14.

[90] Bezeichnet der Übergang der drei Hauptfächer der Medizin in eine größere Zahl von Teilgebieten den eingreifendsten Wandel dieser Wissenschaft, so hat nun dieser Wandel natürlich auch auf das Studium selbst bedeutsam zurückgewirkt. Er hat mehr und mehr an die Stelle der einstigen Kultivierung der Gesamtmedizin durch den Arzt ein medizinisches Spezialistentum treten lassen, welches möglicherweise in der Zukunft die Gesamtmedizin ebenso verdrängen wird, wie in der Vergangenheit auf die Nebenfächer meist nur ein geringer Wert gelegt wurde. In meiner Jugend waren es die drei Teile der Medizin, innere Pathologie, Chirurgie und Geburtshilfe, die sich in den drei eigentlich allein als vollgültig anerkannten Professuren spiegelten. Sie wiesen einerseits zurück auf jenen noch bis in die Anfänge der neueren Medizin reichenden Zustand, in welchem die gesamte Heilkunde von jedem Arzt und so auch eventuell von jedem Lehrer der Heilkunde vertreten wurde, und sie wiesen andererseits in der bereits sich regenden Tendenz zur Ausbildung weiterer Sondergebiete auf die wesentlich abweichende Verfassung hin, wie sie die heutige Medizin neben einigen Nachwirkungen aus jener Periode der Dreiteilung zeigt. Vor 65 Jahren war im akademischen Unterricht, der[90] darin der Praxis vorauseilte, zwar jene ursprüngliche Einheit bereits seit langer Zeit verschwunden; sie hatte den drei Hauptgebieten Platz gemacht, wobei übrigens im Gegensatz zu der primären Scheidung der Chirurgie von der inneren Pathologie die etwas zurückgebliebene Stellung der Geburtshilfe als eines bloßen Zweiges der Chirurgie immer noch nachwirkte. Die Erringung der annähernden Gleichwertigkeit spiegelte sich jedoch darin, daß das Examen des Mediziners in drei Examina zerfiel, deren jedes damals in Baden 14 Tage beanspruchte und derart unabhängig dastand, daß es selbständig abgelegt werden konnte.

In diesem Verhältnis sprach sich deutlich aus, daß auf diesem Gebiet die Universität vor allem eine Vorbereitungsanstalt für das Staatsexamen war, das der Bevölkerung gegenüber eine Bürgschaft für die Brauchbarkeit der im Lande beschäftigten Ärzte bieten sollte. So waren es denn auch nicht wie gegenwärtig die Professoren der Medizin, vor denen als den zweifellos Sachverständigen der Mediziner seine Examina ablegte, sondern eine Anzahl von Ärzten der Haupt- und Residenzstadt, die als staatliche Examinatoren von der Regierung beauftragt waren. Den Doktortitel pflegte dann durch die Einreichung einer Dissertation und die Ablegung eines besonderen Doktorexamens bei der Fakultät der Kandidat nachzuholen, war aber dazu keineswegs verpflichtet, sondern dieser Titel war wie noch jetzt eine Zierde, die namentlich die städtischen Ärzte unter Entrichtung eines entsprechenden Honorars zu erwerben suchten, mit der es aber an manchen Universitäten, ähnlich wie auch in anderen Fächern, nicht allzu streng genommen zu werden pflegte, um so mehr da die Doktorwürde unter den gleichen Bedingungen auch Ausländern erteilt wurde, bei denen ein Staatsexamen nicht in Betracht kommen konnte. In einer noch älteren Zeit, in Baden bis zum[91] Anfang des 10. Jahrhunderts, hatte die Erwerbung des Doktortitels bei der Fakultät genügt, um zu praktizieren. Die Ernennung von besonderen Medizinalräten der Residenz zu Examinatoren war daher eine bureaukratische Maßregel gewesen, um dem Lande tüchtige Ärzte zu sichern. Als den praktischen Fächern noch die Naturwissenschaften als Hilfsfächer beigefügt wurden, zog man dann erst für diese einige Professoren der Universität oder der technischen Hochschule als Hilfskräfte hinzu. Diesem Beispiel ist endlich später die Medizin und damit die Überweisung des ganzen Examens an die Professoren der Universität gefolgt.

Der Unterschied, den dieser Wechsel des Examinatorenkollegiums im Charakter des Examens herbeigeführt hat, ist nun aber ein sehr bedeutsamer. Von dem Universitätslehrer darf man im allgemeinen erwarten, daß er an Kenntnissen seine Examinanden erheblich übertrifft; von dem älteren Arzt, der mehr oder weniger lange Zeit zuvor seine Studien vollendet hat, darf man dies natürlich nicht erwarten, sondern das Kollegium der Medizinalräte repräsentierte in diesem Fall im allgemeinen verschiedene Zeitalter der dem Examen vorangehenden Heilkunde. Wenn daher die Bureaukratie dieses System eingeführt hatte, um ein möglichst unparteiisches Prüfungskollegium zu gewinnen, so mochte dieser Zweck vielleicht erreicht worden sein, aber es war damit ein Nachteil verbunden, der schwerer wog als dieser Vorzug: die Examinatoren waren die Vertreter einer gegenüber dem Examinanden mehr oder weniger rückständigen Stufe der Wissenschaft, und zwar war der älteste unter ihnen, der demnach, wie es sich gebührt, das größte Ansehen genoß, natürlich der rückständigste. Er gehörte einer längst vergangenen Generation von Ärzten an. Ein charakteristisches Symptom dieses Verhältnisses bestand darin, daß die Kandidaten, die einige Aussicht auf ein gutes Examen[92] mitbringen wollten, sich zuweilen veranlaßt sahen, einige Wochen vor dem Eintritt in dasselbe sich ein längst vergriffenes Lehrbuch der allgemeinen Pathologie, des Faches, in welchem der alte Herr examinierte, zu verschaffen, um sich einigermaßen in dem Ideenkreis des Examinators zu orientieren. Diesem ältesten Repräsentanten folgten dann die jüngeren bis zu einem schließlich nicht mehr allzu großen Abstand von der Gegenwart. Die notwendige Folge war, daß eine gewisse äußere Fertigkeit im Ausdruck verbunden mit einiger Kenntnis der Geschichte der Heilkunde die Eigenschaften waren, die für den Erfolg des Examens mehr ins Gewicht fielen als positive Kenntnisse. Ja wenn der Kandidat mit hinreichender Zuversicht an der Richtigkeit einer falschen Antwort festhielt, so konnte es vorkommen, daß er gegenüber dem Examinator seine Meinung durchsetzte. Auch das ist eine typische Erscheinung, die besonders da eine Rolle spielte, wo das Motiv der Autorität in Betracht kam. Daß die autoritative Form der Meinungsäußerung den wirklichen Inhalt nicht nur in seiner Wirkung unterstützen, sondern sogar ersetzen und darum im Kampf der Meinungen siegen kann, ist ja eine bekannte Tatsache.

Natürlich macht sich nun in dieser Beziehung die Unsicherheit der Meinungen beim mündlichen Meinungsaustausch ungleich lebhafter geltend als bei einem schriftlichen, der auf beiden Seiten der Überlegung mehr Zeit läßt. Daraus erklärt sich wohl noch eine weitere Beobachtung, die ich unter der Bedingung beiderseitiger Unsicherheit, bei der beide Teile ihre Rollen tauschen können, gemacht habe. Sie besteht in der Verlegung des Schwerpunkts des Examens in seinen schriftlichen Teil, wogegen im umgekehrten Fall der Examinator, wo er seines Gegenstandes vollkommen sicher ist, stets geneigt ist, das mündliche Verfahren vorzuziehen. Darum ist die ideale Form[93] des Examens der Dialog, bei dem der Examinator das Gespräch so zu führen weiß, daß es ihn sowohl über das Wissen wie über das Nichtwissen des Examinanden orientiert. Hier überwiegt dann von selbst der konkrete Inhalt der Fragen, ebenso wie umgekehrt das schriftliche Verfahren leicht den positiven Inhalt hinter allgemeinen Begriffen oder als Substituten derselben hinter allgemeinen Phrasen verschwinden läßt. Den Karlsruher Medizinalräten erlaubten schon die Pflichten ihrer eigenen Praxis nicht, von den sechs Wochen des der gesamten Medizin gewidmeten Examens der mündlichen Prüfung mehr als einige Stunden zu widmen. Der übrige Teil des Tages von früh bis spät war der Anfertigung schriftlicher Arbeiten gewidmet, zu der die den beiden Landesuniversitäten entstammenden Kandidaten in dem Ständesaal der badischen Kammer unter der Aufsicht eines Bureaubediensteten beisammensaßen. Ich habe leider nur ein einziges Thema im Gedächtnis behalten. Es lautete: »Über den grünen Star und den grauen Star, nebst einer Übersicht über die Augenkrankheiten überhaupt.« Entschuldigend muß dazu allerdings bemerkt werden, daß damals noch, wenigstens im Gesichtskreis des Examinators, die Augenheilkunde nur ein kleines Nebengebiet der Chirurgie war.

Quelle:
Wundt, Wilhelm: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1921, S. 90-94.
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