15.

[94] Zur Zeit der Karlsruher Staatsexamina für Mediziner pflegten einige Wochen nach deren Abhaltung die Namen der neu ernannten praktischen Ärzte in dem badischen Regierungsblatt in den drei Reihenfolgen, in denen sie in den Fächern der inneren Medizin, der Chirurgie und der Geburtshilfe ernannt waren, veröffentlicht zu werden. Ich hatte zwar vermutet, daß ich bestanden habe, aber ich war doch sehr überrascht, als mein Name an erster Stelle in[94] allen drei Fächern erschien. Denn wenn ich mir gewissenhaft überlegte, was ich in jedem der drei zu leisten imstande sei, so mußte ich schon der Ausübung der inneren Heilkunde mit einiger Sorge entgegensehen; wie ich aber auf Grund des Anblicks einer größeren Anzahl chirurgischer Operationen und der Ausübung einiger weniger an der Leiche imstande sein sollte, lebendigen Menschen Arme und Beine abzuschneiden oder noch andere schwierigere Eingriffe in ihren Organismus auszuführen, oder wie ich gar durch einige Übungen an einem Gummimodell befähigt werden sollte, als Geburtshelfer zu wirken, das blieb mir einigermaßen dunkel. Auch bewunderte ich einen Studiengenossen von der Universität her, der das Staatsexamen mit mir gemacht hatte, um der fröhlichen Sicherheit willen, mit der er sich sofort in eine ländliche Praxis stürzte. Als er mir in Heidelberg auf der Straße mit einem mir unbekannten Instrument begegnete und ich ihn fragte, was für ein Mordwerkzeug er hier mit sich führe, antwortete er: »Hier habe ich mir einen Kephalotriben gekauft!« Ein Kephalotrib oder Kopfzertrümmerer ist die ultima ratio des Geburtshelfers, wenn es sich für ihn darum handelt, einen neuen Weltbürger zu opfern, um einen schon lebenden, seine Mutter, am Leben zu erhalten. Meine Zuversicht war nicht so groß. Da aber das Publikum noch immer dem Vorurteil huldigt, ein gut bestandenes Examen sei die sicherste Bürgschaft für die Tüchtigkeit eines Arztes, so durfte ich mich nicht wundern, daß eine Familie des Heidelberger Bürgerstandes nach meiner Rückkehr aus der Residenz mich aufforderte, bei ihr als Hausarzt einzutreten. Das System der Hausärzte, das gegenwärtig unter dem Einfluß der Spezialärzte für die verschiedenen Organe des menschlichen Körpers allmählich zu verschwinden scheint, war damals noch allgemein im Gebrauch und brachte in der Tat[95] für jeden Arzt die Verpflichtung mit sich, für alle Fälle, auch für solche der Chirurgie und der Geburtshilfe, mit seiner Kunst oder wenigstens mit seinem Rat zur Stelle zu sein. Ich ließ kurz entschlossen den Leuten, die mir als dem Primus der letzten Examenernte dieses Vertrauen schenkten, sagen, ich bedauerte, ihrer Einladung nicht folgen zu können, da ich nicht beabsichtigte, städtische Praxis zu übernehmen. War ich doch durch das mir von der Sanitätsbehörde ausgestellte Zeugnis berechtigt, an jedem Ort des Großherzogtums Baden nicht nur, sondern vielleicht auch in einigen Nachbarstaaten, mit denen dieses in einem Examenkartell stand, mein Zelt aufzuschlagen, um meine Kunst auszuüben. In der Tat war ich aber fest entschlossen, dies nicht zu tun, sondern zuzusehen, wie ich mir die dazu nötigen Fertigkeiten wirklich erwerben könne.

Meine Anverwandten waren nun freilich nicht dieser Meinung, sondern sie behaupteten, nach bestandenem Examen sei für mich die Zeit da, wo es sich für einen Menschen, der sich nun einmal einem der studierten Berufe gewidmet habe, zieme, zur Ausübung dieses Berufs allmählich überzugehen. Da tauchten nun, da ich zur gewöhnlichen Privatpraxis mich nicht entschließen konnte, zwei Projekte auf, von denen namentlich das erste, das des Militärarztes, mir einigermaßen einleuchtete. Hatte ich doch schon in meinem ersten Tübinger Semester in Vierordt einen Physiologen kennen gelernt, der zuvor Militärarzt in Karlsruhe gewesen war. Der Beruf des Militärarztes erschien aber in der Zeit eines langen Friedens, da er es im allgemeinen nur mit gefunden jungen Leuten zu tun hat, als ein verhältnismäßig leichter, der darum im Notfalle, auch wenn ein späterer Übergang zur Physiologie auf Schwierigkeiten treffen sollte, vielleicht als Vorbereitung zur ärztlichen Praxis zweckmäßig sein könne. Dazu kam, daß der Inhaber der obersten militärärztlichen[96] Stelle als früherer Bruchsaler Arzt im Hause meiner Eltern tätig gewesen war. Leider konnte er mir aber, als ich mich bei ihm meldete, keine Hoffnung machen, daß mein Gesuch um eine solche Stelle in absehbarer Zeit Aussicht auf Erfolg habe, da bereits eine übergroße Zahl von Meldungen vorliege. So blieb denn der Badearzt übrig. Hier hatte sich ein neues Schwarzwaldbad um einen solchen in den Blättern bemüht; aber der Beruf schien mir wenig verlockend, und ich selbst schien mir zu dem Beruf wenig beanlagt zu sein, da er, wie ich aus gelegentlichen Reisebeobachtungen wußte, abgesehen von der Behandlung anämischer badischer Beamtentöchter, hauptsächlich der Pflicht gewidmet schien, für die Unterhaltung der Badegesellschaft zu sorgen. Ich verzichtete also auf die Annahme des mir angebotenen Postens.

Da eröffnete sich eine Stellung, ebensogut geeignet, die Lücken der praktischen ärztlichen Übung auszufüllen wie eigene Erfahrungen auf Gebieten zu sammeln, die mir bis dahin eigentlich nur aus der Ferne zugänglich gewesen waren. Ein Bekannter, der seit einiger Zeit als klinischer Assistent bei dem von mir besonders geschätzten Lehrer Hasse tätig gewesen, aber sein medizinisches Staatsexamen noch nicht gemacht hatte, wünschte der Vorbereitung zu diesem ein halbes Jahr zu widmen und schlug mich für diese Zeit als seinen Stellvertreter vor. Hasse nahm den Vorschlag an, und so bezog ich denn als Assistent bei der Frauenabteilung der Heidelberger Klinik meine Wohnung für die nächste Zeit. Es war ein etwas verantwortungsvoller Beruf, denn ich war der einzige Assistent auf dieser Abteilung, und ich mußte bei Tag und Nacht mit meiner Hilfeleistung bereit sein, sowie den Direktor der Klinik bei seinen täglichen Besuchen über alle Vorkommnisse orientieren.

Das war die Zeit, in der ich im Gebiet der Medizin, wenn überhaupt, wirklich etwas gelernt habe. Freilich[97] war es eine etwas einseitige Schulung, die ich hier genoß. Denn die Frauenabteilung einer städtischen Klinik gewährt aus der Fülle der Kranken, die dem Arzt begegnen können, eine eigenartige Auslese, die sonst wohl nirgends wiederkehrt. Sie bestand damals, wo das Kontingent der Fabrikarbeiterinnen noch kaum vorkam, wesentlich aus städtischen Dienstboten, einigen Landleuten und mehreren, in einer besonderen Abteilung untergebrachten Dienerinnen der Venus vulgivaga, deren Anzahl keineswegs klein und deren Behandlung nicht die leichteste war. Da die Männerabteilung der inneren und die chirurgische Klinik in dem gleichen Gebäude, der jetzigen Infanteriekaserne von Heidelberg, untergebracht und jede von ihnen ebenfalls einem einzigen Assistenten unterstellt war, so bildete sich aber natürlich zwischen diesen drei Assistenten ein freundschaftliches Verhältnis, das jeden dieser ungefähr dem Examenalter angehörigen Mediziner auch zu einer gewissen Teilnahme an den Berufspflichten der beiden anderen aufforderte.

Dabei drängte sich mir nun sehr bald die Beobachtung auf, daß die Stellung des jungen Arztes dem weiblichen Geschlechte gegenüber die verhältnismäßig schwierigste ist. Auf der allgemeinen Frauenabteilung herrschte namentlich in den größeren Krankensälen fortwährend eine lebhafte Konversation, und diese steigerte sich in der Abteilung der öffentlichen Persönlichkeiten nicht selten zu einem Skandal, der die Disziplin des mit der Aufsicht betrauten Arztes herausforderte. Auch konnte man sicher sein, daß jeder auffallendere Vorgang, der sich am einen Ende der Klinik ereignete, nach kürzester Zeit auch am anderen bekannt war, um so mehr, da die Krankenwärterinnen, denen die nächste Pflicht der Überwachung zufiel, hier ungleich mehr in diesen sozialen Verkehr eingriffen als die Wärter und Wärterinnen der Männerabteilung. Das hing damit zusammen, daß es[98] auf dieser überhaupt viel stiller zuging. Hier galt umgekehrt die Regel, daß zahlreiche Kranke sich vollkommen schweigsam verhielten, dadurch aber einen Verkehr auch für die anderen erschwerten. Einigermaßen wirkte hierzu freilich der Umstand mit, daß die Frauen schon bei leichteren Erkrankungen die Klinik aufsuchten als die Männer. Die schwereren Kranken, die bei diesen die Hauptrolle spielten, waren überdies vorzugsweise Typhuskranke und Tuberkulöse, von denen zu jener Zeit die ersteren als in hohem Grad ansteckend, die letzteren für völlig ungefährlich galten und selbst gegen Ansteckung geschützt sein sollten, daher man eine regelmäßig wechselnde Anordnung der Krankenbetten vorzog. Eine besondere Erschwerung lag endlich noch bei der Besorgung der Frauenabteilung darin, daß die Kranken viel geneigter waren, die nächtliche Hilfe des Arztes in Anspruch zu nehmen. Für einen jugendlichen Assistenzarzt, der eines gründlichen Schlafes bedurfte, war aber dies eine schwere Belastung, umso mehr als er sich noch dazu bei der kurzen Strecke, die er zurückzulegen hatte, wie ich von mir bekennen muß, zuweilen in einem an Hypnose grenzenden Halbschlaf befand. Dabei hatte ich bei einem solchen nächtlichen Krankenbesuch ein Erlebnis, das mir beim völligen Erwachen einen schweren Schrecken erregte. In den Krankenzimmern standen friedlich nebeneinander zwei an Wirkung sehr verschiedene Medikamente, das damals unter dem Namen Laudanum Sydenhami bekannte Opiumpräparat und die Jodtinktur. Ich reichte aber der Patientin und noch dazu mit dem Bewußtsein, daß es die Jodtinktur war, diese statt des Opiums. Hasse, dem ich am folgenden Morgen ein Sündenbekenntnis abgelegt, vermied zunächst vorsichtig das Bett der Patientin mit der kurzen Bemerkung: »Es wird ihr wohl nichts geschadet haben!« Mir aber blieb ein so tiefer Eindruck, daß ich mich wochenlang mit dem Bedenken trug, ob jemand, dem eine[99] solche Verwechslung begegnen konnte, befähigt sei, den ärztlichen Beruf auszuüben.

Neben diesem und ähnlichem Mißgeschick, zu dem auch die auf der Frauenabteilung durch das wechselseitige Beispiel sich steigernden Hysterieanfälle gehörten, bot jedoch die Klinik manche reiche Belehrung, die auf anderem Wege kaum zu gewinnen war. In erster Linie gehörten hierher Sektionen, die Hasse zuweilen seinen Assistenten überließ und die mir nicht, wie manchem meiner Kollegen, widerstrebten, sondern die durch die reiche Anschauung, die sie boten, und durch die fortschreitende Übung mir eher zu einem fühlbaren Genuß wurden, so daß mir manchmal der Gedanke durch die Seele ging, ob nicht der Beruf des pathologischen Anatomen ein meinen Neigungen und Talenten entsprechender sei. Aber er wurde doch bald durch den alten Entschluß, mich der Physiologie zu widmen, zurückgedrängt. Denn in Wahrheit bot auch zu diesem wiederum die Klinik eine lebhafte Anregung. Sie bestand in einer Reihe damals in ihr zubringender Patienten, die an Lähmungen der Haut und der Muskeln litten und die merkwürdige Lokalisationsstörungen der Empfindungen zeigten. Diese Beobachtungen führten mich zu den alten Versuchen Ernst Heinrich Webers über die Physiologie des Tastsinns, die mir bald Zweifel an den theoretischen Vorstellungen Webers über die anatomischen Grundlagen der Tastempfindungen erweckten. Im Gegensatz zu ihnen schienen mir psychologische Auffassungen nahezuliegen, die jene fest an die anatomische Verbreitung der Sinnesnerven gebundenen Vorstellungen unmöglich machten. Ich habe diese Versuche an normalen Menschen und an Gelähmten später in meinen »Beiträgen zur Theorie der Sinneswahrnehmung« beschrieben, die in den Jahren 1858 bis 1862 in der Zeitschrift für rationelle Medizin und dann gesammelt unter jenem Titel erschienen. Sie boten zugleich[100] die Anregung zu einem Studium der Psychologie, in welcher damals die Werke und Abhandlungen von Lotze, Fortlage, George, Volkmann u.a. neben den mehr physiologisch gerichteten Arbeiten der Physiologen, wie Czermak, im Vordergrund standen. So war die Klinik die erste Station, die mich auf dem Wege eigener experimenteller Arbeiten zuerst zur Psychologie führte, ehe ich noch mich gründlicher mit philosophischen Studien beschäftigt hatte. Daß unter den um die Psychologie bemühten Philosophen in den Jahren 1850 bis 1860 Schopenhauers Name nicht genannt wird, ist übrigens ein bedeutsames Zeichen seiner ebenso späten wie raschen Verbreitung.

Außer diesen aus freiem Antrieb unternommenen psychologischen Versuchen war es jedoch eine Dankespflicht gegen die Klinik und meinen klinischen Lehrer, die ich zu entrichten hatte. Sie bestand in der Abfassung einer pathologischanatomischen Arbeit, die ich als Promotionsschrift benutzte. Wenn im Karlsruher Staatsexamen das schriftliche, so herrschte im Heidelberger Doktorexamen das mündliche Verfahren. Man legte dem Kandidaten den Gedanken nahe, es sei für diese Prüfung einfacher und bequemer, wenn er statt des schriftlichen Examens eine bestimmte Geldsumme an die Universitätsbibliothek bezahlte, und die meisten wählten diesen Weg. Ich beschloß jedoch, das Gegenteil zu tun, und ließ eine Dissertation drucken. Sie erschien, Hasse gewidmet, unter dem Titel: »Die Veränderungen der Nerven in entzündeten und degenerierten Organen« (1856). Besonders bemerkenswerte Ergebnisse hat sie nicht eingetragen, insofern die pathologischen Veränderungen der Nerven von anderen sogenannten Degenerationen derselben sich nicht unterscheiden und schließlich mit ihrer Atrophie zu endigen pflegen. Der Neigung, solche anatomische womöglich mit experimentellen physiologischen Untersuchungen zu verbinden, konnte ich aber[101] auch hier nicht widerstehen. Indem ich die Arbeit mit Durchschneidungs-, Verwachsungs- und Transplantationsexperimenten verband, versuchte ich die Durchschnittsenden zweier verschiedener Nerven miteinander zu verheilen, was in einigen Fällen bei Kaninchen glückte, aber zu brauchbaren physiologischen Ergebnissen nicht führte, da sich dabei irgendwelche merkbare Funktionsänderungen nicht ergaben. Nachdem ich mein Doktorexamen nach der Behauptung des Diploms »mit größtem Lob« bestanden hatte, waren damit zugleich meine pathologisch-anatomischen Studien beendet, und ich beschloß nun, mich endgültig der Physiologie zuzuwenden.

Quelle:
Wundt, Wilhelm: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1921, S. 94-102.
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