen bewaffnet in die Stadt einzogen, um den Städtern den Überfluß ihres Besitzes abzunehmen, aber vor der mit Flinten bewaffneten Bürgerwehr die Flucht ergriffen – eine Szene, in der sich der bekannter gewordene Putsch wiederholte, den schon im März Hecker und Struve, vereint mit einer Schar französischer Freischärler unter Georg Herwegh, dem Verfasser der von mir und meinen Altersgenossen damals mit Begeisterung gelesenen »Gedichte eines Lebendigen« im badischen Oberland veranstaltet hatten.

Waren diese der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche vorangegangenen Ereignisse rasch vergängliche Putsche gewesen, so hinterließ die der Auflösung des ersten deutschen Parlaments folgende badische Revolution[7] vom Sommer 1849 einen ungleich tieferen Eindruck, obgleich ich auch hier beobachtet habe, daß Revolutionen verhältnismäßig wenig im Gedächtnis derer haften, die sie nicht miterlebten, namentlich dann nicht, wenn ihnen nicht dauernde politische Umwälzungen gefolgt sind. So habe ich mehrfach bemerkt, daß in Baden selbst bei Personen, die an den gegenwärtigen politischen Zeitläuften einen regen Anteil nehmen, nur noch eine sehr geringe Kenntnis der in mancher Beziehung vorbildlichen politischen Vergangenheit dieses Landes vorhanden ist. Wie hier die bis in die zwanziger Jahre zurückreichenden Verfassungskämpfe gänzlich aus dem Gedächtnis der lebenden Generation verschwunden sind, so ist sogar von der badischen Republik des Jahres 1849, so ähnlich die damals auf engerem Raum sich abspielenden Ereignisse in mancher Beziehung den heutigen Zuständen waren, bei den meisten meiner Landsleute doch nur eine dunkle Erinnerung zurückgeblieben. Das wird aber auch hier schwerlich von den wenigen gelten, die gleich mir selbst in dieser Republik gelebt haben. Noch sehe ich die glänzende Gestalt Mieroslawskis, des polnischen Generals, durch die Straßen reiten. Er war mit Legionären seiner Heimat herbeigekommen, um der Berufung der provisorischen Regierung zum Oberbefehlshaber der republikanischen Armee Folge zu leisten, die neben dem fast vollzähligen badischen Bundeskontingent aus einer nicht geringen Anzahl angeworbener Landeskinder und aus aller Herren Länder zugezogener Freischaren bestand. Den General begleitete in seltsamem Kontrast ein Jüngling mit blondem herabwallendem Haupthaar: es war der republikanische Kriegsminister Franz Sigel, der sich später, nachdem er, ähnlich den meisten anderen Funktionären der Republik, nach Amerika ausgewandert war, dort in dem Bürgerkrieg als tüchtiger Offizier ausgezeichnet hat. In Baden war er[8] direkt vom Kadetten zum Kriegsminister befördert worden. Ähnlich hatte ein Kandidat der Kameralwissenschaft das Departement der Finanzen, ein Volksschullehrer Kultus und Unterricht übernommen, und ein Rechtsanwalt aus dem dem früheren Wohnort meiner Eltern benachbarten Bruchsal war zum leitenden Minister emporgestiegen.

Auch das tragische Ende dieser kurzen Republik habe ich, noch dazu fast in unmittelbarer Nähe miterlebt, als ich von der Höhe des Gaisbergs bei Heidelberg aus die Kanonen der Schlacht bei Waghäusel blitzen sah, in der die preußische Armee unter der Führung des damaligen Prinzen von Preußen, des späteren Kaiser Wilhelm, die republikanischen Truppen zu Paaren trieb. Der Eindruck ist mir unvergeßlich, den die am Abend dieses Tages in der Stadt veranstaltete Illumination hervorrief, die nach der Verkündung des republikanischen Bürgermeisters den Sieg des badischen Heeres feiern sollte, die aber in Wirklichkeit dazu bestimmt war, den in den Odenwald fliehenden Freischaren den Weg zu zeigen. Nach Amerika und der Schweiz, zu einem kleinen Teil nach Frankreich hatten auch die Führer der Revolution sich gerettet, soweit sie nicht gefangen oder als blutige Opfer des Rastatter Kriegsgerichts gefallen waren. Am Tag nach der Schlacht hielt ein preußisches Regiment seinen Einzug, mit dem sich nach dem ersten Schrecken, den es eingejagt, die weibliche und die jugendliche Bevölkerung der Stadt sehr bald befreundete. So habe ich selbst meinen ersten Musikunterricht bei einem biederen Pommerschen Grenadier genossen, der mir die Anfangsgründe der Klarinette beibrachte.

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Wundt, Wilhelm: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1921, S. 3-9.
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