[191] Als im Winter 1858 und in den nächstfolgenden Jahren meine Pflichten im physiologischen Institut die ganzen Vormittage in Anspruch nahmen, benutzte ich nicht selten die frühen Morgenstunden, um die beträchtlichen Lücken auszufüllen, die mir in meiner philosophischen Bildung geblieben waren. Vor allem war es die Psychologie, die mich lebhaft beschäftigte. Seit mir bei dem Problem der Entstehung des Sehfeldes die Erkenntnis aufgegangen war, daß die Physiologen hier auf Neben- oder Irrwegen gewandelt waren, beschäftigte mich die Frage, inwieweit insbesondere da, wo von den einfachen Vorgängen der Empfindung und Wahrnehmung zu den verwickelteren Erscheinungen des Seelenlebens ein Übergang zu suchen sei, bei den Philosophen Rat geholt werden könne. Noch entsinne ich mich, wie ich mehrere Wochen lang früh um fünf meine Studierlampe anzündete, um mich in das Studium von Herbarts »Psychologie als Wissenschaft« zu vertiefen, die mir von allen Werken, die sonst die philosophische Literatur in psychologischen Dingen bot, am meisten imponierte und die zu jener Zeit am ehesten von den strengeren philosophischen Werken auf die Physiologie herübergewirkt hatte. Dabei enthielt Herbarts scharfe Polemik gegen den scholastischen Betrieb der älteren Psychologie im Hinblick auf die mannigfachen Einflüsse der scholastischen Tradition überhaupt nützliche Anregungen, die über ihr nächstes Ziel hinauswiesen und zu[191] erneuter unbefangener Prüfung der Tatsachen aufforderten. In dem Kampf, den Herbart gegen die alte Vermögenspsychologie führte, schienen mir jedoch die Versuche, die psychologischen Tatsachen durch ihnen fremd gegenüberstehende philosophische Begriffe zu meistern, schließlich nur in ihrer extremsten Form entgegenzutreten. Die Vermögenspsychologie begnügte sich, der gemeinen Erfahrung die geläufigen Allgemeinbegriffe zu entnehmen und, ohne sich um eine nähere Analyse derselben zu kümmern, sie einem ihnen selbst fremden logischen Schematismus einzuordnen, um auf diese Weise an die Stelle des Inhalts psychologischer Erfahrung eine der formalen Logik entlehnte Begriffsgliederung zu setzen. Diese leistete schließlich ihr bestes, als sie in Hegels Philosophie des subjektiven Geistes die alten Vermögensbegriffe der Psychologie in eine dialektische Entwicklung ordnete, die dann freilich nicht vor der Zersetzung bewahrt blieb, welche der im stillen allezeit fortwuchernde scholastische Nominalismus weiterhin in den wieder auflebenden Formen eines auf diesem Boden üppig gedeihenden psychologischen Logizismus bewirkte1.
Zu diesen Abwandlungen der in der Vermögenspsychologie und in den scholastischen Begriffsgliederungen älterer und neuerer Zeit vertretenen Richtung bildet nun[192] Herbarts wissenschaftliche Psychologie in der Tat den vollendeten Gegensatz oder, wie man vielleicht auch sagen könnte, die volle Ergänzung, weil sie die logischen Motive beiseite läßt, um sich ganz und allein der Führung des mathematischen Denkens hinzugeben. Schon der Titel einer »Statik und Mechanik der Vorstellungen«, den er seiner wissenschaftlichen Psychologie gibt, deutet aber an, daß dieser exakte Teil seines Systems von den qualitativen Inhalten des Seelenlebens ganz abstrahiert, um eigentlich nur einen formalen Mechanismus von Elementen zurückzubehalten, der auch auf eine beliebige Mannigfaltigkeit anderen Inhalts angewandt werden könnte. Daß diese Mannigfaltigkeit aus Vorstellungen besteht und also ein psychologisches System bedeuten soll, wird erst auf einem Umweg offenbar. Merkwürdigerweise ist es jedoch die in abgeänderter Form in das metaphysische System dieses realistischen Philosophen hereinragende Dialektik seines Lehrers Fichte, die jener imaginären Mechanik zu ihrem psychologischen Inhalt verhilft. Es ist nämlich das abstrakte Ich Fichtes, das als der einzig unentbehrliche Bestandteil eines sonst noch so wechselnden Bewußtseinsinhaltes von ihm anerkannt wird. Von seiner realen Seite betrachtet, löst sich nach Herbart dieses in eine unendliche Reihe von Vorstellungseinheiten auf, weil das Ich selbst als eine Vorstellung, dann als eine Vorstellung dieser Vorstellung und so fort notwendig als eine unendliche Reihe einander beliebig ablösender Vorstellungen gedacht werden müsse.
So konnte ich mich denn schon damals dem Eindruck nicht entziehen, daß diese beiden Systeme der Psychologie, die Vermögenstheorie und die Herbartsche Mechanik der Vorstellungen, nicht nur einander wechselseitig aufheben, sondern daß sie beide die Aufgabe der Psychologie selbst ungelöst lassen, das eine, weil es lediglich die Vulgärbegriffe der[193] Psychologie in einen ihren inneren Beziehungen fremden logischen Schematismus bringt, das andere, weil es dahingestellt läßt, ob die von ihm erfundene künstliche Mechanik mit dem wirklichen seelischen Geschehen irgend etwas zu tun hat. So schien es mir denn schließlich, daß der einzige Weg, den die Psychologie einschlagen könne, derjenige sei, der von jenen einfachsten Problemen des Seelenlebens ausgehe, die in den Erscheinungen der Sinneswahrnehmung verborgen liegen, und die überall schon von den experimentellen Methoden der Physiologie in Angriff genommen, aber von ihr bis dahin auf ein falsches Terrain geführt worden waren. Hier war es nun jenes Prinzip der schöpferischen Synthese mit dem ihm als notwendige Kehrseite beigeordneten der wechselseitigen Beziehung der an diese Synthese sich anschließenden analytischen Vorgänge, die der psychologischen Untersuchung den Weg zu weisen schienen. Sie waren es auch, die weiterhin die psychologische Untersuchung von diesen einfachsten zu den verwickelteren seelischen Vorgängen überführten. In diesem Sinne habe ich versucht, in meinen »Grundzügen der physiologischen Psychologie« vom Jahre 1874 an zunächst als Grundthema dieses Werkes und als relativ einfachste und am meisten vorbereitete Grundlage der Erscheinungen des Seelenlebens die Psychologie der Sinneswahrnehmungen und ihrer nächsten Verbindungen und Zerlegungen zu bearbeiten.
Die erste Auflage dieses Werkes war im wesentlichen nicht mehr als eine möglichst planmäßig geordnete Sammlung von Fragmenten, die zu einem großen Teil dem überkommenen Bestand der Sinnesphysiologie und der sogenannten Assoziationspsychologie entnommen werden mußten. Indem es von dem einen Band der ersten Auflage, unterstützt durch das Leipziger Institut für experimentelle Psychologie sowie mehr und mehr auch durch die Arbeiten außerhalb[194] desselben stehender Psychologen und Physiologen zu den drei umfangreichen Bänden der sechsten Auflage vom Jahre 1908 bis 1911 fortschritt, darf ich wohl sagen, daß in ihm ein beträchtlicher Teil meiner Lebensarbeit niedergelegt ist. Seinen Charakter empfing es aber wesentlich dadurch, daß es von Anfang an nicht etwa als eine Lehre von der Sinneswahrnehmung und einigen Anhangsgebieten gedacht war, sondern darauf abzielte, die gesamte Psychologie bis zu den höheren Erscheinungen des menschlichen Bewußtseins in eine innere Verbindung zu bringen, die gleichzeitig die verwickelteren Vorgänge durch die elementareren und diese durch jene zu beleuchten suchte. So sollten, wie ich meinte, alle Inhalte des geistigen Lebens einander wechselseitig interpretieren, die einfacheren wegen ihrer der Beobachtung und dem Experiment leichter zugänglichen elementaren Form die verwickelteren, und diese wegen ihrer vor Augen liegenden psychologischen Bedeutung die einfacheren. Glaubte die Physiologie zumeist sich möglichst auf die streng abgegrenzten Gebiete der Sinne beschränken zu müssen, so wurde es daher umgekehrt mein Bestreben, womöglich überall nachzuweisen, wie in den elementaren Prozessen des Bewußtseins, den Empfindungen und Assoziationen, überall bereits das geistige Leben in der Totalität seiner Beziehungen hindurchleuchte. So hat besonders in den späteren Auflagen die Lehre von der Apperzeption und den apperzeptiven Verbindungen eine immer weiter greifende Ausarbeitung erfahren. Die Gefühle, Affekte und nicht zuletzt die Theorie des Willens sind so allmählich erst an die Stelle gerückt worden, die ihnen in dem gesamten Zusammenhang des Seelenlebens gebührt. Daß die Physiologen diese Dinge anfänglich als eine Art von Fremdkörpern ansahen, die in ihrem Gebiet nichts zu tun haben sollten, mußte ich nicht selten als ein bedauerliches Mißverständnis entgegennehmen,[195] aber der Preis schien mir nicht zu hoch, mit diesem Scheitern mancher Erwartungen schließlich doch das Ziel zu erreichen, das ich von Anfang an darin gesehen hatte, die Einheit der psychischen Vorgänge als eines Ganzen zu erweisen, dessen einzelne Teile oft in der unnatürlichsten Weise auseinandergerissen worden waren. Bedurfte es doch oft genug bloß der unbefangenen Vergegenwärtigung der Tatsachen, um von dem Gedanken erfüllt zu werden, daß es keine Gefühle gibt ohne Vorstellungen, keine Vorstellungen ohne die mannigfachsten Verknüpfungen der seelischen Inhalte, endlich kein Wollen ohne alle die anderen Bestandteile, die zumeist als voneinander isolierte seelische Erzeugnisse betrachtet wurden, wenn sie nicht gar, wie es vom psychologischen Individualismus und Intellektualismus geschah, als ein Konglomerat von Vorstellungen oder von sinnlosen Assoziationen erschienen.
In der kurzen Darstellung der Psychologie, die ich in meinem Grundriß vom Jahre 1896 (14. Auflage 1920) gegeben, habe ich versucht, die allgemeinen Gesetze des psychischen Geschehens in drei Prinzipien zu entwickeln, die vielleicht am klarsten die Bedeutung derselben übersehen lassen. Ich habe sie genannt: das Prinzip der psychischen Resultanten oder, wie es oben im Hinblick auf die grundlegenden Erscheinungen bezeichnet worden ist, der schöpferischen Synthese; das Prinzip der psychischen Relationen oder, vom Standpunkt der Methode betrachtet, der psychischen Analyse; das Prinzip der psychischen Kontraste oder, wie es im Gegensatz zu dem in den meisten Darstellungen der Psychologie noch immer herrschenden Intellektualismus mit der ihm meist beigeordneten einseitigen Luft-Unlusttheorie genannt werden darf, der Mehrdimensionalität des Gefühlslebens.
Für die fundamentaleren Teile der Psychologie ist allmählich der Name der »experimentellen Psychologie« ziemlich[196] allgemein durchgedrungen, und man darf daher hoffen, daß ein in den Anfängen dieser Disziplin verbreitetes Mißverständnis endlich aus der Welt verschwunden sei. Unter experimenteller oder, wie sie aus Dankbarkeit für die von der Physiologie ausgegangenen Anregungen in ihren Anfängen genannt worden ist, unter physiologischer Psychologie hat man zuweilen eine Verwendung experimenteller Methoden verstanden, welche den Zweck verfolge, den Inhalt gewisser Teile der Psychologie auf physiologische Tatsachen zurückzuführen und danach womöglich die Psychologie selbst in eine bloße Anwendung der Physiologie umzuwandeln. Die experimentelle Methode sollte nicht, wie es tatsächlich unsere Absicht ist, der Psychologie ein neues fruchtbares Hilfsmittel selbständiger Untersuchung zuführen, sondern sie sollte vielmehr die Psychologie aus ihren bisherigen Gebieten verdrängen, um alles, was diese auf ihren eigenen Wegen, namentlich dem der sogenannten Selbstbeobachtung vergeblich zu leisten versucht habe, aus anatomischen und physiologischen Erfahrungen abzuleiten. In Wahrheit ist das aber eine Aufgabe, die von der reinen Physiologie niemals gelöst werden kann. Vielmehr hat das psychologische Experiment nicht nur einen anderen Zweck als das physiologische, sondern es ist auch nicht selten in seinen Methoden und in der Art seiner Ausführung von ihm wesentlich verschieden. Insbesondere ist es auch gerade die Selbstbeobachtung, welcher das Experiment meist neben den objektiven Zwecken, denen es dient, seine Hilfe leistet. Denn überhaupt ist die experimentelle Methode nicht ihrem Wesen nach an die Naturwissenschaften gebunden, sondern ihre Anwendbarkeit hängt lediglich davon ab, ob die Erscheinungen einer Variierung der Tatsachen und ihrer Bedingungen zugänglich sind oder nicht. Ob sie das sind, das hängt aber wieder von den Aufgaben ab, die man sich gestellt hat, nicht von der[197] Beschaffenheit der Instrumente und ihrer objektiven Anwendung. Wenn wir z.B. den Umfang des Bewußtseins, die Gliederung rhythmischer Vorstellungen, die psychischen Wirkungen der Konsonanz und Dissonanz der Töne, die Assoziation und Dissoziation der Sinnesvorstellungen und vieles andere untersuchen, so sind das alles psychologische Aufgaben, mögen auch die gleichen oder ähnliche instrumentelle Hilfsmittel zu physiologischen oder physikalischen Untersuchungen gelegentlich verwendet werden. Was gerade das psychologische Experiment vor anderen auszeichnet, ist übrigens nicht selten die Mannigfaltigkeit seiner Anwendbarkeit. Ich habe in meiner »Einführung in die Psychologie« vom Jahre 1911 den Versuch gemacht, für eine beinahe über die ganze Psychologie, soweit sie experimentellen Angriffen zugänglich ist, sich erstreckende Anzahl psychologischer Versuche ein einziges Instrument anzuwenden. Dies war das Metronom, das bekanntlich hauptsächlich in der musikalischen Metrik benutzt wird, um Taktmaße von verschiedener Geschwindigkeit und Größe hervorzubringen. Es gibt wenig Variationen, die man nicht mit diesem einfachen Instrument vornehmen könnte, um eine große Zahl von psychischen Erscheinungen verschiedener Art vorzuführen, und dies steht sichtlich nicht mit einer besonderen Befähigung dieses Instrumentes selbst, wohl aber mit der Vielseitigkeit im Zusammenhang, in der unser Bewußtsein nach seinem Vorstellungs- wie Gefühls- und Affektinhalt den mannigfaltigsten Anregungen zugänglich ist. Höchstens lassen sich physikalisch damit etwa Zirkel und Maßstab oder allenfalls die Wage vergleichen, aber die Anwendbarkeit dieser bekannten Hilfsmittel physischer Methoden ist eine sehr viel einfachere und gleichförmigere als beispielsweise die des Metronoms für alle möglichen in irgendeine akustische Mannigfaltigkeit aufzulösende Reihen von Eindrücken.[198]
1 | Die neuesten Gestaltungen dieser jede wirkliche Psychologie zerstörenden nominalistischen Entartung haben sich offenbar in dem dunkeln Bewußtsein, daß sie in gewissem Sinne Zersetzungsprodukte der Hegelschen Phänomenologie des Geistes sind, selbst mit dem Namen Phänomenologie getauft, freilich mit Rücksicht auf die philosophische Bedeutung des Hegelschen Originals mit Unrecht. In ihrem wirklichen Rückgang auf das Werk eines echten Nominalisten, Bernhard Bolzano, tragen sie ihre geschichtliche Deszendenz deutlich genug an der Stirne. Ich lasse diese späteren Nachwirkungen des Scholastizismus in der Psychologie hier außer Betracht, weil sie auf die Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft keinen nennenswerten Einfluß ausgeübt haben und nach meiner Überzeugung als philosophische Strömungen für die Geschichte der Wissenschaft keine bleibende Bedeutung besitzen. |
Ausgewählte Ausgaben von
Erlebtes und Erkanntes
|
Buchempfehlung
Jean Pauls - in der ihm eigenen Metaphorik verfasste - Poetologie widmet sich unter anderem seinen zwei Kernthemen, dem literarischen Humor und der Romantheorie. Der Autor betont den propädeutischen Charakter seines Textes, in dem er schreibt: »Wollte ich denn in der Vorschule etwas anderes sein als ein ästhetischer Vorschulmeister, welcher die Kunstjünger leidlich einübt und schulet für die eigentlichen Geschmacklehrer selber?«
418 Seiten, 19.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro